Dissertationsprojekt: Multiple Wahrnehmungsstrukturen und Deutungsmuster von Kriegsgefangenschaft in Deutschland und Frankreich
Ob man nun morgens die Zeitung aufschlägt, allabendlich die Tagesschau einschaltet oder die diversen Online-Nachrichtendienste konsultiert – im Kontext von Berichten über gewaltsame Auseinandersetzungen kommt der Thematisierung von Gefangenen stets eine wesentliche Bedeutung zu. So scheinen Informationen über die Gefangenahme von Angehörigen kriegsführender Parteien und deren Behandlung zu einem ganz selbstverständlichen Bestandteil der Kriegsberichterstattung unserer Tage und damit nicht nur zu einem militärischen, sondern auch zu einem medial diskutierten, und öffentlich wirksamen Phänomen geworden zu sein.
In der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex rücken primär die beiden Weltkriege in den Fokus, wobei jedoch die in diesem Zuge sichtbar werdende, der Thematik inhärente Multidimensionalität von Kriegsgefangenschaft und ihre Verflechtungen mit Militär, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft nicht Alleinstellungsmerkmal der kriegerischen Auseinandersetzung der Gegenwart oder des 20. Jahrhunderts sind. In Mittel- und Westeuropa nahm die Kriegsgefangenschaft bereits während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 erstmals einen beachtenswerten Stellenwert ein. Ausschlaggebend hierfür ist in erster Linie die im Vergleich zu vorherigen Kriegen hohe Anzahl an Gefangenen – so befanden sich auf deutscher Seite bis Februar 1871 rund 383.000 Franzosen in Gefangenschaft, auf französischer Seite handelte es sich derweil allerdings nur um etwa 8.000 gefangene deutsche Soldaten – wodurch die Unterbringung, Versorgung und Beschäftigung der Gefangenen zu einer zentralen Herausforderung für die Verantwortlichen und das Thema Kriegsgefangenschaft aus dem reinen militärpolitischen Kontext herausgelöst wurde. Allein durch die Verteilung der französischen Gefangenen auf 195 sogenannte Depots im gesamten deutschen Reichsgebiet wurde die Kriegsgefangenenfrage zunehmend auch zu einer lokalen und regionalen Angelegenheit, während gleichzeitig die Gründung und das Engagement unterschiedlichster Vereinigungen – vor allem des Internationalen Komitees des Roten Kreuz und des sich für die Dauer des Krieges konstituierende Internationalen Hilfskomitees für Kriegsgefangene, Basel – im Rahmen der Kriegsgefangenenfürsorge quer zu den offiziellen Konfliktlinien verlief und die nationalen Grenzen überschritt.
Angesichts dessen kommt dem Phänomen der Kriegsgefangenschaft im Deutsch-Französischen Krieg eine hohe Bedeutung zu, die
1. – synchron betrachtet – deutlich über eine rein militärische Dimension von Kriegsgefangenschaft hinausweist, und in deren Folge
2. langfristige, den Abschluss des Friedensvertrages im Mai 1871 überdauernde strukturelle Elemente aufgenommen wurden, und vor diesem Hintergrund
3. den Deutsch-Französischen Krieg als Knoten- und Kristallisationspunkt ‚traditioneller‘ und ‚moderner‘ Elemente von Kriegsgefangenschaft interpretieren lassen.
Dieser besonderen Vielschichtigkeit von Kriegsgefangenschaft im Deutsch-Französischen-Krieg widmet sich nun das bi-national ausgerichtete Forschungsprojekt, das an der Universität Mannheim entsteht. Dessen konkrete Ziele liegen in der Analyse
1. der überindividuellen Wahrnehmungs- und Deutungsstrukturen von Kriegsgefangenschaft während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71, wobei der Fokus auf die militärische, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Dimensionen gelegt wird, und
2. der Memoralisierung der Kriegsgefangenschaft in der Nachkriegszeit.
Auf diese Weise wird es gelingen, sowohl das Phänomen der Kriegsgefangenschaft in seiner komplexen und multidimensionalen Bedeutung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als auch mögliche Umdeutungs- und Veränderungsprozesse im Zeitlauf – das heißt während des Krieges selbst und im Kontrast zur Nachkriegszeit – sichtbar zu machen.
Auf Basis dieser Konzeption verfügt das Dissertationsprojekt in einem zweiten Schritt über das Potenzial
1. vor dem Hintergrund der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Einordnung – der Interpretation des Deutsch-Französischen-Krieges als Etappe zum Ersten Weltkrieg und der Totalisierungs- und Modernisierungsdebatte des Krieges im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert – einen Beitrag zu dessen punktueller Neuperspektivierung zu leisten.
Zugleich erscheint angesichts der konstanten Bedeutung des Phänomens der Kriegsgefangenschaft von der Antike bis in die Gegenwart die Konzentration auf ein solches Ereignis wie den Deutsch-Französischen Krieg, an dem Veränderungsprozesse und möglicherweise sogar ‚Weichenstellungen‘ zu beobachten sind, für weitere Forschungen gewinnbringend zu sein. Dementsprechend verfolgt dieses Dissertationsprojekt das Ziel,
2. inhaltlich und methodisch einen Beitrag zur systematischen, diachronen Erschließung der Kriegsgefangenschaft in der Neuesten Geschichte zu leisten, die Aufschluss über Veränderungen und Entwicklungen von Wahrnehmungsstrukturen, Bezugssystemen und Wertvorstellungen – auch grenzüberschreitend bzw. nationalvergleichend – bietet und an bereits bestehende Forschungen zum Ersten und Zweiten Weltkrieg anknüpfen kann.
Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/2248