Die Verbrennung der Jungfrau Maria

Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, der Unterkörper schon verbrannt. An ihren Armen schlängeln sich Flammen empor und greifen nach ihrer Krone. Die Königin des Himmels wird verbrannt von einem Narren, der eine Mütze mit Eselsohren und Narrenschellen trägt. Mit großen, schwarzen Augen schürt er das Feuer. Und lächelt dabei. Diese Szene stammt aus dem Großen lutherischen Narren von Thomas Murner, veröffentlicht im Jahr 1522. Vor allem der Holzschnitt wird immer wieder zur Illustrierung früher altgläubiger Angriffe auf evangelische Ikonoklasmen herangezogen. Tatsächlich war er so aber […]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/2312

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(K)Eine Farbe mit viel Geschichte. Weiß im 16. Jahrhundert

 

Die französische Historiographie hat sich immer wieder mit der Geschichte der Farben befasst.  Was in der Kunstgeschichte auch in Deutschland gängig ist, konnte sich für die Frühe Neuzeit hierzulande an den Historischen Seminaren nie so recht durchsetzen. Dabei ist die Geschichte der Farben mehr als nur ein buntes Durcheinander vergangener Kolorierungen. Michel Pastoureau ist der vielleicht beste Kenner dieser Geschichte und hat ihr als Mediävist ein reiches Werk gewidmet. Auch für die Reformationszeit liegt von ihm ein Aufsatz vor, in dem er sich mit […]

 

 

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/1862

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Katholiken brauchen Differenz. Eine Erklärung für Matussek, Meisner und Mosebach

Nein, hier geht es nicht um die so dumme wie hitzige Diskussion, ob sich der WELT-Autor und papsttreue Intellektuelle Matthias Matussek zu Recht oder zu Unrecht sein neues Büro rosa anstreicht. Hier geht es um etwas Wichtiges: Um den Katholizismus und dessen drohenden Untergang. Um was auch sonst in diesem Blog, der sich mit der “Geburt” der ersten Katholiken auseinandersetzt? In der Tat liegen Leute wie Matussek und der Schriftsteller und Essayist Martin Mosebach (“Häresie der Formlosigkeit”) mit ihrer Kritik an den katholischen Reform- und Modernisierungsbestrebungen richtig. Nur völlig anders, als die beiden glauben. Katholizismus definiert sich über die Distinktion. Ohne die Kultur der permanenten Grenzziehung wäre er wahrscheinlich toleranter, demokratischer und jugendlicher. Ein begrüßenswertes Ziel der Kirchenreform! Doch fallen die alten Unterscheidungsmerkmale der Katholiken weg, hören sie auf, als solche zu existieren. Denn historisch gesehen sind nur diejenigen katholisch, die den Unterschied und ihre Alleinstellumgsmerkmale wortmächtig in die Welt (bzw. WELT) tragen. Was sagen Matussek und Mosebach, in deren Reihe man auch den ehemaligen Papst Benedikt XVI. oder Kardinal Meisner stellen kann? Sie beharren auf der bekannten und typisch katholischen Tradition in den Ritualen, in der Ausstattung des Sakralraums, in der kirchlichen Lebensethik. Sie warnen vor einer Angleichung an […]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/1991

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Fromme Kirchendiebe in Paris. Warum 1528 einige Hostien der Zerstörung entgehen

Im Jahr 1528 brechen Diebe in die Kirche des Augustinerstifts St. Victor vor den Toren von Paris ein. Sie rauben heilige Wertgegenstände – aber entfernen zuvor andächtig die Hostien und legen sie mit großen rituellen Vorkehrungen auf den Altar. Das versetzt auch zeitgenössische Beobachter in Erstaunen. Was sagen diese Handlungen über die Glaubenswelt der Räuber zu einer Zeit, als sich in Paris bereits evangelische Ideen ausbreiten? Und wie reagieren die Augustinerchorherren auf den ungeheuerlichen Vorgang? Der Vorfall ereignet sich in der Nacht vom 28. Mai. Es gibt keine Zeugen, nur die Spuren der Verwüstung werden den Chorherren am Morgen danach ersichtlich. Einer der Augustiner, der 46-jährige Kämmerer Pierre Driart, berichtet in seinen tagebuchartigen Aufzeichungen über den Raub: “In der Nacht von Donnerstag, dem 28. Tag des genannten Monats, eine Woche nach Christi Himmelfahrt, drangen mehrere diebische Übeltäter, nachdem die Matutin des Festes von Saint-Germain, Bischof von Paris, gebetet worden war, mit einer bewaffneten Gruppe über die Mauern des Kirchhofs in die Kirche ein und zwar über eine der Kapellen auf der Seite des Kirchturms, in der noch keine Fenster eingebaut waren. Sie nahmen den Tabernakel und den Kelch dort, wo der kostbare Leib unseres Herrn auf dem Altar war, hinter […]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/1899

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Statement: Dieter Frey “Wir brauchen ein totales Umdenken – Wir brauchen neue ‘Kulturen’”

??????????Betrachtet man das Problem der Generationengerechtigkeit aus dem Blickwinkel der Psychologie, geht es hier um die Umsetzung von Fairness und Gerechtigkeit. Dabei gilt es vier Arten von Fairness zu unterscheiden, nämlich a) die Ergebnisfairness, b) die prozedurale Fairness, c) die informationale Fairness und d) die interaktionale Fairness.

Sowohl die jüngere als auch die ältere Generation wird wahrscheinlich eine Einschränkung der Rente oder eine Erhöhung der Beitragszahlung für Renten als „unfair“ betrachten. Entscheidend ist deshalb, dass man dies über prozedurale Fairness und informationale Fairness kompensiert. Prozedurale Fairness bedeutet dabei, dass die Kriterien transparent gemacht werden, die zum jeweiligen Ergebnis führen, und von den Entscheidungsträgern eine hohe Objektivität gefordert wird. Informationale Fairness bedeutet, dass die potenziellen „bad news“ relativ früh genannt werden.

Aus dem Blickwinkel der Psychologie ist daher ein totales Umdenken notwendig. Es werden neue „Kulturen“ benötigt, die folgendes implizieren:

1. Einen fließenden Übergang von der Arbeit zur Rente. Die Leute sollen so lange arbeiten, wie sie arbeiten können.

2. Rentner sollten zurück an die Universitäten und Hochschulen, damit sie Know-how für ihre alten Berufe und für neue Berufe lernen (z. B. Sozialberufe/Kindererziehung).

3. Produktivitätszuwächse für die Allgemeinheit, um davon auch die Renten zu bezahlen.

4. Lebenslanges Lernen für alle Beteiligten.

5. Arbeit billiger machen. Das Problem dabei ist, dass die Arbeit vorhanden ist, oft aber die Fantasie fehlt, diese Arbeit auch in Arbeitsplätze zu transformieren. Die Arbeit ist heute zu teuer, weil ein hoher Prozentsatz durch Steuern reduziert wird. Wichtig dabei ist auch, das Vermögen zu besteuern und nicht nur die Arbeit. Zudem sollte der Produktivitätszuwachs nicht den Aktionären, sondern der Bevölkerung zukommen, damit die Schere zwischen Arm und Reich (insbesondere auch zwischen Rentnern und Nichtrentnern) nicht zu groß wird.

6. Zielorientierte Einwanderungspolitik.

7. Mehr Fantasie bei Maßnahmen zur Erhöhung der Kinderquote (Wir sind an letzter Stelle!)

Eine weitere psychologische Frage ist, wie man dies so umsetzen kann, dass Akzeptanz in der Bevölkerung besteht. Es gilt hier die Erfolgsfaktoren von Reformen umzusetzen. Dafür notwendig sind z. B. Sinnvermittlung, Transparenz und das Aufzeigen von Opportunitätskosten.

Prof. Dr. Dieter Frey ist seit 1993 Lehrstuhlinhaber für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Der Träger des Deutschen Psychologie-Preises 1998 forscht auf den Gebieten des Entscheidungsverhaltens in Gruppen, Erhöhung von Kreativität und Motivation, Entstehung und Veränderungen von Einstellungen und Wertesystemen. Er war von 2003 bis 2012 Akademischer Leiter der Bayerischen EliteAkademie und ist Leiter des LMU-Centers für Leadership und People Management und Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Foto: robert.steinhoefel | Fairness Zone | CC BY-NC-ND 2.0

Quelle: http://gid.hypotheses.org/918

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CFP: “Sacrés liens!” – “Heilige Verbindungen”, Doktorandenseminar an der EHESS Paris

Im kommenden Semester geht das interdisziplinäre und alle Epochen einschließende Doktorandenseminar “Sacrés liens! Étudier les liens en sciences sociales des religions” an der École des hautes études en sciences sociales Paris in eine neue, seine zweite Runde. Die Bewerbungsfrist für das Seminar endet am 20. September, Vorschläge können auf Französisch und sicher auch auf Englisch eingereicht werden. Eine schöne Gelegenheit für alle, die sich mit dem Verbindenden und dem Trennenden in religiösen Kulturen beschäftigen. Weitere Informationen gibt es auch auf dem Blog zum Seminar unter http://sacresliens.hypotheses.org/. Der CFP für das kommende Semester mit den Kontaktdaten der Organisator/innen findet sich hier. Die (französische) Beschreibung des Seminars lautet: “Le lien est, au sens propre, ce qui entrave, ce qui contraint, mais c’est aussi ce qui unit, affectivement, moralement, socialement, les individus entre eux. Selon une étymologie controversée, le lien serait à l’origine de la religion (re-ligare). Que ce soit dans le lien à la divinité, à la transcendance, au groupe ou à l’autre, la construction d’une relation constitue un élément essentiel du fait religieux. La diversité des liens développés par les individus appelle donc à s’interroger, dans une perspective pluridisciplinaire et diachronique, sur la façon dont l’individu et le groupe construisent leur [...]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/1577

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Musik und religiöse Gewalt. Ägypten heute und Europa im 16. Jahrhundert

Immer wieder beschäftigt mich die Frage, warum und wie religiöse Differenz überspringt in religiöse Gewalt. Besonders spannend finde ich die Katalysatoren, also die Auslöser, Scharniere und Verstärker des Übergangs. Zu diesen gehören in besonderer Weise Gesang und Musik. Entsprechende Hinweise finden sich im Ägypten des Augusts 2013 und in der europäischen Religionsgeschichte des 16. Jahrhunderts. Gibt es eine anthropologische Konstante von Musik als Gewaltauslöserin? Vor einigen Tagen hat Serge Michel, der Korrespondent der französischen Tageszeitung Le Monde in Ägypten, über die Gründe der Gewaltwelle und der Zusammenstöße zwischen koptischen und anglikanischen Christen und Muslimen berichtet. Der genaue Ort des Geschehens war Bani Ahmad, 270 Kilometer südlich von Kairo gelegen, am Samstag, 3. August. Ein Monat war seit der Absetzung von Präsident Mursi durch die Armee vergangen. Seither droht ein Bürgerkeig zwischen islamistischen Mursi-Anhängern und eher laizistisch orientierten Anhängern der Armee und den “Liberalen”. Der Konflikt zwischen Kopten und Muslimen ist in Ägypten seit jeher Teil der inneren Spannungen des Landes. Doch diese finden nun, vermengt mit dem politischen Bürgerkrieg, einen neuen Kontext und neue Artikulationsformen. Am 3. August sprang die Differenz über in Gewalt. Das Treibmittel dafür war laut Serge Michels Reportage ein Lied. In der ersten Version der Ereignisse [...]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/1531

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Wie wichtig war Religion in der Reformationszeit? Eine Beobachtung in der Grafschaft Lippe

Die Reformation und das nachfolgende konfessionelle Zeitalter gelten als Hochzeit der Religion. Gerade Religionshistoriker (von Kirchenhistorikern ganz zu schweigen) machen dabei ihr Forschungsgebiet gerne etwas unreflektiert zum bestimmenden Paradigma einer ganzen Epoche. Tatsächlich treten im 16. Jahrhundert europaweit durch die Glaubensspaltung Differenzierungen und “zcerteilungen” auf, welche die Gesellschaften gründlich umkrempeln und immer wieder zu Gewalt führen. Auch der Alltag, ja das ganze Leben werden vom Glauben und dessen Ritualen eingerahmt. Die reformatorischen Glaubensspaltugen bedeuten somit Differenz und Unsicherheit im Wichtigsten und Ewigen und müssten die Bedeutung der Religion noch weiter vergrößert haben. Dieser “Betriebsblindheit” der Religionshistoriker, die in der Konfessionalisierungsthese der 1980er und 1990er Jahre ihren Höhepunkt erreicht hat, möchte ich in der Folge eine kurze Beobachtung aus meinen aktuellen Forschungen entgegenhalten. Ich werde auf einer bestimmten, aber für die gesellschaftlichen Konflikte der Reformationszeit repräsentativen Plattform das weitgehende Fehlen religiöser Themen nachweisen. Zumindest mich hat dieser Befund etwas verblüfft und zu ein paar Relativierungen und Überlegungen motiviert, die womöglich nicht neu sind, aber im Forschungsalltag zu selten ins Bewusstsein gelangen. Es geht um die Fragen: War das 16. Jahrhundert wirklich eine Epoche der Omnipräsenz des Religiösen? Wurde die Gesellschaft von Religion oder vielleicht gerade vom Nicht-Religiösen verbunden? Im Rahmen meiner Fallstudie [...]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/1180

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Klares Denken im Delirium. 500 Jahre Ekstase in Religion und Literatur

 

Ekstase fördert tiefe Einsichten. Zwei neue Beiträge von Deutschlandradio Kultur erklären, dass das Delirium in der Literaturgeschichte sowohl als Thema sowie als Produktionsmittel eine wichtige Rolle spielt. In einer Rezension wird Robert Feuchtels Monografie “Grenzgänge” besprochen. Dabei handelt es sich um eine Kulturgeschichte des Rausches, die weit über den simplen Drogenkonsum der Neuzeit hinausgeht. Eine wunderbares Essay widmet sich der Rolle von Drogen und vor allem deren Folgen für Schriftsteller der Neuzeit. Ernst Jünger etwa experimentierte mit der damals neuen Droge LSD. Für viele Autoren waren und sind Drogen Mittel zum Zweck eines umfassenderen Bewusstseins, tieferer Erkenntis und neuer, nie zuvor getaner Einsichten. Genau darauf haben sich auch Religionen spezialisiert. Ich dachte beim Hören gleich an die Derwische islamischer Sufiorden. Türkische Derwische praktizieren die bekannten Tänze, durch die sie in Ekstase geraten und sich eine direktere Gotteserfahrung erhoffen. Andere Derwische trommeln oder meditieren, um in außerweltliche Erfahrungsstadien zu gelangen. Diese Funktionsanalogie zwischen Literaten und Religiösen verblüffte mich. Kurz zuvor war ich bei Recherchen in der Bibliothèque Mazarine in Paris auf eine Flugschrift von Jean Gacy, einem ehrenwerten Genfer Franziskaner, aus dem frühen 16. Jahrhundert gestoßen. Auch in diesem Text spielt das Delirium als Erkenntnisraum eine zentrale Rolle. Leider wissen nicht nicht viel mehr [...]

 

 

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/990

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Die Gefahr hinter dem Rücken der Priester

  Priester genießen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit eine herausragende religiöse und soziale Stellung. Sie sind (im Katholizismus und der spätmittelalterlichen Kirche) Vermittler zwischen Gott und den Menschen sowie, durch die Ausgabe der Sakramente, Vermittler des ewigen Heils. Sie bilden, im Protestantismus, Pastorendynastien und einen Autoritätspunkt der Dorfgemeinschaft. Ihr Handeln berührt das Heiligste. Und doch ist die Stellung der Priester prekär, besonders in turbulenten Zeiten wie der frühen Reformation. Pfarrer wurden bis weit ins 16. Jahrhundert hinein oft aus handwerklich-bäuerlichen Schichten rekrutiert und waren in ihrer Lebensweise vom Rest des Dorfes nur zu unterscheiden, wenn sie sakrale Praktiken durchführten. Das ist besonders bei der Eucharistiefeier der Fall, aber auch bei anderen sakramentalen und liturgischen Vorgängen. Während die Priester diese Praktiken ausüben, wenden sie dem gemeinen Volk oft den Rücken zu. Sie widmen sich ganz der religiösen Handlung sowie dem heiligen oder zu heiligenden Objekt. Im Moment des Abwendens gewinnen Priester ihre soziale und sakrale Statur. Die Praktik, der Handelnde und das Objekt müssen von allen Teilnehmer/innen des Kultes als besonders “heilig” anerkannt werden. Denn wenn Kleriker dem Volk den Rücken zuwenden, verlieren sie den Überblick und die Kontrollmöglichkeit über die “untergeordneten” Teilnehmer/innen. Sie sind darauf angewiesen, dass die Religionskultur sich in diesem Augenblick selbst trägt. Andernfalls wären Verwerfungen in der Religionskultur und dem gesellschaftlichen status quo die Folge. Und genau das passiert in der frühen Reformationszeit.   Reale Präsenz Christi? Messe des Hl. Gregor im Beisein der Georgsbruderschaft-Mitglieder. Pieter Jansz Pourbus, 1559. (Martens, Maximilian P. J. (Hg.): Bruges and the Renaissance. Memling to Pourbus, Ausstellungskatalog, Ludion 1998, 204.) Ausgerechnet im bayerischen Altötting lässt sich das anhand eines Falls aus dem Jahr 1523 gut beobachten. In dem berühmten und viel frequentierten Marienwallfahrtsort hört der Rentmeister von Burghausen während einer Untersuchungsreise von skandalösen Vorkommnissen. Darüber hat er am 20.8.1523 einen kurzen Bericht an Bayernherzog Wilhelm IV. verfasst.1 Während seines Aufenthalts wurde dem Rentmeister in Altötting ein Mann angezeigt. Zwei Taten dieses Mannes, der wie der/die Anzeiger nicht namentlich genannt wird, werden in dem Bericht nach München erwähnt. Erstens habe der Mann öffentlich gegen die Wundertätigkeit Marias gesprochen. Die Gebete und Hilfegesuche nützten nichts, habe er gesagt. Die Brisanz und die sozial-kulturelle Sprengraft hinter diesem Diskurs werden verständlich, wenn man sich die religiöse und auch ökonomische Rolle von Marienpraktiken und -mobilität in Altötting um 1500 vor Augen hält. Viel schwerer wiegt aber das Handeln des Manns während einer Seelenmesse in der Altöttinger Pfarrkirche. Im Bericht des Rentmeisters heißt es: “Vener hat ain brister in der pfarkirchen im selambt gesungen. Also er sich vor dem Alltar umbkert unnd fur all glaubig selen gepet, hat diser burger gegen seinen mit burger, einen so neben sein gestannden, gered: Sich an den Narn, was dreibt er fur kleifft [in etwa "dummes Zeug", M.M.]. Es ist pueberey [Betrügerei, M.M.], kumbt den sellen nit zu hilf. Mit den unnd dergestallt worden sich grob gehallten.”2 Der Mann verleiht seiner Kritik, sicher nicht zufällig, während einer Seelenmesse Ausdruck. Seelenmessen waren um 1500 ein inflationärer Bestandteil der Zeit- und Totenkultur, ein Aspekt der religion flamboyante (Jacques Chiffoleau). Durch das Lesen einer oft großen Anzahl von Messen sollte die Zeit der verstorbenen, sündigen Seelen im Fegefeuer verkürzt werden. Die Messpraktik bildete also auch eine Art zeitlich-vertikale Kommunikations- und Affektlinie zwischen Lebenden und Toten. Diese Totenkultur lehnen Evangelische seit den 1520er Jahren zunehmend ab. Reformatorische Theologen sehen den Weg zum Heil in Glaube und Gnade, der Mensch ist dabei machtlos. Sie und immer mehr ihrer Anhänger verwerfen das Fegefeuer. In diesem Umfeld entstehen distinktiv evangelische Totenkulturen mit anderen Wissensordnungen und Praktiken, die klare Unterschiede zwischen den späteren Konfessionen entwickeln sollten.3Die ablehnende Sinnzuschreibung zur alten, nun altgläubigen Seelenmesse und der Kultur, in der diese praktiziert wird und die diese repräsentiert, drückt der Anonymus in Altötting aus durch Spott (der Pfarrer als Narr und Betrüger) und eine evangelische Deutung (Messen nützen den Seelen nicht). Wichtig ist der exakte Augenblick, zu dem der Mann diese Aspekte evangelischer Religionskultur in Worte fasst. Es ist der Moment, in dem sich der Priester zum Altar hin umdreht, um für alle gläubigen Seelen (auch die der Anwesenden) zu bitten. Er steht mit dem Rücken zum Volk, wie üblich während der Messliturgie. Nun sollte der oben skizzierte, sozial-religiöse Sakralitäts-Automatismus Umdrehen-Praktik-Objekt greifen. Doch der funktionniert eben nur in einer weitestgehend homogenen Religionskultur. Darin müssten die Messbesucher/innen zumindest äußerlich den Praktiken, Objekten und der Rolle des handelnden Priesters die gleiche Deutung und die gleiche Wirkung zuschreiben. Das Kultursystem müsste so internalisiert sein, dass es sich selbst trägt. Da schert der Anonymus in Altötting aus. Er greift die Praktik, den Zelebranden und die hinter diesen stehende, theologisch-kulturelle Wissensordnung an. Dabei verspottet er zudem die Person des “närrischen” Priesters. Der sakrale Zusammenhang wankt oder gerät in Gefahr – leider kennen wir die Reaktionen der übrigen Messbesucher nicht. Der Mann repräsentiert in dem für die altgläubig-spätmittelalterliche Religionskultur entscheidenden Moment seine in dieser Situation distinktive religiöse Zugehörigkeit und Wissenskultur. “Christus vera lux” – Seelenmessen sind in der lutherischen Totenkultur überflüssig und repräsentieren vielmehr die “andere” Seite. Holzschnitt von Hans Holbein, 1526. (Wikimedia Commons) Dies geschieht in sozialer Interaktion. Der Mann ruft die Worte nicht einfach in die Kirche, sondern sagt sie gezielt seinem Nachbarn, dessen Reaktion leider auch nicht bekannt ist. Da die Worte beim Rentmeister angezeigt werden, ist es sehr wahrscheinlich, dass es in Altötting Einzelne oder Gruppen gibt, die gegen das religiöse Wissen, die situative Differenz und deren öffentliche Manifestierung sind. Merkmale und Momente entstehender, noch sehr an einzelne Situationen gebundener, distinktiver Zugehörigkeiten, werden offenbar und sicher auch verstärkt. Dass der Bruch aber nur in Berührung, Verbindung und direkter Auseinandersetzung mit dem “Anderen” möglich ist, wird ebenso deutlich. Es gibt kein erkennbares “Eigenes” ohne das oder die “Anderen”. Dieser Prozess der ständigen, distinktiven Konstruktion und Aktualisierung – ein langsamer, diskontinuierlicher Prozess – ist typisch für die westeuropäischen Religionskulturen des 16. Jahrhunderts. In den 1520er und 1530er Jahren finden sich erste Merkmale, die von immer mehr Zeitgenossen als bezogen auf distinktive religiöse und somit soziale Zugehörigkeiten gedeutet werden. Mehr als ungewisse Ansätze lassen sich jedoch noch nicht beobachten. Sinnvollerweise ist zu diesem Zeitpunkt also von einer zusätzlichen und in bestimmten, praktischen und kulturellen Momenten distinktiv verstärkten Heterogenität der Religionskulturen zu sprechen. Hölzerne Christusfigur auf dem Esel, repräsentiert den Einzug in Jerusalem. (Das Schweizerische Landesmuseum 1898-1948. Kunst, Handwerk und Geschichte. Zürich 1948, Abb. 32.) Angriffe auf den Preister, wenn er den Rücken bei einer liturigsichen Handlung dem Volk zudreht und darauf angewisen ist, dass sich die soziale und religiöse Kultur selbst trägt, sind zudem keine Seltenheit. Über Messstörungen wird häufig berichtet, viel öfter noch über Predigtstörungen. Gefahr hinter dem Rücken der Priester droht auch bei liturigischen Handlungen am Palmsonntag. Vielfach war es vor der Reformation Brauch, an diesem Tag mit einer großen Prozession einen hölzernen Esel, auf dem eine Christusfigur reitet, in die Kirche zu schieben. Das Volk, das die Prozession begleitete oder am Wegesrand stand, schlug zu bestimmten Augenblicken mit Palmbuschen auf den Esel ein. Die Buschen erhielten dadurch eine sakramentale Funktion, nicht zuletzt deretwegen dieses Rollenspiel von den Reformatoren kritisiert und zusehends aus der evangelischen Kultur verdrängt wurde. So kommt es bei einer Palmsonntagsprozession im schweizerischen Dorf Sommeri am Bodensee zu einem Zwischenfall. Die mehrheitlich evangelischen Bewohner/innen warten den Moment der Prozession ab, in dem der (altgläubige) Pfarrer sich vor dem Esel niederlegt und die Figurenkombination anbetet. Dann schlagen sie auf den Pfarrer ein, nicht nur mit ihren Palmbuschen.4 Der Moment ist aus evangelischer Perspektive perfekt gewählt. Der Pfarrer wendet sich von der Gemeinde ab und begeht die “abgöttische” Praktik mit dem “götzenhaften” Objekt. In diesem Moment werden die Risse in der religiösen Kultur und dem sozialen Gefüge sichtbar. Wenn also in den 1520er Jahren der Priester dem Volk bei liturgischen Handlungen den Rücken zudreht, droht Gefahr: Ihm und der Religionskultur, in der er seine alten und nun altgläubigen Praktiken vollzieht. Der momentane Kontrollverlust ist ein Test dafür, ob die Religionskultur und die soziale Trennung Klerus-Laien von den Letzteren internalisiert und akezptiert ist. Devianzen, andere Kulturen, Wissensordnungen und Praktiken können hinter dem Rücken der Priester besonders gezielt und effektvoll ausgedrückt werden. Unterschiede werden sichtbar und verstärkt. Der anonyme Mann aus Altötting übrigens versuchte sich beim Verhör durch den Rentmeister mehr schlecht als recht herauszureden. Das Lavieren nutzte ihm nichts. Er wurde bis zu einer Entscheidung des Bayernherzogs vom zuständigen Hauptmann eingekerkert.
  1.  Hauptstaatsarchiv München, Kurbayern Äußeres Archiv, 4246, fol. 5r-6v.
  2. Ibid, fol. 5r-5v.
  3.  Siehe die aktuellen Forschungen zum konfessionellen Konflikt um Begräbnisstätten im 16. und 17. Jahrhundert: Luria, Keith P.: Les frontières du sacré, in: Chrétiens et Sociétés 15 (2008); Karant-Nunn, Susan C.: The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern Germany (Christianity and Society in the Modern World), London/New York 1997, 133-182; Koslofsky, Craig: ‘Pest’ – ‘Gift’ – ‘Ketzerei’. Konkurrierende Konzepte von Gemeinschaft und die Verlegung der Friedhöfe (Leipzig 1536), in: Jussen, Bernhard/Ders. (Hg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch, 1400-1600 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), Göttingen 1999, 193-208; Brademann, Jan/Freitag, Werner (Hg.): Leben bei den Toten. Kirchhöfe in den ländlichen Gesellschaften der Vormoderne (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 19), Münster 2007. Aktuell zu Sterbekulturen in der Frühen Neuzeit vgl. Thiessen, Hillard von: Das Sterbebett als normative Schwelle. Der Mensch in der Frühen Neuzeit zwischen irdischer Normenkonkurrenz und göttlichem Gericht, in: HZ 295 (2012), 625-659.
  4.  Burg, Christian von: “Das bildt vnsers Herren ab dem esel geschlagen”. Der Palmesel in den Riten der Zerstörung, in: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, hg. v. Peter Blickle (HZ Beihefte 33), München 2002, 117-141, hier 133.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/518

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