ez muoz dem Berner werden leit – Rächende Riesen in der aventiurehaften Dietrichepik

1000 Worte Forschung: Masterarbeit, Universität Hamburg, abgeschlossen 2014 Die vom 13. bis zum 16. Jahrhundert überlieferte aventiurehafte Dietrichepik ist im Hinblick auf ihre Riesenfiguren bisher nur punktuell betrachtet worden.[1] Die Masterarbeit untersucht erstmals die Dynamik der Riesenkämpfe in der heldenepischen…

Quelle: https://mittelalter.hypotheses.org/9544

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Systematik eines Urlaubs.


Was der Krieg Heinrich Echtermeyer lehrte.

Lukas Boch/Michael Boch

 

Bereits der erste überlieferte Feldpostbrief, den der Landwirt Heinrich Echtermeyer an seinen Bruder Bernhard schreibt, enthält die Bitte, ein Urlaubsgesuch beim örtlichen Amtmann einzureichen.[1] Diesen Wunsch formuliert er über seine gesamte Briefkorrespondenz hinweg immer wieder. In seinen überlieferten 58 Feldpostbriefen und Postkarten an seinen Bruder kommt das Wort „Urlaub“ in jedem dritten,[2] der Begriff „Gesuch“ in jeden fünften[3] Schreiben vor. Die enorme Wichtigkeit des Themas Urlaub lässt sich folglich schon an der schieren Quantität der Erwähnungen in seiner Korrespondenz erkennen. Dabei hat es den Anschein, als entwickele Echtermeyer regelrechte Gesuchsstrategien. Die Entwicklung dieses Systems manifestiert sich in den immer komplexer werdenden Anweisungen an seinen Bruder und wohl auch seine Frau, von denen wir über die Briefe an Bernhard Kenntnis erlangen. Offenbar ist für Echtermeyer ein Kompetenzzuwachs in einen Bereich nachzuweisen, den der Landwirt zuvor nicht berührte.

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Quelle: https://feldpost.hypotheses.org/875

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Vom Tod schreiben

Maximilian Wiech

Im Krieg ist der Tod allgegenwärtig. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch August Jasper diesen in seinen Briefen an seine Frau Bernhardine immer wieder thematisiert. So erwähnt er mindestens 273 gefallene Kameraden, Freunde und Verwandte, von deren Tod ihm berichtet wurde oder deren Zeuge er war. Doch wird die tatsächliche Anzahl an Toten, mit denen Jasper sich konfrontiert sah, diese Zahl noch um ein vielfaches überstiegen haben, erwähnt er doch in 35 der 112 Briefe, in denen er über an der Front gefallene Kameraden oder verstorbene Bekannte aus der Heimat schreibt, lediglich eine unbestimmte Anzahl an Verlusten. Von den Verlusten der Gegenseite schreibt Jasper in deutlich weniger Briefen; auch konkrete Zahlen nennt er nicht. Doch um zu verstehen, wie Jasper den Tod in seinen Briefen behandelt, reichen bloße Zahlen allein nicht aus. Es ist vielmehr zu analysieren, wie Jasper die Tode kommuniziert. Dafür ist es ratsam, die Todesfälle in zwei Gruppen aufzuteilen: Dabei umfasst die erste Gruppe die Toten aus Jaspers Kompanie, die zweite hingegen jene aus Jaspers Bekannten- und Freundeskreis.



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Quelle: https://feldpost.hypotheses.org/459

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Die Technisierung des Todes

von Norbert Fischer – Die Einführung der Feuerbestattung im späten 19. Jahrhundert veränderte den Umgang mit Trauer und Tod grundlegend. An der Schnittstelle von Trauerfeier und Technik prallten die Vorstellungen der Befürworter auf die konservative Haltung ihrer Gegner – sowohl sinnbildlich als auch architektonisch. Somit war auch der Bau des ersten Krematoriums in Hamburg lange umstritten, bis äußere Umstände die Stadt zum Handeln zwangen.

Die Einführung der modernen Feuerbestattung und der Bau der ersten Krematorien technisierten den Umgang mit den Toten und veränderten die Bestattungskultur grundlegend. Sie vollzog sich im Kontext einer Epoche, die sich mit Stichwörtern wie Hochindustrialisierung, Urbanisierung, Technisierung und Verwissenschaftlichung kennzeichnen lässt. Mit der Feuerbestattung war eine mechanistisch-materialistische Vorstellung vom Körper verbunden, der zufolge dieser als bloße Zusammensetzung einzelner Teile galt. Parallel zur bürgerlichen „Feier“ des Todes im Gesamtkunstwerk des landschaftlichen Parkfriedhofes schritt die Entzauberung von Sterben und Tod voran. Der Tod erschien nun immer mehr in seiner bloßen technischen Materialität. Für den Umgang mit Tod und Trauer wurden praktisch-rationale Aspekte wie Hygiene und Technik entscheidend. Die Einführung der modernen Feuerbestattung und der Bau des ersten Hamburger Krematoriums 1892 zeigen schlaglichtartig, wie sich der Wandel der Bestattungskultur in steter Wechselwirkung zu sozialen, wirtschaftlichen, technischen und politischen Veränderungen vollzog.

Die Einführung der modernen Feuerbestattung im späten 19. Jahrhundert

Die im späten 19. Jahrhundert eingeführte moderne, durch industrielle Technik geprägte Feuerbestattung wurde zur grundlegenden Reform im Bestattungswesen. Hamburg zählte dabei zu den Zentren der frühen Feuerbestattungsbewegung. Das 1892 eingeweihte erste Hamburger Krematorium war (nach Gotha 1878 und Heidelberg 1892) das dritte seiner Art in Deutschland. Als Ursachen für die Einführung der modernen Feuerbestattungen gelten allgemein jene Entwicklungen, die im Zusammenhang mit Hochindustrialisierung und Urbanisierung standen: rasches Bevölkerungswachstum und zunehmender Platzmangel auf städtischen Friedhöfen, wachsendes Hygienebewusstsein, Technisierung von Gesellschaft und Kultur, der schrittweise Bedeutungsverlust christlicher Traditionen und die allgemeine Verwissenschaftlichung der Gesellschaft.[1]

Insgesamt entwickelte sich die Regelung der rechtlichen Voraussetzungen für die Feuerbestattung und den Bau von Krematorien in den einzelnen deutschen Teilstaaten uneinheitlich. Preußen schuf erst 1911 eine entsprechende gesetzliche Basis. In Hamburg wurden die gesetzlichen Bestimmungen zur Feuerbestattung nach langwierigen Streitigkeiten zwischen Bürgerschaft und Senat unter dem Druck der schweren Cholera-Epidemie von 1892 erlassen. Auch musste die Anlage hier, im Gegensatz zu den öffentlichen Friedhöfen von Gotha und Heidelberg, auf Druck des Senats auf einem Privatgrundstück errichtet werden (das immerhin nahe des Ohlsdorfer Friedhofs an der heutigen Alsterdorfer Straße lag). Der Hamburger Senat wollte zudem die Benutzung des geplanten Krematoriums auf die ortsansässige Bevölkerung beschränken, um keine diplomatischen Konflikte mit Preußen aufkommen zu lassen – und preußisch waren damals bekanntlich auch die direkten Nachbarstädte Altona, Wandsbek und Harburg. Neben politischem und gesellschaftlichem Konservativismus bildeten vor allem die christlichen Kirchen den Hauptgegner der Feuerbestattung, weil die Einäscherung der christlichen Tradition zutiefst zu widersprechen schien.

Trotz aller Widrigkeiten setzte sich die moderne Feuerbestattung schrittweise durch. Es waren vor allem Vertreter des aufgeklärt-gebildeten, vor allem auch protestantischen Bürgertums, die sich in der Frühzeit der Feuerbestattung einäschern ließen: Akademiker bzw. Freiberufler, Kaufleute, höhere Beamte. Speziell in Hamburg betrug der Anteil kaufmännischer Berufe, freier Akademiker und Beamter unter den Eingeäscherten zwischen 1892 und 1895 fast zwei Drittel, unter den Beerdigten des Ohlsdorfer Zentralfriedhofs hingegen nur ein gutes Fünftel.[2] Die Anhänger der Feuerbestattung organisierten sich in Vereinen, um den Bau von Krematorien durchzusetzen. Der erste Vorstand des 1883 begründeten Hamburger Feuerbestattungsvereins verzeichnete drei Ärzte, drei Kaufleute, je einen Rechtsanwalt, Beamten, Chemiker, Ingenieur und Buchdruckereibesitzer.[3] Bei den Anhängern der Feuerbestattung handelte es sich um einen spezifischen Kreis innerhalb des gebildeten Bürgertums, der offensiv auf die gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen reagierte und die sich nun entfaltenden (den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu verdankenden) Potentiale entsprechend nutzte. Insbesondere Mediziner engagierten sich weiterhin für den Bau von Krematorien; nicht zufällig sprachen sich die internationalen medizinischen Kongresse 1869 in Florenz und 1871 in London für die Einführung der Feuerbestattung aus. Im Deutschen Reich waren es nicht zuletzt Vertreter der öffentlichen Gesundheitspflege, die auf die Bedeutung der Einäscherung für das Bestattungswesen vor allem der Großstädte hinwiesen. Nachdem Hygieniker und Ärzte für eine Ausbreitung hygienischer Gedanken in der Medizin gesorgt hatten, begannen sie nun in Zusammenarbeit mit Kommunalpolitikern, die öffentliche Gesundheitspflege in den Städten zu propagieren. Ärzte, kommunale Beamte, Architekten und Ingenieure wurden zu Trägern und Repräsentanten der neuen Hygienebewegung in den Städten. Dabei war das jeweilige Interesse und Engagement für die Feuerbestattung keineswegs rein ideeller Natur. Architekten erwuchsen neue Bauaufgaben, Rechtsanwälten winkte aufgrund der noch immer unsicheren Rechtslage ein weiteres Betätigungsfeld (zahlreiche Prozesse, etwa um Aschenbeisetzungen auf kirchlichen Friedhöfen, zeugen davon). Sich immer weiter professionalisierende Berufe wie Ärzte und Ingenieure konnten mit dem technischen Ausbau hygienerelevanter Einrichtungen ihre eigenen beruflichen Chancen ebenso steigern wie ihr gesellschaftliches Prestige. Jedenfalls gelang es den Feuerbestattungsvereinen bald in einigen deutschen Städten, eine hochtechnisierte Bestattungsart in einem stark von Traditionen geprägten Bereich wie Tod und Bestattung einzuführen, und dieser allmählich soziale Akzeptanz zu verschaffen.

Architektur an der Schnittstelle von Technik und Trauerfeier

Solange die nackte Technik aus Rücksicht auf herrschende Pietätsvorstellungen verborgen bleiben sollte, standen die Architekten vor einem Dilemma. Einen besonders aufschlussreichen Fall stellt hier das Hamburger Krematorium dar.[4] Errichtet nach Entwürfen des Architekten Ernst Paul Dorn, gilt es in seiner Synthese barocker, romanischer und byzantinischer Elemente als Beispiel für sehr späte Formen des Historismus.[5] Auf den ersten Blick fällt die Gestaltung des Schornsteins auf: Er wird an der Spitze von einem Zinnenkranz umgeben, seine Höhe von rund 25 Meter war baupolizeilich vorgeschrieben. Daneben prägen unterschiedliche Dachformen, wie Zeltdach und stumpfwinkliges Satteldach, den äußeren Eindruck. Zur architektonischen Gliederung des Gebäudes verwendete Dorn rote Verblendziegel und in geringem Maß Formsteine; Wandflächen setzte er teilweise durch einfachen Zementputz ab.[6]

Der Verarbeitung von Verblendsteinen maß der Architekt dabei besondere Bedeutung zu. Kunsthistorisch wird diese Gestaltungsweise als Ausdruck einer „fortschrittlichen und technisch modernen ‘Materialwahrheit’“ interpretiert; im zeitgenössischen Hamburg wurde sie bezeichnenderweise sowohl bei Industriebauten angewendet als auch in der sakralen Baukunst.[7] Ernst Paul Dorn selbst hatte noch kurz vor Fertigstellung des Krematoriums eine als Musterbeispiel technischen Bauens gerühmte Maschinenhalle für die Hamburger Industrie- und Gewerbeausstellung von 1889 errichtet.[8] Immerhin bildete die offensichtliche Nähe des Hamburger Krematoriums zur Fabrikarchitektur einen deutlichen Fingerzeig auf den technisch-industriellen Hintergrund der Feuerbestattung.

Bei der inneren Gestaltung verwirklichte Dorn die Idee eines Zentralraumes.[9] Mit ihrer achteckigen Grundform bot diese Halle bei Trauerfeiern Platz für rund 100 Personen; eine kleine Vorhalle beherbergte die Empore mit einem Harmonium. Eine gegenüber dem Haupteingang gelegene Nische markierte den Platz für die Aufbahrung des Sarges, die auf einem entsprechend geschmückten Katafalk erfolgte; hier fanden auch Ansprachen statt.[10] Dies versinnbildlicht den heikelsten Punkt der Feuerbestattung: die Schnittstelle von Technik und Trauerfeier.[11] Da die technischen Anlagen aus Rücksicht auf die Pietät in aller Regel in das Untergeschoss verbannt wurden, musste eine Verbindung zur Trauerhalle hergestellt werden. Dies geschah normalerweise durch eine Hebevorrichtung, die an ihrem oberen Ende in einen Katafalk mündete. Auf letzterem blieb der Sarg während der Trauerfeier aufgebahrt und glitt anschließend hinunter; die entstehende, den Blick auf die technische Anlage freigebende Öffnung wurde rasch wieder geschlossen (in Hamburg durch eine Rolljalousie). Im 1901 eröffneten Mannheimer Krematorium wurde der Katafalk zusätzlich mit einem von vier schlanken Säulen getragenen Dach versehen, das bei der Versenkung mit hinunterglitt und die Öffnung verschloss. Dass dieser Moment in der Öffentlichkeit als heikel empfunden wurde, zeigt folgender Pressekommentar zur Mannheimer Lösung: „Da das kaum mannshohe Dach leicht mit Kränzen und losen Blumen zu schmücken ist, so würde die Gruft wie mit diesen gedeckt und geschlossen erscheinen, und es ist wohl denkbar, daß ein solcher Abschluß der Trauerfeier von ästhetisch noch wohlthuenderer Wirkung wäre, als es in jenen Crematorien [Gotha und Hamburg] der Fall ist.“[12]

Traditionelle Atmosphäre: Trauerfeiern im Krematorium

Nach wie vor unter gesellschaftlichem Legitimationsdruck stehend, zeigten sich die Anhänger der Feuerbestattung bei der Gestaltung von Trauerfeiern in besonderem Maß bestrebt, traditionelle Pietätsvorstellungen nicht zu verletzen. Für derartige Rücksichten waren nicht zuletzt auch finanzielle Erwägungen ausschlaggebend: Nur eine genügende Auslastung der privat vorfinanzierten Krematorien konnte für einen kostendeckenden Einäscherungsbetrieb sorgen, und schon aus diesem Grund bemühten sich die Vereine natürlich um möglichst große Akzeptanz in der Bevölkerung. So verband die Feuerbestattungsbewegung die vorgegebenen Abläufe des Krematoriumbetriebes mit bekannten Versatzstücken der bei Beerdigungen üblichen Zeremonien. Die Zäsur, die der Einsatz moderner Technik bedeutete, wurde durch vertraute Muster der Sepulkralkultur übertüncht. Selbst wenn die Gestaltung der Zeremonien theoretisch den Angehörigen überlassen blieb, versuchte der Hamburger Feuerbestattungsverein über entsprechende Vorschläge immer wieder der Vorstellung entgegenzuwirken, dass mit der Einäscherung eine Absage an bisherige Traditionen verbunden sei.[13] Zu den wichtigsten (da sichtbaren) Arrangements zählte die Dekoration der Halle und des aufgebahrten Sarges mit Kränzen, Pflanzen und Blumen.[14] Verwendet wurden Arten, die als typische Zeichen der Anteilnahme galten (Palmen, Lorbeer, Immergrün, Rosen). Stimmungsvolle Gemälde und die im zweiten Jahr nach der Eröffnung angebrachten Bronzekandelaber sollten eine feierliche Atmosphäre im traditionellem Sinn erzeugen. Außerdem sorgte der Hamburger Feuerbestattungsverein gegen entsprechende Gebühren für Trauermusik und Trauergesang. Geistliche Traueransprachen fanden zwar häufig, aber keineswegs immer statt. Obwohl ab 1896 ein regelmäßig auf dem nahen Friedhof Ohlsdorf anwesender protestantischer Geistlicher auf Initiative des Vereins auch dem Krematorium zur Verfügung stand.[15]

Ein prominentes und daher gut dokumentiertes Beispiel, die Einäscherung des Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow am 29. März 1894,[16] gibt detaillierteren Aufschluss über die sich bei den frühen Feuerbestattungen entfaltenden sepulkralen Muster und über die Einstellung der Beteiligten. Die Einäscherung Bülows, der sich 1887 in Hamburg niedergelassen hatte, geschah auf eigenen testamentarischen Wunsch. Bemerkenswert angesichts der Geschichte der Feuerbestattung erscheint zunächst, dass der Trauerzeremonie im Krematorium eine Feier in einer Hamburger Kirche vorausging. Nach der Kirchenfeier wurde der Sarg mit Bülows Leichnam zum Krematorium gefahren. Die dortige Trauerfeier war von Trauergesang und -musik geprägt (am Harmonium spielte Gustav Mahler) und mündete in einen weltlichen Nachruf. Schließlich glitt, untermalt von Gesang, der reichlich mit Blumen geschmückte Sarg mittels der hydraulischen Anlage in die Tiefe. Vor der Einäscherung entfernten Angestellte des Krematoriums den Trauerschmuck vom Sarg und übergaben ihn den Angehörigen; in Ausnahmefällen durften einzelne Blumen mit in die Verbrennungskammer gegeben werden – „gewissermaßen ein sinnlicher Ausdruck dafür, daß treue Liebe über den Tod hinausgeht“, wie der Vorsitzende des Hamburger Feuerbestattungsvereins, Eduard Brackenhoeft, in einer Broschüre vermerkt.[17] Zum darauf folgenden technischen Einäscherungsvorgang stand die Feier in keinerlei Verbindung.  Wie andere Vereine achtete auch der Hamburger Feuerbestattungsverein auf eine strikte Trennung zwischen Trauerfeier und Einäscherung, um die vielfach kritisierte Übergabe des Leichnams an die Technik zu kaschieren. Während sich die Trauerfeier im Krematorium in der Regel so eng als möglich an die auf Friedhöfen übliche Beisetzung anlehnte, wurde die Einäscherung und damit das eigentlich Neue unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen. Der Hamburger Vereinsvorsitzende Brackenhoeft hatte in seinen verschiedenen Publikationen zur Feuerbestattung in besonderem Maß die erforderliche Rücksichtnahme auf bestehende Traditionen betont: „Jeder neue Brauch wird am leichtesten dann volkstümlich und hat am ehesten dann Aussicht auf Verallgemeinerung, wenn er sich möglichst dem Hergebrachten anschließt. Ist doch die Abweichung von der Sitte oft einer der Hauptvorwürfe, die man den Freunden der Feuerbestattung macht.“[18]

Die Kommunalisierung der Feuerbestattung

Für die Feuerbestattung sollte es von großer Bedeutung sein, dass sie auch in breiten Arbeiterkreisen Fuß fassen konnte. Dies geschah im wesentlichen nach dem Ersten Weltkrieg, also in der Zeit der Weimarer Republik. Nun erwies sich die Feuerbestattung als ein entscheidender Baustein der Rationalisierung im kommunalen Bestattungswesen. Immer mehr Krematorien – auch das Hamburger – waren inzwischen, zum Teil auf gesetzlichen Druck, in kommunale Hände übergegangen, und die Einäscherungspraxis konnte gezielt in städtische Rationalisierungskonzepte einbezogen werden: „Die Friedhofsverwaltungen [besonders in Großstädten] haben ein lebhaftes Interesse daran, sie zu fördern, weil sie erhebliche Ersparnisse an Friedhofsgelände bringt. Dieses finanzielle Interesse, das sich naturgemäß auch auf die Kosten der Feuerbestattung selbst auswirkt, zwingt aber auch dazu, den Minderbemittelten Aschengrabplätze zur Verfügung zu stellen, die nicht mehr Raum in Anspruch nehmen, als für die Unterbringung der Aschenreste notwendig ist,“[19] hieß es von offizieller Seite. Die bessere Auslastung der Anlagen und effizientere Nutzung der Friedhofsfläche waren willkommene Folgewirkungen. Neue, pragmatische Formen der Aschenbeisetzung wurden nun entwickelt, die schließlich in den Formen anonymer Beisetzung münden sollten. Durch gezielte Gebührensenkungen gelang es den Kommunen, die Einäscherungszahlen deutlich zu steigern. Signifikant ist die Entwicklung vor allem in den Großstädten: In Hamburg beispielsweise, dessen erstes Krematorium 1915 kommunalisiert wurde, wuchs der Anteil der Einäscherungen an den Gesamtbestattungen stetig an. 1933 schließlich wurde auf Grund der steigenden Nachfrage auf dem Ohlsdorfer Friedhof das zweite, von Fritz Schumacher entworfene Hamburger Krematorium eingeweiht – letztes Bauwerk des von den Nationalsozialisten aus dem Amt getriebenen Oberbaudirektors. Insgesamt darf zumindest für die Städte behauptet werden, dass die Feuerbestattung in der Zeit der Weimarer Republik ihren „exotischen” Charakter verlor. Das bedeutete allerdings nicht, dass der Umgang mit ihr generell etwas Selbstverständliches wurde. Die katholische Kirche etwa erlaubte die Feuerbestattung erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den frühen 1960er Jahren. Gegenwärtig liegt der Anteil der Feuerbestattungen an den Gesamtbestattungen im deutschlandweiten Durchschnitt bei über 50 %, in einigen Städten und Regionen – darunter auch Hamburg – jedoch weit höher.



[1] Zur Geschichte der Feuerbestattung siehe Norbert Fischer: Zwischen Trauer und Technik. Eine Kulturgeschichte. Berlin 2002; siehe auch Axel Heike-Gmelin: Kremation und Kirche. Die evangelische Resonanz auf die Einführung der Feuerbestattung im 19. Jahrhundert. Berlin 2013.

[2] Eigene Auswertung folgender Unterlagen der Friedhofsverwaltung Hamburg: Sargregister 1892-1895; Feuerbestattungsregister 1892-1895 (Feuerbestattungen: n = 73; Beerdigungen: n = 76). Siehe auch Fischer: Umgang, 1986, S. 46.

[3] Eduard Brackenhoeft: Das Crematorium in Hamburg. Eine übersichtliche Darstellung der Entstehung, Einrichtungen und Betriebsvorschriften des Crematoriums in Hamburg. Hamburg 1896, S. 1, Fußnote.

[4] Für Beschreibung und Interpretation des Hamburger Krematoriums greife ich unter anderem auf folgenden Aktenbestand zurück: Denkmalschutzamt Hamburg: Akte Altes Krematorium Alsterdorfer Str. DA 39-407.301. Band 1-5. – Zur Geschichte der Krematoriumsarchitektur siehe Henning Winter: Die Architektur der Krematorien im Deutschen Reich 1878-1918. Dettelbach 2001.

[5] Hermann Hipp: Gutachten betr. Ehemaliges Krematorium Hamburg-Alsterdorf. 1976, S. 7. In: Denkmalschutzamt Hamburg, Akte Altes Krematorium.

[6] Brackenhoeft: Crematorium (wie Anm. 19), S. 10; Ernst Paul Dorn: Das Hamburger Crematorium. In: Deutsche Bauzeitung 26, 1892, S. 97.

[7] Hipp (wie Anm. 21), S. 7-8.

[8] Roland Jaeger: Hoch Hammonia! Gewerbe- und Industrieausstellung von 1889. In: Volker Plagemann (Hg.): Industriekultur in Hamburg. Des Deutschen Reiches Tor zur Welt. München 1984, S. 84-86, hier S. 85.

[9] Hipp (wie Anm. 21), S. 7.

[10] Brackenhoeft: Crematorium (wie Anm. 19), S. 12-13.

[11] Ernst Beutinger: Handbuch der Feuerbestattung. Leipzig 1911, S. 129.

[12] Illustrirte Zeitung Nr. 3010, 7.3.1901, S. 365.

[13] Eduard Brackenhoeft: Feuerbestattung und Pietät. Wien 1909, S. 4.

[14] Hierzu und der folgenden Beschreibung siehe Brackenhoeft: Crematorium (wie Anm. 19), S. 13.

[15] Ebd. S. 13 und S. 29-30.

[16] Bernhard Stockmann: „Ruht wohl, ihr teuren Gebeine“. Die Trauerfeiern für Hans von Bülow. In: Harald Weigel (Hg.): Festschrift für Horst Gronemeyer zum 60. Geburtstag. Herzberg 1993, S. 461-477.

[17] Diese Beschreibungen und das Zitat nach Brackenhoeft: Crematorium, 1986, S. 13-17 und S. 29-30.

[18] Eduard Brackenhoeft: Die Beisetzung der Aschen-Überreste Feuerbestatteter. Ihre Berechtigung und Gestaltung. Ein Beitrag zur Theorie und Praxis der Feuerbestattung. Hamburg 1904, S. 34.

[19] Frank/[Otto] Linne (Friedhofsverwaltung Hamburg): Aschengrabmale für den Ohlsdorfer Friedhof. Hamburg 1924, S. 6-8.

 

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1226

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Warum Enkidu? Nachdenken über eine Leerstelle.

2011 gab Prof. Gregory Currie in einem Beitrag1 der philosophischen Plattform Philosophy File eine einigermaßen negative Rezension des Gilgamesch-Epos, wobei Sätze fielen wie: “[…] its popularity, to me, remains something of a mystery and I think it contrasts very starkly and in fact very poorly with the other great literatures of the Ancient World that we have; and I’m thinking here particularly of Homer and of the Bible stories.” und “[…] in terms of interest and narrative density”, fährt er fort, während er einräumt, dass diese Texte weit später entstanden sind, “I think those stories are vastly more interesting than Gilgamesh is.” Er nennt die Erzählung missglückt, zumindest in vielerlei Hinsicht, weil sie ein für ihn wichtiges Element des Erzählens vermissen lässt, das ist das Nachdenken über das Denken, was Currie unter Metakognition fasst.

Wir finden Metakognition sozusagen als Zement des Plots in so ziemlich jeder Erzählung, mindestens in den modernen und dort auch in den noch so trivialen. Sich bewusst zu sein über die Tatsache, dass wir in der Lage sind zu denken, bedeutet, dass unsere Handlungen in einem Kontext verortet sind, sowohl von unserem eigenen Denken als auch von dem Denken, das wir in anderen Menschen erkennen. Und Currie spricht hier von “all sorts of immense powers”, die die mit Metakognition einhergehende Vorhersagbarkeit von menschlichem Handeln und die Möglichkeit zu Betrügen mit sich bringen. Das allein schon gibt uns eine ganze Reihe von Verfahren, um das Handeln von fiktiven Figuren glaubwürdig zu erzählen und Abläufe eines Geschehens nachvollziehbar auszugestalten.

Wie können wir also erklären, dass, was Currie als einen absoluten Mangel an Metakognition bezeichnet, nichts davon wegnimmt, dass die Geschichte von Gilgamesch über Jahrhunderte hinweg so gut wie nicht an Popularität eingebüßt hat? Viel mehr noch, wie ist es überhaupt möglich eine Geschichte zu erzählen, die ein so basales Mittel der Handlungsmotivation vermissen lässt? Fehlt uns das Verständnis, der kulturelle Hintergrund dafür, welche Ideen dem Text zugrundeliegen, wie Currie als nicht sonderlich evidente Möglichkeit einräumt? Oder, wie er ebenfalls anbietet, gehört es für eine der ältesten Handelskulturen nicht zur Agenda zu problematisieren, was in anderen Menschen vor sich geht? Ist eine der ältesten verschriftlichen Großen Erzählungen der Menschheit ein narratives Unglück?

Der, der die Tiefe sah, die Grundfeste des Landes (I, 1)

Das Gilgamesch-Epos wurde vor vermutlich etwa viereinhalb tausend Jahren das erste Mal niedergeschrieben und geht wahrscheinlich viel weiter zurück auf eine mündliche Tradition. Die Abundanz der archäologischen Funde von Fragmenten von Keilschrifttafel in einem Rahmen von mehreren hundert Jahren und quasi allen wichtigen Kulturzentren des Zweistromlandes lassen darauf schließen, dass das Epos nicht einfach nur populär war, sondern mindestens ein voller Erfolg, in seiner Einschlagswirkung noch größer als der französische Rosenroman oder das Nibelungenlied.

Eine ausreichend detaillierte Nacherzählung des Epos ist an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich. Den geneigten Leser möchte ich deshalb auf die zahlreichen verfügbaren Zusammenfassungen verweisen, die sich im Internet, in den Editionen und in den meisten umfassenden Arbeiten zum Epos finden lassen.2 Grob summarisch lässt sich feststellen, dass das Epos aus zwei gerahmten Erzählteilen besteht. Die Rahmung stellt die zu Beginn offensichtlich an den Leser gerichtete und am Ende von Gilgamesch für Ur-šanabi wiederholte Beschau der Mauern von Uruk. Der erste Erzählteil schildert die Schaffung Enkidus in der Steppe, seinen Weg in Gilgameschs Stadt, Uruk, und die Abenteuer der beiden bis zu seinem Tod. Daran schließt der zweite Erzählteil an, der Gilgamesch in Trauer und Selbstverzweiflung auf der Suche nach ewigem Leben in die Weite der Steppe und bis an den Rand der sterblichen Welt treibt, um mit leeren Händen, aber reich an Erfahrung und Wissen über seinen Platz in der Welt zurückzukehren.

Er ist ihr Hirte und er ist ihr Hüter (I, 89)

Mir persönlich erscheint für ein zumindest basales Verständnis von Heldenepen eine freilich viel zu vereinfachte Formel für angemessen sinnvoll: Die Helden sind Herrscher und Zivilisationsbringer, die durch ihr Epos pars pro toto legitimiert werden. Da jeder Herrscherheld Träger und gleichzeitig Prototyp eines dynastischen Herrschertums3 ist, hat das Epos vor allem dadurch hohe Reichweite, dass die Kulturträger potentiell an seiner Weiterverbreitung interessiert gewesen sein werden: Es darf als weitaus ökonomischer angenommen werden, den Leuten Geschichten von der Notwendigkeit und den Vorzügen eines Despotismus vorzusetzen, die vor allem auch durch Erzählredundanz Wahrheit erhalten, als sie mit der Peitsche gefügig zu machen. Gilgamesch ist am Ende der Inbegriff eines guten Menschen, eines guten Herrschers. Und wenn das Epos öffnet und schließt mit der Aufforderung, die Mauern Uruks zu befühlen, sie der ganzen Länge nach abzuschreiten und ihre Herrlichkeit zu bewundern, dann ist das die Aufforderung, sich über die gegenwärtige Realität eines behüteten Daseins durch den Despoten in statu quo im Klaren zu sein. Wenn Uruk als Schafpferch und Gilgamesch am Ende als guter Hirte darstellt sind, so ist das Ausdruck davon, dass das bestehende Prinzip einer bekannten, zweckmäßigen Ordnung unterliegt.

Doch gehen wir noch einmal einen Schritt zurück. Gilgamesch ist zu Beginn des Geschehens ein absolut miserabler Herrscher. Und senden die Götter nicht Enkidu, um ihn von seiner Maßlosigkeit zu heilen? Tatsächlich findet Gilgamesch in Enkidu einen Spielkameraden, mit dem er sowohl das Spiel der Liebe, als auch das Kampfesspiel betreiben kann. Und in seiner Stärke und Unerschöpflichkeit ist Enkidu ein perfektes Gegenstück für einen Fürsten, der nicht genug von Gewalt und sexuellen Eskapaden haben kann. Als diese Triebe ihre Befriedigung finden, wird Gilgamesch eindeutig zum Kulturbringer, der aus den Zedern des Waldes ein prächtiges Tempeltor zimmern lässt und wie ein frühzeitlicher Herkules die Umgebung der Stadt von Raubtieren befreit. Doch mit Enkidu wird er nicht zu dem, was die babylonische Ordnung verlangt, denn er ist noch immer maßlos in seinem Feiern, maßlos frech gegenüber der Stadtgöttin von Uruk, Ischtar, sogar weitaus maßloser in seiner Stärke im Bezwingen des Himmelsstiers. Enkidu macht aus Gilgamesch nicht den größten Fürsten aller Zeiten: Erst die Selbsterkenntnis seiner condition humaine am Ende des Epos sorgt dafür.

Wofür brauchen wir dann Enkidu, der ja bei der zweitbesten Gelegenheit völlig unspektakulär an einer Krankheit vergeht, klagend darüber nicht im Kampf getöten worden zu sein. Man könnte meinen, dass das Epos einen noch viel größeren Fehler begeht, als nicht über das Denken seiner Figuren zu informieren: Es erzählt von einer Figur, die im Grunde nicht dafür nötig ist, die finale Motivation der Erzählung zu erfüllen. Und es wird sogar noch abstruser, denn tatsächlich nimmt dieser Teil des Erzählens über die Hälfte des Textes ein und wir erfahren weit ausschweifend nicht nur von den zwei, manchmal drei Träumen Gilgameschs von der Ankunft Enkidus, sondern von seinen Träumen und den Gesprächen mit Enkidu während der Reise in den Zendernwald. Und wie Enkidu stückweise mehr und mehr menschlich wird. Was hat man sich dabei gedacht? War es das Problem so vieler studentischer Hausarbeiten, „ich habe 12 Tafeln zu schreiben, aber mein Thema reicht nur für fünf davon“? Wurden hier zwei Geschichten gedankenlos zusammengefügt, wie so mancher spätmittelalterliche Codex, der geomantische Wahrsagerlehren und Fragmente des Nibelungenliedes für eine gute Kombination hält? Ich meine, dieses Problem hängt stark mit dem zusammen, was Currie am Epos anprangert, nämlich der scheinbaren Unverbundenheit wichtiger Erzählmomente. Aber das hat einen Grund.

… versehen mit Locken wie eine Frau. (I, 106) … frißt mit Gazellen er Gras. (I, 110)

Schauen wir uns eine Stelle genauer an. Als Ninsun die Verbrüderung ablehnt, kommt Gilgamesch wie aus dem Nichts auf die Idee, den Riesen Chumbaba abzuschlachten. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass das jetzt irgendwie angebracht oder notwendig wäre; tatsächlich hält jeder, der in der Stadt etwas zu sagen hat – Enkidu inklusive –, den Plan für eine mächtig dumme und gefährliche Idee. Stimmt das Abenteuer Ninsun um? Nicht so richtig, es macht mit ihr so gut wie gar nichts. Aber es macht etwas mit Enkidu.

Enkidu wurde als Naturwesen geschaffen, ein Ziemlich-Tier-Fast-Mensch. In der Steppe hat er krauses Haar am ganzen Körper, er lebt in einer Tierherde, er trink mit ihnen am Wasserloch und der Fallensteller, der ihn entdeckt, erkennt im Grunde auch nur, dass er anders ist, weil er mit seiner Stärke und Schläue die Fallen zerstören kann. Durch die zu ihm gesandte Tempeldirne wird er von seiner Herde entwöhnt und kommt der Zivilisation sehr nahe, als er mit den Jägern vor der Stadt lebt und dort bereits feindlich gegenüber den Tieren handelt, indem er sie in seiner Funktion als Wächter bekämpft; und er wird von seiner übermäßigen Behaarung befreit und an die Stelle des Weidens in der Steppe und des Trinkens aus dem Wasserlochs treten Brot und Bier. Als er die Stadt betritt und mit Gilgamesch Freundschaft schließt, ist Enkidu bereits regelrecht domestiziert worden. Aber er ist nicht mehr als ein Transvestit, der sich in Kultur kleidet, sein tierischer Anteil ist noch vorhanden. Ninsun sagt Gilgamesch auf seine Bitte, die beiden zu verbrüdern4: „In der Steppe ist er geboren, und niemand hat sich je um ihn gesorgt.“ (II, 1775) Und erst das löst Bestürzung aus und Enkidu vergießt bittere Tränen.

Warum sollte das dennoch Gilgamesch dazu bringen, auf Riesenjagd gehen zu wollen? Chumbaba ist eindeutig Teil jener rauen Natur in der Steppe, er hütet den Wald, ist bedrohlicher als jedes Raubtier, und als die Helden ihn überwältigen, richtet er sein Wort lediglich an Enkidu wie an einen alten Bekannten6 und fleht, dass er Gilgamesch Gnade einflöße: „Du sitzt (da) vor ihm wie ein Schafshirt, / und wie ein Mietling, ihm zu Munde, vertust du deine Zeit. / Jetzt aber, Enkidu, liegt es bei dir, mich und auch dich selber (!) freizugeben. / Sprich doch mit Gilgamesch, daß er mein Leben schone!“ (V, 236-239)

Andreas Freidl7 spricht ausgesprochen treffend von Suizid des Naturwesens Enkidu, als er den Riesen tötet und beginnt, sich ganz wie ein zivilisierter Zimmermann an die Abholzung der Zedern zu machen. Es ist ein Suizid an seiner Identität, denn er löscht aus, was er zuvor an sich nur verstecken konnte, seinen Ursprung in der Steppe. Wie bei einem Exorzismus wird in Chumbaba freigelegt, was ihn von Gilgamesch trennt, um in der Auslöschung des Riesen die nun endlich mögliche Vereinigung der beiden zu besiegeln.

[Aruru] schuf in ihrem Herzen Anums Befehl (I, 100)

Für all diese Schlüsse muss viel rekonstruiert werden, nicht nur wegen der Lakunen, die noch immer in der Überlieferung bestehen, sondern auch, weil das Epos sich ein Prinzip zueigen macht, dass der Vorstellung von Metakognition m.E. überlegen ist: die Leerstelle. Prof. Wolfgang Iser beschreibt die Leerstelle als einen Zusammenstoß von Textsegmenten8. Das passiert beispielsweise, wenn ein Handeln völlig unmotiviert auf ein vorhergehendes Ereignis folgt. (Es kommt sozusagen zum gewollten Kohärenzbruch.) Etwa dass die Mutter den neuen Spielkameraden nicht akzeptiert und das Kind beschließt, im Garten die Tulpen zu köpfen. Es ist Aufgabe des Lesers, die verschiedenen Elemente in eine Beziehung zueinander zu bringen; und da er dabei vor allem seine eigenen Wissensbestände und das, was er für wahr halten will, ins Spiel bringt, ergibt sich hier eine äußerst produktive Appellstruktur, die den Leser quasi zur Ko-Autorenschaft ermutigt. Im Erzählen können hier die Deutungspotentiale, also die möglichen Lesarten, eingeschränkt werden; liefert der Text zum Beispiel eine transparente Vereindeutigung, etwa die Gedanken des trotzigen Kindes beim Tulpenköpfen, gibt es nur noch vergleichsweise wenig Raum für unterschiedliche Lesarten. In der Regel ist ein Text aber auf einen gewissen Betrag an Leerstellen angewiesen, sie geben dem Leser die Möglichkeit, sich affektiv mit dem Erzählten in Bezug zu setzen.

Enkidu selbst ist eine Leerstelle, denn uns wird nicht gesagt – mangels Metakognition im Erzählten –, was die Götter dazu verleitet, das Steppenwesen zu kreieren, anstatt das Problem anders zu lösen, etwa Gilgamesch zu zerschmettern oder ihm gleich vorzuführen, dass er sterblich ist und sich zusammenreißen sollte. Damit ist die Hälfte des Epos maßgeblich das Auserzählen einer Leerstelle, soviel sollte man sich vor Augen führen. Und diese Leerstelle wird weiter ausgehöhlt: Wieso wurmt es Enkidu auf einmal so, dass da ein Herrscher ist, der das Recht der ersten Nacht in Anspruch nimmt? Und warum will Gilgamesch ihn unbedingt zu seinem Bruder machen? Viel schlimmer noch, insgesamt sechs bis acht Träume werden uns erzählt, deren Deutung durch Ninsun oder aber Enkidu stets sehr basal und nichtssagend bleibt.

Du aber wirst ihn mit mir auf eine Stufe stellen (II, 258)

In einem Traum sieht Gilgamesch einen Felsbrocken vom Himmel fallen und die Leute fallen vor ihm nieder und küssen ihn. Und Gilgamesch versucht ihn anzuheben, aber er ist zu schwer für ihn, den Stärksten unter den Starken. Ein andermal passiert exakt dasselbe mit einer Axt. Und seine Mutter kann ihm beide Male nur sagen, dass einer kommen wird, der ihm ebenbürtig ist, und die Leute werden seine Füße küssen. Die gute Frau ist sozusagen hauptberuflich Schamanin und hat uns nichts Besseres zu bieten? Schlimmer noch ist, dass uns zwei oder dreimal exakt dasselbe erzählt wird, ohne dass wir auch nur einmal etwas Neues erfahren: Denn dass Enkidu gekommen ist und Gilgamesch treffen soll, so viel steht seit Anfang des Geschehens fest. Nun ist es so, dass Axt im Akkadischen haṣṣinnu(m) und Felsbrocken kiṣrum heißen. Prof. Anne Kilmer wies zuerst darauf hin, dass beide Wörter beinahe homophon sind mit assinu(m) und kezru, die beide Figuren aus dem Personal des Ischtarschen Fruchtbarkeitskultes benennen. Das eine ist ein Transvestit bzw. Hermaphrodit, das andere ein prostituierter Knabe, beide sind ganz im Bilde Ischtars, wie Rivkah Harris9 herausgearbeitet hat, mühelos dazu in der Lage männliche und weibliche Rollen einzunehmen; sie sind zugleich kindlich und erwachsen; sie bringen die Grenzen von Spiel und Ernst zum Flimmern.

Und die Bitte Gilgameschs, Enkidu zu seinem Bruder zu machen, ist vor allem im nahöstlichen Kontext der Adels- und Herrscherdynastien viel besser zu verstehen als eine Bitte um Vermählung. Es ist nicht ohne Grund, dass Isis und Osiris Bruder und Schwester in ehelicher Liebe vereint sind, oder dass die Liebende im Hohelied sich wünscht, mit ihrem Geliebten als Bruder die Mutterbrust geteilt zu haben. Wie diese anderen verbindet Gilgamesch und Enkidu eine innige und durchaus erotische Liebe zueinander, die im Spiel zwischen Zuneigung und Kampelei nicht gerade schwach angedeutet wird. Die Gilgamesch-Forschung diskutiert seit den frühesten Erkenntnissen über die Homoerotik des Epos. Susan Ackerman beschreibt den Eros der Helden als durchaus ambig und man muss ihr Recht geben, wenn sie die Diskussion um die Geschlechtervorstellungen und die sexuellen Sitten der Mesopotamier mit Blick auf den unzureichenden Forschungsstand zurückstellt, um der ohne weiteres nachvollziehbaren Feststellung Raum zu geben, dass die Beziehung der beiden zweideutig mit erotischem Vokabular beschrieben wird10 und damit schon etwas über ihre Beziehung ausgesagt wird. Aber auch nicht jeder informierte Rezipient wird die Leerstellen auf diese Weise fruchtbar machen wollen oder gar können.

Die Geschichte ist beispielsweise an sich durchaus kindergeeignet erzählt, obwohl ein erwachsener Leser die nicht besonders jugendfreien Stellen sofort identifiziert: Im Grunde werden Gilgameschs Eskapaden damit umschrieben, dass er die jungen Männer und Frauen nicht heim lässt, sie quasi in seinem unersättlichen Spielbedürfnis einnimmt. Und Enkidu streichelt die Tempeldirne sechs Tage und sieben Nächte lang; Gilgamesch liebkost ihn, wie man eine Frau liebkost; Gilgamesch träumt abstrus von Axt und Fels, statt konkret von Fruchtbarkeitsdienern, die man erst mit dem entsprechenden Begriffswissen identifiziert. Die Dinge bleiben hohl und vage, weil die Erzählung offenbar ein Publikum anvisiert, das in seiner Diversität jeder Kategorisierung als homogene Zielgruppe entbehrt.

Um deinetwillen möge weinen der Buchsbaum, die Zypresse und die Zeder! (VIII, 14)

Und dann ist Enkidu auf einmal zugleich Freund, Bruder, Gemahl, Liebhaber, Kampfkamerad, Spielgefährte – aber auch Wächter und Diener seines Herrschers – und damit der Inbegriff genau des Menschen, den sich der einzelne Rezipient vorstellen möchte, ohne dass er sich dabei festlegen müsste: Enkidu wird tatsächlich nicht von den Göttern geschaffen, das Publikum formt ihn aus einem unförmigen Lehmklumpen zu dem, was er sein soll. Wie groß und schrecklich muss der Moment sein, als diese Figur, deren Hingabe und Zuneigung ein halbes Epos lang auserzählt wird, plötzlich sterben muss. Wie verständlich wird, dass Gilgameschs Klage damit beginnt, all die aufzuzählen, die um Enkidu weinen sollen – und die Abundanz der Nennungen lässt sich mühelos damit abfassen, dass alles und jeder an seiner Trauer partizipieren mag.

Und wie unheimlich nachvollziehbar wird Gilgameschs Flucht in die Steppe, wenn man sich vor Augen hält, dass die Trauer um einen geliebten Menschen, der all das sein kann, was man sich wünschen mag, eine der tiefsten und unwillkürlichsten Emotionen ist, die dem Menschen widerfahren können. Gilgamesch bricht nicht nur einfach auf, um die Unsterblichkeit zu finden und ein mächtig toller Herrscher zu werden und er vertritt nicht etwa nur ein dynastisches Prinzip, das sich über Erzählen legitimiert wissen will; das sind sehr wünschenswerte und erfolgversprechende Inhalte, die dem Publikum als nahrhafte Fettränder an der Speise gereicht werden: Gilgamesch bricht auf, weil er Mensch ist. Und nichts wird durch die Leerstelle Enkidu und die konsequente kreative Bemächtigung des Publikums stärker gemacht, als dieses Menschsein, das er pars pro toto im Tod des geliebten Freundes erkennt. Ohne diesen Motivator, der durch Enkidus Lebensweg, seine ambigue Beziehung zu Gilgamesch und durch seinen Tod maximal stark gemacht wird, wären die Selbstergründung und die Lehre vom Menschsein und Herrschen am Ende des Epos ein durchweg randständiges Erlebnis für den Großteil der Rezipienten.

Das Epos braucht mithin keine reflektierte Verständigung über das Denken, weil es selbst metakognitiv funktioniert: Es macht sich viel mehr Gedanken darüber, wie sein Publikum „tickt“, und überlässt ihm mit Bedacht die Aufgabe für sich persönlich auszuerzählen, wie die Figuren „ticken“. Dieser absolute Mangel für Currie ist für mich genau der Gewinn des Epos, das den Rezipienten in seiner kreativen Leistung so ungemein ernst nimmt und ihm durch die Leerstelle Enkidu so viel Raum im Text zugesteht. Currie liegt falsch, dem Epos ein Scheitern vorzuwerfen. Sein Erfolg begründet sich gerade nicht durch seine innere Schlusssicherheit, sondern durch die Bemächtigung des Publikums11 und seine raffinierte sprachliche Ambiguität (einer der folgenden Einträge wird auf diese Ambiguität noch weiter eingehen).

  1. Gilgamesh and Metacognition (Link), PhilosophyFile, 30. August 2011
  2. Der Abschnitt Der Inhalt des Zwölftafel-Epos (Link) im Wikipedia-Artikel zum Gilgamesch-Epos beispielsweise folgt der von mir persönlich präferierten 2012er Übersetzung von Stefan Maul und bietet via Artikelverweise nützlicherweise eine Art Glossar.
  3. Die germanistische Mediävistik hat für dieses Verständnis von Herrschaftsgeschichten sehr solide Grundlagen anhand des Heldenromans geschaffen, wo beispielsweise Ingrid Kasten (Herrschaft und Liebe. Zur Rolle und Darstellung des ‚Helden’ im Roman d’Enéas und in Veldekes Eneasroman. In: DVjs 62, 1988.) die legitimatorischen Verfahren in den mittelalterlichen Aeneis-Adaptionen herausarbeitet. Der Heldenroman greift in vielerlei Hinsicht zurück in die Antike und verwendet die dort bereits höchst funktionalen Verfahren mit einigem Modifikationsaufwand weiter, weshalb hier eine Linienverlängerung durchaus sinnvoll erscheint. Die Aeneis-Adaptionen zeigen beispielsweise eine Ablösung der Antike durch das christliche Zeitalter und bedienen sich dabei der alten Stoffe, die weiterverwendet, vor allem aber erweitert, entwertet oder redynamisiert werden. Der Eneasroman Heinrichs von Veldeke erweist sich für derlei Betrachtungen als besonders geeignet, da er sehr bewusst mit den antiken Quellen spielt.
  4. Ich nehme hier gewissermaßen eine unlautere Verkürzung vor. Der Gedanke, Gilgamesch und Enkidu sollten sich verbrüdern wollen, entstammt vornehmlich einer Deutung von Susan Ackerman (The Mesopotamian Epic of Gilgamesh. In: When Heroes Love. The Ambiguity of Eros in the Stories of Gilgamesh and David. New York u.a.: Columbia University Press 2005.) und stützt sich auf eine m.E. sehr schlüssige Übersetzungsalternative der Traumschilderung Gilgameschs an Ninsun, die den Verbrüderungsantrag explizit macht. Schon die konventionelle Stellenübersetzung, sie werde die beiden „auf eine Stufe stellen“, deutet aber ebenfalls die zeremonielle Rolle Ninsuns an. Von dem Geschehen nach Enkidus Eintritt in die Stadt wissen wir hingegen tatsächlich nur aufgrund der Tatsache, dass der Text wenig andere Schlüsse zulässt als mindestens einen Freundschaftsbund nach dem Kampf. Die Rede Ninsuns ist von Lakunen durchzogen.
  5. Ich folge hier der kommentierten Neuübersetzung von Stefan Maul von 2012, erschienen im Verlag C.H. Beck.
  6. Tatsächlich spricht er zuvor noch: „Dich [...] habe ich schon längst aus meiner Empfindung verbannt.“ (V, 91)
  7. Si vis vitam, para mortem. Die chthonische Todesethik. In: Manfred Negele (Hrsg.): Liebe, Tod, Unsterblichkeit: Urerfahrungen der Menschheit im Gilgamesch-Epos. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011.
  8. In Anlehnung an das Konzept der Unbestimmtheitsstelle bei Roman Ingarden ist in der Regel, spezifischer ausgedrückt, von schematisierten Ansichten die Rede.
  9. Inanna-Ishtar as Paradox and a Coincidence of Opposites. In: History of Religions, Vol. 30, No. 3 (Feb., 1991).
  10. So lassen sich beispielsweise die Ausdrücke für das Lieben und Liebkosen der beiden in viel expliziteren Kontexten wiederfinden.
  11. Diesen Gedanken von der Bemächtigung des Publikums, der das Projekt auch fortan noch bestimmen und so weiter eruiert werden soll, verdanke ich vor allem Frau Prof. Bernadette Malinowski.

Quelle: http://enkidu.hypotheses.org/40

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