Open Access, Creative Commons und das Posten von Handschriftenscans

Auf dem anregenden Workshop “Neues Werkzeug des Historikers: Blogs und Social Media für Mediävisten” in Rom referierte ich am 17. Juni 2014 über: Open Access, Creative Commons und das Posten von Handschriftenscans. Ein Video ist auf YouTube einsehbar, das Twitter-Feedback dank Maria Rottlers Storify benutzbar. Ich lege im Folgenden eine Schriftfassung vor.

Zunächst einige Banalitäten: Wissenschaft ohne Wissenschaftskommunikation ist sinnlos. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen veröffentlicht und verbreitet werden.

Wissenschaft muss überprüfbar sein. Je besser die Forschungsdaten, das Rohmaterial der Wissenschaft, verfügbar sind, um so besser steht es um die Überprüfbarkeit.

Open Access ist das Versprechen auf umfassende Chancengleichheit, was den digitalen Zugang zu Forschungsergebnissen und Forschungsdaten angeht. Open Access hat zwei Dimensionen:

  • die Beseitigung von finanziellen Hürden: gratis Open Access
  • die Beseitigung von urheberrechtlichen Barrieren im Sinne vollständiger Nachnutzbarkeit: libre Open Access

Realisiert wird dieser Libre Open Access vor allem durch Creative Commons Lizenzen.

Die Wissenschaft muss viel “flüssiger” werden (“liquid science”). Digitale Kommunikation, insbesondere Blogs und Wikis, ermöglichen diese Dynamisierung.

Idealerweise sollten alle Belege in Form von Hyperlinks auf Online-Publikationen und Digitalisate gegeben werden. Ein Blogger, der ein gedrucktes Buch zitiert, von dem es eine retrodigitalisierte Fassung gibt, sollte also immer die Fundstelle seitengenau verlinken.

Wissenschaftsblogs sind gratis Open Access, aber zu selten libre Open Access. Hier im Redaktionsblog habe ich ein Plädoyer für die Lizenz CC-BY veröffentlicht, die Standardlizenz der führenden Open Access Verlage.

Wissenschaft braucht Nachnutzbarkeit, sie muss auf früheren Erkenntnissen aufbauen können. Daher ist eine Einschränkung “keine Bearbeitung” (CC-BY-ND) keine wünschenswerte Option.

Kontraproduktiv ist aber auch der Ausschluss kommerzieller Nutzung (CC-BY-NC). Die meisten Zeitschriften erscheinen in kommerziellen Verlagen. Bilder und Grafiken unter CC-BY-NC können in diesen Medien also nicht genutzt werden, was ersichtlich nicht im Sinne der Wissenschaftler-Urheber sein kann.

Nur CC-BY (oder CC-BY-SA) kommt also für wahren Open Access in Betracht. Bei Forschungsdaten (wenn sie denn überhaupt urheberrechtlich geschützt sind) ist aber bereits CC-BY zu restriktiv, sie sollten Public Domain bzw. Creative Commons Zero sein.

Wer Open Access in diesem Sinne konsequent unterstützen will, sieht sich aber juristischen Hürden gegenüber, also vor allem einem für die Wissenschaft nicht tauglichen Urheberrecht.

 

Zwar diskutiert man gerade ein wenig über eine allgemeine Wissenschaftsschranke, aber bis zu ihrer Realisierung ist es wohl noch ein weiter Weg.

In meiner Archivalia-Artikelserie Blog&Recht habe ich versucht, Rechtsfragen des Bloggens verständlich darzustellen:

Auf Twitter fragte Johannes Waldschütz:

 

Die Antwort lautet – wie im Urheberrecht allzu häufig: Kommt darauf an.

Eine sehr einfache Karte (z.B. banal gestaltete Verbreitungskarte) ist urheberrechtlich nicht geschützt und darf daher frei verwendet werden.  Dann ist zu fragen: Gibt es eine Erlaubnis durch Nutzungsbedingungen? In Büchern wohl kaum (außer diese haben freie Inhalte – etwa von der Wikipedia oder Open Street Map – lizenzkonform genutzt), aber online immer häufiger. Exkurs zu Flickr: Wenn ein Bild dieses riesigen Bilderpools für das Sharing freigegeben ist, darf es mit dem Einbetten-Feature geteilt werden. Die wenigsten Flickr-Nutzer haben diese Option deaktiviert. Das folgende Bild ist auf diese Weise eingebettet.

The T-O type map in the Armenian language

Vorsicht bei Stadtplandiensten! Von einem Akteur aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft weiß ich, dass eine Kanzlei 2009 über 500 Euro Abmahnung für eine im Netz vergessene Anfahrt-Hilfe bei einer Veranstaltung verlangte.

Wichtig ist im Wissenschaftlichen Kontext das Zitatrecht (§ 51 UrhG). Die Karte muss als Beleg, zur Erläuterung des Inhalts dienen, sie darf nicht bloße Illustration sein.

Allerdings gilt, dass die Abmahngefahr bei der Übernahme einer Karte aus einem Buch in einem wissenschaftlichen Werk verschwindend gering ist.

Nun zum Posten von Handschriftenscans. Die (mittelalterlichen) Handschriften sind ja gemeinfrei, aber ihre Reproduktionen?

In der Europeana-Charta von 2010 heißt es:

Die Digitalisierung von gemeinfreien Inhalten schafft keine neuen Rechte über diese Inhalte: Alle Werke, die in analoger Form als Gemeingut vorliegen, sind auch nach ihrer Digitalisierung
weiterhin Gemeingut.

Auch die EU-Kommission hat wiederholt betont, dass Gemeinfreies nach der Digitalisierung gemeinfrei bleiben soll. Den “Grundsatz, dass gemeinfreies Material nach seiner Digitalisierung gemeinfrei bleiben sollte” hat der europäische Gesetzgeber (EU-Parlament und Rat) in den Erwägungsgründen zur PSI-Richtlinie vom Juni 2013 klar ausgesprochen. Alle öffentlichen Institutionen sind folglich gehalten, nicht gegen dieses Prinzip zu verstoßen. Der Trend geht eindeutig zum Open Access – man denke etwa an die Public-Domain-Freigaben des Getty-Museums oder der British Library. Schon die Berliner Erklärung für Open Access 2003 hat ausdrücklich auch die kulturgutverwahrenden bzw. Gedächtnisinstitutionen adressiert und diese aufgerufen, ihre Schätze Open Access – und das heißt: beliebig (auch kommerziell) nachnutzbar – zu publizieren.

Es spricht alles dafür, dass Handschriftenreproduktionen bzw. generell Wiedergaben von Flachware nicht durch EU-Urheberrecht (und Schweizer Urheberrecht) geschützt sind, da ihnen die “Originalität” fehlt. Ansonsten wären sie 70 Jahre nach dem Tod des Reproduzierenden geschützt, was absurd wäre.

In Deutschland und Österreich gibt es aber sogenannte einfache Lichtbilder. Aber auch bei ihnen vertrete ich die Ansicht, dass nach deutscher Rechtslage – also vor allem nach der Rechtsprechung des BGH – originalgetreue Wiedergaben zweidimensionaler Vorlagen nicht als einfache Lichtbilder geschützt sind. So ist auch die – von Rechteinhabern nicht gerichtlich angefochtene – Praxis der Wikipedia bzw. auf Wikimedia Commons.

Copyfraud bedeutet: Nicht überall ist Copyright drin, wo Copyright draufsteht. Reproduktionen gemeinfreier alter Fotos sind gemäß der Entscheidung Bibelreproduktion des BGH definitiv nicht vom Urheberrecht geschützt. Trotzdem werden sie zuhauf im Netz insbesondere von Archiven mit Wasserzeichern “verziert”.

Die Rechteinhaber verlegen sich auf FUD (Fear, Uncertainty and Doubt) und schaffen eine Zone der Unsicherheit, mit der sie ihre finanziellen und “Herrschaftswissen”-Interessen zur Geltung bringen wollen. Schon oft habe ich mich gemäß der Devise Kulturgut muss frei sein gegen das “Zwingherrentum” kultureller Institutionen ausgesprochen.  Vielfach sind sie mit ihrem Copyfraud erfolgreich, da ihre Nutzer zu ängstlich sind.

Nicht selten ist es durchaus vernünftig, opportunistisch zu sein und es sich nicht mit mächtigen Institutionen zu verderben. Aber auch da gibt es Hintertüren, etwa wenn man nach der Wikipedia-Devise “Sei mutig” Bilder anonym auf Wikimedia Commons postet und von dort zitiert oder auch nur verlinkt.

 

Paläographische Datierungen und Schriftvergleiche brauchen Handschriftenabbildungen in guter Auflösung, die kostenlos im Netz stehen. Weil Felicitas Noeske mir erlaubte, Bilder eines deutschsprachigen Fragments aus der von ihr betreuten Christianeums-Bibliothek in Archivalia zu posten, konnte wenige Stunden nach dem Erscheinen dieses Beitrags Stephen Mossmann den unbekannten Text identifizieren.

Neu ist folgende Meldung:

Baden-Württembergs wissenschaftliche Bibliotheken sind überein gekommen, ihre Digitalisate künftig unter eine Creative Commons Lizenz zu stellen. Konkret wurde die Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0-Lizenz in deutscher Übertragung ausgewählt (CC-BY-SA 3.0 DE).

Das ist natürlich höchst begrüßenswert, aber strenggenommen auch Copyfraud, da nur das unter CC gestellt werden kann, was urheberrechtlich geschützt ist.

Abschließend drei Forderungen:

  • ForscherInnen sollten sich vehement für offene Inhalte einsetzen und Copyfraud bekämpfen. Ruhig den Dienstvorgesetzten des sich stur stellenden Archivbeamten oder das Stadtparlament immer wieder in höflicher Form auf das genannte EU-Prinzip “Gemeinfreies muss auch nach der Digitalisierung gemeinfrei bleiben” hinweisen!
  • ForscherInnen sollten mutig sein und sich bei 2-D-Vorlagen über Beschränkungen hinwegsetzen.
  • Bei eindeutig geschützten Abbildungen (z.B. von Skulpturen) sollte man das Zitatrecht einsetzen, um dem Publikum den Werkgenuss zu ermöglichen.

 

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/2417

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Me sola Hirsaugia gaudet

“Allein Hirsau bereitet mir Freude” – mit dieser Aussage beendete Johannes Trithemius (GND) den ersten Teil seiner “Hirsauer Annalen”, die er vor 500 Jahren abschloss. Er meinte damit, dass die Beschäftigung mit der Geschichte Hirsaus und vor allem mit der (vermeintlichen) Blütezeit im Frühmittelalter und der (wirklichen) Blüte zur Zeit der “Hirsauer Reform” ihm in unruhiger Zeit Trost spendete. Auf die Ausstellung im Hirsauer Klostermuseum und die kleine Vortragsreihe anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Fertigstellung des umfangreichen Geschichtswerks 1514 wurde hier bereits hingewiesen. In […]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/7318

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Texte aus Handschriften der Benediktinerinnen von St. Walburg in Eichstätt

“vnd darvmb ist es allen buchern not, das man sie nach dem schreiben mit gutem fleyß corrige”. Diese heute noch gültige Erkenntnis steht am Schluss eines ganz kurzen Traktats “Vom Abschreiben der deutschen Heiligen Schrift”, den Joseph Lechner (1893-1954) aus dem Cod. germ. 2 der Benediktinerinnenabtei St. Walburg in Eichstätt (Bl. 36ra-vb) edierte. [1] Den urheberrechtlich nicht geschützten kurzen Textanhang von Lechners Buch: Die spätmittelalterliche Handschriftengeschichte der Benediktinerinnenabtei St. Walburg/Eichstätt (By.). Münster i. W.: Aschendorff 1937, S. 89-96 habe ich als PDF auf Wikimedia […]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/7312

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Nachruf auf die Bibliothèque Internationale de Gastronomie in Lugano

Wie gewonnen, so zerronnen. Vorgestern konnte ich feststellen, dass die in Privatbesitz befindliche zweite handschriftliche Überlieferung des Registrum coquine (um 1430?) des Johannes Bockenheim (Hofkoch von Papst Martin V.) einem in der Zwischenkriegszeit verkauften verschollenen Sammelband aus der Bibliothek des Salzburger Benediktinerklosters St. Peter entstammte. Als Aufbewahrungsort der 12 Blätter wurde von Robert Maier die Bibliothèque Internationale de Gastronomie in Lugano angegeben, der sich dabei auf die im März 2013 eingesehene Website (Version von 2011 im Internet Archive) der Bibliothek stützte. Zuvor hatte der Textzeuge sich in der Sammlung Segal in London befunden. Bruno Laurioux hat das Werk nach dieser Handschrift 1988 ediert.

Leider existiert die wertvolle Bibliothek in Lugano inzwischen nicht mehr. Sie wurde kürzlich verkauft, und ihr weiteres Schicksal ist ganz unklar. Die in Liechtenstein ansässige Stiftung Fondation B.IN.G, der Bibliotheksträger, wurde im Herbst 2013 liquidiert (als Stiftungspräsidentin fungierte die Witwe des Gründers). Man weiß nicht einmal, ob eine Institution die Bestände erworben hat. Man wird abwarten müssen, ob die kostbaren Stücke im Handel auftauchen oder ein Privatsammler sich als neuer Eigentümer zu erkennen gibt.

Was bleibt (vorerst) von der Bibliothek, die auf der Website von Lugano nach wie vor als ” la piu grande raccolta al mondo di testi antichi di gastronomia” gerühmt wird? Mit 17 mittelalterlichen Handschriften war sie von codices.ch unter die “größeren” Schweizer Handschriftensammlungen eingereiht worden.

- Ein feudaler dreibändiger Katalog, in dem 1994 der Eigentümer der 1992 in Sorengo bei Lugano gegründeten Bibliothek die 2073 Drucke und 77 Handschriften in italienischer und lateinischer Sprache beschreiben ließ (Besprechung; einige Bilder). Es war der italienische Unternehmer und Krimiautor Orazio Bagnasco (1927-1999).

- Ein Aufsatz der langjährigen Kuratorin Marta Lenzi Repetto – Marta Lenzi:  La fondation B.IN.G.: une collection de gastronomie.  In: Passion(s) et collections: actes du colloque (Chambéry, 21 et 22 octobre 1998), Paris 1999, S. 38-51.

- Reste einer Website, aufrufbar im Internet Archive, zu der anscheinend auch ein verschwundenes Handschriftendigitalisat gehörte, und einige Nennungen im Internet, darunter der unten wiedergegebene Artikel von Gerhard Lob 2005, der nach den Nutzungsbedingungen von swissinfo.ch hier ganz wiedergegeben werden darf.

Für die Historiker, die sich mit Essen und Trinken befassen, und die bibliothekarische Infrastruktur dieses Forschungsgebiets ist die Auflösung der Bibliothek ein herber Verlust. Noch so herausragende und für die Forschung bedeutsame Privatsammlungen werden immer wieder aufgelöst oder dezimiert, obwohl das nicht im  Interesse der Wissenschaft sein kann.

Einige Beispiele, auf die ich im Lauf der Zeit gestoßen bin:

- 2012 wurden aus der norwegischen Schoyen Collection, der laut Wikipedia größten privaten Handschriftensammlung der Welt, Handschriftenfragmente bei Sotheby’s versteigert.

- 2010 wurde mir eine Petition bekannt, die sich gegen die Auflösung der privaten Ritman Library Bibliotheca Philosophica Hermetica in Amsterdam richtete, der bedeutendsten Sammelstätte für hermetisches Schrifttum. Einen Kernbestand sicherte die KB Den Haag. 2011 konnte die Bibliothek wiedereröffnet werden, doch zahlreiche wertvolle Werke, darunter auch deutschsprachige mittelalterliche Handschriften, hatten verkauft werden müssen (Berichterstattung in Archivalia).

- 2006 wurde gegen den Verkauf einiger Papyri der von Martin Bodmer begründeten Fondation Bodmer in Genf-Coligny protestiert. Es war nicht der erste Verkauf, der die Sammlungsbestände schmälerte.

- “Die Bibliotheca Tiliana war eine von dem Unternehmer und Jagdwissenschaftler Kurt Lindner zusammengetragene Buchsammlung mit annähernd 13.000 jagdlichen und forstlicher Schriften. Nach seinem Tode (1989) konnte sie trotz Bemühungen des Landes Bayern und des DJV nicht geschlossen übernommen werden. 2001 erwarb ein privater Sammler die Bibliothek für 2,7 Millionen DM, entnahm ihr einige Bände und ließ den Rest 2003 beim Buch- und Kunstauktionshaus F. Zisska & R. Kistner, München und 2004 bei E + R Kistner Buch- und Kunstantiquariat Nürnberg in Einzelteilen versteigern” (deutsches-jagd-lexikon.de, zu Jagdbuchsammlungen siehe auch die VÖB-Mitteilungen 2006, zur Tiliana erschienen in ihnen zuvor drei wichtige Beiträge von Gerald Kohl und Rolf Rosen: 2003, 2004, 2005).

-Über die berühmte Bibliothek Otto Schäfer in Schweinfurt liest man im Handbuch der historischen Buchbestände: “Aufgrund finanzieller Probleme mußte sie im Sommer 1994 geschlossen und der eigene wissenschaftliche Betrieb eingestellt werden. Im Herbst 1994 wurde zusammen mit der Stadt Schweinfurt ein neues Konzept für die Bibliothek erarbeitet. Es sah zur Schaffung von weiterem Stiftungskapital den Verkauf aller nicht im deutschen Sprachgebiet gedruckten Werke der Illustrata-Sammlung und der gesamten Collection Jean Furstenberg vor. Ausgeschlossen vom Verkauf waren nur alle Unikate und die fünf Drucke aus der Bibliothek Jean Groliers als Spitzenstücke der Einbandsammlung. In vier Auktionen bei Sotheby’s von Dezember 1994 bis Dezember 1995 wurden die entsprechenden Bestände veräußert”. Inzwischen darf man die Institution wohl als konsolidiert betrachten, hat sie doch als Leihgaben die Schweinfurter Reichsstädtische Bibliothek und 2013 auch die Kirchenbibliothek St. Johannis übertragen bekommen.

- 1983 verkaufte der Kölner Sammler Peter Ludwig seine herausragende Handschriftensammlung an das Getty-Museum (damals) in Malibu. Die 144 illuminierten Codices waren auf Kosten des Steuerzahlers im Kölner Schnütgen-Museum katalogisiert worden. Die Stadt Köln, die sich lange berechtigte Hoffnung auf die Stücke machen durfte, wurde von dem Sammler kaltschnäuzig mit dem Hinweis, es habe sich nicht um eine Zusage im juristischen Sinn gehandelt, abgespeist. Ein Stifter geht stiften, kommentierte die ZEIT. Wie viele US-Institutionen sieht sich das Getty-Museum leider nicht als dauerhaftes Archiv und hat einen Teil der Stücke in den Handel gegeben. Davon sind nur ganz wenige in öffentlichen Sammlungen gelandet (PDF von Conway/Davis S. 6  mit Nachweisen aus Katalogen, Liste der 2011 vorhandenen Handschriften in Archivalia).

Das Interesse der Wissenschaft an Kulturgütern – das sind immer wichtige Geschichtsquellen – in privater Hand lässt sich ohne weiteres beschreiben:

1. Bestandserhaltung/Ersatzdokumentation: Sammlungen sind möglichst als Ensemble zu erhalten, wenn sie als Ganzes eine bedeutende Geschichtsquelle darstellen. Ist dies nicht möglich, muss es eine öffentlich zugängliche Dokumentation geben. Die dauerhafte Aufbewahrung in einer öffentlichen Institution schont die Stücke und setzt sie keinen unnötigen Transporten aus. Das Verlustrisiko ist bei öffentlichen Sammlungen geringer. Öffentliche Sammlungen zerstückeln auch keine mittelalterlichen Codices (siehe “Auf den Spuren eines Frevlers” in diesem Blog und Breaking Bad).

2. Zugänglichkeit für Öffentlichkeit und Forschung: Wenn private Sammler ihre Schätze nicht wegschließen, sondern sie der Forschung und auch der breiten Öffentlichkeit – im Original oder digital – zugänglich machen ist gegen Kulturgüter in privater Hand nichts einzuwenden. Aber das ist leider nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme.

3. Dauerhafte Zitierbarkeit: Besitz- und Ortswechsel von Kulturgütern könnten im semantischen Netz über
Uniform Resource Identifier (analog zu Persistent Identifiern wie URN oder DOI) dokumentiert werden.

Die Interessen des Handels und der privaten Eigentümer sehen meist anders aus. Alles was die Profite schmälert und die Handlungsautonomie der Eigentümer, die sich nicht selten gegen jede Art von Kulturgut-Etikettierung wenden, einschränkt, wird als störend empfunden.

Um den Interessen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit (“Kulturgut muss frei sein!”) zu ihrem Recht zu verhelfen, müssen die jeweils betroffenen Staaten und die Bürgergesellschaft zusammenarbeiten. Auf Denkmal- oder Kulturgutschutz ist bei solchen privaten Kollektionen kaum Verlass (er versagt ja schon bei öffentlichen Sammlungen), wenngleich nicht verschwiegen sei, dass das Bundesverwaltungsgericht 1992 die Käfersammlung Frey höchstrichterlich als nationales deutsches Kulturgut anerkannt hat.

Nicht alle Sammlungen lassen sich über einen Kamm scheren, aber ein Dreischritt Inventarisierung (Dokumentation ihrer Existenz durch den Staat, Forscher oder interessierte Bürger), vertragliche Abmachungen (Vorkaufs- und Informationsrechte) und – im Krisenfall – Rettungsmaßnahmen erscheinen sinnvoll. Wir brauchen vor allem ein Netzwerk reicher Stiftungen, das bereit ist, für bedrohte Sammlungen und Sammlungsbestandteile ein Rettungsnetz aufzuspannen. Um das Detroit Institute of Art zu retten (siehe Artikel in diesem Blog), haben sich in den USA einige vermögende Stiftungen erstmals zusammengeschlossen. Voraussetzung ist, dass man überhaupt etwas von der Gefahr oder drohenden Verkäufen erfährt und dass genügend Zeit bleibt, ohne Hektik vernünftige Lösungen zu finden. Dies könnte man in den meisten Fällen durch vertragliche Abmachungen sicherstellen.

Wissenschaftlich wertvolle Sammlungen wie die jetzt verschwundene Gastronomie-Bibliothek von Lugano brauchen Lobby-Gruppen, die sich ihrer annehmen und auf dauerhaften Erhalt dringen. Selbstverständlich bietet das Web 2.0 ausgezeichnete Möglichkeiten, solche Lobby-Arbeit zu organisieren. Erinnert sei nur an unsere Facebook-Seite “Rettet die Stralsunder Archivbibliothek” mit Neuigkeiten zum Kulturgüter-Schutz.

Lugano hütet ein gastronomisches Juwel

31. Mai 2005 – 10:33

Die “Bibliothèque Internationale de Gastronomie” in Lugano beherbergt einen weltweit einzigartigen Schatz an gastronomischen Schriften. Die Sammlung ist nicht eine Anhäufung von Rezepten, sondern ein Spiegel kulinarischer und gesellschaftlicher Traditionen.

Die Villa Bagnasco thront auf einem Hügel in Sorengo, einem noblen Vorort Luganos. Hier ist die Stiftung B.IN.G zu Hause; das Kürzel steht für Bibliothéque Internationale de Gastronomie.In der Schweiz ist diese Institution weitgehend unbekannt, doch der internationalen Forschergemeinschaft ist sie durchaus ein Begriff. “Es stimmt: Wir sind im Ausland bekannter als in der Schweiz”, lacht Bibliothekarin Marta Lenzi, die über die einzigartige Sammlung mit rund 4000 Handschriften und Büchern wacht.

Dokumente in vielen Sprachen

Die Sammlung umfasst Handschriften und Drucke vom 14.Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. “Die gastronomische Literatur war die grosse Leidenschaft des Gründers Orazio Bagnasco”, sagt Lenzi.Der ins Tessin übersiedelte italienische Unternehmer, der 1999 starb, hat weltweit Manuskripte und Handschriften mit gastronomischem Charakter gesucht und erworben, vor allem solche in lateinischer und italienischer Sprache. Dies erklärt auch, weshalb der grösste Teil des Bestandes in diesen beiden Sprachen vorhanden ist. Kleiner sind die Abteilungen auf Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch, Japanisch und Chinesisch.

Grosser Reichtum für Fachleute aus aller Welt

Die herausragende Rolle der gesammelten lateinischen und italienischen Schriften spiegelt sich im Katalog, der diesem Bestand gewidmet ist. Der dreibändige “Catalogo del fondo italiana e latino delle opere di Gastronomia Sec. XIV-XIX” ist ein Standardwerk der Gastro-Historie und steht als Bibliographie in allen grossen Bibliotheken.Kein Wunder, dass Fachleute aus der ganzen Welt zur Konsultation der Originale nach Lugano-Sorengo kommen. “Seit Gastronomie in den letzten Jahren noch mehr in Mode gekommen ist, häufen sich die Anfragen bei uns”, erklärt Lenzi. Der Zutritt zur Bibliothek ist allerdings nicht öffentlich. Nur Fachleute, Studenten oder Journalisten haben Zutritt. Ein kleiner, aber schmucker Lesesaal lädt zur Lektüre ein.

Juwele aus alten Zeiten

Dank der Katalogisierungsarbeit kennt Lenzi die Sammlung im Detail. Und zu fast jedem Volumen kann sie eine kleine Geschichte erzählen. Verständlicherweise gerät sie ins Schwärmen, wenn sie Schätze wie den hochmittelalterlichen Kodex “Tacuinum Sanitatis” zeigt: “Er ist ein einzigartiges Zeugnis des Lebens und der Sitten aus dieser Epoche.”

Ein Unikum ist auch das Manuskript “Libreto de tutte le cosse che se magnagno” von Giovanni Michele Savonarola aus dem Jahr 1450 zeigt (Das Buch über alle Dinge, die man isst).Auch in der deutschsprachigen Abteilung finden sich kleine Juwele, darunter “Das Buch von der rechten Kunst zu distillieren” von Hieronymus Brunschwygh aus dem Jahr 1500.

Spiegel früherer Lebensweise

Gerade diese historischen Abhandlungen zeigen auf, dass die gastronomische Kultur nicht im Sinne heutiger Kochbücher zu verstehen ist. Die Schriften bilden eher einen Spiegel medizinischer, biologischer, landwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erkenntnisse. Das reicht von den Wirkungsweisen bestimmter Kräuter und Pflanzen über das Tranchieren eines Schweins bis zur Beschreibung eines Hochzeitsessen von Isabelle von Aragonien mit Gian Galeazzo Sforza unter dem Titel “Ordine de le imbandisone” aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. “Dieses Buch eröffnet uns die ganze Choreografie der Hochzeit”, sagt Lenzi.

Stolz ist Lenzi auch auf ein Volumen von Maestro Martino, der als Erfinder der modernen Kochkunst gilt – ein Koch aus dem Bleniotal, der Ende des 15. Jahrhunderts am Hof von Mailand Karriere machte. “Er hat die Kochkunst im weitesten Sinn unserem heutigen Geschmack angepasst”, so Lenzi.

Heutigen Bestand bewahren

Die von Bagnasco aufgebaute Sammlung, die 1992 in eine Stiftung überführt wurde, wird heute nicht mehr durch Neuankäufe erweitert. “Wir verwalten das Bestehende so gut es geht”, sagt Lenzi.Ausgebaut wird allerdings die Zusammenarbeit mit externen Interessenten, darunter Fakultäten für Gastronomie an einigen italienischen Universitäten, vor allem der neu gegründeten Universität für Gastronomische Wissenschaften in Pollenzo bei Cuneo (Piemont), wo sich auch ein Forschungszentrum für Slow Food befindet.

Nicht nur langsames Essen, auch historisches Speisen in Burgen und Schlössern hat Hochkonjunktur. Lenzi ist allerdings der Ansicht, sich keine Illusionen zu machen: “Mittelalterlich zubereitetes Essen könnten wir heute beim besten Willen nicht mehr verzehren.”Die verschiedensten Gewürze, süss-sauer, alles in einem Topf: Das sei für den heutigen Geschmack unerträglich. Sie rät daher, sich allenfalls von der historischen Umgebung und einstigen Sitten inspirieren zu lassen, beim Essen aber durchaus auf Modernität zu setzen.

swissinfo, Gerhard Lob, Lugano

 

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/382

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Handschriften aus dem Prämonstratenserinnenstift Pernegg in Niederösterreich

Heute steht das “Kloster Pernegg”, das sich im Eigentum des nahen Prämonstratenserstifts Geras befindet, für österreichweit geschätztes Heilfasten. Bis zum Tod der letzten Nonne 1585 war es ein im 12. Jahrhundert gegründetes Prämonstratenserinnenstift, dem Mutterkonvent Geras zugeordnet. Von 1585 bis zur Aufhebung 1783 lebten hier männliche Prämonstratenser (ab 1644 war das Stift von Geras unabhängig). Die (bedingt brauchbare) Wiener Diplomarbeit von Elke Federbar (2012) über das Stift Pernegg ist online (PDF). Bemerkenswert sind einige deutschsprachige Handschriften des 15. Jahrhunderts, die aus Pernegg stammen und […]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/7025

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Marcus Schinnagel, ein Astrologe in der Zeit Maximilians I., Schöpfer des astronomisch-astrologischen Kompendiums aus Petershausen

Es war ein großes Glück, dass bei dem Verkauf der Sammlungen der Markgrafen und Großherzöge von Baden 1995 das Land Baden-Württemberg sich das 1489 datierte astronomisch-astrologische Kompendium des Marcus Schinnagel (GND) sichern konnte.1 Das eindrucksvolle, nahezu einzigartige Stück war als Säkularisationsgut aus dem Kloster Petershausen bei Konstanz in das Eigentum der ehemaligen Herrscherfamilie gelangt.

Der Astronomie-Historiker Richard L. Kremer vom Dartmouth-College hat das außergewöhnliche Polyptikon 2012 gewürdigt und auch die spärliche Forschung zur Person seines Schöpfers zusammengefasst.2 Ich konnte jetzt zu Schinnagel neue Lebenszeugnisse auffinden: zu seinen Pfarrstellen in Landsberg am Lech (nur diese war bisher bekannt) und in Sulzberg (Allgäu) und einen Brief an Herzog René II. von Lothringen.

Francis B. Brévart beginnt seinen Artikel über Schinnagel im Verfasserlexikon 19923 mit einer Fehlinformation. Denn das Geburtsdatum 1464, errechnet aus der Handschrift 10534 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien4 ist hinfällig, wenn der 1519/20 datierte Codex mit Krakauer Vorlesungen 1483/86 (so Ernst Zinner) gar nichts mit Schinnagel zu tun hat. Kremer führt eine Arbeit von Monika Maruska über Johannes Schöner 2008 an, die keine Spur einer Schinnagel-Provenienz entdeckt habe, ein Ergebnis, das er durch Autopsie der Handschrift bestätigen konnte.5 Die Angabe des Verfasserlexikons, Schinnagel sei bald nach 1520 gestorben, stützt sich auf Zinners Zuweisung von Einträgen von 1519/20 in der Wiener Handschrift an Schinnagel und muss daher ebenfalls wegfallen.

Wahrscheinlich darf man Schinnagel, der aus der oberungarischen Handelsmetropole Kaschau stammte (nicht aus dem böhmischen Koschow, wie das Verfasserlexikon will), mit einem 1466 in Krakau immatrikulierten Marcus Nicolai de Cassowia identifizieren, der 1469 Baccalaureus wurde und 1469/70 mehrfach in Krakauer Universitätsunterlagen belegt ist.6 Er hatte 1470 ein Buch De uita Antichristi et xv signis entliehen, was gut zu dem späteren Astrologen passen würde. Nach dem Immatrikulationsdatum dürfte er um 1450 geboren worden sein.

Heidrun Franz, deren 2012 abgeschlossene Erlanger kunsthistorische Dissertation “Das Polyptychon des Marcus Schinnagel. Ein astronomisch-astrologisches Kompendium aus der Zeit des Renaissance-Humanismus” mir nicht zugänglich war, wird von Kremer mit der Hypothese zitiert, Marcus sei der Sohn des 1430 in Wien immatrikulierten Nicolaus Schynagel de Waidlinga gewesen. Dieser habe sich von Waiblingen bei Stuttgart nach Wien begeben und von da nach Kaschau, wo andere Personen des Namens lebten. Schon die Gleichsetzung von Waidlinga mit Waiblingen ist abwegig. Näher liegt es, Schinnagel mit dem in der Mitte des 15. Jahrhundert belegten Ratsherrn Tadeus Schynnagel in Kaschau und seiner Familie7 in Verbindung zu bringen.

Schinnagel veröffentlichte von etwa 1486 bis etwa 1499 astrologische Druckschriften, sogenannte Almanache und Prognostiken mit Vorhersagen. Das Material ist jetzt bequem in der Datenbank des GW überblickbar. Dort sind auch Digitalisate nachgewiesen.8 Alle drei bekannten Almanache erschienen in Augsburg, die zehn Prognostiken in Ulm (vier Ausgaben), Straßburg und Basel (je zwei) sowie in Leipzig und Wien. Die ältesten erhaltenen Drucke sind ein in Augsburg gedruckter Almanach auf das Jahr 1487 (vermutlich schon 1486 ausgeliefert) und ein in Straßburg gedrucktes Prognostikon auf das gleiche Jahr, in dem er bereits den in Krakau erworbenen Magistertitel trägt: magistri Marci Schinnagel Cracouien.  Beide sind auf Latein verfasst, später schrieb er auch auf Deutsch. Die gereimte Praktik auf 1491, gedruckt von Johann Zainer dem Älteren in Ulm, enthält folgende Autorensignatur:9

Für war den spruch hat gemacht
Gepracticiert vnd auß grund erdacht
Maister marx schinagel ist er genant
Jn schwaben wol erkant
Ain astronomum thu°t er sich nennen
Ain astrologiam gar wol erkennen
Ain arismetricus auch dabey
Mit seinen kunsten ist er frey.

Das in Basel gedruckte Prognostikon auf das Jahr 1491 ist sowohl lateinisch als auch deutsch König Maximilian gewidmet. Die lateinische Vorhersage für 1493 dedizierte Magister Marcus Schinagel de Choschouia Alme Vniuersitatis Cracouiensis astrologus König Albert von Polen. Herzog Albrecht IV. von Bayern erhielt den jüngsten Druck auf das Jahr 1500 gewidmet und zwar sowohl die Basler als auch die Ulmer Ausgabe.

Da die Überlieferungschance für solches Gebrauchsschriftgut eher gering ist, ist davon auszugehen, dass es noch mehr als die jetzt bekannten Drucke gegeben hat.

Noch kaum untersucht wurde die handschriftliche Überlieferung. Kremer nennt in seiner Anmerkung 6 die Handschriften in London, Wolfenbüttel und Krakau, übergeht also die von Zinner nachgewiesene Handschrift W 321 des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (Böhm-Katalog Nr. 639). Weder von Kremer noch im Verfasserlexikon wurde bemerkt, dass Gerhard Benecke 1982 die in der Handschrift Bl. 252r-260r enthaltene deutschsprachige Praktik Schinnagels für 1491, gewidmet Erzherzog Sigismund, komplett in englischer Übersetzung veröffentlicht hatte.10 Benecke schreibt auch die folgende Praktik auf 1492 Bl. 266r-269v Schinnagel zu. Angehängt ist eine Bitte an Erzherzog Sigismund, er möge doch dem Absender für seine Primiz (erste Messe) am 2. Februar (wohl 1492) hundert Gulden übermitteln, damit er sie würdig begehen und seine in Rom gemachten Schulden bezahlen könne. Da der Absender wohl Schinnagel ist, was natürlich zu überprüfen wäre, darf man schließen, dass er ab 1492 Priester war und zuvor Rom besucht hatte.

Nicht näher datiert ist der Wolfenbütteler Cod. Guelf. 21.1 Aug. 4° , den der alte Katalog von Heinemann als mögliches Schinnagel-Autograph anspricht. Schinnagel nennt sich in zwei Texten, darunter ein Horoskop für den bereits genannten Herzog Albrecht von Bayern († 1508).

Um 1500 legte Schinnagel ein astrologisches Handbuch an, das über einen Augsburger Besitzer des 16. Jahrhunderts letztendlich in die British Library gelangte (Add. 34603).11 Einmal nennt er sich darin per me magistrum Marcum Schynagel alme vniuersitatis Crakouiensis tunc temporis plebanus ( sic ) in landtsperg anno 1500. Er war damals also Pfarrer in Landsberg am Lech (das Verfasserlexikon hat: Landberg).

Ob Schninnagel auch für Biblioteka Jagiellońska Krakau Cod. 8, eine lateinische astronomisch-astrologische Handschrift mit einer Prognostik für 1501 für Kardinal Fryderyk12, verantwortlich ist, wird man vorerst bezweifeln dürfen, denn die Auflösung M[arcus] N[icolai] C[assoviensis] b[accalarius] C[racoviensis] A[strologus] ist doch recht kühn, bedenkt man, dass sich Schinnagel sonst immer Magister (manchmal auch Doctor) nannte und seinen aus der Matrikeleintragung 1466 abgeleiteten Familiennamen Nicolai sonst nie führte. Es wurden auch schon andere Auflösungen der Buchstabenfolge vorgeschlagen.13

Bis auf die nicht völlig sicher auf Schinnagel zu beziehenden Krakauer Belege standen bisher ausschließlich Nennungen in seinen gedruckten Schriften und seinen Handschriften (einschließlich des Petershausener Kompendiums von 1489) zur Rekonstruktion seines Lebenswegs zur Verfügung. Sein seelsorgerisches Wirken in Landsberg am Lech und Sulzberg im Allgäu beleuchten zwei Regesten der Regesta Imperii und Einträge im Generalschematismus der Diözese Augsburg.

Am 19. April 1494 nahm König Maximilian in Kempten “den Marcus Schinagel, Pfarrer in Sulzberg, einen berühmten Astronomen (astronomicae scientiae peritia celebrem) als seinen Kaplan auf” (RI XIV,1 n. 574). Am 16. Januar 1498 forderte Maximilian in Innsbruck Bischof “Friedrich von Augsburg auf, den Marx Schinagel, KMs Kaplan, zu furderlichen rechten gegen Balthasar von Schellenberg zu verhelfen, der den Schinagel wider alle Billigkeit beschwere, indem er einige Leute in Schinagels Pfarrhof zu Sultzberg legte, als dieser einen Teil seiner Habe nach Landsberg führen ließ, dessen Pfarre ihm Hg Albrecht von Bayern, KMs Schwager und Rat, vor einiger Zeit verliehen hat” (RI XIV,2 n. 5737). Die Widmung mindestens eines Drucks und die astrologischen Ausarbeitungen für den Bayernherzog haben Schinnagel also wohl die Landsberger Stadtpfarrei eingebracht. Offenbar war er wenigstens zeitweilig gleichzeitig in Sulzberg (etwa zehn Kilometer südlich von Kempten) und in Landsberg bepfründet.

Aufgrund von im Zweiten Weltkrieg vernichteten Akten wurde der Augsburger Generalschematismus erstellt, aus dem das Archiv des Bistums Augsburg freundlicherweise Auskunft erteilte: Gemäß “Moritz Widenmann, Generalschematismus der Diözese Augsburg, Bd. II, S. 447, war ein Markus Schin(n)agel ab 1504 Pfarrer in der Stadtpfarrei Landsberg, leider finden sich keine weiterführenden Hinweise zu ihm. Ab 1507 wird ein Johann Seubelin von Kaufbeuren als Pfarrer gelistet. In der Pfarrei Sulzberg wird von 1493 bis 1533 ein Markus Schmagl als Pfarrer angegeben, weitere Hinweise gibt es leider auch zu ihm nicht, auch er erscheint vor 1493 bzw. nach 1533 nicht mehr im Schematismus (S. 412)”14.

Bald nach der oben für 1492 angesetzten Priesterweihe hat sich Schinnagel nach Sulzberg begeben, wo er 1493 im Schematismus erscheint. Vor 1498 wurde er auch Stadtpfarrer in Landsberg, wo er noch 1504 bezeugt ist. Wenig später scheint er diese Stelle aufgegeben zu haben. Angesichts des angenommenen Geburtsdatums um 1450 möchte ich bei dem Sulzberger Beleg 1533 vorerst ein dickes Fragezeichen machen (Schmagl ist sicher als Schinagl zu lesen). Schinnagel ist also nicht vor 1504 gestorben, vielleicht sogar nicht vor 1533.

Nur weil ich auch auf die Idee kam, nach Marcus Schünagel zu suchen, wurde ich auf einen entlegenen Pariser Beleg aufmerksam. 1496 korrespondierte der Pfarrer von Sulzberg mit Herzog René von Lothringen über astrologisch-politische Konstellationen. Da die schlechte Qualität des Pariser Digitalisats15 nicht zur Lektüre des eigenhändigen Briefs einlädt, überlasse ich die Auswertung dieser Quelle gern der weiteren Forschung.

NACHTRAG 29. April 2014

Die UB Heidelberg hat freundlicherweise ihre Inkunabelfragmente von Werken Schinnagels digitalisiert:

http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00335000_a
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00335000_b
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00335000_c
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00334900

Das sind die Nummern 1621-1624 im Heidelberger Inkunabelkatalog.

Zu einem Aufenthalt Schinnagels in Konstanz um 1490 fand ich nachträglich drei Quellen. Ausgangspunkt war eine Suche nach Schunagel in Google Books, die auf einen Hinweis in der Arbeit von Johannes Häne (1899) über den St. Galler Auflauf 1491 führte (in: Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 26, S. 344 PDF). Die dort zitierte Chronik Rütiners bezieht sich auf das Zeugnis des Hermann Miles, dessen St. Galler Chronik 1902 ediert wurde (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 28, S. 294). Dort steht zu lesen: “Am fritag darnach [6. Mai 1491, KG] must der Schniagel [sic! KG] mit gewalt von Costanz uß haß des gemainen mans; der wais ein kostlicher ostromey und hat lang von des himels lauf gesagt und ouch von diser kelti; darum si mantend, si habens von im”. Der Prophet wurde also auf Druck der einfachen Leute aus Konstanz verjagt, da er für das Eintreten seiner Prophezeiung verantwortlich gemacht wurde. Das bezieht sich wohl auf den Schadenszauber-Vorwurf der Hexenprozesse. Für diese Nachricht konnte das Stadtarchiv Konstanz in seinen Beständen keine Bestätigung finden. Allerdings erscheint ein D. Schmagel (= Dr. Schinagel) 1490 in den Steuerbüchern im Quartier St. Stefan (diese wurden in Zehnjahresschritten ediert: Die Steuerbücher der Stadt Konstanz Bd 2, 1963, S. 72 Nr. 661). Sein Name wurde gestrichen, er steuerte nur 3 Pfennig aus einem Garten.

Hans Rudolf Lavater war so liebenswürdig, mir einige Seiten aus der Ausgabe Johannes Rütiner: Diarium 1529-1539 zu scannen, der an zwei Stellen auf Schinagel zu sprechen kommt (hrsg. von Ernst Gerhard Rüsch, 1996, Textbd. I.2, S. 460f. Nr. 785, S. 697f. Nr. 977). Beidesmal erwähnt er die Vertreibung des Astrologen aus Konstanz, dem er zuverlässige Vorhersagen attestiert.  Doktor Marcus Schunagel habe Laurentius Teusch in St. Gallen besucht und diesen auf den bevorstehenden Konflikt mit den Schweizern (1490) hingewiesen. Unter Berufung auf Hermann Miles berichtet er, dass die Bauern ihn in Konstanz aus der Stadt verlangt hätten, nachdem alle Reben in einer einzigen Nacht durch Frost zugrunde gegangen waren. Schunagel habe als erstes Prognostiken herausgegeben (“primus fuit qui prognosticationes edidit” bzw. an der zweiten Stelle “prognosticationes annales”). An der zweiten Stelle erzählt Rütiner von dem Besuch einiger St. Galler Bürger bei Dr. Marcus Schunagel in Konstanz, damals im Weissagen sehr berühmt (“celeberrimum praesagiendo”). Er sagte den Krieg mit den Eidgenossen (1489/90), den Aufruhr in St. Gallen 1491 und noch anderes voraus. Alles sei eingetreten, wie er es gesagt hatte.

Diese Nachrichten aus dem Bodenseeraum ergänzen die bisherigen Notizen zu Schinnagel auf das trefflichste. Da Schinnagel ihnen zufolge 1489 in Konstanz lebte und aus diesem Jahr sein seit dem 17. Jahrhundert in Petershausen bezeugtes Kompendium stammt, darf man mit größerer Sicherheit als bisher annehmen, dass es in Konstanz entstanden ist und ursprünglich für das Benediktinerkloster Petershausen bestimmt war.

 

 

 

Foto von Dr. Bernd Gross (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons

  1. “Für Baden gerettet” (1995), S. 126f. Nr. 83 mit Abbildungen.
  2. Richard L. Kremer: Marcus Schinnagel’s winged polyptych of 1489 : astronomical computation in a liturgical format. In: Journal for the history of astronomy. Bd. 43 (2012), Nr. 3, S. 321-345.
  3. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 2. Auflage 8 (1992), Sp. 680f. Google.
  4. http://manuscripta.at/?ID=6998 mit Link zum Katalog HANNA. Brévart im Verfasserlexikon  folgt ganz Ernst Zinner: Verzeichnis der astronomischen Handschriften des deutschen Kulturgebietes (1925), S. 494 und nennt die falsche Signatur Cod. 10584.
  5. Kremer Anm. 1.
  6. Iulia Capros: Students from Košice at foreign Universities before and during the reformation period in the town. Dissertation Budapest 2010, S. 238-240 Nr. 111 online mit Wiedergabe der Quellenstellen.
  7. Siehe etwa http://donauschwaben-usa.org/kosice.htm.
  8. Weitere Abbildung: erste Seite der Wiener Prognostik auf 1493 bei Seethaler 1982 S. 795 PDF.
  9. Nach der Abbildung bei Frederick R. Goff: Some undescribed ephemera of the 15th century in the Library of Congress. In: Beiträge zur Inkunabelkunde, 3. Reihe, I (1965), S. 100–102, Abb. 20 Commons. Der Anfang (ebd. Abb. 19): Commons.
  10. Gerhard Benecke: Maximilian I. (1982), S. 164-174.
  11. Katalog.
  12. Vgl. auch Natalia Nowakowska: Church, State and Dynasty in Renaissance Poland [...] (2007), S. 92 Google.
  13. Grażyna Rosińska: Scientific writings and astronomical tables in Cracow (1984), S. 241 online.
  14. Anfragen beim Stadtarchiv Landsberg am Lech, bei der Pfarrei Mariä Himmelfahrt in Landsberg und bei dem Sulzberger Heimatforscher Otto Pritschet blieben leider ohne Ergebnis.
  15. Gedreht: Commons.

Quelle: http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1615

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Marcus Schinnagel, ein Astrologe in der Zeit Maximilians I., Schöpfer des astronomisch-astrologischen Kompendiums aus Petershausen

Es war ein großes Glück, dass bei dem Verkauf der Sammlungen der Markgrafen und Großherzöge von Baden 1995 das Land Baden-Württemberg sich das 1489 datierte astronomisch-astrologische Kompendium des Marcus Schinnagel (GND) sichern konnte.1 Das eindrucksvolle, nahezu einzigartige Stück war als Säkularisationsgut aus dem Kloster Petershausen bei Konstanz in das Eigentum der ehemaligen Herrscherfamilie gelangt.

Der Astronomie-Historiker Richard L. Kremer vom Dartmouth-College hat das außergewöhnliche Polyptikon 2012 gewürdigt und auch die spärliche Forschung zur Person seines Schöpfers zusammengefasst.2 Ich konnte jetzt zu Schinnagel neue Lebenszeugnisse auffinden: zu seinen Pfarrstellen in Landsberg am Lech (nur diese war bisher bekannt) und in Sulzberg (Allgäu) und einen Brief an Herzog René II. von Lothringen.

Francis B. Brévart beginnt seinen Artikel über Schinnagel im Verfasserlexikon 19923 mit einer Fehlinformation. Denn das Geburtsdatum 1464, errechnet aus der Handschrift 10534 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien4 ist hinfällig, wenn der 1519/20 datierte Codex mit Krakauer Vorlesungen 1483/86 (so Ernst Zinner) gar nichts mit Schinnagel zu tun hat. Kremer führt eine Arbeit von Monika Maruska über Johannes Schöner 2008 an, die keine Spur einer Schinnagel-Provenienz entdeckt habe, ein Ergebnis, das er durch Autopsie der Handschrift bestätigen konnte.5 Die Angabe des Verfasserlexikons, Schinnagel sei bald nach 1520 gestorben, stützt sich auf Zinners Zuweisung von Einträgen von 1519/20 in der Wiener Handschrift an Schinnagel und muss daher ebenfalls wegfallen.

Wahrscheinlich darf man Schinnagel, der aus der oberungarischen Handelsmetropole Kaschau stammte (nicht aus dem böhmischen Koschow, wie das Verfasserlexikon will), mit einem 1466 in Krakau immatrikulierten Marcus Nicolai de Cassowia identifizieren, der 1469 Baccalaureus wurde und 1469/70 mehrfach in Krakauer Universitätsunterlagen belegt ist.6 Er hatte 1470 ein Buch De uita Antichristi et xv signis entliehen, was gut zu dem späteren Astrologen passen würde. Nach dem Immatrikulationsdatum dürfte er um 1450 geboren worden sein.

Heidrun Franz, deren 2012 abgeschlossene Erlanger kunsthistorische Dissertation “Das Polyptychon des Marcus Schinnagel. Ein astronomisch-astrologisches Kompendium aus der Zeit des Renaissance-Humanismus” mir nicht zugänglich war, wird von Kremer mit der Hypothese zitiert, Marcus sei der Sohn des 1430 in Wien immatrikulierten Nicolaus Schynagel de Waidlinga gewesen. Dieser habe sich von Waiblingen bei Stuttgart nach Wien begeben und von da nach Kaschau, wo andere Personen des Namens lebten. Schon die Gleichsetzung von Waidlinga mit Waiblingen ist abwegig. Näher liegt es, Schinnagel mit dem in der Mitte des 15. Jahrhundert belegten Ratsherrn Tadeus Schynnagel in Kaschau und seiner Familie7 in Verbindung zu bringen.

Schinnagel veröffentlichte von etwa 1486 bis etwa 1499 astrologische Druckschriften, sogenannte Almanache und Prognostiken mit Vorhersagen. Das Material ist jetzt bequem in der Datenbank des GW überblickbar. Dort sind auch Digitalisate nachgewiesen.8 Alle drei bekannten Almanache erschienen in Augsburg, die zehn Prognostiken in Ulm (vier Ausgaben), Straßburg und Basel (je zwei) sowie in Leipzig und Wien. Die ältesten erhaltenen Drucke sind ein in Augsburg gedruckter Almanach auf das Jahr 1487 (vermutlich schon 1486 ausgeliefert) und ein in Straßburg gedrucktes Prognostikon auf das gleiche Jahr, in dem er bereits den in Krakau erworbenen Magistertitel trägt: magistri Marci Schinnagel Cracouien.  Beide sind auf Latein verfasst, später schrieb er auch auf Deutsch. Die gereimte Praktik auf 1491, gedruckt von Johann Zainer dem Älteren in Ulm, enthält folgende Autorensignatur:9

Für war den spruch hat gemacht
Gepracticiert vnd auß grund erdacht
Maister marx schinagel ist er genant
Jn schwaben wol erkant
Ain astronomum thu°t er sich nennen
Ain astrologiam gar wol erkennen
Ain arismetricus auch dabey
Mit seinen kunsten ist er frey.

Das in Basel gedruckte Prognostikon auf das Jahr 1491 ist sowohl lateinisch als auch deutsch König Maximilian gewidmet. Die lateinische Vorhersage für 1493 dedizierte Magister Marcus Schinagel de Choschouia Alme Vniuersitatis Cracouiensis astrologus König Albert von Polen. Herzog Albrecht IV. von Bayern erhielt den jüngsten Druck auf das Jahr 1500 gewidmet und zwar sowohl die Basler als auch die Ulmer Ausgabe.

Da die Überlieferungschance für solches Gebrauchsschriftgut eher gering ist, ist davon auszugehen, dass es noch mehr als die jetzt bekannten Drucke gegeben hat.

Noch kaum untersucht wurde die handschriftliche Überlieferung. Kremer nennt in seiner Anmerkung 6 die Handschriften in London, Wolfenbüttel und Krakau, übergeht also die von Zinner nachgewiesene Handschrift W 321 des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (Böhm-Katalog Nr. 639). Weder von Kremer noch im Verfasserlexikon wurde bemerkt, dass Gerhard Benecke 1982 die in der Handschrift Bl. 252r-260r enthaltene deutschsprachige Praktik Schinnagels für 1491, gewidmet Erzherzog Sigismund, komplett in englischer Übersetzung veröffentlicht hatte.10 Benecke schreibt auch die folgende Praktik auf 1492 Bl. 266r-269v Schinnagel zu. Angehängt ist eine Bitte an Erzherzog Sigismund, er möge doch dem Absender für seine Primiz (erste Messe) am 2. Februar (wohl 1492) hundert Gulden übermitteln, damit er sie würdig begehen und seine in Rom gemachten Schulden bezahlen könne. Da der Absender wohl Schinnagel ist, was natürlich zu überprüfen wäre, darf man schließen, dass er ab 1492 Priester war und zuvor Rom besucht hatte.

Nicht näher datiert ist der Wolfenbütteler Cod. Guelf. 21.1 Aug. 4° , den der alte Katalog von Heinemann als mögliches Schinnagel-Autograph anspricht. Schinnagel nennt sich in zwei Texten, darunter ein Horoskop für den bereits genannten Herzog Albrecht von Bayern († 1508).

Um 1500 legte Schinnagel ein astrologisches Handbuch an, das über einen Augsburger Besitzer des 16. Jahrhunderts letztendlich in die British Library gelangte (Add. 34603).11 Einmal nennt er sich darin per me magistrum Marcum Schynagel alme vniuersitatis Crakouiensis tunc temporis plebanus ( sic ) in landtsperg anno 1500. Er war damals also Pfarrer in Landsberg am Lech (das Verfasserlexikon hat: Landberg).

Ob Schninnagel auch für Biblioteka Jagiellońska Krakau Cod. 8, eine lateinische astronomisch-astrologische Handschrift mit einer Prognostik für 1501 für Kardinal Fryderyk12, verantwortlich ist, wird man vorerst bezweifeln dürfen, denn die Auflösung M[arcus] N[icolai] C[assoviensis] b[accalarius] C[racoviensis] A[strologus] ist doch recht kühn, bedenkt man, dass sich Schinnagel sonst immer Magister (manchmal auch Doctor) nannte und seinen aus der Matrikeleintragung 1466 abgeleiteten Familiennamen Nicolai sonst nie führte. Es wurden auch schon andere Auflösungen der Buchstabenfolge vorgeschlagen.13

Bis auf die nicht völlig sicher auf Schinnagel zu beziehenden Krakauer Belege standen bisher ausschließlich Nennungen in seinen gedruckten Schriften und seinen Handschriften (einschließlich des Petershausener Kompendiums von 1489) zur Rekonstruktion seines Lebenswegs zur Verfügung. Sein seelsorgerisches Wirken in Landsberg am Lech und Sulzberg im Allgäu beleuchten zwei Regesten der Regesta Imperii und Einträge im Generalschematismus der Diözese Augsburg.

Am 19. April 1494 nahm König Maximilian in Kempten “den Marcus Schinagel, Pfarrer in Sulzberg, einen berühmten Astronomen (astronomicae scientiae peritia celebrem) als seinen Kaplan auf” (RI XIV,1 n. 574). Am 16. Januar 1498 forderte Maximilian in Innsbruck Bischof “Friedrich von Augsburg auf, den Marx Schinagel, KMs Kaplan, zu furderlichen rechten gegen Balthasar von Schellenberg zu verhelfen, der den Schinagel wider alle Billigkeit beschwere, indem er einige Leute in Schinagels Pfarrhof zu Sultzberg legte, als dieser einen Teil seiner Habe nach Landsberg führen ließ, dessen Pfarre ihm Hg Albrecht von Bayern, KMs Schwager und Rat, vor einiger Zeit verliehen hat” (RI XIV,2 n. 5737). Die Widmung mindestens eines Drucks und die astrologischen Ausarbeitungen für den Bayernherzog haben Schinnagel also wohl die Landsberger Stadtpfarrei eingebracht. Offenbar war er wenigstens zeitweilig gleichzeitig in Sulzberg (etwa zehn Kilometer südlich von Kempten) und in Landsberg bepfründet.

Aufgrund von im Zweiten Weltkrieg vernichteten Akten wurde der Augsburger Generalschematismus erstellt, aus dem das Archiv des Bistums Augsburg freundlicherweise Auskunft erteilte: Gemäß “Moritz Widenmann, Generalschematismus der Diözese Augsburg, Bd. II, S. 447, war ein Markus Schin(n)agel ab 1504 Pfarrer in der Stadtpfarrei Landsberg, leider finden sich keine weiterführenden Hinweise zu ihm. Ab 1507 wird ein Johann Seubelin von Kaufbeuren als Pfarrer gelistet. In der Pfarrei Sulzberg wird von 1493 bis 1533 ein Markus Schmagl als Pfarrer angegeben, weitere Hinweise gibt es leider auch zu ihm nicht, auch er erscheint vor 1493 bzw. nach 1533 nicht mehr im Schematismus (S. 412)”14.

Bald nach der oben für 1492 angesetzten Priesterweihe hat sich Schinnagel nach Sulzberg begeben, wo er 1493 im Schematismus erscheint. Vor 1498 wurde er auch Stadtpfarrer in Landsberg, wo er noch 1504 bezeugt ist. Wenig später scheint er diese Stelle aufgegeben zu haben. Angesichts des angenommenen Geburtsdatums um 1450 möchte ich bei dem Sulzberger Beleg 1533 vorerst ein dickes Fragezeichen machen (Schmagl ist sicher als Schinagl zu lesen). Schinnagel ist also nicht vor 1504 gestorben, vielleicht sogar nicht vor 1533.

Nur weil ich auch auf die Idee kam, nach Marcus Schünagel zu suchen, wurde ich auf einen entlegenen Pariser Beleg aufmerksam. 1496 korrespondierte der Pfarrer von Sulzberg mit Herzog René von Lothringen über astrologisch-politische Konstellationen. Da die schlechte Qualität des Pariser Digitalisats15 nicht zur Lektüre des eigenhändigen Briefs einlädt, überlasse ich die Auswertung dieser Quelle gern der weiteren Forschung.

 

Foto von Dr. Bernd Gross (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons

  1. “Für Baden gerettet” (1995), S. 126f. Nr. 83 mit Abbildungen.
  2. Richard L. Kremer: Marcus Schinnagel’s winged polyptych of 1489 : astronomical computation in a liturgical format. In: Journal for the history of astronomy. Bd. 43 (2012), Nr. 3, S. 321-345.
  3. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 2. Auflage 8 (1992), Sp. 680f. Google.
  4. http://manuscripta.at/?ID=6998 mit Link zum Katalog HANNA. Brévart im Verfasserlexikon  folgt ganz Ernst Zinner: Verzeichnis der astronomischen Handschriften des deutschen Kulturgebietes (1925), S. 494 und nennt die falsche Signatur Cod. 10584.
  5. Kremer Anm. 1.
  6. Iulia Capros: Students from Košice at foreign Universities before and during the reformation period in the town. Dissertation Budapest 2010, S. 238-240 Nr. 111 online mit Wiedergabe der Quellenstellen.
  7. Siehe etwa http://donauschwaben-usa.org/kosice.htm.
  8. Weitere Abbildung: erste Seite der Wiener Prognostik auf 1493 bei Seethaler 1982 S. 795 PDF.
  9. Nach der Abbildung bei Frederick R. Goff: Some undescribed ephemera of the 15th century in the Library of Congress. In: Beiträge zur Inkunabelkunde, 3. Reihe, I (1965), S. 100–102, Abb. 20 Commons. Der Anfang (ebd. Abb. 19): Commons.
  10. Gerhard Benecke: Maximilian I. (1982), S. 164-174.
  11. Katalog.
  12. Vgl. auch Natalia Nowakowska: Church, State and Dynasty in Renaissance Poland [...] (2007), S. 92 Google.
  13. Grażyna Rosińska: Scientific writings and astronomical tables in Cracow (1984), S. 241 online.
  14. Anfragen beim Stadtarchiv Landsberg am Lech, bei der Pfarrei Mariä Himmelfahrt in Landsberg und bei dem Sulzberger Heimatforscher Otto Pritschet blieben leider ohne Ergebnis.
  15. Gedreht: Commons.

Quelle: http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1615

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Wigan Public Library: Altbestand 2012 verscherbelt

Man darf es getrost als wissenschaftliche Sensation bezeichnen, was Stephan Kessler (Greifswald) und Stephen Mossman (Manchester) im “Archivium Lithuanicum 15, 2013″ (online) vorstellen: Einen bisher von der Forschung nicht wahrgenommenen kurzen Text in einer baltischen Sprache, niedergeschrieben von einem Schreiber Petrus Wickerau 1440 und zwar auf Kreta, im damals venezianischen Chania. Wahrscheinlich, so die Autoren, handelt es sich um Altpreußisch (Erstbezeugung: Baseler Epigramm, 1369). Würde es sich um Altlitauisch handeln, so wären die vier Zeilen das älteste bekannte schriftliche Denkmal für diese Sprache überhaupt.  Die gründliche Recherche der Verfasser ergab, dass die lateinische Handschrift (Logica parva des Augustinereremiten Paulus Ventus) sich im 17. Jahrhundert in Venedig befand. 1904 wurde sie für die Wigan Public Library erworben, 2012 mit dem anderen Altbestand abgestoßen (Kessler/Mossman S. 515) und zwar auf einer Versteigerung bei Bonhams. Nun gehört sie “Les Enluminures” (Katalog mit Abbildungen), einer Firma, die neben Fogg, Günther und Tenschert zur Spitzengruppe der Handschriftenantiquariate zählt.

Dass der Aufsatz den ansonsten nur lokales Aufsehen erregenden Verkauf 2012 thematisiert, ist verdienstvoll. Felicitas Noeske, Mitglied unseres Kulturgut-Teams, hatte von Stephan Mossman eine private Rundmail erhalten, in der die “schamlose”  Auktion erwähnt wurde.  Am 1. Oktober 2012 hatte mich ein Archivalia-Kommentator ins Bild gesetzt: “Dass die letzten Provenienzen gerne verschwiegen werden ist ja nicht so selten. Bonhams (London) versteigert am 2. Oktober 2012 (auction 20412: lots 116-230) fast sämtliche Inkunabeln (80 von den 82 im ISTC unter ‘Wigan PL’ gelisteten) der ‘Free Public Library Wigan’, ohne dies im Online-Katalog zu erwähnen. Ein zugehöriger Blindstempel kann nur aufgrund der Abbildungen (mit Zoom) identifiziert werden.  z.B.: http://www.bonhams.com/auctions/20412/lot/150/ ”. Ich hatte allerdings keine Zeit, der Sache nachzugehen. Von dem lokalen Presseartikel und weiteren Stellungnahmen (Wigan TodayHinweis in einem UK-Forum zur Buchgeschichte, Kritik in einem Blog) erhielt ich erst durch Frau Noeske Kenntnis. Kessler/Mossmann erwähnen zusätzlich die Notizen von Scott Gwara über die Handschriftenverkäufe in seinem Newsletter (PDF S. 4f. ). Gwara unterstreicht die Beziehungen der Handschriften zu Padua.

Man muss es immer wieder wiederholen, auch wenn sich das Verständnis für diese Argumentation im Handel und auf Seiten der US-Buchszene in Grenzen hält: Die um 1900 zusammengekaufte bibliophile Sammlung der Wigan Public Library, Handschriften und Inkunabeln, war eine schützenswerte wissenschaftlich wertvolle Geschichtsquelle, die durch die Auktion zerstört wurde. Wie der soeben erwähnte Padua-Bezug zeigt, handelte es sich nicht nur um Einzelstücke, sondern um Provenienzreste, die nun zersplittert wurden. Eine 2012 verkaufte Inkunabel war das einzige bekannte Exemplar auf den britischen Inseln.

Wie schon in der Causa Stralsund wurde mit mangelndem lokalen Bezug und mangelndem Interesse an dem Bestand argumentiert. Katie Birkwood hat dafür die richtigen Widerworte gefunden: “It doesn’t take a genius to realise that if no-one knows that something is in a library, no-one will access it.  The onus is on the library service to promote its collections.”

Bibliotheken weltweit müssen ihren Altbestand im Interesse der Wissenschaft als buchhistorische “Archive” dauerhaft bewahren. Das betrifft auch die “öffentlichen Bibliotheken”, deren Kerngeschäft die aktuelle Literaturversorgung ist. Bestandsverlagerungen können kein absolutes Tabu sein, aber sie müssen das Ziel haben, den Schaden für die Wissenschaft zu minimieren. Ohne einen transparenten Aussonderungs-Prozess, der nicht wie im Fall Wigan von Heimlichtuerei  begleitet wird und der vor allem ohne Zeitdruck stattfinden muss, profitiert nur der Handel, der nach erlesenem Material und hohen Gewinnen giert, und der bornierte Eigentümer, dem die wissenschaftlichen Implikationen wurscht sind. In einem ergebnisoffenen Prozess hätte man versuchen können, die Wigan-Bestände möglichst provenienzschonend auf eine andere öffentliche Sammlung (oder mehrere) zu verteilen. So hätte man womöglich einen Mäzen dafür gewinnen können, die Handschrift mit dem baltischen Text einer litauischen Institution zu stiften. Auktionen haben den Vorteil, dass sie oft (nicht immer) den Gewinn für den Eigentümer maximieren, und den gravierenden Nachteil, dass sie Zusammengehöriges zerreißen und das Versteigerungsgut überwiegend in private Hände spülen, da diese meist kaufkräftiger sind als öffentliche Institutionen. In den privaten Tresoren dienen die Stücke weder der Wissenschaft noch der Allgemeinheit, obwohl sie das als Kulturgut tun sollten.  Es gibt Sammler, die gern Zugang für die Wissenschaft gewähren und ihre Pretiosen für Ausstellungen zur Verfügung stellen. Aber auch das setzt voraus, dass der jeweilige Standort bekannt ist. Üblicherweise teilen Auktionshäuser nichts über (auch institutionelle) Erwerber mit, leiten allenfalls Anschreiben weiter.

Einen wirksamen Schutz von beweglichem “Heritage” kennt das Vereinigte Königreich nicht, wie zuletzt die skandalöse Zerstreuung der Mendham-Collection 2013 durch die Law Society gezeigt hat, die der deutsche Inkunabel-Experte Falk Eisermann “widerwärtig” nannte. Auch der einstige Stifterwille zählt juristisch dort so gut wie nichts.  Wiederholt las ich von englischer Kulturgut-Barbarei im Kontext historischer Bibliotheken. Ebenfalls 2012 wurde der Altbestand des Birmingham Medical Institute zerstückelt. Mit Müh und Not konnte 2010 die Rare Books Collection von Cardiff gerettet werden.

Nein, ein Musterland in Sachen Kulturgutschutz ist das United Kingdom gewiss nicht! Glücklicherweise scheiterte der geplante Verkauf von Shakespeare-Folios durch die University of London 2013. Der Shakespeare-Forscher Henry Woudhuysen zeigte aber in einem lesenswerten Beitrag, dass der glückliche Ausgang eher nicht die Regel ist: “There have been many other such campaigns against the sales of historic libraries and items from them; why did this one raise such strong feelings and why did it succeed? Most recently there has been controversy about the Law Society’s decision to sell the Mendham Collection of 15th and 16th-century English Bibles and controversial literature, bequeathed  by Joseph Mendham (1769-1856) and, since 1984, kept at the University of Kent at a cost to the society of about £10,000 a year. Opposition to the sale failed and the books were sold at Sotheby’s. Of course, it is easier to animate people about the sale of anything associated with Shakespeare (the 450th anniversary of his birth will be marked in 2014) than it is to engage them with the preservation of a 19th-century collection of pre-Reformation books. Even so, similar protests against the sales of First Folios by Oriel College, Oxford, and by Dr Williams’s Library (just around the corner from Senate House) both failed to stop them. There were equally unsuccessful campaigns against the sale of rare 15th and 16th-century continental printed books from the John Rylands Library in 1988 and, a decade or so later, of runs of historic newspapers from the British Library-a shameful event that helped inspire Nicolson Baker’s Double Fold: Libraries and the Assault on Paper (2001).”

Man müsste noch mehr aus dieser einsichtsvollen Stellungnahme zitieren. Nur zu bekannt ist auch hierzulande das abscheuliche Dublettenargument: “Despite a century and more of the painstaking investigation of books printed before 1800 on the hand-press, it is surprising to have to explain to professional librarians and others that there is no such thing as a “duplicate” of this kind.  [...] Books from the hand-press period are not “duplicates” and the more we learn about them, the more their unique individuality becomes apparent.”

Zurecht betont Woudhuysen, dass digitale Kopien kein Ersatz für die Originale sein können. Aber sie können, möchte ich ergänzen, für die alten musealen Bestände werben, deren Auswertung mit naturwissenschaftlichen Methoden (etwa zur Provenienzforschung) noch kaum begonnen hat. Wissenschaftlich wertvolle Ensembles wie der Altbestand der Bibliothek von Wigan müssten zusammengehalten werden!

 

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/364

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Bonaventura Thommens Dissertation (1935) über die Prunkreden des Abtes Johannes Trithemius online

Letzten Herbst kam während der Bibliotheksführung im Bozener Kloster Muri-Gries durch den liebenswürdigen Pater Pacidus Hungerbühler die Rede auf eine Studie über den Humanisten Johannes Trithemius (1462-1516), die Bonaventura Thommen in Freiburg in der Schweiz bei Richard Newald vorgelegt hatte (gedruckt in zwei Teilen jeweils als Beilage zum Jahresbericht der Kantonalen Lehranstalt Sarnen 1933/34 und 1934/35). Thommen (1897-1965) war Benediktiner des Konvents von Muri-Gries im Benediktinerkolleg Sarnen und wirkte lange Jahre als Rektor der damals von den Mönchen getragenen Kantonsschule in Sarnen. In Erinnerungen […]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/6872

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Michael Romeisen, Kanoniker in Rasdorf (um 1600)

In der vom Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf zur Verfügung gestellten Übersicht seiner frühneuzeitlichen Handschriften, die früher der Düsseldorfer Landesbibliothek gehörten, fiel mir die Agenda von 1579/80 des Rasdorfer Kanonikers Michael Rhommeysen auf und ich recherchierte nach ihm in Netz. Leider ließ sich trotz zusätzlicher Unterstützung durch freundliche Mail-Auskünfte [1] kaum etwas über ihn herausfinden. Berthold Jäger teilte mit: “Über die Person Romeisen ist außer den von ihm in den eigenen Handschriften und in dem von ihm benutzten Büchern gemachten Angaben (Stiftskanoniker/Stiftskustos 1578, 1587, 1594, 1605, 1613) […]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/6835

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