Paläographie, Graphologie, Forensik

Dieses Blog bringt immer wieder Beiträge zur Aktenforensik. Das meint die Anwendung aktenkundlicher Methoden zum praktischen Zweck juristischer oder auch historisch-politischer Beweiserhebung: Ist ein Dokument authentisch? Wer hat es verfasst? Wurde es nachträglich manipuliert?

Eine cause célèbre der Forensik von Schriftstücken ist die Affäre Dreyfus. Die Historische Zeitschrift vom Dezember 2016, die mir erst jetzt in die Hände fiel, bringt einen hoch interessanten und wunderbar geschriebenen Aufsatz des Schweizer Historikers Caspar Hirschi zur Rolle der Schriftexperten in den Prozessen gegen Dreyfus und Zola — und er steht sogar online.

Das gibt Anlass zur Beschäftigung mit der Paläographie und ihrer exzentrischen Cousine, der Graphologie, im Verhältnis zur Aktenkunde.



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Quelle: https://aktenkunde.hypotheses.org/709

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Crash-Kurse in den Historischen Hilfswissenschaften?

Im Netz läuft eine lebhafte und ergiebige Debatte über die Lage der Historischen Grundwissenschaften (ich halte es mit der traditionellen Bezeichnung “Hilfswissenschaften”). Aktuell geht es um die Möglichkeiten und Grenzen von Sommerkursen als Ersatz für die selten gewordenen regulären Lehrveranstaltungen.

Kristin Zech hat im Mittelalter-Blog mit guten Gründen eine Lanze für die Sommerkurse gebrochen. Etienne Doublier, Andreas Kistner und Vosding vom “Nachwuchsnetzwerk Historische Grundwissenschaften” widersprechen mit anderen guten Gründen am gleichen Ort.

Das Nachwuchsnetzwerk hat seit Oktober 2015 ein eigenes Blog, das aber bis jetzt leer geblieben ist.

Richtig ist an dieser Kritik, dass punktuelle Sommerkurse weniger bringen als eine stetige Beschäftigung mindestens über ein Semester inklusive Selbststudium (vulgo: Hausaufgaben).

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Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/471

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Schäftezählen im Advent

Der letzte Beitrag hat erfreulich viele Kommentare nach sich gezogen. Die meisten galten dem kleinen paläografischen Rätsel, das zur Auflockerung gedacht war. Die Diskussion hat aber einen hilfswissenschaftlichen Nerv getroffen: Individualschriften der Gegenwart sind paläografische terra incognita.

Ich denke mittlerweile, dass der Abbau des handschriftlichen Schreibens als Kulturtechnik, verbunden mit neuen Schreibwerkzeugen, nicht bloß zu einer graduellen Verschlechterung der Handschrift geführt hat, sondern zum Bruch mit einer Tradition, in der Gesetze der Buchstabenkonstruktion wurzelten. Beck/Beck (2007: 106) weisen zurecht darauf hin, dass die Handschrift erstens zunehmend flüchtiger wird und sich zweitens – widersinnig – an der Konstruktion von Druckbuchstaben orientiert. Diese Entwicklung kann die paläografische Methodik nicht ungeschoren lassen.

Das ist eine Beobachtung aus der Praxis, die ich hier noch nicht solide untermauern kann, aber zur Diskussion stellen möchte.

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Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/449

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Zur Verwaltungssprache der frühen Neuzeit (Literaturanzeige)

Klaus Margreiter, Das Kanzleizeremoniell und der gute Geschmack: Verwaltungssprachkritik 1749-1839, Historische Zeitschrift 297 (2013) S. 657-688. (Abstract)

Am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer gibt es ein Forschungsprojekt mit dem Titel: “Geschichte der europäischen Verwaltungssprachen und ihrer Reformen, 1750-2000“. Aus diesem weiten Feld hat die HZ jetzt ein sehr konkretes und beachtenswertes Ergebnis veröffentlicht. Dass es ein verwaltungsgeschichtlicher Aufsatz in die HZ schafft, ist bemerkenswert genug. Margreiter schreibt brillant und liefert auch der Aktenkunde viel Bedenkenswertes aus einer originellen Perspektive.

Es geht um die “Verwaltungssprache [als] Abbild der Organisationskultur der Behörden, ihrer Werte und der Einstellungen der Angehörigen” (660). Der Einsatz dieser Fachsprache als Teil des Kanzleizeremoniells war ein Element, das die Verwaltungspraxis gegen Veränderungen stabilisierte. Auch durch gewollte Unverständlichkeit war sie ein Mittel zur symbolischen Vergegenwärtigung arkaner monarchischer Macht.

Im späten 18. Jahrhundert wollte die entstehende Bürgergesellschaft das nicht mehr hinnehmen. Margreiter beschreibt die bürgerlich-aufgeklärte Kritik am Kanzleistil überzeugend als Kampf um die kulturelle Hegemonie gegen die “Beamten als kryptisch säuselnde Priester der Herrschaft” (667), die tragenden Säulen der vormodernen Herrschaftsformen. Vorgebracht wurde eine ästhetisch ausgerichtete Kritik, die von einer intellektuellen Elite ausging, in abgeschwächter Form allerdings auch von den Autoren praktischer Lehrbücher des Kanzleistils (also von Insidern) aufgenommen wurde. Sich richtete sich im Einzelnen gegen

  • das unharmonische, oft aus Formularbüchern zusammengewürfelte und mit Fachbegriffen und umgangssprachlich überholten Ausdrücken durchsetzte Sprachbild,
  • die Neigung der Beamten zu Pleonasmen und verschachtelten Perioden,
  • die üblichen, als kriecherisch empfundenen Ergebenheitsbekundungen (Kurialien) und Titelhuberei im amtlichen Schriftverkehr.

Die Sprachreformer wollten der Obrigkeit auch auf dem Papier aufrecht gegenüberstehen und im Übrigen ohne Anstrengungen verstehen können, was Ihnen das Amt da schrieb. Was nicht nur verständlich, sondern auch immer noch aktuell sein mag.

Sicher hatte die Verwaltung auch ideologische Gründe zur Reformunlust. Die Arkansphäre wollte man sich bewahren. Margreiter präpariert aber säuberlich auch die systemimmanenten, unideologischen Motive heraus: Die Verwaltungssprache muss gerichtsfest sein. Deshalb ging man ungern von bewährten Formeln ab. Abgesehen davon sparte der Gebrauch von Formularbüchern Zeit und Mühe. Die Übernahme des Sprachgebrauchs durch Verwaltungsanwärter stellte (und stellt) außerdem eine wichtige Etappe ihrer Sozialisation dar und prägt den Korpsgeist der Beamtenschaft. – Soweit Margreiter.

Mit Formelbüchern, Kurialien und Titeln sind wir mitten im Gebiet der Analytischen Aktenkunde, die sich mit den inneren Merkmalen neuzeitlicher Schreiben befasst. Die aufgeklärte Sprachkritik zählt (neben äußeren Faktoren wie der Innovationskraft der napoleonischen Verwaltung) zu den Triebkräften hinter der Bereinigung des Kanzleizeremoniells zu Anfang des 19. Jahrhunderts, die Aktenkundler als Entstehung des “Neuen Stils” bekannt ist. Die Geschichte der Verwaltungssprache dient der Aktenkunde darum wie die ganze Verwaltungsgeschichte als Hilfsdisziplin.

Umgekehrt könnte sich die Aktenkunde in die Erforschung der Verwaltungssprache produktiv einbringen. Margreiter hat auch aktenkundliche Arbeiten rezipiert, aber eher punktuell. Auf S. 678 entgeht dem Leser die Pointe der gescheiterten preußischen Reform von 1800: Nicht nur, dass Hardenberg Kernargumente der Sprachreformer explizit teilte – auch Friedrich Wilhelm III. zeigte sich aufgeschlossen. Wenn aber selbst der König keinen Autoritätsverlust durch die Abschaffung alter Zöpfe fürchtete, erscheint die Ablehnung durch die Mehrzahl der obersten Beamten doch wieder als “hysterische Überreaktion”. (Margreiter zitiert in Anm. 76 nur Haß 1909, übrigens mit falschen bibliographischen Daten; der locus classicus wäre Granier 1902).

Fruchtbringend könnte es sein, Reformeifer und -unlust gesondert für einzelne Sphären der Verwaltungsschriftlichkeit zu untersuchen. Die Kritik der Sprachreformer richtete sich in erster Linie natürlich auf die Korrespondenz zwischen der Obrigkeit und den Untertanen. Man könnte sich auch fragen, ob die Obrigkeit in dem Maße auf den Kurialien bestand, wie die Untertanen dies antizipierten. Auch das ist ein epochenübergreifendes Phänomen: Ich erhielt einmal einen Archivanfrage von einem Doktoranden unserer Tage, der ohne jede Spur von Ironie mit den Worten schloss: “In der Hoffnung, mit meinem Ansinnen keine Fehlbitte zu tun, bin ich mit vorzüglicher Hochachtung Ihr …” (Der Devotionsstrich fehlte, da per E-Mail suppliziert wurde.)

Man würde wohl sehen, dass Kurialien und Titel von der Verwaltung selbst und insbesondere im innerdienstlichen Schriftverkehr als Problem betrachtet wurden, da der Popanz die Aufgabenerledigung verzögerte (dazu u. a. Polley 1994, zit. in Anm. 62). Reformeifer speiste sich nicht allein aus dem Eindringen ideologischer Elemente des bürgerlichen Zeitalters in die Beamtenschaft, die in das Gewand der Sprachreform gehüllt waren, sondern auch aus pragmatischen Motiven.

Nun war dies nicht Margreiters Thema. Er behält konsequent den Blickwinkel eben dieser Sprachreformer bei und kommt damit zu einem erhellenden und anschlussfähigen Ergebnis. Auf weitere Beiträge dieser Art aus dem Speyerer Forschungsprojekt bleibt zu hoffen!

Literatur

Granier, Hermann 1902. Ein Reformversuch des preußischen Kanzleistils im Jahre 1800. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 15, S. 168–180. (Online)

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22, S. 521–575. (Online)

Polley, Rainer 1994. Standard und Reform des deutschen Kanzleistils im frühen 19. Jahrhundert: Eine Fallstudie. Archiv für Diplomatik 40, S. 335-357.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/147

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