Drei hochaktuelle Grundlagenwerke für die Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Sollte es nicht doch einen gewissen Kanon von Büchern geben, die alle Menschen, die mit Geschichte arbeiten, irgendwie kennen müssen? Das ist manchen sicher zu apodiktisch. Dennoch glaube ich, dass man so etwas brauchen kann. Damit sich alle auf etwas positiv wie negativ beziehen können. Wie umfangreich wäre dann so eine Kanon? Keine Ahnung. Diese drei Bücher aus dem Bereich Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte gehören für mich auf jeden Fall dazu. Alle drei beschäftigen sich auf ihre Weise mit der Formation von Gesellschaften.
Immanuel Wallerstein: Der Siegeszug des Liberalismus (1789-1914). Das moderne Weltsystem IV. Wien 2012.
Dieses 2011 geschriebene Buch, das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, steht nur stellvertretend für das ganze Hauptwerk Wallersteins: Das moderne Weltsystem. Wallersteins Weltsystemanalysen sind nicht nur für Globalhistoriker/innen wichtig. Auch für lokale Studien ist es von Bedeutung, den Horizont mit Wallerstein zu weiten und Vorgänge vor Ort in größere Veränderungsprozesse einzubetten.
Denn Wallerstein sieht die Geschichte des modernen Weltsystems von zwei großen Zyklen bestimmt: Kondtratjew-Zyklen mit einer Dauer von 50 bis 60 Jahren und länger andauernden Zyklen des Aufstiegs und Falls von Hegemonialmächten. Zu diesem Ansatz kommen weitere Themen dazu: Der Entwicklung von Zentren und Peripherien, sowie die jeweiligen Klassenkämpfe, von denen dieses Veränderungen ausgehen.
Wallersteins Thesen sind im Detail streitbar, aber er eröffnet immer wieder neue Sichtweisen, wie zum Beispiel die Interpretation der Französischen Revolution als letzten Versuch, England in der Auseinandersetzung um die Stellung als Hegemonialmacht zu besiegen und als erste “antisystemische”, antikapitalistische Revolution des modernen Weltsystems, die jedoch scheiterte.
In Band vier geht es um den Triumph des Liberalismus im 19. Jahrhundert, den zentristischen Liberalismus als Ideologie, über den liberalen Staat und seine Klassenwidersprüche. Thema sind außerdem die Bürger im liberalen Staat und der Liberalismus als Sozialwissenschaft. Das Buch könnte angesichts des gegenwärtigen neoliberalen Dogmas nicht aktueller sein. So räumt Wallerstein unter anderem mit der Vorstellung auf, dass der Liberalismus je eine Metastrategie gegen den gegen den Staat gewesen sei, er strebte nicht einmal den sogenannten Nachtwächterstaat an und stand auch nicht zum Laissez-faire:
Liberalismus war letztendlich immer die Ideologie des starken Staates im Schafspelz des Individualismus, oder genauer gesagt, die Ideologie eines starken Staates als einzig möglichen Garant des Individualismus.
Wallerstein spielt mit der Idee, dass es seit 1789 nur eine einzige wahre Ideologie gegeben habe, die des dieser zentristischen Liberalismus, die in unterschiedlichen Spielarten auch von den anderen beiden politischen Grundströmungen, dem Konservatismus und dem Sozialismus, geteilt wurde. Zumindest konnten sich die anderen Strömungen nicht erfolgreich gegen diese Ideologie positionieren. Hierzu bringt Wallerstein viel Material. Das ist sehr lesenswert und diskussionswürdig.
Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Orig. 1944. Diverse Auflagen
Eine Ergänzung zu Wallerstein ist dieses Buch; ein Klassiker und bereits 1944 erschienen. Trotzdem kennen es viel zu wenige. Karl Polanyi, einer der bedeutendsten Wirtschafts- und Sozialhistoriker des 20. Jahrhunderts, wird aber innerhalb des Fachs kaum wahrgenommen. Dabei ist schon sein Lebensweg als undogmatischer sozialistischer Wissenschaftler im Spannungsfeld zwischen den sozialistischen Idealen des „roten Wiens“ und den Erfahrungen der beiden Weltkriege und des Aufstiegs des Faschismus eine nähere Beschäftigung wert.
Auf die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts antwortet Polanyi mit einer originellen wie einleuchtenden Analyse des Zusammenbruchs der “Zivilisation des 19. Jahrhunderts” – The Great Transformation.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Frage, wie es denn sein kann, dass im 19. Jahrhundert zwischen den Großmächten ein beinahe 100-jähriger Frieden herrschte.
Wir haben uns allzusehr daran gewöhnt, die Ausbreitung des Kapitalismus des Kapitalismus als einen alles anderen als friedlichen Prozeß zu betrachten, und das Finanzkapital als den Hauptanstifter zahlloser Kolonialverbrechen und expansionistischer Aggressionen. […] Die Geschäfts- und Finanzwelt waren in der Tat für viele Kolonialkriege verantwortlich, aber auch für die Tatsache, dass ein allgemeiner Krieg vermieden wurde. […] Fast jeder Krieg war das Werk der Financiers, aber auch der Friede war ihr Werk.
Polanyi rechtfertigt nicht, sondern möchte einen nüchternen Blick. Das selbstregulierende Marktsystem des 19. Jahrhunderts hatte Institutionen, die es im Zaum hielten. Hierzu arbeitet er unter anderem die widersprüchliche Funktion der Hochfinanz heraus. Er untersucht das 19. Jahrhundert intensiver und kommt zum Schluss, dass die Welt des 19. Jahrhunderts auf vier Einrichtungen beruhte: Dem System des Kräftegleichgewichts, den internationalen Goldstandard, den selbstregulierenden Markt und den liberalen Staat. Polanyi weiß natürlich um die Probleme dieser Vereinfachung. Aber er reduziert seine Analysen bewusst auf die von ihm ausgewählten Themen, um zu zeigen, dass der Zusammenbruch dieses Systems in ihm selbst angelegt war.
Es gab eine „Doppelbewegung“, die ein sich selbst regulierendes Marktsystem und Institutionen zum Schutz vor den Gefahren dieses Systems hervorbrachte. Letztere verloren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Einfluss. Eine Ursache für zwei Weltkriege. Doch konnte es für Karl Polanyi kein Zurück in das System des 19. Jahrhunderts geben, sondern nur ein Darüberhinaus. Deswegen kritisierte er unter anderem Roosevelts zurückhaltende Politik des „New Deal“: Ein organisatorischer Interventionismus ohne den gleichzeitigen Ausbau demokratischer Willensbildung führten von der Demokratie als stabilisierendes Steuerungselement weg. Man sollte das mit Blick auf den heutigen “Green Deal” noch einmal nachlesen.
Den Volkswirt Polanyi interessierte die Frage, wie eine andere Welt ganz konkret politisch und ökonomisch aussehen könnte. Dennoch musste er sich auf einer Metaebene mit den wichtigsten ideologische Grundideen des Liberalismus auseinandersetzen.
- Mit der “krassen Ideologie” des selbstregulierenden Marktes, der die menschliche und natürliche Substanz des Menschen vernichten musste
- und mit den zeitgenössischen Spekulationen über die „Natur“ des Menschen und über “natürliche” Wirtschaftssysteme, um nur die zwei wichtigsten zu nennen.
Die Auseinandersetzung über das Wesen des Menschen wurde in den 1930er und 1940er Jahren durch die Interpretation frühgeschichtlicher Funde und durch die kulturanthropologische Erforschung von „Naturvölkern“ neu befeuert. Insofern ist Polanyis Werk auch ein historisches Zeugnis seiner Zeit.
Es lohnt sich, mit Polanyi vertieft auseinanderzusetzen, weil sein Werk volkswirtschaftliche Grundlagen und historische Zugriffe vermittelt. The Great Transformation ist sehr dicht geschrieben und man merkt dem Werk an, dass hier Ideen zusammengeführt werden, die an anderer Stelle ausführlicher entwickelt wurden.
Seit ein paar Jahren sind diese Vorarbeiten verfügbar. Michele Cangiani und Claus Thomasberger haben im Metropolis Verlag die Aufsätze Polanyis in der dreibändigen Chronik der großen Transformation: Artikel und Aufsätze (1920-1945) herausgegeben. Polanyi entwickelt hier zum Beispiel konkrete Ansätze für eine sozialistische Organisation der Wirtschaft.
Jürgen Hoffmann: Politisches Handeln und gesellschaftliche Struktur. Politische Soziologie der europäischen und der deutschen Geschichte. 3. Auflage 2009
Kein Historiker, sondern ein politischer Soziologe meldet sich hier zu Wort und das Buch ist eine sehr gute Einführung für Studierende ab dem dritten oder vierten Semester. Das Buch passt zu den beiden vorangehenden, weil es sich u.a. mit Strukturierungs- und Formierungsprozessen beschäftigt. Entstanden aus Manuskripten für eine Vorlesung zur Einführung in die politische Geschichte präsentiert Hoffmann einen sehr reizvollen Zugang, der nicht einfach historischen Stoff vermittelt, sondern auch zeigt, wie gesellschaftliche Strukturierungsprozesse vor allem in Deutschland abliefen und analysiert werden können.
Was wir hier haben, ist über weite Strecken ein Gegenentwurf zu Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte, der jedoch an vielen Stellen positiv aufgegriffen wird. Im Unterschied zu Wehler hat Hoffmann die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie gelesen und verstanden. Er bezieht sie in seine Analysen ein, ohne zu behaupten, dass damit schon alles getan sei. Hoffmann arbeitet darüber hinaus mit Handlungsanalysen von Anthony Giddens, mit Pierre Bourdieu und mit Arbeiten der in der Disziplin noch viel zu unbekannten Historikerin Heide Gerstenberger. Die Liste der verarbeiteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist weitaus länger und offenbart den begrenzten Horizont einer auf Max Weber fixierten Sozialgeschichte, wie er von Wehler praktiziert wird.
Als Kind seiner Zeit ist der Text so auch immer auch eine Auseinandersetzung mit den geschichtspolitischen und geschichtswissenschaftlichen Hauptströmungen in der alten Bundesrepublik. In jedem Fall bekommen die Leserinnen und Leser ein gutes Arbeitsbuch in die Hand.
Alle drei Werke sind ergänzende Grundlagenwerke, die keinen Anspruch erheben, sämtliche Dimensionen menschliche Gesellschaft ausreichend beschrieben zu haben. Und alle drei bemühen sich um Zugriffe auf die Politik-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte jenseits jeder Rechtfertigung der gegenwärtigen Verhältnisse.
Einsortiert unter:Globalgeschichte, Literatur, Sozialgeschichte
Rekonstruktion auf archäologischem Befund – In Duisburg soll das Haus Gerhard Mercators wieder aufgebaut werden
Kurz vor Weihnachten erschien die Meldung, dass das Haus Gerhard Mercators auf seinen Fundamenten in Duisburg wieder aufgebaut werden soll. Der Duisburger Oberbürgermeister Sören Link unterstütze diese „Idee“ und stelle sich an die Spitze einer Initiative, die genau das vor hat.
Anlass waren bauvorbereitende Ausgrabungen, bei denen die Fundamente und Keller dieses besagten Hauses freigelegt wurden. Anders als immer wieder zu lesen ist das Wohnhaus Mercators nicht im Zweiten Weltkrieg zerbombt, sonders es ist bereits in den 1920er Jahren abgerissen worden.
Weiterführende Informationen zu den Ausgrabungen findet man auf den Infotafeln, die von der Duisburger Stadtarchäologie erstellt und online gestellt wurden.
Heute steht auf dem Komplex eine leer stehende Schule, das erheblich größere Gelände soll verkauft und neu bebaut werden. Geplant ist, auf einer 3 ha großen innerstädtischen Fläche ein Wohnquartier der Zukunft entstehen zu lassen. Mehr Informationen dazu auf den Seiten des IMD.
Aber ein paar fest entschlossene Duisburger wollen es anders: sie wollen das Wohnhaus des berühmtesten Sohnes der Stadt auf den alten Fundamenten wieder errichten und rennen damit offene Türen ein. Die „Idee“ unterstützen inzwischen die Bürgerstiftung, der örtliche Lions-Club und Pro Duisburg (nicht zu verwechseln mit den rechten Spinnern).
Die Initiative kommt nicht zu spät, denn die Ausgrabungen werden erst im Januar 2013 abgeschlossen werden und das Gelände, es gehört der genannten städtischen Tochter-Gesellschaft, ist noch nicht verkauft. Es gibt also genug Zeit, um dieses Vorhaben auch erfolgreich umzusetzen und/oder einen städtebaulichen Dialog zwischen Stadt, Bürgerinitiative, Stadtplanern, den involvierten Denkmalpflegern und potentiellen Geldgebern zu beginnen.
An der Spitze der Bewegung steht Kai Gottlob, Dokumentarfilmer und Chef des Film-Forums, eines der beliebtesten Kinos der Stadt.
Wie in der Presse zu lesen ist, soll jetzt eine technische Prüfung die Machbarkeit klären. Danach müsste die Finanzierung sicher gestellt werden, der politische Wille und die Begeisterung der Duisburgerinnen und Duisburger sind bereits vorhanden.
Kai Gottlob spricht von einer „seriösen Rekonstruktion“ und es bleibt zu hoffen, dass er damit eine „wissenschaftliche Rekonstruktion“ meint.
Aus archäologischer und denkmalpflegerischer Hinsicht stellen sich nämlich die Fragen: Soll das Mercatorhaus im Zustand 1558 oder von 1924/28 wiederaufgebaut werden? Soll eine echte Rekonstruktion errichtet oder nur die Kubatur aufgegriffen werden? Soll ein Ensemble entstehen oder es einsam zwischen Beton und Glas stehen?
Grundlage einer wie auch immer gearteten Rekonstruktion sind die Fundamente und Keller des Hauses selbst, dazu kommen die überlieferten Grund- und Aufrisse. Erhalten sind zudem Fotografien zwischen 1900 und den 1920er Jahren, aus denen man die Außenansichten und die genauen Geschoßhöhen herleiten kann. Nichtüberlieferte Details, vor allem im Innenbereich, könnten über Parallelen aus der Baugeschichte der Region hinzugefügt werden. Für die zukünftige Nutzung bringen die Initiatoren die Einrichtung einer Gaststätte oder eines Museums ins Gespräch.
Die zukünftige Nutzung sollte vor der Rekonstruktion bedacht sein, denn das Haus im Zustand der 1920er Jahre ist erheblich größer als der Bau Mitte des 16. Jahrhunderts war. Eine Rekonstruktion im Bauzustand der 1920er Jahre wäre zudem erheblich authentischer, weil man schlicht mehr darüber weiß. Eine „akademische Rekonstruktion“ des Wohnhauses, so wie Gerhard Mercator darin gelebt hat, wäre wissenschaftlich spannender aber auch umstrittener.
Die Rekonstruktion von vergangenen Gebäuden ist kein Neuland. Man denke an das Knochenhauer Amtshaus und seine Nachbargebäude in Hildesheim, der Wiederaufbau des Frankfurter Römerberges und das Nikolai-Viertel in Berlin.
Innerhalb der universitären und hauptamtlichen Denkmalpflege sind sie alle umstritten. Die Front in der Debatte nach Rekonstruktion oder nicht läuft mitten durch die wissenschaftliche Denkmalpflege. Die Meinungen dazu sind seit etwa 150 Jahren verfestigt und werden es vermutlich auch bleiben.
Die wissenschaftliche Fragestellung ist hier vielmehr: Wie? Und nicht: Ob?
Man kann den Initiatoren dieses spannenden Vorhabens nur historisches Feeling, eine gute Hand und zahlreiche Sponsoren wünschen.
Links zum Thema:
Zeit-online 18.5.2006
http://www.zeit.de/2006/21/A-Mercator_xml
Wikipedia: Gerhard Mercator
http://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Mercator
RP-online: 5.12.2012
WAZ-online 7.12.2012
http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/historischer-muell-ist-schatz-von-heute-id7367798.html
WAZ-online 21.12.2012
xtranews 21.12.2012
http://www.xtranews.de/2012/12/21/mit-gerhard-mercator-in-die-zukunft/
WAZ-online 27.12.2012
Fachchinesisch?
In einem “Belehrende[n] Stammtischvortrag” eines (imaginären) “Original-Geographen”) im Kikeriki vom 16.11.1911 findet sich eine kurze Passage zur Chinesishcen Schrift:
[… ] Das Allerkurioseste ist die chinesische Schrift. Ein Baum zum Beispiel heißt Tam. Will man das schreiben, zeichnet man einen Baum auf. Zwei Bäume heißen Tam=Tam, da zeichnet man zwei Bäume, und der Wald heißt Tam tatatam tatatam Tam=Tam; da muß man also eine ganze Seite voller Bäume zeichnen. […] (Kikeriki Nr. 92, 16.11.1911, S. 2).
Der “Original-Geograph” kombiniert Fakten-Wissen zur Schrift, das in Büchern über China wiederholt präsentiert wurde, und Phantasien zur Wortbildung in exotischen Sprachen. Das Bedeutungsspektrum Holz – Baum – Wald ergibt sich tatsächlich durch Wiederholung, allerdings nicht in der Aussprache, sondern durch Wiederholung eines Elements im Schriftzeichen: Das Schriftzeichen 木 [shu], das einen stilisierten Baum darstellt, bedeutet „Holz, Baum, hölzern (im Sinne von: aus Holz gemacht)“. Wird dieses Element zweimal nebeneinander gestellt zu 林 [lin], bedeutet das Schriftzeichen „Wald, Hain“ (es gibt im Chinesischen keinen Dual). Wird 木dreimal genommen und zu 森 [sen] arrangiert, bedeutet dieses Zeichen „Wald, Forst“, aber auch „dicht (bewachsen), üppig“.
—
So sehr die chinesische Schrift die ‘Außenwelt’ fasziniert hat, so sehr stellte und stellt der Druck nichtlateinischer Schriften im allgemeinen und chinesischer Zeichen im Speziellen Buchgestalter und Buchdrucker vor immer neue Herausforderungen. Auch vielfältige technische Neuerungen scheinen daran nur wenig geändert zu haben …
Wie es begann
Einer der ersten China-Bestseller war die Historia de las cosas mas notables, ritos y costumbres del gran reyno de la China… des Juan González de Mendoza (um 1540–1617) , die 1585 in Rom bei Grassi erschien. Mendozas Beschreibung des Landes und seiner Bewohner verbreitete sich durch Übersetzungen ins Italienische, Deutsche, Französische, Englische und Lateinische innerhab weniger Jahre in ganz Europa [1] In den Ausgaben, die bei Andrea Muschio (fl. nach 1560) [2] gedruckt wurden, finden sich auf den Seiten 114 und 115 – in den Fließtext eingefügt – drei Zeichen:
Das dürften die wohl ersten in Europa gedruckten chinesischen Schriftzeichen sein [3]. In den Jahrhunderten danach wetteiferten europäische Druckereien um die ‘schönsten’ (d.h. ästhetisch ansprechendsten) Schriftzeichen, die Leistungsfähigkeit der Druckereien erreichte – wie Georg Lehner (2004) gezeigt hat, ein sehr hohes Niveau.
Neue Anläufe (?)
Die Beschäftigung mit chinesischen Typen und der Typographie des Chinesischen blieb ein Randthema der Typographie, der Satz chinesischer Zeichen ein ewiger Knackpunkt … bis sich Susanne Zippel 2011 des Themas annahm.[4] – als Hilfsmittel, den boomenden Markt China zu erobern [Rückentext]. Das Buch soll die modernen Klassikern der Typographie im Verlagsprogramm ergänzen: Die Lesetypografie von Willberg/Forssman [5] und die Detailtypografie von Forssman/De Jong [6]. Der Anspruch, der erhoben wird, ist hoch:
“Eine solide Einführung in die Welt der chinesischen (sowie der japanischen und koreanischen) Schriftsysteme, eine analytische Gegenüberstellung des lateinischen und des CJK-Schriftsystems” [Zippel (2011) Rückentext].
Der Titel wurde in Typografie- und Grafik-Kreisen bejubelt [7] und in eine Reihe mit Anatomie der Buchstaben von Karen Chang [8] und Decode Unicode [9] gestellt. Das passt vielleicht für die Ausstattung, die – Halbleineneinband, Folienprägung, zwei Lesebändchen. zahlreiche Abbildungen, amgenehme Haptik – so ist, wie vom Hermann-Schmidt-Verlag erwartet werden darf. Inhalt und Buchgestaltung kommen da nicht heran.
Am Beginn steht ein “Auftakt” (S. 1-17), der vier Beispiele multilingualer Unternehmenskommunikation vorstellt und so einen Problemaufriss gibt. Die ersten drei Kapitel sind eine tour de force durch die Geschichte der chinesischen Schrift (“Funktion und Geschichte”, S. 18-97), die Unterschiede zwischen (lateinischem) Alphabet und Schriftzeichen (“Buchstaben und Schrifzeichen”, S. 98-133) und Anforderungen an Zeichensätze und Fonts, Schriftfamilien und Schriftgeschichte (“Zeichensatz und Font”, S. 134-177). Diese Abschnitte sind quasi Vorbereitung zum umfangreichsten Kapitel, das Empfehlungen zur CJK-Typografie und zur multilinguale Typografie gibt (“Typografie – aber wie?”, S. 178-277).
Die erste Karte – “Die chinesischen Sprachen oder Dialektbünde und ihre Ausdehnung in China” (S. 28 f.) nährt erste Bedenken. Auf einer Karte mit vegleichsweise wenig Text finden sich zahlreiche Transkriptionsfehler bei chinesischen Toponymen, u.a. “Shaangxi” [i.e. Shǎnxī 陕西 bzw. Shaanxi], “Shangxi” [i.e. Shānxī 山西],”Shangdong” [i.e. Shāndōng 山東], “Jiling” [i.e. Jílín 吉林], “Tianjing” [i.e. Tiānjīn 天津]; Peking, Hongkong und Macao sind nicht der Pinyin-Transkription angepasst, für koreanische und japanische Toponyme wird keines der üblichen Transkriptionssysteme verwendet.
Beim ersten Reinlesen stößt der mit dem Chinesischen vertraute Leser auf einige irritierende Eigenheiten und vermeintliche Kleinigkeiten, die sich schnell summieren: Schriftzeichen im Fließtext sind rot gesetzt – wohl damit sie sich vom Rest schön abheben und ihre Exotik unterstrichen wird. Zu jedem Schrifzeichen wird die Transkription (die konsequent als “Umschreibung” bezeichnet wird) angegeben, die Regeln für die Pinyin-Transkription [10] werden nicht eingehalten: Transkribierten Wörter sind in Kapitälchen oder kursiven Kapitälchen gesetzt.
Ziel der ersten beiden Kapitel dürfte es sein, dem mit dem Chinesischen (und – in kleinerem Umfang – dem Japanischen und dem Koreanischen) nicht vertrauten Publikum dessen Mysterien näherzubringen. Im Text gibt es keine Angaben, woher Informationen bezogen wurden – die Auflistung im Quellenverzeichnis (S. 280 f.) wirkt eher beliebig. Mitunter scheinen Informationen einfach aus Wikipedia übernommen zu sein, so u.a. “Die Völker der Volksrepublik China” (S. 30), die die “Liste der 70 als Nationalitäten anerkannten Völker der VR China” mit der Auflistung “List of ethnic groups inChina” oder die Aufstellung “Die Dialekte der ethnischen Han-Chinesen” (S. 31), die die “Liste der chinesischen Dialekte” übernimmt (weshalb hier die Markierung der Töne fehlt, deren (ansonsten außer in Lehrbüchern übliches) Fehlen die Autorin als “Manko” empfindet [S.7]). Die verwendete (?) Literatur ist eher älteren Datums, einschlägige aktuelle Titel zur chinesischen Schrift fehlen.
Insgesamt hinterlassen die ersten beiden Kapitel einen zwiespältigen Eindruck.Die gegebenen Erklärungen reichen nicht aus, dem Laien das jeweils beschriebene Phänomen der chinesischen Sprache oder der chinesischen Schrift verständlich zu machen – trotz vieler Abbildungen, Übersichten und Tabellen. Diese bringen für den, der sich mit der chinesischen Sprache beschäftigt hat, wenig Neues.Es darf bezweifelt werden, ob mit der Anleiung (S. 132 f.) ein unbekanntes Schriftzeichen in einem Wörterbuch gefunden werden kann. Die Beispiele, die das Chinesische charakterisieren sollen, geistern zum Teil seit Jahrhunderten durch die Literatur. Schon Athanasius Kircher brachte in China monumentis illustrata(S. 233 f.) die Reihe [一] 十 土 王 玉 als Beispiel dafür, dass es auf jeden Strich ankommt – ohne das ins Lächerliche zu ziehen (“Pünktchen, Pünktchen, Komma …” [Zippel, S. 116]).
Die Kapitel zur Typographie wiederholen zunächst in Kurzfassung die Grundgesetze der Typographie, die in den oben angeführten Werken wesentlich ausführlicher und präziser abgehandelt werden. Sie scheinen dann den Versuch zu machen, Chinesisches an europäische Seh- und Lesegewohnheiten anzupassen – anders sind manche Vorschläge/Regeln nicht zu verstehen. Die Kritik, die an chinesischen typographischen Konventionen geübt wird, zeugt von wenig Verständnis für Kulturspezifisches (Beispiel: Zwei-Geviert-Einzug am Beginn eines Absatzes (S. 239)). Viele der technischen Angaben zu bestimmten Software-Produkten sind für den, der damit arbeitet, vermutlich selbstverständlich. Als Referenz zum schnellen Nachschlagen ist Fachchinesisch wohl nicht gedacht, die spärlichen Praxistipps sind gut versteckt.
Wozu also das Ganze? Ist es ein Katalog mehr oder weniger ‘schöner’ oder ‘brauchbarer’ CJK-Fonts (die Satzmuster ziehen sich durch den ganzen Band)? Eine bebilderte Einführung ins Chinesische? Oder doch eher gut platzierte Self-PR? Dass sich ein renommierter Verlag für diese wenig verschleierte Marketing-Aktion hergibt, wirkt denn doch befremdlich.
—
[1] Vgl. den Beitrag zur Historia des González de Mendoza in der Bibliotheca Sinica 2.0.
[2] Ennio Sandal: MUSCHIO, Andrea. In: Dizionario Biografico degli Italiani – Volume 77 (2012) | (Online-Version)
[3] Georg Lehner: Der Druck chinesischer Zeichen in Europa. Entwicklungen im 19. Jahrhundert (Wiesbaden Harrassowitz 2004) 13.
[4] Susanne Zippel: 中日韩字体编排指南 Fachchinesisch Typografie. Chinesische Schrift verstehen und anwenden. Grundlagen multilingualen Erfolges in den Märkten des Fernen Ostens. Mit einem Vorwort von Frank Sieren (Mainz: Verlag Hermann Schmidt Mainz 2011)
[5] Hans Peter Willberg/Friedrich Forssman: Lesetypografie (5., revidierte Aufl.; Mainz. Verlag Hermann Schmidt Mainz 2010)
[6] Friedrich Forssman/Ralf De Jong: Detailtypografie. Nachschlagewerk für alle Fragen zu Schrift und Satz. Vierte, wiederum verb. Auflage (Mainz: Hermann Schmidt Verlag 2008)
[7] Rezensionen u.a.: Fontblog (Sabine Gruppe, 6.9.2011), Linotype Blog (6.10.2011), DesignerBusiness (Joachim Kobus, Mai 2012), Margrit Manz: “Chinesich – Magic Cube der Sprachen” (2012) [auch über typografie.de].
[8] Karen Cheng/Hennig Krause (Übers.): Anatomie der Buchstaben. Basiswissen für Schriftgestalter. Designing Type. (Mainz: Hermann Schmidt Verlag 2006)
[9] Johannes Bergerhausen/Siri Poarangan: Decodeunicode (Mainz: Hermann Schmidt Verlag 2012).
[10] GB/T 16159-1996 – National Standard of the People’s Republic of China (ICS 01.140.10). Approved and issued by the State Technology Supervision Bureau on January 22, 1996; effective on July 1, 1996.|《中文拼音正词法基本规则》 中华人民共和国国家标准GB/T 16159—1996 中文拼音正词法基本规则 1996-01-22发布 1996-07-01实施 国家技术监督局发布 (pinyin.info)
Rezensionsüberblick Dezember 2012
Beginnend mit dem Dezember ’12 möchten wir in diesem Blog regelmäßig einen monatlichen Überblick von online-Rezensionen mit mediävistischem Bezug bringen – unseres Wissens nach ein Service, den es in dieser Form noch nicht gibt. Inspirierend für einen epochal fokussierten Rezensionsüberblick war hierbei das Frühneuzeit-Blog der RWTH Aachen. Vorerst beschränken wir uns auf die fünf unten genannten Portale, freuen uns aber über Ergänzungen gerade zu Rezensionsportalen jenseits der mediävistischen Geschichtswissenschaft. Wir beziehen hier aus Aktualitätsgründen nur tatsächliche online-Rezensionen ein.
Wir wünschen interessante und v.a. zeitsparende Lektüre!
Per Klick auf den Namen können Sie zum Überblick für das jeweilige Portal springen
H-Soz-u-Kult
Sehepunkte
Francia-Recensio
The Medieval Review
Reviews in History
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Sehepunkte:
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Francia-Recensio:
D. Barthélemy, Nouvelle histoire des Capétiens (Julian Führer)
A. Bihrer, Begegnungen zwischen dem ostfränkisch-deutschen Reich und England (850–1100) (Levi Roach)
R. Blumenfeld-Kosinski, K. Petkov, Philippe de Mézières and His Age (Jacques Paviot)
H. L. L. Busard (†), Nicole Oresme, Questiones super geometriam Euclidis (Jürgen Miethke)
M. Caesar, Le pouvoir en ville (Eberhard Isenmann)
M. Cohen, J. Firnhaber-Baker, Difference and Identity in Francia and Medieval France (Markus Spaeth)
N. Coulet, Rites, histoires et mythes de Provence (Klaus Oschema)
L. Donkin, H. Vorholt, Imagining Jerusalem in the Medieval West (Élisabeth Ruchaud)
C. A. Fleck, The Clement Bible at the Medieval Courts of Naples and Avignon (Stefan Weiß)
F. Foronda, Avant le contrat social (Gisela Naegle)
F. Foronda, A.I. Carrasco Manchado, Du contrat d’alliance au contrat politique (Gisela Naegle)
F. Foronda, A.I. Carrasco Manchado, El contrato político en la Corona de Castilla (Gisela Naegle)
M. Gabriele, An Empire of Memory (Phillipe Cordez)
A. Germa, B. Lellouch, E. Patlagean, Les Juifs dans l’histoire (Amélie Sagasser)
H.-W. Goetz, Gott und die Welt (Klaus Krönert)
S. Hamel, La justice dans une ville du Nord du Royaume de France au Moyen Âge (Eberhard Isenmann)
K. Herbers, I. Fleisch, Erinnerung – Niederschrift – Nutzung (Beate Schilling)
G. Hirsaugiensis, Willehelmi Abbatis Constitutiones Hirsaugienses (Jean-Loup Lemaitre)
L. Jégou, L’évêque, juge de paix (Ludwig Falkenstein)
J. Kemper, G. Vogeler, Digitale Urkundenpräsentationen (Olivier Guyotjeannin)
A. Laiou (†), C. Morrisson, Le monde byzantin (Jacques Paviot)
O. Mattéoni, Un prince face à Louis XI (Heribert Müller)
C. Mihailovic, Mémoires d’un janissaire (Jacques Paviot)
W. of Ockham, Dialogus (Jacques Verger)
K. Pennington, M. Harris Eichbauer, Law as Profession and Practice in Medieval Europe (Jörg Müller)
K. Schreiner, Rituale, Zeichen, Bilder (Andreas Büttner)
G. Seabourne, Imprisoning Medieval Women (Julie Claustre)
W. Tschacher, Königtum als lokale Praxis (Joseph P. Huffman)
W. E. Wagner, Die liturgische Gegenwart des abwesenden Königs (Yitzak Hen)
________nach oben ↑
The Medieval Review:
TMR 12.12.06, Maxwell, ed., Representing History (Beth Williamson)
TMR 12.12.04, Loutchitsky, Homo Legens (Carol Symes)
TMR 12.12.05, Strauch, Mittelalterliches Nordisches Recht bis 1500 (Anders Winroth)
TMR 12.12.09, Canning, Ideas of Power in the Late Middle Ages (Geoffrey Koziol)
TMR 12.12.10, Folger, Writing as Poaching (John Slater)
TMR 12.12.01, Pastoureau, The Bear (Michael A. Ryan)
TMR 12.12.11, Filosa and Papio, eds. Boccaccio in America (Janet Smarr)
TMR 12.12.08, Machacek, Milton and Homer (David Oliver Davies)
TMR 12.12.07, Kalinke, The Arthur of the North (Sif Rikhardsdottir)
________nach oben ↑
Reviews in History:
aussichten Nr. 31 [28.12.2012]: Neue Einträge bei aussichten-online.net; Digest 01.12.2012-31.12.2012
Fundstück
Festschrift für Wolfgang Pircher erschienen
Berz, Peter u.a. (Hg.): Spielregeln. 25 Aufstellungen. Eine Festschrift für Wolfgang Pircher. Zürich: Diaphanes, 2012. [Verlags-Info]
Inhaltsverzeichnis:
Vorwort 9
ZUR EINSTIMMUNG
Markus Arnold
Regeln der Forschung | Regeln der Kunst 13
BERECHENBAR: DATEN, NETZE, ERWARTUNGEN
Peter Berz
Binary Random Nets I 25
Claus Pias
Zur Epistemologie der Computersimulation 41
Joseph Vogl
Gezähmte Zeit 61
Éric Brian
Das Zittern der unsichtbaren Hand 73
Hermann Rauchenschwandtner
Das Spiel des Lebens 83
ERWARTUNGEN: GEWINNER, VERLIERER, MITSPIELER
Harald Katzmair und Wolfgang Neurath
Up or Out 97
Herbert Hrachovec
Homo ludens bolognensis 107
MITSPIELER: GESCHLECHTER IN IHRER ABFOLGE UND IHREN ERZÄHLUNGEN
Thomas Brandstetter
Außerirdische entwerfen 123
Klaus Hamberger
Potlatsch und Verwandtschaft 131
Richard Heinrich
The Green-Eyed Monster Game 141
Robert Pfaller
»Bohr nicht in der Nase! Schau dir die Frauen an!« 151
Elisabeth von Samsonow
Zum Spielzeugstatus zeitgenössischer Apparate 159
Katherina Zakravsky
Truth or Dare 173
ERZÄHLUNGEN VON DER LIEBE ZUR SPRACHE UND ZUR FORM
Eva Laquièze-Waniek
Fort und Da. Zur Ankunft des Subjekts 185
Stanley L. Paulson
Inspiration Form: Wassily Kandinsky und Hans Kelsen 201
Daniel Gethmann
Sprechende Pferde 217
Ulrike Kadi
Bücherwurmeierspiel 233
FORM: ZU LAND, ZU WASSER UND ZU HAUS*
Gustav Deutsch und Hanna Schimek
Pflanzen der Wüste 249
Bernhard Siegert
Schiffe Versenken 259
Anton Tantner
Das Adressierungsspiel 271
ZU HAUS IM RAUSCHEN UND IM SCHNITT
Bernhard J. Dotzler
Treatment der Diven 279
Marianne Kubaczek
Martingale von Cage bis Mozart 293
SCHNITT FÜR SCHNITT VON FLEISCH UND BLUT ZUR DNA BERECHENBAR
Elfriede Jelinek
Aber sicher! 2. Akt 307
Rudolf Heinz
In der Regel in der Regel 317
Erich Hörl
Die technische Verwandlung 327
Peter Berz
Binary Random Nets II 343