Wollen Archive (mehr) Nutzer?

„Neue Wege ins Archiv. Nutzer, Nutzung, Nutzen“, das war der schöne Titel, unter dem im September 2014 der 84. Deutsche Archivtag in Magdeburg stattfand. Den Nutzer einmal in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken, war eine gelungene Idee, denn eigentlich spielt er eine seltsame Rolle im Archivwesen: Er steht am Ende aller archivischen Arbeitsprozesse, und erst wenn wir Archivarinnen und Archivare alle Bewertungs-, alle Erschließungs-, alle Ordnungsarbeiten geleistet haben, dann kommt er ins Spiel, zu einem Zeitpunkt also, an dem wir die konkrete Arbeit mit dem Archivgut abgeschlossen haben. Und eigentlich spielt es für uns auch nur eine zweitrangige Rolle, ob der Nutzer kommt oder nicht; die archivische Arbeit wird davon nicht beeinflusst, wir bewerten oder erschließen auch völlig ohne irgendwelche Nutzer.

Angesichts dieser nachgeordneten Rolle durfte es allerdings nicht verwundern, dass der Nutzer auf dem Archivtag – trotz des Themas! – nur eine geringe Rolle spielte. Tatsächlich wurde nämlich weniger über den Nutzer gesprochen als vielmehr über die Nutzung. Ist das Wortklauberei? Keineswegs, denn das, was vorgetragen wurde, das war meistens eine archivische Binnenperspektive: Aus organisationsinterner Sicht wurde die Nutzung als Element der archivischen Arbeit wahrgenommen und diskutiert. Nutzung erschien als Prozess, den Archive in unterschiedlicher Form ausgestalten und reglementieren, bevor Nutzer dann innerhalb der geschaffenen Infrastrukturen (z.B. Archivportale) aktiv werden können. Kurz gesagt: Archive sprachen über ihre internen Arbeitsabläufe. Wie die Außenperspektive aber aussehen mag, mit welchen Erwartungen und Interessen der Nutzer an ein Archiv herantritt, welche Rolle dem Nutzer im Archiv zukommen könnte oder sollte, solche Fragen wurden kaum einmal thematisiert. Verstärkt wurde dieser Eindruck dadurch, dass der Nutzer auch gar nicht auf dem Archivtag präsent war, seine Perspektive also gar nicht in die Diskussion eingebracht werden konnte. Es wurde über den Nutzer gesprochen, nicht aber mit ihm. Vermutlich wissen Archive nicht genau, was ihre Nutzer wollen. Wie sollten sie auch, wenn der Nutzerkontakt sich in der traditionellen Bereitstellung erschöpft, alle weiteren Kommunikationsmöglichkeiten – etwa über Soziale Medien – aber weithin ungenutzt bleiben. Gegenwärtig machen Archive weitgehend unberührt von Nutzermeinungen bestimmte Nutzungsangebote, die vorwiegend dahin tendieren, die klassischen Einsichtsmöglichkeiten des Lesesaals in den virtuellen Raum zu spiegeln (und im Wesentlichen noch auf die Findmittel beschränkt sind). Eine maßgebliche Nutzerorientierung bedeuten solche Nutzungsangebote jedoch nicht.

Leider ist diese Tatsache nichts Neues. Auch auf diesem Archivtag habe ich dafür plädiert, den virtuellen Nutzerkontakt doch interaktiv und kommunikativ auszugestalten, den Nutzer als Aspekt archivischer Arbeit zu sehen, der mehr verdient hat, als am Ende einen Lesezugriff auf Archivgut zu erhalten. Auch andere Kolleginnen und Kollegen versuchten zu zeigen, wie man Nutzer – zu beiderseitigem Gewinn! – in die archivische Arbeit integrieren kann. Genannt seien etwa Joachim Kemper vom Stadtarchiv Speyer und Jochen Hermel vom Historischen Archiv der Stadt Köln, die funktionierende Konzepte ihrer eigenen Häuser vorstellten, wie ein Miteinander von Archiven und Nutzern aussehen kann. Dort funktioniert der virtuelle Nutzerkontakt schon in anderen Dimensionen als der bloßen Bereitstellung, etwa durch die alltägliche Vermittlung archivischer Anliegen und Arbeiten, das proaktive Zugehen auf die Nutzer und ihre Interessen oder das Angebot zur Arbeit mit dem Archivgut (z.B. Kommentierungen, Transkriptionen). Leider handelt es sich hierbei um Ausnahmefälle im deutschen Archivwesen, vergleichbare Ideen und Konzepte sind nicht ansatzweise flächendeckend vertreten oder auch nur angedacht.

Warum ist das so? Warum bleibt der Nutzer auf die traditionelle Rolle als mäßig umsorgtes Subjekt am Ende der archivischen Arbeitsprozesse beschränkt? Warum werden interaktive, kommunikative oder kollaborative Elemente von den deutschen Archiven nur so schwach rezipiert (in einem spürbaren Gegensatz zur internationalen fachlichen Entwicklung, von vielen anderen Alltagsbereichen ganz zu schweigen)? Offen ausgesprochen werden Gründe für eine solche Ablehnung kaum einmal, zumal ebendiese meist auch gar nicht sonderlich reflektiert erscheint, sondern sich aus Desinteresse, Unwissen und/oder Unverständnis speist. Argumentiert wird in diesen Fällen gerne mit dem erhöhten Arbeitsaufwand, der hierfür geleistet werden müsse, oder mit einer grundsätzlichen Diskussion, die überhaupt erst einmal geführt werden müsse. Selbstverständlich spricht vieles für einen durchdachten Umgang mit Ressourcen und Zielvorstellungen, aber mittlerweile glaube ich, dass diese Fragen eher sekundärer Natur sind. Schlimmer noch: Möglicherweise verstellen sie den Blick auf das Wesentliche. Die Frage scheint mir nämlich grundsätzlicher gestellt werden zu müssen. Wenn viele Archive sich den mannigfaltigen Möglichkeiten des virtuellen Nutzerkontakts verweigern, dann muss die Frage nämlich lauten: Wollen Archive einen veränderten Nutzerkontakt? Wollen Archive einen intensiveren Nutzerkontakt? Oder auch: Wollen Archive überhaupt (mehr) Nutzer?

Grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass Nutzer für Archive nicht den Stellenwert haben, den etwa Kunden für Unternehmen genießen. Archive hängen nicht mit ihrer Existenz an der Zahl ihrer Nutzer. Wenn ein Unternehmen keine Kunden mehr hat, dann geht es pleite. Wenn ein Archiv keine Nutzer mehr hat, dann bleibt mehr Zeit für Erschließungs- oder gar Forschungsarbeiten. Gut, das ist etwas zugespitzt formuliert, dürfte aber den Kern der Sache treffen. Daraus resultiert natürlich eine mindestens unterschwellige Mentalität, andere Dinge als den Nutzer in den Mittelpunkt der archivischen Arbeit zu stellen. Bestandserhaltung, Ordnungsarbeiten, Überlieferungsbildung und vieles andere mehr hat für Archivarinnen und Archivare eine ähnliche oder höhere Priorität. Die logische Folge sind die Defizite im Nutzerkontakt, die wir gegenwärtig sehen (und über die auf dem Archivtag bemerkenswert wenig gesprochen wurde): Das gilt für den analogen Nutzerverkehr mit mancherlei Gängelungen (Fotografierverbote, Öffnungszeiten, Lesesaalausstattungen etc.), das gilt insbesondere aber für die mangelnde Präsenz der Archive in der virtuellen Welt. Archive müssen erst einmal nicht auf ihre Nutzer zugehen, sie müssen nicht offensiv um ihre Nutzer werben, sie müssen keine Nutzungsangebote schaffen, sie müssen keine Serviceleistungen anbieten, sie müssen keine Kundenbindungen aufbauen. Allein Zugänglichkeit müssen sie sicherstellen und dieses Kriterium kann auch mit dem Aufschließen des Lesesaals an ein paar Stunden in der Woche und der Vorlage einiger maschinengeschriebener Findbücher erfüllt werden. Nur vor diesem Hintergrund kann man verstehen, warum das Engagement der Archive im digitalen Bereich so zurückhaltend ist, gerade auch im Vergleich zu den benachbarten Kulturinstitutionen wie Bibliotheken und Museen. Nur vor diesem Hintergrund kann man verstehen, warum große Teile des Plenums applaudieren, wenn bei der Magdeburger Podiumsdiskussion ein Unverständnis über die Nutzung von Twitter geäußert wird, warum ein Kollege offensiv vertreten kann, für nur 500 Interessenten würde er doch keinen Facebook-Account betreiben, oder auch warum ein großes deutsches Archiv eine Kooperation mit Wikimedia nicht fortsetzt, obwohl die entsprechende Bildernutzung massiv zugenommen hat. Der Nutzer ist nur ein Faktor der archivischen Arbeit und er genießt wohl nicht die höchste Priorität im archivischen Denken und Handeln. Wenn der virtuelle Nutzerkontakt momentan eher schleppend anläuft, dann aus dem einen Grund, dass Nutzerorientierung kein existentielles Anliegen der Archive ist. Die strategische Frage, ob Archive Nutzer wollen oder genauer, ob Archive mehr Nutzer wollen, dürfte gegenwärtig kaum mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden. Auf eine Bejahung dieser Frage würde aber nahezu jede intensivierte Aktivität im virtuellen Raum hinauslaufen. Da diese Frage aber eben nicht grundsätzlich bejaht werden dürfte, bleibt auch das virtuelle Engagement nur schwach ausgeprägt.

Es bleibt die abschließende Frage, ob diese Haltung sinnvoll ist. Natürlich vertrauen Archive gegenwärtig darauf, dass sie ein Monopol auf das von ihnen verwahrte Kulturgut haben. Wer Archivgut nutzen will, muss ins Archiv kommen, so lautet das Kalkül. Aber schon viele Branchen mussten erleben, dass das digitale Zeitalter neue Rahmenbedingungen setzt – und Archive dürften davor nicht gefeit sein. Spürbar sind diese neuen Rahmenbedingungen bereits jetzt, z.B. in den deutlich umfangreicher digitalisierten Bibliotheksbeständen oder auch in den vielfältig online vorliegenden audiovisuellen Medien (auch und gerade aus dem nicht originär archivischen Umfeld). Dort liegt ein erhebliches Reservoir von digitalem Kulturgut vor, das manche Archivnutzung substituieren kann, zumal nicht wenige dieser Angebote hochgradig nutzerzentriert angelegt sind: neben der bloßen Ansicht gehören Funktionalitäten zur Weiternutzung hier zur Normalität. Das sollte uns zu denken geben, denn eine vergleichbar ernst genommene Nutzerorientierung dürfte ein wichtiger Bestandteil der Zukunftsfähigkeit von Archiven sein. Die Fachdiskussion andernorts ist hier schon weiter, stellvertretend – und gleichzeitig auch abschließend – sei die amerikanische Kollegin Kate Theimer zitiert, die für ein neues Geschäftsmodell der Archive plädiert: Nicht der Umgang mit dem historischen Material müsse das Kernanliegen der Archive sein, sondern der Umgang mit den Nutzern: „Archives add value to people’s lives by increasing their understanding and appreciation of the past.“ Viel deutlicher ist die Nutzerorientierung von Archiven nicht zu denken.

Aktueller Nachtrag: Am 21. Oktober 2014 fand die zweite Nutzerkonferenz des Historischen Archivs der Stadt Köln statt (soweit ich sehe, die einzige Veranstaltung dieser Art in der deutschen Archivlandschaft). Dort diskutierten Vertreter unterschiedlicher Nutzergruppen über Angebote und Arbeit des Archivs. Wenig verwunderlich zielten die Nutzerinteressen auf einen guten Online-Zugang zum Archivgut, auf eine attraktive Online-Aufbereitung von bestimmten Themengebieten der (Stadt-)Geschichte, auf eine lebendige digitale Kommunikation von Archiv und Nutzern (auch und gerade über Soziale Medien) und ganz grundsätzlich auf eine Willkommenskultur, die dem Nutzer signalisiert, er ist im Archiv gerne gesehen und wird als wichtiger Bestandteil der archivischen Arbeit wertgeschätzt.

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/2123

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Schritte der Auseinandersetzung mit Medien

Die erste Aufgabe des Blended-Learning Seminars “Frühkindliche Medienbildung”, das von Prof. Dr. Helen Knauf geleitet wird, befasste sich mit der Recherche von Grundlagen des Lernens und der Entwicklung von (kleinen) Kindern. Dieses von den Teilnehmenden selbst erarbeitete Wissen sollte dann mit der digitalen Medienumwelt in Verbindung gesetzt werden. Und zwar in Form einer Präsentation, die zusammen mit dem gesprochenen Text als Screencasts produziert werden sollte. Schritte der Auseinandersetzung mit Medien Zuerst werden allgemeine Informationen zu Kindern und deren Mediennutzung vorgestellt. Danach wird darauf eingegangen, […]

Quelle: http://medienbildung.hypotheses.org/6722

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Linkdossier (2): Kathedralen des Wissens – Bibliotheken im Internetzeitalter

Interessante Ansätze, wie mit Bibliotheken in Zukunft umgegangen werden kann, bietet unsere zweite Ausgabe des Linksdossiers. Dieses Mal gibt es nicht immer ernst gemeinte Vorschläge, wie eine Bibliothek zu organisieren ist. Über weitere erheiternde Vorschläge für die Bibliotheken der Zukunft sind wir wie immer dankbar.

Wie man eine öffentliche Bibliothek organisiert
Ein über 20 Jahre alter Text, der noch heute funktioniert und zu einem Klassiker geworden ist. Umberto Eco darüber, wie eine öffentliche Bibliothek zu organisieren ist:

“1. Die Kataloge müssen so weit wie möglich aufgeteilt sein; es muß sehr viel Sorgfalt
darauf verwandt werden, den Katalog der Bücher von dem der Zeitschriften zu trennen
und den der Zeitschriften vom Schlagwort- oder Sachkatalog, desgleichen den Katalog
der neuerworbenen Bücher von dem der älteren Bestände. Nach Möglichkeit sollte die
Orthographie in den beiden Bücherkatalogen (Neuerwerbungen und alter Bestand)
verschieden sein: beispielsweise Begriffe wie “Code” in dem einen mit C, in dem anderen
mit K oder Namen wie Tschaikowski bei Neuerwerbungen mit einem C, bei den anderen
mal mit Ch, mal mit Tch.”

“Bibliothekslatein” oder Umberto Eco 2.0
Auf Eco aufbauend hat Dr. Oliver Obst in seinem Blog die Regeln ins Internetzeitalter verschoben:

“1.
Der Bibliothekar muß den Benutzer als dumm betrachten, informationsinkompetent, RSS-unwissend, ein Nichtstuer (andernfalls säße er an der Arbeit) und YouTube-Süchtiger.”

Auf ins Lesefreudenhaus
In der Zeit berichtet Pia Volk darüber, dass die Menschen nicht mehr in die Bibliotheken kommen, weil sie Bücher brauchen:

»Die Menschen kommen zu uns, um sich den Kopf wieder frei zu machen«, sagt Bürger. Was paradox klingt.

Bibflirt.de
Bibliotheken dienen nicht immer nur der Wissens-, sondern manchmal auch der Partnervermittlung. Auf Bibflirt.de können ganz Schüchterne anonym ihr Herz zum Beispiel so ausschütten:

“An den Zuckerjungen von der Ausleihe, der uns Mädchen in senem himmelblauen Hoodie verzaubert! Wir wollen, dass du weißt, dass dein verträumtes Lächeln der einzige Grund für uns ist, Tag für Tag die Bibliothek zu betreten! Danke <3″

Library turns to pole dancing to entice new readers
Auch eine Möglichkeit, potentielle Leser*innen anzusprechen: die Bibliothek einfach Zweck entfremden, das soll laut Guardian in Schottland passieren. Am 2. Februar, dem “Love Your Library Day”, wird die Bibliothek in eine Poledance-Klasse verwandelt. Daneben soll mit Büchern statt mit Schlägern Tischtennis gespielt werden. Die Motivation dahinter:

“Love Your Library Day is a marvellous opportunity for us all to celebrate the hugely important role libraries play in the heart of our local community.”

Quelle: http://gid.hypotheses.org/268

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