Haben Museumsbesucher mit Smartphones keinen Respekt mehr vor den "heiligen Hallen der Kunst" und vor den darin ausgestellten Werken? Sie tippen ständig auf den leuchtenden Bildschirmen, die sie in der Hand halten, knipsen die Kunstwerke und sich selbst und posten dies umgehend in Sozialen Netzwerken. Sogenannte #Museumselfies sind längst nicht mehr nur ein Spleen einiger Weniger – denn am 22. Januar 2014 beging man sogar den ersten „International Museumselfie Day“. Immer mehr Museen öffnen sich dem "digitalen Besucher" und heißen ihn in ihren Ausstellungen willkommen […]
Deutsch-französische Annäherung auf vier Rädern? Das Autorennen Paris-Berlin 1901
Ein Gastbeitrag von Jan Hassink
„Was wir gestern Morgen auf dem Westender Rennplatz gesehen haben, das ist – ich zweifle nicht daran – ein Blick in unsere Zukunft.“ Als der liberale Publizist Friedrich Dernburg mit diesen Worten am 30. Juni 1901 seine Eindrücke von der Zieleinfahrt des Autorennens Paris-Berlin zusammenfasste, stand er offensichtlich noch ganz im Bann des Tags zuvor erfahrenen „Triumphzugs der Automobilisten“, so der Titel seines Essays.1 „Es steckt etwas darin, etwas Phantasievolles, Bestrickendes und zu gleicher Zeit etwas Brutales, Rücksichtsloses, beinahe Barbarisches. Mit einem Worte: etwas Modernes.“ Wie elektrisiert zeigte er sich von der eindrucksvollen Demonstration der „Hast und Rastlosigkeit in der Bewegung“ und dem „Drang nach individueller Ungebundenheit.“ Hellsichtig prophezeite er dem Automobil als genuinem Ausdruck der Moderne eine große Zukunft. Fast schon als etwas Erhabenes erscheint das Automobil bei Dernburg, in sich die Widersprüche der Moderne – die Ohnmacht des Menschen gegenüber der („barbarischen“) Technik und sein immer stärkerer Drang nach individueller Freiheit – verbindend.
Das Automobil – Fluch oder Segen?
Das dreitägige Autorennen, das die Fahrer im Sommer 1901 von Paris über Aachen und Hannover nach Berlin führte, beeindruckte nicht nur den Redakteur des Berliner Tageblatts, sondern war ein internationales Medienereignis. Die Faszination für das Automobil im Allgemeinen und das deutsch-französische Rennen im Besonderen äußerte sich in vielen Presseberichten dies- und jenseits des Rheins; sie ging dabei oft über eine Begeisterung für das rein Sportlich-Technische hinaus. Dernburg etwa gab dem Rennen eine politische Dimension: Er sah hier die „völkerverbindende Macht des Sports“ am Werk, der „dazu bestimmt [sei], die kriegerische Tendenzen im Menschen in einer milderen Gabe abzulösen.“ Schließlich wurde hier die geographische Nähe der beiden „Erbfeinde“ einmal ganz anders interpretiert: „sportlich“, nicht militärisch. Die „Maschen der Menschheit“, so Dernburg, seien „wieder einmal enger gezogen.“ Hier bündelten sich Technikbegeisterung, Fortschrittsglaube und politischer Optimismus auf eine Entspannung der deutsch-französischen Beziehungen.
Nicht alle teilten diese euphorische Einschätzung. Skeptisch fragte die Allgemeine Automobil-Zeitung (AAZ) als Reaktion auf das Rennen, „welch praktischen Nutzen es habe, automobile Ungethüme von der Species der Ueberwagen […] drei Tage hindurch über Stock und Stein rasen zu lassen“.2 Der „in Frankreich entstandene Schnelligkeitswahnsinn [greife] epidemisch um sich“. Ganz ähnlich erhoben sich auch in Frankreich kritische Stimmen zu der „Volupté de la Vitesse“, so der Titel eines Aufsatzes von Edmond Lepelletier im Écho de Paris vom 2. Juli 1901: „La vitesse, envisagée comme plaisir, comme un de ces adjuvants et de ces stimulants, fruits des paradis artificiels, dont Baudelaire a chanté et analysé les ivresses, tels que le vin, l’opium, les parfums, ne date que de l’avènement du pneu.” Der Automobilismus – eine dieser modernen Grenzüberschreitungen, die es einzuzäunen gelte, denn: „Les voluptueux de la vitesse […] sont des sadiques très désagréables, puisque leur jouissance égoïste appelle à son aide les blessures et la mort.”
Ein Autorennen als transnationaler Begegnungsort
Der neue Erfahrungsraum, den das Automobil und speziell der Automobilsport um die Jahrhundertwende öffnete – Stichworte „Überwagen“ und „Schnelligkeitswahn“ –, kann als ein transnationales Phänomen gelesen werden; exemplarisch verkörpert im Rennen Paris-Berlin. Die deutsch-französische Grenze wurde hier nicht nur physisch überschritten, sondern ebenso waren die Hoffnungen, Ängste und Zukunftserwartungen, die das rasende Auto hervorrief, an keine nationalen Grenzen gebunden. Auch der Gedanke von der „völkerverbindende[n] Macht des Sports“, von der Dernburg nach dem Rennen gesprochen hatte, wurde von der französischen Presse geteilt: „Comme la musique et la peinture, l’automobilisme et le sport n’ont pas de patrie“, wie man in der Ausgabe des Figaro vom 27. Juni 1901 lesen konnte. Und als transnationales Ereignis, das viele Franzosen anlässlich der gleichzeitig veranstalteten „Touristenfahrt“ von Paris nach Berlin führte – Dernburg nannte sie „eine Art Bierreise“ –, trug das Rennen durchaus zur „Völkerverständigung“ bei: „Ceux de nos compatriotes qui n’étaient jamais allés en Allemagne ont été stupéfaits de constater l’enthousiasme avec lequel on les accueillait […]. Ils ont pu voir que nos voisins ne nous détestaient nullement, et cela les a plus que surpris.“3 Die Begeisterung für das Neue war, im wahrsten Sinne des Wortes, grenzenlos. So bezeichnete Le Monde Illustré das Rennen als eine „solennité internationale“, und: „Nos chauffeurs reviendront enthousiasmés de Guillaume II.“4 Der Kaiser selbst ließ per Telegramm ausrichten, er sei „erfreut über das kameradschaftliche Zusammenwirken französischer und deutscher Wettfahrer.“5 Und der britische Rennfahrer Charles Jarrott, selbst Teilnehmer des Rennens, hielt es im Jahr 1906 rückblickend für eine „particularly happy idea of the French Club to hold a race between Paris and Berlin.“ Denn: „The bitterness of the struggle of the seventies was still existent, and it seemed almost impossible that even in a sporting event the nations could fraternize to the extent of opening up their roads for a race between the two great cities.“6 Der Erfolg der Veranstaltung schließlich hätte diese nationalistischen Bedenken aus dem Weg geräumt und das Gegenteil bewiesen.
Nicht nur auf sportlichem, auch auf industriell-wirtschaftlichem Gebiet stellte das Rennen eine deutsch-französische Zusammenarbeit dar. In seiner Rede beim hochrangig besetzten Festbankett anlässlich des Zieleinlaufs in Berlin fasste der preußische Handelsminister Theodor von Möller diesen Aspekt zusammen: Der „Fortschritt der Industrie“ sei nämlich „ein gleichmäßiges Product aller Culturnationen. Speciell wir beiden Nachbarvölker brauchen in der Industrie keinerlei Eifersucht aufeinander zu haben, sondern unsere Interessen sind in der Industrie wie im Handel durchaus gemeinsame.“7 Gemeinsame wirtschaftspolitische Interessen waren es wohl auch, die den Automobile-Club de France und sein deutsches Pendant, den Deutschen Automobil-Club, überhaupt erst dazu veranlasst hatten, das Rennen in Kooperation zu organisieren. Es bleibt ein offenes Feld für die Forschung, die engen personellen und institutionellen Kontakte zwischen beiden Verbänden näher zu untersuchen.
Eine besondere mediale Aufmerksamkeit zogen in Deutschland wie in Frankreich die an den beiden Rennen beteiligten Frauen auf sich. Die einzige Teilnehmerin des offiziellen Rennens, die Französin Camille du Gast – „Madame du Gast“, wie sie auch in der deutschen Presse durchweg genannt wurde – sei, so der Figaro, „une intrépide chauffeuse, […] qui conduit une voiture de 20 chevaux avec maëstria“. Und als „Madame Gobron“, die Frau eines französischen Automobilindustriellen, die Touristenfahrt erfolgreich mit einem Stundenmittel von 41 km/h beendet hatte, merkte die AAZ anerkennend an: „Das wäre für einen Chauffeur respektabel, um wie viel mehr für eine Chauffeuse!“8 Autorennen waren auf deutscher wie auf französischer Seite ein „männlicher“ Sport; die teilnehmenden Frauen stachen in der Berichterstattung jeweils besonders hervor.
Das Autorennen, soviel zeigt der Blick in die Presse, wurde in der deutschen und französischen Öffentlichkeit nicht als eine bloße Sportveranstaltung wahrgenommen. Industrielle, soziale und politische Aspekte standen zuweilen derart im Vordergrund, dass die sportliche Seite mitunter nebensächlich wurde: „Le grand match franco-allemand […] dépasse de beaucoup de limites du terrain sportif. On en parle comme d’un événement international dans le peuple“, wie der Écho de Paris im Vorfeld die allgemeine Stimmung im Volk beschrieb.9
Nationalistische Ober- und Untertöne
Diese als positiv empfundenen Berührungspunkte und Verflechtungen sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Autorennen insbesondere in der politisch rechten Presse zuweilen nationalistisch überhöht wurde – dies ist gewissermaßen die Schattenseite der politischen Aufladung, die das Rennen erfuhr. Der Streckenverlauf – von Paris in die Hauptstadt des Deutschen Reichs – und der Wettkampfcharakter waren geradezu prädestiniert, dem Rennen eine chauvinistische, ja sogar revanchistische Note zu geben. Hier zeigte das Rennen weniger eine integrative, sondern eher eine trennende, abgrenzende Wirkung. Das Spektrum dieser nationalistischen Tendenzen ist weit gefasst: Es reichte von Kriegsmetaphorik und politischen Andeutungen bis hin zur Verurteilung des Rennens von Rechts als Ausdruck von Geschichtsvergessenheit.
So hieß es im Figaro etwa am 28. Juni 1901: „La dernière étape, Berlin, fait naître l’idée d’une revanche industrielle et, pour beaucoup, l’essentiel est de battre nos voisins sur leur propre terrain, dans cette lutte pacifique.“ Die Rede von einer „lutte pacifique“ und einer „guerre économique“, von der „revanche industrielle“ und einer „pointe de chauvinisme“ war in vielen französischen Zeitungsberichten präsent. Und auf die Frage, ob es nicht darum ginge, gerade gegen die Deutschen den Sieg davonzutragen, antwortete der Präsident des französischen Automobilclubs, Baron von Zuylen: „J’espère bien que nous triompherons des Allemands sur ce terrain pacifique.“10 Sprachlich waren die Grenzen zwischen militärischem Konflikt und sportlichem oder industriellem Wettkampf fließend. Le Vélo schrieb am 10. Juni 1901, die Deutschen würden auf industriellem Gebiet genauso handeln wie auf dem Schlachtfeld („champ de bataille“). Und als mit Henri Fournier ein Franzose als erster die Ziellinie in Berlin überquerte, sei die Begeisterung auf französischer Seite so groß gewesen, dass man hätte glauben können, Frankreich habe einen großen militärischen Sieg errungen, wie es der Écho de Paris am 30. Juni formulierte – wenngleich dessen „blonde[s] Haar und die treuherzigen blauen Augen [ihn] eher als einen Vollblutgermanen denn als Franzosen erscheinen“ lassen, wie die Allgemeine Automobil-Zeitung zu berichten wusste.
Das nationalistische und antisemitische Blatt La Libre Parole von Éduard Drumont empfand es gar als Schande, dass nun, gerade einmal dreißig Jahre nach dem verlorenen Krieg, Franzosen und Deutsche gemeinsam nichtsahnend durch so geschichtsträchtige Orte wie Sedan und Bazeilles fahren sollten – jene blutigen Kriegsschauplätze von 1870, wo noch die Väter der sorglosen Rennfahrer und Touristen bitter gegeneinander gekämpft hätten.11 Die rechtsgerichtete Autorité meinte lakonisch, es sei „la caractéristique des nations en décadence de se consoler avec des succès sportifs des défaites subies sur le champs de bataille sérieux.“12 Und allein die Tatsache, dass ein paar Franzosen mit dem Automobil nach Deutschland gefahren seien, dort ein Bankett abgehalten hätten und von deutschen Beamten mit freundlichen Worten bedacht worden seien, bezeuge noch gar nichts: „Des incidents aussi minuscules ne sont rien dans les relations de deux grandes nations.“13
Das Autorennen hat polarisiert, und ebenso ergibt sich für den heutigen Betrachter ein ambivalentes Bild. Indem es den Zeitgenossen auf beiden Seiten des Rheins die Moderne erfahrbar machen ließ, konstituierte es in Frankreich und in Deutschland einen gemeinsam geteilten „automobilen“ Erfahrungsraum – mit allen damit einhergehenden Ängsten und Hoffnungen. Auch die Zusammenarbeit zwischen den beiden Autoclubs und die Annäherungen zwischen den „Touristen“ deuten auf wirtschaftlich-industrielle und soziale Verflechtung hin. Gleichzeitig, und entgegen solcher Transferprozesse, wurde das Bild des feindlichen Nachbarn in der Presse, zumindest auf französischer Seite, auf die sportlich-industrielle Ebene übertragen. In diesem Spannungsfeld zwischen wachsender Verflechtung einerseits und nationaler Abgrenzung andererseits verortet sich Paris-Berlin 1901.
Jan Hassink studiert seit 2010 Geschichte, Französisch und Latein an der Universität Marburg. Im Herbst 2014 hat er ein Praktikum am Deutschen Historischen Institut Paris absolviert, in dessen Rahmen auch dieser Blogeintrag entstanden ist.
_______
Abbildungen:
1. Le Figaro vom 27.06.1901, S. 2. (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k285550z/f2.image)
2. Le Petit Journal, Supplément illustré vom 14.07.1901, S. 1. (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k7164432.image.langDE)
_______
Bibliographie:
Buisseret, Alexandre: „Les femmes et l’automobile à la Belle Époque“, in: Le Mouvement social 192 (2000), S. 41-64. (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5730002b.image.f43.tableDesMatieres)
Dulier, Jean-Robert: La triomphale course Paris-Berlin, Clermont-Ferrand 1967.
Flonneau, Mathieu: „Paris au cœur de la révolution des usages de l’automobile 1884-1908“, in: Histoire, économie & société 26 (2007), S. 61-74. (http://www.cairn.info/zen.php?ID_ARTICLE=HES_072_0061)
Gardes, Jean-Claude: „La course automobile ‘Paris-Berlin’ (1901) et sa transcription graphique dans les dessins du Rire“, in: Recherches contemporaines, numéro spécial „Image satirique“ (1998), S. 53-63. (http://idhe.u-paris10.fr/servlet/com.univ.collaboratif.utils.LectureFichiergw?ID_FICHIER=1348818743595)
Merki, Christoph Maria: „Das Rennen um Marktanteile. Eine Studie über das erste Jahrzehnt des französischen Automobilismus“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 34 (1998), S. 69-91.
Ders.: „L’internationalisation du traffic routier avant 1914“, in: Relations internationales 95 (1998), S. 329-348.
Ders.: Der holprige Siegeszug des Automobils 1895-1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, Wien, Köln, Weimar 2002.
- In: Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 30.06.1901, 1. Beiblatt.
- Allgemeine Automobil-Zeitung (AAZ) vom 07.07.1901, S. 5.
- La Vie au Grand Air vom 14.07.1901, S. 398.
- Le Monde Illustré vom 29.06.1901, S. 487.
- AAZ vom 07.07.1901, S. 21.
- Charles Jarrott: Ten Years of Motors and Motor Racing, London 1906, S. 103.
- Seine Rede ist abgedruckt in der AAZ vom 07.07.1901, S. 21.
- AAZ vom 14.07.1901, S. 12.
- L’Écho de Paris vom 21.06.1901, S. 1.
- L’Écho de Paris vom 17.04.1901, S. 1.
- Vgl. La Libre Parole vom 23.06.1901, S. 1.
- Zit. n. Le Vélo vom 02.07.1901.
- Zit. n. Pierre Souvestre: Histoire de l’Automobile, Paris 1907, S. 527. [http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5495467j/f7.image.r=histoire%20de%20l%27automobile.langFR]
Mediävistik auf dem Ameisenpfad oder: Mit der ANT das Königreich der Himmel stürzen
„Ich muss Sie leider warnen: Ich bin nur ein einfacher Doktorand“ – „die anderen Studenten haben mich gewarnt, ich solle das ANT-Zeug nur mit der Pinzette anfangen“.[1] So lauten zwei Fragmente eines fiktiven Dialogs, der ins Büro eines renommierten Gastprofessors an der London School of Economics führt. Der Autor des Textes, der französische Soziologe Bruno Latour, gefällt sich darin in der Rolle des unbequemen Dozenten, der das Welt- und Wissenschaftsverständnis seines Besuchers gründlich durcheinanderwirbelt. Ob der enigmatischen Einlassung seines Gesprächspartners, der das Theoriegerüst der Dissertation genüsslich zerpflückt und doch kein gleichwertiges Gegenmodell zu präsentieren vermag, wendet sich der Nachwuchswissenschaftler schließlich ernüchtert ab: Er werde es lieber mit Niklas Luhmann versuchen und künftig die Finger von der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) lassen.
Forscherinnen und Forschern der mediävistischen Fachdisziplinen ein derartiges Frustrationserlebnis zu ersparen, ist das erklärte Ziel dieses Beitrages. Er bezweckt in dieser Hinsicht dreierlei: Zunächst soll er eine knappe Einführung in das Theoriedesign der ANT bieten.[2] Auf der Sachebene zeichnet er sodann ein konkretes Netzwerk nach. Exemplarisch soll auf diesem Weg schließlich die Frage beantwortet werden, inwieweit die Quellendichte des Mittelalters es überhaupt gestattet, sich des methodischen Instrumentariums moderner Sozialwissenschaften zu bedienen. Ist die ANT dazu geschaffen, „Luxusprobleme“[3] zu bearbeiten, die im Überlieferungshorizont der Epoche keine geeignete Materialgrundlage finden? Oder gestattet sie es im Gegenteil, über bislang wenig beachtete Zeugnisse einen neuen Zugang zur Geschichte des Mittelalters zu gewinnen?
Die Akteur-Netzwerk-Theorie im Aufriss
Enttäuschung mag sich vornehmlich dann einstellen, wenn man von der ANT einen elaborierten Erklärungsansatz, einen festen Theorierahmen oder gar ein Makromodell sozialer Strukturzusammenhänge erwartet. Sie selbst versteht sich in erster Linie als ein heuristischer Erfassungs- und Beschreibungsmodus des empirisch Gegebenen. Als solcher lenkt sie den Blick auf ein hybrides Gefüge aus menschlichen und materiellen Entitäten, geschaffen und zusammengehalten durch reziproke und multilaterale Assoziationen. Metaphorisch ließe sich dieses Gebilde mit einem Fischernetz vergleichen, dessen Knoten die jeweiligen Akteure repräsentieren.[4] Jeder von ihnen wird nur durch die Verknüpfung mit anderen Knotenpunkten in seiner Position gehalten, ausgerichtet und ggf. verschoben. Als flexible Verbindungsstränge dienen Performanzen, das Netzwerk wird prozesshaft auf der Handlungsebene konstituiert. Als Knoten bzw. Akteure zu verstehen sind folglich allein jene „Entitäten, die Dinge tun“[5] und zugleich „von vielen anderen zum Handeln gebracht“[6] werden. Dies schließt explizit nicht-humane Elemente mit ein, sofern sie von anderen Mitwirkenden mit Handlungspotential versehen werden. Die Dinge geraten dadurch, erlöst aus ihrem Schlummer als museale Schaustücke und befreit von den Banden unverrückbar ‚objektiver’ Existenz, ins Zentrum wissenschaftlicher Vergangenheitsrekonstruktion.
Der veränderte Blickwinkel erweist sich indes als voraussetzungsvoll. Bruno Latour bezeichnet die ANT zu Recht als „negatives Argument“: Sie hegt eine grundlegende Aversion gegen konstruktivistische Zugriffsweisen, die auf das Apriori abstrakter Modellbildung, den alles durchdringenden „Äther des Sozialen“, angewiesen sind.[7] Daher meidet sie Begriffe wie ‚Gesellschaft’, ‚Struktur’ oder ‚System’ und verweigert sich den Dichotomien von Mikro und Makro, Kultur und Natur. Der virulenten ‚Metasprache der Soziologie’ sucht sie durch eine ‚Infrasprache’ beizukommen, deren Begriffsinstrumentarium einen vorurteilslosen Zugang zu allen Akteuren gestattet. Zur ANT-Terminologie – deren „lächerliche Armut“ wohl allein ihr Schöpfer selbst zu preisen vermag[8] – zählen Assoziationen, Allianzen und Aktanten (performativ mit Handlungsmacht ausgestattete Entitäten), Blackboxes, Symmetrien (gleichwertige Einbeziehung von Menschen und Dingen) und Übersetzungen (das Aufbauen und Aushandeln von Assoziationen, verbunden mit einer Modifikation von Interessen und Identitäten). Es ist der forcierte Gestus des Gegenaufklärers, sein sperrig-kapriziöser Schreibstil, mit dem Bruno Latour mehr als seine ANT-Mitstreiter akademische Abwehrreflexe ausgelöst hat. Es waren und sind seine ‚kleinen’ Essays und konkreten Fallstudien, durch die er den nicht-initiierten Leser zu gewinnen vermag. Insofern möchte ich mich im Folgenden mit der Sprache und Sichtweise der ANT einem einzelnen ausgewählten ‚Gegenstand’ der mittelalterlichen Geschichte zuwenden: Der Lichterscheinung in der Grabeskirche zu Jerusalem am 21. April 1101.[9]
Alte Allianzen und neue Konstellationen
Mit den Augen der ANT betrachtet blickt man auf eine Allianz, deren Geschichte sich seit dem 9. Jahrhundert gut nachzeichnen lässt: Sie verbindet Gott und die christlichen Kirchen, lässt sich in einem konkreten Kirchbau lokalisieren und assoziiert Akteure unterschiedlicher Art. Bereits der knappe Report des fränkischen Mönches Bernard enthüllt um 870 eine Bündniskonstellation, die ohne materielle Mittler in Form von Klängen, Lampen und transzendenten Effekten historisch niemals wirksam geworden wäre: „Nach Abschluss der Messe wird das Kyrie eleison angestimmt, bis durch das Eintreffen eines Engels das Licht in den Lampen aufleuchtet, die über dem genannten Grab hängen. Von diesem spendet der Patriarch den Bischöfen und dem übrigen Volk, damit jeder von ihnen das eigene Heim beleuchte.“[10] In diesem Miteinander von Menschen und Dingen ‚übersetzten’ sich die beteiligten Entitäten wechselseitig: Mit der Aura des Heiligen versehen, verwandeln die Gebete und brennenden Lampen die versammelte Menge in wahre Gläubige, welche die Evidenz des Wunders wiederum effektiv bezeugen. Der Pakt beruhte demnach auf einem erfolgreichen ‚Enrolement’, das die Vertragspartner durch attraktive Identitätsangebote zu gewinnen verstanden. Innerhalb dieser ‚Heiligen Allianz’ agiert der Klerus mit dem Patriarchen an der Spitze als anerkannter Regisseur: Er orchestriert die Rollenzuweisung und definiert den ‚obligatorischen Passagepunkt’, den alle Mitwirkenden zur Erfüllung ihrer Ziele durchschreiten müssen.[11] Die liturgischen Handlungen markieren zugleich die Distanz zum Kollektiv der ‚Ungläubigen’, die sich der Assoziation von Wunderzeichen und Heilsgewissheit ostentativ verweigern. Lateinische, griechische und selbst arabische Textzeugnisse weisen muslimischen Protagonisten einhellig die Rolle von Störern zu.[12] All ihr Bemühen, das Bündnis durch alternative Deutungsangebote zu sprengen, ist freilich zum Scheitern verurteilt: Die Manipulation des Materiellen – durch kupferne Dochte etwa oder Diebstahl der Kerzen – und eine waffenstarrende Drohkulisse entfalten letztlich nur affirmative Wirkung.[13] Gleichwohl waren die Muslime keineswegs vom Mirakelereignis ausgeschlossen: Vor der Eroberung Jerusalems 1099 und erneut nach dem Ende der Kreuzfahrerherrschaft fungierten sie als scheinbar interessenlose Garanten für die Authentizität des Wundergeschehens. Für diese Rolle ließen sie sich nicht zuletzt deshalb rekrutieren, weil das Heilige Feuer einen weiteren materiellen Akteur zu mobilisieren vermochte: „Entweder ist dem Fürsten der Geldbetrag lieber, der dir aus dieser Quelle zufließt, oder die Aufklärung darüber“, so fasst der arabische Gelehrte al-Dschaubari im 13. Jahrhundert diese wirkmächtige Verbindung prägnant zusammen.[14]
Die Wende zum 12. Jahrhundert bezeichnet in mehrfacher Hinsicht den Bruch etablierter Bündnisstrukturen. Kurz nach der Ankunft der Kreuzfahrer zeigten sich erste Friktionen im Kollektiv der christlichen Glaubensbrüder, das sich alljährlich am Grab des Herrn versammelt hatte. Der amtierende Patriarch von Jerusalem, Daimbert von Pisa, war durch die abendländische Eroberung an die Spitze der lokalen Hierarchie getragen worden. Als Repräsentant der römischen Kirchenreform suchte er den lateinischen Ritus in der Heiligen Stadt rigoros durchzusetzen.[15] Die ecclesia orientalis, zu deren Befreiung die Kreuzfahrer einst ausgezogen waren, war im Verlauf des Unternehmens sukzessive unter Häresieverdacht geraten und hatte in der Gründungsphase des Königreichs Jerusalem allenthalben an Boden verloren. Während die syrisch-orthodoxe Geistlichkeit die Stadt bereits vor ihrer Einnahme zeitweilig geräumt hatte[16], büßte der griechische Klerus unter Federführung Daimberts u.a. seine Pfründen an der Grabeskirche ein: „Die Franken gingen so weit, alle Armenier, Griechen, Syrer und Georgier aus ihren Klöstern zu vertreiben“, so resümiert der armenische Chronist Matthäus von Edessa.[17] Gleichwohl war auch die Stellung des lateinischen Patriarchen keineswegs gefestigt: Nur fünf Tage vor dem Osterfest des Jahres 1101 war sein Zerwürfnis mit Balduin I. offen zu Tage getreten, als der König Daimbert formell der Veruntreuung und des Verrats bezichtigte. Balduin selbst rang im ersten Jahr seiner Regierung um die politische und militärische Kontrolle seines von zahlreichen Seiten bedrohten Königreiches. Das bevorstehende Hochfest eröffnete ihm die Gelegenheit, die Befehlshaber eines genuesischen Flottenverbandes für seine Ziele zu gewinnen. Unter diesen Vorzeichen avancierte das Heilige Feuer zum allseits begehrten Bündnispartner. Den Akteuren in und um die Grabeskirche bot es die Möglichkeit, sich in der Allianz zwischen Gott und den Menschen selbst als Mittler zu verankern und die eigene prekäre Position durch den erneuerten Pakt mit den himmlischen Mächten sichtbar und dauerhaft zu stabilisieren.
Doppelte Übersetzungen
Noch zu Ostern 1100, dem ersten Jahr nach der Eroberung, schien die Situation hinreichend kontingent, um die alten Allianzen abermals zu reaktivieren: In der Nacht zum 1. April jedenfalls ging die Feier der gaudia Paschalia in der Grabeskirche solemnis – also wohl störungsfrei – vonstatten.[18] Für das Folgejahr jedoch weiß die Chronik Fulchers von Chartres konsterniert zu berichten: „Alle wurden in Verwirrung gestürzt wegen des Feuers, das wir am Samstag im Grab des Herrn nicht empfingen“.[19] Das Ausbleiben des Lichtwunders stieß bei den zeitgenössischen Berichterstattern auf breite Resonanz, der Ablauf der Ereignisse lässt sich dadurch erstaunlich präzise rekonstruieren:[20] Unter der Leitung Daimberts begann man um die dritte Stunde mit der Messfeier. Die Perikopen wurden dabei abwechselnd in lateinischer und in griechischer Sprache gelesen. Zumal die wundersame Entzündung des Feuers traditionell in den frühen Nachmittagsstunden erfolgte, dauerte das Hochamt annähernd bis zur Non an und wurde abrupt unterbrochen, als griechische Geistliche erstmals das Kyrie eleison anstimmten: „Ich Fulcher aber, der solche Klänge niemals vernommen hatte, und viele andere (…) sprangen mit zerknirschten Herzen, die Augen zum Himmel gewandt vom Boden auf und erwarteten bereits das Erscheinen des gnadenbringenden Lichts irgendwo in der Kirche“.[21]
Diese Hoffnung wurde enttäuscht, die Lesungen wiederaufgenommen und schließlich wieder und wieder flehentlich das Erbarmen des Herrn herbeigerufen. Irritiert öffnete der Patriarch die Pforten der Grabeskapelle um dort persönlich nach dem Heiligen Feuer zu suchen. Vergebens, die alten Allianzen verweigerten sich der neuen Kräftekonstellation. Die Kreuzfahrer hatten das etablierte Netzwerk zerrissen, erwiesen sich selbst gegenüber Gott und seinen Geschenken aber als nicht koalitionsfähig. Von einem Augenblick zum anderen schienen sie von Befreiern in Zerstörer des Heiligen Grabes ‚übersetzt’.
In der Forschungslogik Bruno Latours bildet „jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es Unterschiede macht“, einen Akteur.[22] Diese Definition schließt das Heilige Feuer zweifellos mit ein: Es war kein bloßer Gegenstand der Geschichte, kein passives Objekt diskursiver Sinnzuschreibung, sondern besitzt unübersehbar „phänomenologische Gewalt“[23] über andere Akteure. Seine schiere physische Präsenz – oder eben Absenz – schuf Verbindungen und Verbindlichkeiten, stiftete eine relationale Ordnung zwischen den Anwesenden und verlieh damit dem Osterfest seine spezifische Dramaturgie. Die Protagonisten des Jahres 1101 adaptierten das veränderte Drehbuch und akzeptierten scheinbar demütig ihre ‚Übersetzung’ in reuige Büßer. Der Patriarch zog gleichwohl alle Register, um aus seiner gewandelten Rolle heraus neuerlich Bündnisverhandlungen mit dem Spender des Heiligen Feuers anzuknüpfen. Er legte ein ausführliches Sündenbekenntnis ab, gab den Bischofsstab zugleich mit dem geistlichen Hirtenamt aus der Hand, warf sich unter Tränen flehentlich zu Boden und forderte die Anwesenden auf, es ihm gleich zu tun.[24] Doch alle Demutsgesten genügten nicht, um Gehör bei Gott zu erlangen. Daimbert sah sich daher genötigt, dem zunehmend riskanten Aushandlungsprozess ein abruptes Ende zu setzen. Der versammelten Menge stellte er in öffentlicher Predigt vor Augen, dass gerade mit der Gewinnung Jerusalems für die Christenheit jeglicher Anlass für göttliche Gnadenzeichen entfallen sei: „Solange sich diese heilige Stadt in der Gewalt der Heiden befand, war es gut und gerecht, dass Gott durch seine Wunderwerke die Ungläubigen zum Glauben führte“.[25] Diese gedankliche Kapriole eröffnete die Aussicht, den lateinischen Eroberern ihre Identität als Befreier des Heiligen Grabes zurückzugeben. Allein, nur die sapientiores unter den Zuhörern zeigten sich geneigt, das veränderte Deutungsangebot anzunehmen.[26] Daimbert entschloss sich daher, den Schauplatz zu wechseln und auf diese Weise einen neuen materiellen Akteur zu rekrutieren. Barfüßig führte er eine Bittprozession zum Tempel Salomons, der aus biblischer Tradition heraus als geeigneter Ort erschien, in Zwiesprache mit dem Allerhöchsten zu treten. Griechen und Syrer hingegen blieben in der hereinbrechenden Dämmerung betend und klagend vor den verschlossenen Pforten der Grabeskirche zurück.[27] Dieses Neuarrangement führte endlich zum Erfolg: In den ersten Morgenstunden des Ostertages wurde vermeldet, dass zwei Leuchter im Kircheninneren durch göttliche Einwirkung entflammt seien. Der Patriarch eilte mit den Schlüsseln schleunigst zum Heiligen Grab zurück und zündete dort die erste Wachskerze an. Jubel erhob sich, Glöckchen wurden in der ganzen Stadt geläutet und der Chronist Fulcher ließ gemeinsam mit anderen das Kyrie eleison erschallen. Die Klänge der griechischsprachigen Liturgie etablierten sich damit erneut als Mittler, der die einheimischen Christen als Rechtgläubige rehabilitierte.[29] Kaum hatten die Lateiner die Kirche verlassen, wiederholte sich das Lichtwunder während der Messe der Syrer und bis zur Vesper hatten sich 16 Lampen scheinbar ohne menschliches Zutun entzündet.[28] „Wie sehr wir auch zuvor gelitten hatten, so sehr frohlockten wir nunmehr angesichts des Wunders“, so resümiert Fulcher von Chartres den Ausgang des Geschehens.[30] Durch die Reintegration des materiellen Akteurs wurden die menschlichen Mitwirkenden erneut ‚übersetzt’.
Tatsächlich wandelte sich mit der Wiederkehr des Wunders die Kräftekonstellation des Kreuzfahrerkönigreiches grundlegend. Daimbert von Pisa wurde „von allen nach übereinstimmendem Willen und Zuspruch wiedergewählt“[31] – konnte seine Position also vorübergehend stabilisieren. Sein Nachfolger Ebremar beeilte sich am Jahreswechsel 1102/3, den ritus anteriorum in der Grabeskirche wieder einzuführen, verbunden vermutlich mit einer Pfründenrestitution zugunsten des einheimischen Klerus.[32] Der Kirchenbau avancierte in der Folge zum multirituellen Ort, der von Lateinern, Griechen, Syrern, Armeniern und Kopten simultan genutzt wurde.[33] Zumindest in den Augen des Armeniers Matthias von Edessa markierte das Ausbleiben des Lichtwunders den historischen Wendepunkt: „Als also die Franken dieses furchterregenden Fingerzeigs gewahr wurden, der eine göttliche Ermahnung darstellte, da (…) stellten sie jede Gemeinschaft wieder an ihren angestammten Platz.“[34] König Balduin I. schließlich gelangte zu einem günstigen Vertragsabschluss mit den Genuesen, deren Flotte ihm wenige Wochen später die Einnahme der Küstenstadt Arsuf ermöglichte. Er trat als Garant religiöser Pluralität in die Fußstapfen der muslimischen Emire und etablierte sich als Zentralfigur des Zeremonialgeschehens, der unter anderem die erste am Heiligen Feuer entzündete Kerze zustand.[35] Die neue Allianz präsentierte sich damit als Aktualisierung altbewährter Assoziationen.
Menschen und Dinge zusammendenken
Das Heilige Feuer des Jahres 1101 scheint mit jenem Tageslichtprojektor vergleichbar, dessen Ausfall Bruno Latour exemplarisch schildert: Erst das Eintreten der Funktionsstörung macht die Existenz des Gerätes vollends bewusst und enthüllt das Netzwerk aus Ersatzteilen, Lieferanten und Monteuren, die mit ihm verbunden sind: „Wir konzentrieren uns nicht länger auf das Objekt, sondern sehen eine Gruppe von Menschen um dieses Objekt“. Der Moment der Krise vermag die Vielfalt der Verbindungen in einer ‚Blackbox’ sichtbar zu machen, die sonst „vollkommen unsichtbar im Hauptprogramm unseres Handelns“, dem großen Gang der Geschichte, verschwindet.[36] Das Ausbleiben des Lichtwunders leistet Ähnliches: Es lenkt den Blick auf Assoziationen, die gewöhnlich unter dem Berichthorizont unserer Quellen bleiben. Es offenbart, wie sich der Lauf der Geschichte durch das Dazwischentreten materieller Handlungsträger, eines widerständigen Netzwerkknotens, performativ veränderte.
Vollständig aufschlüsseln lässt sich der Inhalt der ‚Blackbox’ indes nicht mehr, das Mirakelereignis entfaltet seine Mobilisierungseffekte nur als inenarrabile mysterium.[37] Allein einige arabische Autoren suchen mit Hilfe vermeintlich „rational technische[r] Erklärungen“ und in unverkennbar polemischer Absicht zum Kern des Geschehens vorzudringen.[38] Die Lampen würden vermittels eines Auslösemechanismus über ein balsamgetränktes Seil artifiziell ‚ferngezündet’.[39] Als Drahtzieher glaubt die moderne Forschung überwiegend die griechisch-orthodoxe Geistlichkeit ausgemacht zu haben, deren „fromm gemeinte[n] Feuerwerkszauber (…) um 1100 von den Kreuzfahrern noch nicht durchschaut wurde“.[40] Sie hätte ihren Wissensvorsprung in manipulativer Weise zur Diskreditierung des lateinischen Patriarchen ausgespielt.
Konstruiert wird unter der Prämisse naturwissenschaftlicher Faktizität mithin eine einfache Kausalkette, die dem komplexen Geflecht von Interessen und Identitäten kaum gerecht werden kann. Die ANT schließt hingegen mit dem Prinzip eines ‚allgemeinen Agnostizismus’[41] die Privilegierung scheinbar objektiv-technischer Lesarten aus. Ihr Credo, einfach ‚den Akteuren zu folgen’, führt hinter die Kulissen monokausaler Konspirationshypothesen und holt sämtliche Handlungsträger auf die Bühne historischer Interpretation. Dort treten sie nicht als autonom agierende Virtuosen, sondern als Gesamtensemble in Erscheinung. Sie autorisieren und befähigen sich wechselseitig dazu, Handlungsmacht über andere auszuüben: Nicht ‚die Orthodoxen’ oder ‚der Zündmechanismus’ machten am 2. April 1101 Geschichte. Erst das Zusammenspiel aller Kräfte gestaltete das Drama jenes denkwürdigen Osterfestes.
In Szene gesetzt wurde das Stück demnach weder durch einen individuellen Akteur noch durch eine überwölbende Idee. Sein Skript lässt sich schwerlich aus dem Ideal christlicher caritas oder gar einem kategorischen Imperativ ableiten. Die ANT hilft dabei, das ‚Königreich der Himmel’ zu stürzen: Die Notwenigkeit zur friedlichen Koexistenz, die „Kreuzfahrerstaaten als multikulturelle Gesellschaft“[42], bildet nicht das moralische Apriori der Ereigniskette. Sie beschreibt allenfalls das zeitweilig stabile Ergebnis erfolgreicher Netzwerkbildung. Der Geist weht, anders als im Herrenwort, in der Geschichte eben nicht, wo er will:[43] Er ist gebunden an menschliche und materielle Mittler, an konkrete Handlungen und ihre Settings. Mit ihrem Slogan „schaut nach unten“ ermahnt die ANT dazu, fleißig den unmittelbar fassbaren Spuren und Details zu folgen statt als Erklärungsrahmen jenes abstrakte „Gesamtbild“ zu bemühen, „das die Soziologen gern mit einer typischen Geste begleiten, indem sie mit den Händen einen Umriß in der Größe eines Kürbis in die Luft zeichnen.“[44] Eine solche Sichtweise korrespondiert erstaunlich eng mit dem sorgsam gehegten Selbstbild einer empirieorientierten Mittelalterforschung.
Sollte sich die Mediävistik demnach auf den Ameisenpfad begeben? Untersuchungsobjekte jedenfalls gäbe es genug. Bedenkt man, dass Bruno Latour bislang scheinbar banale Alltagsdinge wie Hotelschlüssel, Türschließer oder Sicherheitsgurte zum Ausgangspunkt seiner Analyse gemacht und sogar Comicstrips als Quellenbasis verwendet hat, besteht hinsichtlich der Materialgrundlage kaum ein Mangel. Im Gegenteil: Indem die ANT materielle Artefakte als Mitwirkende begreift, erweitert sie den Quellenfundus historischen Arbeitens beträchtlich. Bleibt der bisweilen schwer erträgliche theoretische und terminologische Ballast, der die Bündnisangebote Latours begleitet. Die Frage der Anschlussfähigkeit entscheidet sich letztlich innerhalb des wissenschaftlichen Netzwerkes, das ohne materielle Mittler in Form von Büchern und Blogbeiträgen mithin kaum funktionsfähig sein dürfte.
Bemerkung zur Zitation: Die Publikationsform als Blogbeitrag ermöglicht es, durch Hyperlinks direkt auf Online-Ressourcen zu verweisen. Dies ist hier überall dort geschehen, wo weniger prominente Ausgaben und Aufsätze referenziert wurden, während die Benutzung von google-books, dmgh etc. ins Belieben des Lesers gestellt wird. Alle Links wurden am 26.08.2014 letztmals abgerufen.
[1] Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Frankfurt a. M. 2007, S. 244, 254.
[2] Unter den zahlreichen verfügbaren Einführungen empfehle ich Ingo Schulz-Schaeffer, Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik, in: Johannes Weyer (Hrsg.), Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung. München 2000, S. 187–210 (https://www.uni-due.de/imperia/md/content/soziologie/akteurnetzwerktheorie.pdf) und Andréa Belliger/David J. Krieger, Netzwerke von Dingen, in: Stefanie Samida/Manfred K.H. Eggert/Hans Peter Hahn (Hrsg.), Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart 2014, S. 89–96. Einen instruktiven Lektüreblog, der als erklärender Kommentar fungieren kann, bietet http://peter.baumgartner.name/2009/10/18/gemeinsam-latour-lesen-gll/
[3] Christian Schwaderer, Mauern, Maschinen und Menschen. Das Bewusstsein von Technik, materieller Veränderung und Innovation zwischen 500 und 1200. Tübingen 2013, S. 39 (http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2013/7014/). Der vorliegende Text ist teils als Reaktion auf die Forendiskussionen auf http://mittelalter.hypotheses.org/, teils auf Diskussionsbeiträge der Tagung „Reassembling the Past?! Akteur-Netzwerk-Theorie und Geschichtswissenschaft“, Göttingen 3.–5. Juli 2014 entstanden. Die Frage, ob Mediävisten ANT-fähig sind, wird sich letztlich in der Forschungspraxis erweisen müssen.
[4] Vgl. Latour, Eine neue Soziologie (wie Anm. 1), S. 229.
[5] Jim Johnson (alias Bruno Latour), Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen: Die Soziologie eines Türschließers, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 237–258, S. 247.
[6] Latour, Eine neue Soziologie (wie Anm. 1), S. 81.
[7] Latour, Eine neue Soziologie (wie Anm. 1), S. 245, 82.
[8] Bruno Latour, Über den Rückruf der ANT, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 561–572, S. 566. Diesen „Rückruf“ revidiert Latour, Eine neue Soziologie (wie Anm.1), S. 14, Anm. 24, übrigens erneut.
[9] Vgl. zum Geschehen und Quellenlage Otto Meinardus, The Ceremony of the Holy Fire in the Middle Ages and To-Day, in: Bulletin de la societe d’archeologie copte 16, 1961/62, S. 243–252; Christopher MacEvitt, The Crusades and the Christian World of the East. Rough Tolerance. Philadelphia 2008, S. 115–120; Camille Rouxpetel, Trois récits occidentaux de la descente du feu sacré au Saint-Sépulcre (Pâques 1101): polyphonie chrétienne et stratégies discursives, in: Mélanges de l’École française de Rome – Moyen Âge 126-1/2014 (http://mefrm.revues.org/1932). Unter der älteren Literatur seien hervorgehoben mit ausführlicher Rezeptionsgeschichte: Titus Tobler, Golgatha. Seine Kirchen und Klöster. Nach Quellen und Anschau. St. Gallen/Bern 1851, S. 460–483 (http://books.google.de/books?id=G4tAAAAAcAAJ&hl); sowie Gustav Klameth, Das Karsamstagsfeuerwunder der heiligen Grabeskirche. Wien 1913 (http://www.mgh-bibliothek.de/dokumente/a/a137177.pdf); Bernhard Schmidt, Die Feier des heiligen Feuers in der Grabeskirche, in: Palästinajahrbuch des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des heiligen Landes zu Jerusalem 11, 1915, S. 85–118 (https://archive.org/details/palstinajahrbu1915dalm).
[10] Josef Ackermann, Das ‚Itinerarium Bernardi Monachi’. Edition – Übersetzung – Kommentar (MGH Studien und Texte 50). Hannover 2010, S. 115–127, c. 11, S. 121.
[11] Begriffe ‚Enrolement’, ‚Heilige Allianz’ und ‚obligatorischer Passagepunkt’ erläutert bei Michel Callon, Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 135–174, S. 150.
[12] Vgl. zur Frühphase Thomas Pratsch, Der Platz der Grabeskirche in der christlichen Verehrung im Osten, in: Ders. (Hrsg.), Konflikt und Bewältigung. Die Zerstörung der Grabeskirche zu Jerusalem (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 32). Berlin/Boston 2011, S. 57–66, hier S. 62–65.
[13] Vgl. Paul E. D. Riant, Lettre du clerc Nicétas à Constantin VII Porpphyrogénète sur le Feu sacré (avril 947), in: Archives de l’Orient latin 1, 1881, S. 376–382 (https://archive.org/details/archivesdelorie01parigoog); Gotthard Strohmaier, Al-Birunis Bericht über das Osterfeuer und den Grabfelsen in Jerusalem, in: Ders. (Hrsg.), Hellas im Islam. Interdisziplinäre Studien zur Ikonographie, Wissenschaft und Religionsgeschichte (Diskurse der Arabistik 6). Wiesbaden 2003, S. 186 f, S. 187; Chronicon Hugonis monachi Virdunensis et Divionensis, hrsg. von Georg Heinrich Pertz (MGH SS 8). Hannover 1848, S. 280–503, hier S. 396; Rodulfus Glaber, Historiarum Libri Quinque, hrsg. von Neithard Bulst/John France. Oxford 1989, IV 19, S. 202. Interessanterweise befürchtet Niketas den Waffeneinsatz der Muslime für den Fall, dass das Feuer erscheint, Hugo von Flavigny hingegen im umgekehrten Fall.
[14] Übers. nach Richard Hartmann, Arabische Berichte über das Wunder des heiligen Feuers, in: Palästinajahrbuch des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des heiligen Landes zu Jerusalem 12, 1916, S. 76–94, S. 82 f. Siehe auch: Eilhard Wiedemann, Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaft XII, in: Sitzungsbericht der physikalisch-medizinischen Sozietät zu Erlangen 89, 1907, S. 200—225, S. 200–225, S. 205 f. (https://archive.org/details/sitzungsbericht00erlagoog) Ähnlich argumentieren nach Riant, Lettre du clerc Nicétas (wie Anm. 13), S. 377 auch die Schreiber des lokalen Emirs gegenüber dem Kalifen.
[15] Vgl. Michael Matzke, Daibert von Pisa. Zwischen Pisa, Papst und erstem Kreuzzug (Vorträge und Forschungen. Sonderband 44). Sigmaringen 1998, bes. S. 178–187; Klaus-Peter Kirstein, Die lateinischen Patriarchen von Jerusalem. Von der Eroberung der Heiligen Stadt durch die Kreuzfahrer 1099 bis zum Ende der Kreuzfahrerstaaten 1291 (Berliner Historische Studien 35). Berlin 2002, hier S. 62, 486 f.
[16] Vgl. Johannes Pahlitzsch, St. Maria Magdalena, St. Thomas und St. Markus. Tradition und Geschichte dreier syrisch-orthodoxer Kirchen in Jerusalem, in: Oriens christianus 81, 1997, S. 82–106, S. 85.
[17] Übers. folgt: Ara Edmond Dostourian (Hrsg.), Armenia and the Crusades. Tenth to Twelfth Centuries: The Chronicle of Matthew of Edessa. Lanham/New York/London 1993, S. 179 sowie knapper: Edouard Dulaurier (Hrsg.), Chronique de Matthieu d’Edesse (Bibliothèque historique arménienne). Paris 1858, S. 1–322, S. 234. Zum Häresieverdacht generell vgl. MacEvitt, Crusades (wie Anm. 9), S. 100-106.
[18] Historia belli sacri/Tudebodus imitatus et continuatus, in: Recueil des historiens des croisades. Historiens occidentaux, Bd. 3. Paris 1866, S. 165–229, S. 226 f. Hingegen berichtet Guibert von Nogent, wohl ex post, von Schwierigkeiten, siehe Heinrich Hagenmeyer (Hrsg.), Fulcheri Carnotensis Historia Hierosolymitana. Heidelberg 1913, S. 836 (https://archive.org/details/historiahierosol00foucuoft).
[19] Ebd., S. 395. Dieser Satz findet sich in allen Fassungen der Chronik, die Handschrift L enthält jedoch einen weitaus ausführlicheren Text, der bei Hagenmeyer gemeinsam mit weiteren Berichten zum Ereignis auf S. 831-–837 wiedergegeben ist.
[20] Neben den hier verwendeten, bei Hagenmeyer abgedruckten Versionen Fulchers (S. 831–834), Bartolfs de Nagis (S. 834–836) und Guiberts von Nogent (S. 836 f.) berichten ausführlich: Cafari Annales Ianuenses, hrsg. von Georg Heinrich Pertz (MGH SS 18). Hannover 1863, S. 1–39, S. 12 f. und Ekkehard von Aura, Chronik, hrsg. von Franz-Josef Schmale/Irene Schmale-Ott (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters 15). Darmstadt 1972, Rec. I, S. 123–209, hier S. 176–178.
[21] Fulcheri Carnotensis Historia (wie Anm. 18), S. 831.
[22] Latour, Eine neue Soziologie (wie Anm. 1), S. 123.
[23] Lars Frers, Zum begrifflichen Instrumentarium – Dinge und Materialität, Praxis und Performativität (http://userpage.fu-berlin.de/frers/begriffe.html).
[24] Die Stabniederlegung nur bei Bartolfs de Nagis, S. 834 f.
[25] Cafari Annales Ianuenses (wie Anm. 20), S. 12: Donec civitas ista sancta in potestate infidelium erat, bonum et equum fuit, ut Deus miracula faciendo, incredulos ad fidem reduceret.
[26] Fulcheri Carnotensis Historia (wie Anm. 18), S. 832.
[27] Bartolf (wie Anm. 18/20), S. 835, ergänzt als einziger Augenzeuge die Armenier, die auch an einer Stelle durch Guibert von Nogent (wie Anm. 18), S. 837, erwähnt werden.
[28] Zum Stellenwert von Klang und Raum vgl. eindrucksvoll ROUXPETEL, Trois récits occidentaux (wie Anm. 9).
[29] So Ekkehard von Aura, Chronik (wie Anm. 20), S. 178, der hier einen Brief des Priesters und Augenzeugen Hermann zitiert. Auch Fulcher (wie Anm. 18/20), S. 833, berichtet, dass zu einem späteren Zeitpunkt zwei Lampen entflammt seien.
[30] Fulcheri Carnotensis Historia (wie Anm. 18), S. 833.
[31] Bartolf (wie Anm. 18/20), S. 836.
[32] Matzke, Daibert von Pisa (wie Anm. 15), S. 184; Kirstein, Die lateinischen Patriarchen (wie Anm. 15), S. 162, beide mit Verweis auf Geneviève Bresc-Bautier, Le cartulaire du Chapitre du Saint-Sépulcre de Jérusalem (Documents relatifs à l’histoire des croisades 15). Paris 1984, Nr. 19, S. 72 ff.
[33] Eindrucksvoll bei Theodericus, Libellus de locis sanctis, hrsg. von Robert B. C. Huygens, in: Peregrinationes tres: Saewulf, John of Würzburg, Theodericus (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis, 139). Turnhout 1994, S. 143–197, hier S. 152: Hee sunt professiones sive secte que in ecclesia Iherosolimitana divina peragunt officia, scilicet Latini, Suriani, Armenii, Greci, Iacobini, Nubiani. Hii omnes in conversatione quam in divinis ofiiciis suas quisque habet differentias. Das Ringen um die Bündnisstruktur war damit freilich noch nicht zu Ende. Der russische Abt Daniel, der 1107 dem Lichtwunder beiwohnte, berichtet, dass allein die Lampen des orthodoxen Klerus, die direkt auf dem Grab standen sich wie von selbst entzündet hätten, während die Hängelampen der Lateiner nicht am Wundergeschehen teilgehabt hätten. Übers. August Leskien, Die Pilgerfahrt des russischen Abtes Daniel ins heilige Land 1113–1115, in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 7, 1884, S. 17–64, hier 57–61 (https://archive.org/details/zeitschriftdesde07deut).
[34] Wie Anm. 17.
[35] Der liturgische Ablauf des 12. Jahrhunderts ist wiedergegeben im sog. Rituale von Barletta: Charles Kohler, Un Rituel et un Breviaire du Saint sepulchre de Jerusalem, in: Revue de l’Orient latin 8, 1900/1901, S. 383–500, hier S. 421: Deinde patriarcha regi, si presens fuerit, et ceteris omnibus obtalum ignem déferre vel mittere festinat. Vgl. dazu Iris Shagrir, The Visitatio Sepulchri in the Latin Church of the Holy Sepulchre in Jerusalem, in: Al-Masaq 22,1, 2010, S. 57–77, S. 58 ff. (http://www.openu.ac.il/Personal_sites/iris-shagrir/download/ShagrirAlMasaq.pdf).
[36] Bruno Latour, Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 483–528, hier S. 492.
[38] Dietrich Lohrmann, Östliche Mechanik auf dem Weg nach Europa zur Zeit der Kreuzzüge, in: Hans-Jürgen Kotzur (Hrsg.), Die Kreuzzüge: kein Krieg ist heilig. Mainz 2004, S. 286–295, hier S. 288.
[39] Vgl. Hartmann, Arabische Berichte (wie Anm. 14). Derartige Aussagen lassen sich aus Sicht der ANT als ‚Gegenprogramme’ beschreiben: Sie bemühen sich um eine ‚Übersetzung’ des Wundergeschehens, indem sie ein vermutlich rein virtuelles Seil als Mittler in das Setting einzubringen versuchen und so die Zuordnung der Akteure verändern. Gott wird auf diese Weise aus dem Netzwerk ausgeschlossen.
[40] So Matzke, Daibert von Pisa (wie Anm. 15), S. 185.
[41] Callon, Einige Elemente (wie Anm. 11), S. 167.
[42] So der programmatische Titel: Hans Eberhard Meyer (Hrsg.), Die Kreuzfahrerstaaten als multikulturelle Gesellschaft. Einwanderer und Minderheiten im 12. und 13. Jahrhundert (Schriften des Historischen Kollegs 37). München 1997.
[43] „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht.“ (Joh. 3,8 nach der Einheitsübersetzung). Dies mag für das Numinose zutreffen, kaum aber für irdische Interaktionen.
[44] Bruno Latour, Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen, in: Soziale Welt 52,3, 2001, S. 361–376, hier S. 368.
Empfohlene Zitierweise:
Jan Keupp: Mediävistik auf dem Ameisenpfad, oder: Mit der ANT das Königreich der Himmel stürzen, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 04. September 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4237 (ISSN 2197-6120).
Auf der Suche nach dem Kanon der Geschichte
Alles hat vor ein paar Tagen angefangen mit einem Tweet: Welche Bücher sollte jeder #Historiker gelesen haben? #leseliste — Marc Mudrak (@MarcMudrak) July 26, 2014 Um zu erklären, wie es zu dieser Frage kam, muss ich etwas weiter ausholen. Denn auch Tweets haben manchmal längere Vorgeschichten. Während meiner Jahre in Frankreich ist mir in den Buchhandlungen, Bibliographien und Gesprächen etwas aufgefallen, was ich so aus Deutschland nicht kannte: Links des Rheins gibt es eine Art Kanon der großen historischen Wissenschaftsliteratur und Autoren (es sind […]
Herrschaftsstil – ein Konzept stellt sich zur Diskussion
Politischer Erfolg wie auch dessen Ausbleiben sind nicht nur eine Frage von militärischer und wirtschaftlicher Kraft, sondern auch ganz wesentlich an die Frage der Legitimität des Handelns, aber auch an die Überzeugungskraft der Akteure gebunden. Dass ‘weiche’ Faktoren wie die Inszenierung einer Regierungschefin als inkarnierte Nüchternheit oder die Hervorhebung der Männlichkeit eines Staatspräsidenten als prägend und typisch für deren Politik verstanden wird, leuchtet für die Gegenwart schnell ein. Stilfragen – und diese umfassen u.a. Mimik, Gesten, performative wie architektonische Repräsentation, Rituale, spontanes Alltagshandeln – sind auch Machtfragen. Selbst eine an sich äußerst unspektakuläre Handhaltung (siehe links) kann gerade in der medialen Vermittlung zur Chiffre für einen ganzen Politikansatz werden, aber auch zur Vorlage für Eigenwerbung und zugleich Satire. Letztlich nötigt sie der Ausführenden sogar Versuche der Selbsterklärung ab.
Einer Mediävistik, die sich seit bald zwanzig Jahren mit Ritualen und symbolischer Kommunikation beschäftigt, mag das altvertraut klingen. Und doch gab es bisher erstaunlich wenig Beschäftigung mit Aspekten von Herrschaft im Spätmittelalter unterhalb der formalisierten Zeremonien und großen Inszenierungen. Die kleinen Gesten und Eigenarten prägten aber die Reputation, das Image wie das Nachleben spätmittelalterlicher Herrscher entscheidend mit. Und es lassen sich Übernahmen solcher Praktiken durch andere politische Entscheidungsträger nachweisen, nicht nur für die Gegenwart, sondern auch im Spätmittelalter.
Vor einem knappen Jahr beschäftigten sich auf einer Nachwuchskonferenz der Heidelberger Akademie v.a. jüngere Forscherinnen und Forscher mit herrschaftsbezogenen Stilfragen am Beispiel der luxemburgischen Dynastie. Aus dieser Kooperation von Historikern und Kunsthistorikern wird ein gemeinsamer Tagungsband hervorgehen, dessen Beiträge von dem noch in der Entwicklung begriffenen Konzept spezifischer Herrschaftsstile zusammengehalten werden.
Dieses Konzeptpapier wird hier als work-in-progress von seinen Autoren zur Diskussion gestellt. Wir erhoffen uns nicht nur Rückmeldungen von den Beiträgern des Sammelbandes, die über die Anwendbarkeit der theoretischen Überlegungen auf ihre konkreten Fallbeispiele berichten könnten, sondern von der ganzen mitlesenden Fachcommunity. Wir hoffen, dass der Umfang des Dokuments mit elf Seiten auch in der Ferienzeit bewältigbar ist. Insbesondere wären uns kritische Einschätzungen von Kunsthistorikern wichtig: Von dieser Schwesterdisziplin haben wir Autoren, in der Mehrheit Geschichtswissenschaftler, uns nicht wenig inspirieren lassen. Doch taugt der vorgestellt Ansatz wirklich für ein gemeinsame Betrachtung aus profan- wie kunstgeschichtlicher Perspektive? Mindestens eine Frage haben wir aber auch an die Historiker: Adressiert das Konzept auf eine neue Art, wie wir hoffen, tatsächlich eine Reihe von Einzelphänomen, aber auch deren interpretative Gesamtschau? Gibt es aus der eigenen Arbeit Beispiele, die die vorgestellten ÜBerlegungen an der konkreten Überlieferung erhärten könnten?
Wir freuen uns auf eine lebhafte Diskussion im Kommentarbereich, auch in der anstehenden Sommerpause.
Konzeptskizze zum Download als PDF
Die älteste erhaltene ungarische Evangelienübersetzung von 1466 digital zugänglich – Hussitenbibel mit Kalender
Der „Münchener Kodex“ ist das Kernstück der ungarischen Handschriftensammlung der Bayerischen Staatsbibliothek (Cod.hung. 1) und zugleich das sprachhistorische Denkmal der Ungarn-Forschung. Ab sofort ist er nicht nur in der Ausgabe von Szabó T. Ádám (BSB-Bestand: Hbh/Dp 3501[2), sondern auch im digitalen Faksimile der akademischen Welt frei über das Internet zugänglich. Das älteste Evangeliar in ungarischer Sprache (1466) ist Teil der sogenannten „Hussitenbibel“. Es gibt lediglich zwei weitere ungarische Codices, die zur Hussitenbibel gezählt werden – den Apor-Kodex (Übersetzung von 150 Psalmen – im Besitz des Szekler Nationalmuseums in Sfântu Gheorghe) und den Wiener Kodex (Auszüge aus dem Alten Testament - mittlerweile im Besitz der Széchényi-Nationalbibliothek).Die Geschichte der ungarischen Bibelübersetzung sowie die verschlungenen Wege, auf denen das Evangeliar und der Kalender ihre Wege in die Bayerische Staatsbibliothek gefunden haben, sind bemerkenswert. Wer würde vermuten, dass die älteste erhaltene zusammenhängende Bibelübersetzung auf Ungarisch jenseits der Grenzen des historischen Ungarn angefertigt wurde - im liberalen Fürstentum Moldau in dem Städtchen Târgu Trotuș (ungar. Tatros), wo die geflohenen Hussiten Asyl gefunden hatten - und dass im Kolophon der Sohn Hensel Emres (Emerichs) Németi György (Georg möglicherweise aus einem Ort namens Németi, eine Ortschaft mit Bezug zu deutschen Siedlern) als Schreiber genannt ist? Als Übersetzer der ungarischen Hussitenbibel gelten unter den meisten Forschern Valentinus de Ilok (ungar. Újlaki Bálint) und Thomas de Quinque-Ecclesiis (ungar. Pécsi Tamás), die in den Jahren 1399 bzw. 1411 an der Prager Universität immatrikuliert waren. Sie sollen später als Priester in Kemenitz (ungar. Kamanc, serb. Sremska Kamenica) in Syrmien gewirkt haben, einem Gebiet zwischen dem heutigen Kroatien und Serbien, zwischen den Flüssen Donau, Save und Drau, und in den Jahren 1438-1439 infolge der Inquisition in das Fürstentum Moldau geflohen sein. Die kirchenpolitischen Reformen des Jan Hus waren also bis tief nach Südost- und Osteuropa spürbar.
Der Kalender für die Jahre 1416-1435 und das Evangeliar wurden erst im Besitz des berühmten Diplomaten, Orientalisten und Humanisten Johann Albrecht Widmanstetter (1506-1557) zusammengebunden und kamen 1558, im Jahr der Gründung der Hofbibliothek nach München. Es gibt keine eindeutigen Nachweise wie der Kalender und das Evangeliar in den Bestand Widmanstetters gelangten. Eine Theorie besagt, dass Widmanstetter den Codex vom französischen Orientalisten Guillaume Postel erhalten hat. Dieser hielt sich in den Jahren 1553-1554 zur gleichen Zeit wie Widmanstetter in Wien auf und hatte zuvor ausgedehnte Forschungsreisen mit einem Halt in dem Städtchen Târgu Trotuș unternommen. Die andere Theorie stützt sich auf die Orthographie: Genau wie in der Bibelübersetzung tauchen die orthographischen Neuerungen auch in der Druckerei des späteren Palatins Tamás Nádasdy auf. Für diese könnte das Evangeliar die Vorlage gewesen sein. Auch in privaten Briefen wandte Nádasdy die neue Orthographie an. Am Wiener Hof, an dem Widmanstetter von 1552-1556 wirkte, könnte die Übergabe bzw. Schenkung stattgefunden haben.
Im letzten September hat eine ungarische Studiengruppe von der ELTE die Bayerische Staatsbibliothek besucht und den Münchener Kodex begutachtet sowie die Digitalisierung dieser Handschrift gewünscht. Nicht zuletzt diesem Wunsch ist die BSB nachgekommen und hat einen weiteren Schritt in der digitalen Aufbereitung ihrer wertvollen Handschriften getan.
Weiterführende Literatur (Auswahl):
-
Tafferner, Lioba: Der „Münchener Kodex“. Sein Weg nach München und seine Entdeckung in der Kgl. Hof- und Staatsbibliothek. In: Ungarn-Jahrbuch 28 (2005-2007), S. 199-228 [BSB-Bestand: Hbost/Ra 61b]
-
Szabó,T. Ádám: Der Münchener Kodex (1466) als ungarisches Sprachdenkmal. In: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis de Rolando Eötvös nomi-natae. Sectio linguistica 17 (1986), S. 3-36 [BSB-Bestand: Z 70.1768-16/17]
-
Münchener Kodex (transliterierter Text und Wörterbuch): Szabó, T. Ádám: Müncheni kódex, (1466) ; a négy evangélium szövege és szótára. Budapest.1985 [BSB-Bestand: Hbh/Dp 3501[2]
-
Apor-Kodex (Faksimile): Szabó, Dénes: Apor-kódex. Kolozsvár. 1942 [BSB-Bestand: Hbh/K 5650-2]
Richard Holzberger
Quelle: http://ostbib.hypotheses.org/482
Kloster und Wissen. Einige Thesen zur Diagrammatik der Philosophia mundi.
Zu Beginn des Jahres wurde eine deutlich erweiterte Fassung meiner Masterarbeit veröffentlicht, die mittlerweile auch online über den Freiburger Dokumentenserver zugänglich ist.1 In dieser Arbeit habe ich mich mit der so genannten Arnsteinbibel, London BL Harley 2798 und Harley 2799 beschäftigt.
“Das […] Buch behandelt die monastische Wissenskultur des hohen Mittelalters und basiert auf einer mit dem Erasmus Prize for the Liberal Arts and Sciences (2013) ausgezeichneten Qualifikationsschrift des Autors. Anhand wissenschaftlicher Diagramme der so genannten Arnsteinbibel (British Library Harley 2799) werden die lebensweltlichen Bedingungen von Wissen im Prämonstratenserstift Arnstein a.d. Lahn im frühen 13. Jahrhundert untersucht. Dabei eröffnet sich dem modernen Betrachter ein ungewohnter, genuin mittelalterlicher Zugang zu naturwissenschaftlichem Wissen, das in Arnstein eine spirituelle und liturgische Dimension erhielt.“2
In dieser Arbeit vertrete ich unter anderem die These, dass der Diagrammzyklus in Harley 2799 größtenteils auf der Philosophia mundi Wilhelm von Conches basiert.
Ich interpretiere die drei Diagramme auf folio 242r der Bibel als diagrammatische Synthese einer komplexen Stelle im zweiten Buch der Philosophia, in der die Beziehung zwischen dem Kosmos (vor allem dem jeweiligen Stand der Sonne zu den verschiedenen Jahreszeiten) und dem menschlichen Körper beschrieben wird. Diese inhaltliche Interdependenz zwischen den astronomischen und medizinischen Phänomenen entspricht einer didaktischen Interdependenz zwischen den drei Diagrammen.3
Diese These scheint mir inhaltlich überzeugend, sie war in zweierlei Hinsicht aber nicht unproblematisch: Zum einen bezeugt der überlieferte mittelalterliche Katalog der Abtei4 keinen Eintrag, der sich eindeutig auf das Werk des nordfranzösischen Magisters beziehen ließe; und zum anderen konnte ich bislang keine entsprechenden Diagramme in der Überlieferung des zweiten Buches der Philosophia mundi ausfindig machen.
Erst nach Fertigstellung des Manuskripts der Arbeit konnten mit freundlicher Hilfe von Prof. Dr. Paul Dutton mittlerweile drei Handschriften gefunden werden, die zur Illustration der Textstelle auf eine ähnliche diagrammatische Formensprache wie die Arnsteinbibel zurückgreifen: Paris BNF Lat. 6560, Paris BNF Lat. 11130 sowie Zürich Car. C. 137 (299 Mohlberg).
Die beiden Pariser Handschriften sind mittlerweile (leider ebenfalls erst nach Abschluss des Manuskripts) online konsultierbar, bislang allerdings völlig unzureichend und fehlerhaft beschrieben.
Alle drei Handschriften stammen vermutlich aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die genaue Herkunft ist bislang nicht bekannt. Sie stellen neben der Arnsteinbibel die einzigen bekannten Zeugnisse dieser diagrammatischen Tradition dar. Während Lat. 11130 und Car. C. 137 die Zusammenhänge im Text ähnlich der Arnsteinbibel mit mehreren (zwei) Diagrammen illustrieren, sind die entsprechenden Elemente in Lat. 6560 in einem Diagramm zusammengefasst.
Diese neue Überlieferungslage stärkt die im Buch vertretene These, die Abtei habe tatsächlich eine Abschrift der Philosophia mundi besessen, die als Vorlage des Diagrammzyklus zu sehen ist.5
In seinem Standardwerk Album of Science hat sich John Murdoch 1984 wie folgt zur Erforschung der diagrammatischen Produktion geäußert:
„Our knowledge of how manuscript illustrations were produced is infinitely more complete in the case of the well known artistic miniatures of illuminated medieval manuscripts than in that of the scientific illustration or diagram.”6
Ich möchte an dieser Stelle vorsichtig die Vermutung äußern, dass die nunmehr vier Zeugen der Diagrammtradition einen seltenen Blick hinter die Kulissen dieser Produktion ermöglichen und hierzu einige knappe Thesen skizzieren:
Die vier Zeugen lassen sich im Hinblick auf ihre Komplexität sortieren: Das eine Ende der Tradition bildet die Arnsteinbibel, die den Zusammenhang zwischen Kosmos und Körper mit drei Diagrammen darstellt. Lat. 6560 steht am anderen Ende, da es den gleichen Sachverhalt in einem einzigen Diagramm vereint (auch wenn auf der Folgeseite das Verhältnis der Elemente erneut dargestellt wird). Lat. 11130 und Car. C. 137 nehmen mit zwei Diagrammen eine Mittelstellung ein.
Es ist dabei verlockend, über diese unterschiedliche Komplexität auf verschiedene Phasen der Entwicklung dieser Diagramme zu schließen. Da der Arnsteinbibel wichtige gestalterische Elemente fehlen, die den anderen Handschriften gemein sind (hier sind vor allem die versetzte Anordnung der Sternzeichen sowie die doppelwandigen Halbkreise mit den Himmelsrichtungen und den Jahreszeiten zu nennen), scheint es wahrscheinlich, dass die Bibel einer früheren Entwicklungsstufe der Tradition entspricht. Lat. 6550 wäre in dieser Lesart der Endpunkt dieser Entwicklung.
In diesem Fall böte sich hier ein aufschlussreicher Einblick in die Entstehung dieser diagrammatischen Traditionen:
Eine ursprünglich diagrammfreie Fassung des zweiten Buches der Philosophia wurde vermutlich zur Klärung des komplizierten Textes mit Illustrationen versehen, die die wesentlichen Elemente der Textstelle verdeutlichen. Der Urheber dieser Abbildungen bediente sich dabei des klassischen bekannten Formenrepertoirs und war bemüht, die sehr unterschiedlichen thematischen Felder des Textes zu isolieren, gleichzeitig aber auch ihre Beziehung deutlich zu machen. Diese graphische Umsetzung besticht durch ihre Einfachheit, hat aber auch eine entscheidende Schwäche: Man muss erst erkennen, dass die drei Diagramme aufeinander zu beziehen sind, damit die Abbildungen ihren Sinn entfalten können.
Diesem Umstand trägt die zweite Entstehungsstufe in Lat. 11130 und Car. C. 137 Rechnung. Hier wird D2, also der Lauf der Sonne durch die Jahreszeiten, in die graphisch reduzierte Abbildung des Kosmos integriert und dem Schema der Elemente gegenüberstellt. So wird ein besseres Verständnis gewährleistet; die Diagramme verlieren dadurch aber auch an Bildlichkeit und werden abstrakter.
Lat. 6560 könnte nun den letzten Schritt in dieser Entwicklung darstellen. Die Elemente wurden auf ein stark abstrahierendes Diagramm reduziert. Die ursprünglichen klassischen Formen sind in einem neuen Diagramm aufgegangen.
Diese Beobachtungen – sollten sie sich erhärten lassen – legen den Schluss nahe, dass hochmittelalterliche Diagramme nicht einfach aus dem Nichts geschaffen werden konnten, sondern zunächst aus dem überlieferten Formenspektrum schöpfen mussten. Damit bestätigt sich die Vermutung von Ramírez-Weaver:
“The creator of a diagram, even a new one […] was restricted by standard techniques of visualization […] medieval preferences for the formal arrangements
of charted information (like rotae), and a relatively straightforward adherence to well-known ›facts‹ […].”7
Einmal etabliert werden diese Diagramme dann zunehmend abstrahiert und in ein einzelnes Diagramm integriert.
Diese Überlegungen sind sicherlich noch sehr vorläufig und bedürfen eingehender Prüfung. Rätselhaft ist zum Beispiel das plötzliche Verschwinden dieser diagrammatischen Tradition mit Lat. 6560 ab dem 13. Jahrhundert. Die drei Handschriften der Philosophia, Car. C. 137, Lat. 11130 und Lat. 6560, scheinen auf jeden Fall in einer Beziehung zueinander und zur Arnsteinbibel zu stehen, die näher zu untersuchen sich sicherlich lohnen würde.8
- Schonhardt, Michael: Kloster und Wissen – Die Arnsteinbibel und ihr Kontext im frühen 13. Jahrhundert. (Reihe Septem, 2) Freiburg 2014.
- Kurzbeschreibung auf Freidok.
- Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 58-61.
- Ediert in Gottlieb, Theodor: Über mittelalterliche Bibliotheken. Leipzig 1890, S. 293-298.
- Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 98-100.
- Murdoch, John: Album of Science, Antiquity and the Middle Ages. New York 1984, S. 15.
- Ramírez-Weaver, Eric: Creative Cosmologies in Late Gothic Bohemia: Illuminated Diagrams and Memory Tools for the Court of Wenceslas IV, in: Manuscripta Bd. 54 (2010), S. 21–48, hier S. 31.
- Ein wichtiger Beitrag ist in dieser Hinsicht sicherlich von der geplanten Edition der Philosophia durch Paul Edward Dutton im CCCM zu erwarten.
Kloster Rupertsbergs Besitzungen in Ockenheim
Vor kurzer Zeit reichte ich meine Bachelorarbeit zur Geschichte des Klosters Rupertsbergs ein, »Kloster Rupertsberg 1150-1300. “Von ‘Wiza’ und ‘Apfla’ über die Nahe bis zur ‘Elra’”«.1 Die Erforschung des von Hildegard von Bingen gegründeten Klosters ist sehr spärlich. Das Güterverzeichnis … Continue reading →
„Eine so verrückte Sache (…) haben wir noch nie gemacht“
Eine Reise wert: das Grafikarchiv der Stiftung Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen Berlin
Ein Beitrag von Teja Häuser
„Du musst Caligari werden!“, dachte ich mir und machte mich auf den mühsamen Weg nach Berlin Lichterfelde ins Grafikarchiv der Deutschen Kinemathek. Das Filmhaus, das die Deutsche Kinemathek beherbergt, befindet sich zentral am Potsdamer Platz gelegen, der Bereich Grafik ist jedoch ausgelagert, nach sehr weit draußen, an den Rand von Berlin. Einen Termin hatte ich schon mal, aber der Weg dorthin war steinig und kalt. Ein einsamer Bus fuhr mich hinaus ins Niemandsland, wo ich Caligari auf die Spur kommen wollte.
Kein Zeichen, nichts deutet auf ein Archiv von über 15.000 Filmplakaten, Nachlässen und Entwürfen zu Filmen hin. Versteckt hinter riesigen Lkw führt eine kleine Treppe hinauf zu modernen, hellen Räumen, eine große Fensterfront eröffnet den weiten Blick in die umliegende Natur. Anett Sawall, meine Ansprechpartnerin für das Grafikarchiv, begrüßt mich freundlich und weist mir meinen Platz zu. Einer der Wagen, wie sie in Archiven üblich sind, mit allerlei Material beladen, steht schon bereit. Ich habe genügend Platz, um alles auf Tischen ausbreiten und einsehen zu können.
Es waren wohl schon einige Interessierte hier, die Mappen (Abb. 1), Umschläge und Papiere, die vor mir liegen, zeigen deutliche Spuren. Ich bin gespannt: Was wird mich hinter den Kulissen des berühmten Films „Das Cabinet des Dr. Caligari“ erwarten?
Ganz oben liegt ein kleiner Umschlag mit Fotos: Aufnahmen der rekonstruierten Bühnenbauten (Abb. 2) versetzen mich in die Zeit vor 1920, den Beginn der Dreharbeiten des düsteren Stummfilms.
Originale der Bauten sind nicht mehr erhalten. Es war zur damaligen Zeit nicht abzusehen, welch großen Erfolg der Film haben würde. Nachdem die Bauten ihren Zweck für den Dreh erfüllt hatten, vernichtete man sie. Auch im Zweiten Weltkrieg wurde vieles zerstört. Jedoch führte die anhaltende Begeisterung für den Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ dazu, dass Jahrzehnte später vieles rekonstruiert wurde, um die Entstehung des Films nachvollziehen zu können. Diese Vorgehensweise trug auch dazu bei, dass sich seit jeher viele Legenden um den Film ranken.
Den Fotos liegt ein dreiseitiges maschinengeschriebenes Dokument bei, das Hermann Warm am 3. November 1968 unterzeichnete. Er war einer der drei Künstler, die für die Gestaltung des Films verantwortlich waren. Hermann Warm versuchte, den Hergang der Dreharbeiten am Set, den Aufbau der Filmbauten im Nachhinein zu rekonstruieren. Ob die Aussagen knapp fünf Jahrzehnte nach der Entstehung des Films tatsächlich der damaligen Situation entsprechen, sei mal dahingestellt, dennoch finden sich darin einige interessante Hinweise darauf, welch ein Pionierprojekt der Caligarifilm war:
„Es war nicht immer genügender Abstand für die Kamera, von der Dekoration im Atelier vorhanden, die Kamera stand einigemal ausserhalb des Ateliers, wie es aus den Lageplänen zu ersehen ist. Um der Kamera den freien Blick auf die Dekorationen, daß Spielfeld bei den Totaleinstellungen zu geben, mussten Glasscheiben und auch Scheibenfalz T. Eisen entfernt werden. Für die Kamera wurde im Freien, eine kleine Kombüse aus Blenden gebaut.“
„Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass damals alle technischen Arbeitskräfte, gleichviel welcher Berufsart sie angehörten, überall Hand mit anlegten, ja sogar die Beleuchter bis zum Drehbeginn sich an den Aufbauarbeiten beteiligten. Bei dem Caligarifilm im besonderen, denn eine so verrückte Sache, wie die Arbeiter sagten, haben wir noch nie gemacht. In diesem Film hatte der Kameramann keine besonderen Aufgaben zu lösen, nur ein diffuses allgemeines Licht war zu geben, Licht und Schatten Stimmung alles war ja von uns gemalt. Ich möchte noch hervorheben, dass der Stil des Caligarifilms und die Idee diesen Film expressionistisch zu gestalten, allein von uns den drei Filmbildnern Hermann Warm, Walter Reimann, Walter Röhrig ausging, keinerlei Anregung für Stil und Gestaltung wurden gegeben. Alle anders lautenden Veröffentlichungen sind unrichtig.“
Hermann Warm, geboren am 5. Mai 1889 in Berlin und gestorben am 17. Mai 1976 in Westberlin, war bereits vor den Dreharbeiten des expressionistischen Films „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ein etablierter Theatermaler und Filmarchitekt. Er arbeitete gemeinsam mit Walter Röhrig und Walter Reimann an dem Film. Als Maler und Filmarchitekten bildeten sie ein dreiköpfiges Gespann von enormer kreativer Schaffenskraft. Ihnen gelang mit diesem Stummfilm unter der Regie von Robert Wiene ein Meilenstein der Filmgeschichte. Die Filmbauten trugen maßgeblich zu der düster expressionistischen Stimmung des Films bei. Mit gemaltem Licht und Schatten (Abb. 3), erzeugten sie ein spannungsreiches Spiel von Hell und Dunkel, das sich auf der Leinwand zu einer grotesken Filmlandschaft verzerrte.
Der außergewöhnliche und neuartige Stil des Films war wegbereitend und eröffnete neue Möglichkeiten in der Filmgestaltung, die auch international aufgegriffen wurden.
Vor mir liegen sie, die Architekturskizzen (Abb. 4) für die Filmkulissen mit denen „Das Cabinet des Dr. Caligari“ zum Leben erweckt werden sollte. Bis ins kleinste Detail genauestens festgelegt, auf Millimeterpapier geplant, berechnet, vergrößert, um sich schließlich immer näher an die Verwirklichung des Filmsets heranzutasten. Ich bin beeindruckt von der Komplexität der vorliegenden Materialien, immer wieder wurden kleinste Abweichungen akribisch festgehalten. Ich kann die Mühe und Leidenschaft, mit der sich die Künstler ans Werk begeben haben, nachfühlen. Jedes einzelne Blatt ist handbeschriftet, die Persönlichkeit überall herauszulesen. Zunächst dachte ich, die vorliegenden Blätter wären zeitgenössische Originale, denn nirgendwo fand sich ein Hinweis auf deren echtes Entstehungsdatum. Ich ging davon aus, dass die Skizzen eben während der Planung des Films entstanden. Im Gespräch mit dem Sammlungsleiter der Deutschen Kinemathek Werner Sudendorf erfuhr ich jedoch, dass die Architekturskizzen in der Mehrzahl erst Jahrzehnte nach der Aufführung des Films entstanden. Es sind Rekonstruktionen, die die Entstehung des Films im Nachhinein wiederauferstehen lassen sollen.
Die neue Sichtweise schmälert meine Begeisterung für den Film und seine bildkünstlerische Überlieferung nicht. Alle Zeichnungen sind von Hand angefertigt, die Täuschung ist gelungen. Das wirft für mich die Frage auf, wie perfekt und unpersönlich dazu im Vergleich ein Animationsfilm wirken muss, der unter Einsatz von moderner Computertechnik erstellt wird. Nach und nach wühle ich mich durch die Skizzen und Grundrisse, lese Anmerkungen und Kommentare und tauche immer weiter ein in die mörderische Szenerie zwischen Genie und Wahnsinn.
Jedes Blatt ist sorgfältig archiviert und auf der Rückseite mit einer Nummer versehen. Alles wurde digital abfotografiert und in eine Datenbank aufgenommen. Ich notiere mir die Archivsignaturen, um mir einzelne Bilder vom Archiv als Scans bestellen zu können. Um einen möglichst originalgetreuen Zustand der Entwürfe und Skizzen, insbesondere der Farbigkeit im Foto wieder zu geben, wird jedes einzelne Blatt mit einer Farbkarte abfotografiert, sodass ein Weißabgleich im Nachhinein noch möglich ist (Abb. 5).
Ich schlage eine weitere Mappe auf, vor mir liegt „Das Mordzimmer“, eine farbige Zeichnung von Hermann Warm. Malerisch, düster verzerrt und ausdrucksstark folgen weitere seiner einzigartigen Szenenentwürfe für den Caligarifilm. Ich bin erstaunt von der Farbigkeit der Bilder, sie verleihen den Kulissen einen ganz eigenen Ausdruck, den der Film so nicht hergibt. Jedes einzelne Bild ist ein Kunstwerk, signiert von Hermann Warm. Jedoch sind auch diese Werke erst im Nachhinein entstanden, denn die Deutsche Kinemathek beauftragte Hermann Warm in den 1960er Jahren, Rekonstruktionen der Entwürfe zu erstellen. Die Farben sind dezent eingesetzt, sie geben die Stimmung der Szene deutlich wieder und lassen ein Gesamtkunstwerk entstehen, das durch seine Eigentümlichkeit und Ästhetik besticht. Manchmal kann ich mich jedoch eines Verdachts von Kitsch nicht erwehren. Ob dies der Tatsache geschuldet ist, dass es sich um Rekonstruktionen handelt, die sicherlich eine gewisse Verklärung mit sich bringen?
Dennoch lasse ich mich von meinem Weg nicht abbringen, mit Begeisterung enthülle ich jedes sorgsam eingeschlagene Passepartout, Schritt für Schritt gehe ich durch „Das Cabinet des Dr. Caligari“, über die „Dächer“ (Abb. 6)…
… auf den „Rathausplatz mit Markteingang“ (Abb. 7),
…durch das „Schlafzimmer von Jane“ (Abb. 8),
… an der „Gartenmauer“ (Abb. 9) entlang,…
… ins „Mordzimmer“ (Abb. 10)….
… bis schließlich zur „Gefängniszelle“ (Abb. 11).
Der Blick hinter die Kulissen hat sich wirklich gelohnt, er wirft, zumindest für mich, ein neues Licht auf den Stummfilmklassiker. Geschafft, aber zufrieden und den Kopf voller Bilder, verlasse ich das Grafikarchiv der Deutschen Kinemathek Berlin.
Vielen Dank an die Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen Berlin und Frau Sawall vom Grafikarchiv, die mir diesen spannenden Einblick ermöglichten und mir die Bilder zur Verfügung stellten.
Abbildungsverzeichnis:
- Abb. 1: Mappe Außenseite; „Das Kabinett des Dr. Caligari“ IMG_0811 Inv.Nr. 198033_F251_054
- Abb. 2: Foto der rekonstruierten Bühnenbauten, Originale im Grafikarchiv der Deutschen Kinemathek, keine Archivsignatur vorhanden; Foto: Teja Häuser
- Abb. 3: „Das Kabinett des Dr. Caligari“: „Mordzimmer“ von Hermann Warm; IMG_0114 Inv.Nr. 198033_F251_001
- Abb. 4: „Das Kabinett des Dr. Caligari“: „Die Stadt Holstenwall“ und „Das Mordzimmer“ Architekturskizze von Hermann Warm; IMG_1257 Inv.Nr. 198033_F251_114
- Abb. 5: „Das Kabinett des Dr. Caligari“: „Feldweg an der Stadtgrenze“ von Hermann Warm; Bild mit Farbkarte IMG_0317 Inv.Nr. 198033_F251_34
- Abb. 6: „Das Kabinett des Dr. Caligari“: „Dächer“ von Hermann Warm; IMG_ 0107 Inv.Nr. 198033_F251_37
- Abb. 7: „Das Kabinett des Dr. Caligari“: „Rathausplatz mit Markteingang“ von Hermann Warm; IMG_0108 Inv.Nr. 198033_F251_007
- Abb. 8: „Das Kabinett des Dr. Caligari“: „Schlafzimmer von Jane“ von Hermann Warm; IMG_0314 Inv.Nr. 198033_F251_31
- Abb. 9: „Das Kabinett des Dr. Caligari“: „Gartenmauer“ von Hermann Warm;IMG_0322 Inv.Nr. 198033_F251_39
- Abb. 10:„Das Kabinett des Dr. Caligari“: „Mordzimmer“ von Hermann Warm;IMG_0249 Inv.Nr. 198033_F251_017
- Abb. 11: „Das Kabinett des Dr. Caligari“: „Gefängniszelle“ von Hermann Warm;IMG_0250 Inv.Nr. 198033_F251_016
Quellenverzeichnis:
- Grafikarchiv der Deutschen Kinemathek Der Brief von Hermann Warm vom 3. November 1968 befindet sich im Original im Grafikarchiv der Deutschen Kinemathek, dieser ist nicht mit einer Archivsignatur erfasst.
- http://www.deutsche-kinemathek.de/de/archive/plakate/allgemein 11.5.2014
- http://www.deutsche-kinemathek.de/de/deutsche-kinemathek/das-filmhaus 11.5.2014
- http://www.deutsche-kinemathek.de/de/ausstellungen/staendige-ausstellung-film/das-cabinet-des-dr-caligari-1920 11.5.2014
- http://www.filmportal.de/film/das-cabinet-des-dr-caligari_cb123ff9496d416c972e6cd8aaec08ca 11.5.2014
- http://www.filmportal.de/person/hermann-warm_a879929fca2a463e973995e80d95e703 11.5.2014
- http://www.filmportal.de/person/walter-roehrig_e8fc9e002ddc435b88e55c8d69ebbac5 11.5.2014
- http://www.filmportal.de/person/walter-reimann_d724764e2336447485fee83d2ae7f3cd 11.5.2014
- http://www.filmportal.de/person/robert-wiene_3b1b939b80974a9f83c94e635940c8c0 11.5.2014
- http://www.bertelsmann.de/news-und-media/specials/das-cabinet-des-dr.-caligari/ 11.5.2014
(K)Eine Farbe mit viel Geschichte. Weiß im 16. Jahrhundert
Die französische Historiographie hat sich immer wieder mit der Geschichte der Farben befasst. Was in der Kunstgeschichte auch in Deutschland gängig ist, konnte sich für die Frühe Neuzeit hierzulande an den Historischen Seminaren nie so recht durchsetzen. Dabei ist die Geschichte der Farben mehr als nur ein buntes Durcheinander vergangener Kolorierungen. Michel Pastoureau ist der vielleicht beste Kenner dieser Geschichte und hat ihr als Mediävist ein reiches Werk gewidmet. Auch für die Reformationszeit liegt von ihm ein Aufsatz vor, in dem er sich mit […]