Marcus Schinnagel, ein Astrologe in der Zeit Maximilians I., Schöpfer des astronomisch-astrologischen Kompendiums aus Petershausen

Es war ein großes Glück, dass bei dem Verkauf der Sammlungen der Markgrafen und Großherzöge von Baden 1995 das Land Baden-Württemberg sich das 1489 datierte astronomisch-astrologische Kompendium des Marcus Schinnagel (GND) sichern konnte.1 Das eindrucksvolle, nahezu einzigartige Stück war als Säkularisationsgut aus dem Kloster Petershausen bei Konstanz in das Eigentum der ehemaligen Herrscherfamilie gelangt.

Der Astronomie-Historiker Richard L. Kremer vom Dartmouth-College hat das außergewöhnliche Polyptikon 2012 gewürdigt und auch die spärliche Forschung zur Person seines Schöpfers zusammengefasst.2 Ich konnte jetzt zu Schinnagel neue Lebenszeugnisse auffinden: zu seinen Pfarrstellen in Landsberg am Lech (nur diese war bisher bekannt) und in Sulzberg (Allgäu) und einen Brief an Herzog René II. von Lothringen.

Francis B. Brévart beginnt seinen Artikel über Schinnagel im Verfasserlexikon 19923 mit einer Fehlinformation. Denn das Geburtsdatum 1464, errechnet aus der Handschrift 10534 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien4 ist hinfällig, wenn der 1519/20 datierte Codex mit Krakauer Vorlesungen 1483/86 (so Ernst Zinner) gar nichts mit Schinnagel zu tun hat. Kremer führt eine Arbeit von Monika Maruska über Johannes Schöner 2008 an, die keine Spur einer Schinnagel-Provenienz entdeckt habe, ein Ergebnis, das er durch Autopsie der Handschrift bestätigen konnte.5 Die Angabe des Verfasserlexikons, Schinnagel sei bald nach 1520 gestorben, stützt sich auf Zinners Zuweisung von Einträgen von 1519/20 in der Wiener Handschrift an Schinnagel und muss daher ebenfalls wegfallen.

Wahrscheinlich darf man Schinnagel, der aus der oberungarischen Handelsmetropole Kaschau stammte (nicht aus dem böhmischen Koschow, wie das Verfasserlexikon will), mit einem 1466 in Krakau immatrikulierten Marcus Nicolai de Cassowia identifizieren, der 1469 Baccalaureus wurde und 1469/70 mehrfach in Krakauer Universitätsunterlagen belegt ist.6 Er hatte 1470 ein Buch De uita Antichristi et xv signis entliehen, was gut zu dem späteren Astrologen passen würde. Nach dem Immatrikulationsdatum dürfte er um 1450 geboren worden sein.

Heidrun Franz, deren 2012 abgeschlossene Erlanger kunsthistorische Dissertation “Das Polyptychon des Marcus Schinnagel. Ein astronomisch-astrologisches Kompendium aus der Zeit des Renaissance-Humanismus” mir nicht zugänglich war, wird von Kremer mit der Hypothese zitiert, Marcus sei der Sohn des 1430 in Wien immatrikulierten Nicolaus Schynagel de Waidlinga gewesen. Dieser habe sich von Waiblingen bei Stuttgart nach Wien begeben und von da nach Kaschau, wo andere Personen des Namens lebten. Schon die Gleichsetzung von Waidlinga mit Waiblingen ist abwegig. Näher liegt es, Schinnagel mit dem in der Mitte des 15. Jahrhundert belegten Ratsherrn Tadeus Schynnagel in Kaschau und seiner Familie7 in Verbindung zu bringen.

Schinnagel veröffentlichte von etwa 1486 bis etwa 1499 astrologische Druckschriften, sogenannte Almanache und Prognostiken mit Vorhersagen. Das Material ist jetzt bequem in der Datenbank des GW überblickbar. Dort sind auch Digitalisate nachgewiesen.8 Alle drei bekannten Almanache erschienen in Augsburg, die zehn Prognostiken in Ulm (vier Ausgaben), Straßburg und Basel (je zwei) sowie in Leipzig und Wien. Die ältesten erhaltenen Drucke sind ein in Augsburg gedruckter Almanach auf das Jahr 1487 (vermutlich schon 1486 ausgeliefert) und ein in Straßburg gedrucktes Prognostikon auf das gleiche Jahr, in dem er bereits den in Krakau erworbenen Magistertitel trägt: magistri Marci Schinnagel Cracouien.  Beide sind auf Latein verfasst, später schrieb er auch auf Deutsch. Die gereimte Praktik auf 1491, gedruckt von Johann Zainer dem Älteren in Ulm, enthält folgende Autorensignatur:9

Für war den spruch hat gemacht
Gepracticiert vnd auß grund erdacht
Maister marx schinagel ist er genant
Jn schwaben wol erkant
Ain astronomum thu°t er sich nennen
Ain astrologiam gar wol erkennen
Ain arismetricus auch dabey
Mit seinen kunsten ist er frey.

Das in Basel gedruckte Prognostikon auf das Jahr 1491 ist sowohl lateinisch als auch deutsch König Maximilian gewidmet. Die lateinische Vorhersage für 1493 dedizierte Magister Marcus Schinagel de Choschouia Alme Vniuersitatis Cracouiensis astrologus König Albert von Polen. Herzog Albrecht IV. von Bayern erhielt den jüngsten Druck auf das Jahr 1500 gewidmet und zwar sowohl die Basler als auch die Ulmer Ausgabe.

Da die Überlieferungschance für solches Gebrauchsschriftgut eher gering ist, ist davon auszugehen, dass es noch mehr als die jetzt bekannten Drucke gegeben hat.

Noch kaum untersucht wurde die handschriftliche Überlieferung. Kremer nennt in seiner Anmerkung 6 die Handschriften in London, Wolfenbüttel und Krakau, übergeht also die von Zinner nachgewiesene Handschrift W 321 des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (Böhm-Katalog Nr. 639). Weder von Kremer noch im Verfasserlexikon wurde bemerkt, dass Gerhard Benecke 1982 die in der Handschrift Bl. 252r-260r enthaltene deutschsprachige Praktik Schinnagels für 1491, gewidmet Erzherzog Sigismund, komplett in englischer Übersetzung veröffentlicht hatte.10 Benecke schreibt auch die folgende Praktik auf 1492 Bl. 266r-269v Schinnagel zu. Angehängt ist eine Bitte an Erzherzog Sigismund, er möge doch dem Absender für seine Primiz (erste Messe) am 2. Februar (wohl 1492) hundert Gulden übermitteln, damit er sie würdig begehen und seine in Rom gemachten Schulden bezahlen könne. Da der Absender wohl Schinnagel ist, was natürlich zu überprüfen wäre, darf man schließen, dass er ab 1492 Priester war und zuvor Rom besucht hatte.

Nicht näher datiert ist der Wolfenbütteler Cod. Guelf. 21.1 Aug. 4° , den der alte Katalog von Heinemann als mögliches Schinnagel-Autograph anspricht. Schinnagel nennt sich in zwei Texten, darunter ein Horoskop für den bereits genannten Herzog Albrecht von Bayern († 1508).

Um 1500 legte Schinnagel ein astrologisches Handbuch an, das über einen Augsburger Besitzer des 16. Jahrhunderts letztendlich in die British Library gelangte (Add. 34603).11 Einmal nennt er sich darin per me magistrum Marcum Schynagel alme vniuersitatis Crakouiensis tunc temporis plebanus ( sic ) in landtsperg anno 1500. Er war damals also Pfarrer in Landsberg am Lech (das Verfasserlexikon hat: Landberg).

Ob Schninnagel auch für Biblioteka Jagiellońska Krakau Cod. 8, eine lateinische astronomisch-astrologische Handschrift mit einer Prognostik für 1501 für Kardinal Fryderyk12, verantwortlich ist, wird man vorerst bezweifeln dürfen, denn die Auflösung M[arcus] N[icolai] C[assoviensis] b[accalarius] C[racoviensis] A[strologus] ist doch recht kühn, bedenkt man, dass sich Schinnagel sonst immer Magister (manchmal auch Doctor) nannte und seinen aus der Matrikeleintragung 1466 abgeleiteten Familiennamen Nicolai sonst nie führte. Es wurden auch schon andere Auflösungen der Buchstabenfolge vorgeschlagen.13

Bis auf die nicht völlig sicher auf Schinnagel zu beziehenden Krakauer Belege standen bisher ausschließlich Nennungen in seinen gedruckten Schriften und seinen Handschriften (einschließlich des Petershausener Kompendiums von 1489) zur Rekonstruktion seines Lebenswegs zur Verfügung. Sein seelsorgerisches Wirken in Landsberg am Lech und Sulzberg im Allgäu beleuchten zwei Regesten der Regesta Imperii und Einträge im Generalschematismus der Diözese Augsburg.

Am 19. April 1494 nahm König Maximilian in Kempten “den Marcus Schinagel, Pfarrer in Sulzberg, einen berühmten Astronomen (astronomicae scientiae peritia celebrem) als seinen Kaplan auf” (RI XIV,1 n. 574). Am 16. Januar 1498 forderte Maximilian in Innsbruck Bischof “Friedrich von Augsburg auf, den Marx Schinagel, KMs Kaplan, zu furderlichen rechten gegen Balthasar von Schellenberg zu verhelfen, der den Schinagel wider alle Billigkeit beschwere, indem er einige Leute in Schinagels Pfarrhof zu Sultzberg legte, als dieser einen Teil seiner Habe nach Landsberg führen ließ, dessen Pfarre ihm Hg Albrecht von Bayern, KMs Schwager und Rat, vor einiger Zeit verliehen hat” (RI XIV,2 n. 5737). Die Widmung mindestens eines Drucks und die astrologischen Ausarbeitungen für den Bayernherzog haben Schinnagel also wohl die Landsberger Stadtpfarrei eingebracht. Offenbar war er wenigstens zeitweilig gleichzeitig in Sulzberg (etwa zehn Kilometer südlich von Kempten) und in Landsberg bepfründet.

Aufgrund von im Zweiten Weltkrieg vernichteten Akten wurde der Augsburger Generalschematismus erstellt, aus dem das Archiv des Bistums Augsburg freundlicherweise Auskunft erteilte: Gemäß “Moritz Widenmann, Generalschematismus der Diözese Augsburg, Bd. II, S. 447, war ein Markus Schin(n)agel ab 1504 Pfarrer in der Stadtpfarrei Landsberg, leider finden sich keine weiterführenden Hinweise zu ihm. Ab 1507 wird ein Johann Seubelin von Kaufbeuren als Pfarrer gelistet. In der Pfarrei Sulzberg wird von 1493 bis 1533 ein Markus Schmagl als Pfarrer angegeben, weitere Hinweise gibt es leider auch zu ihm nicht, auch er erscheint vor 1493 bzw. nach 1533 nicht mehr im Schematismus (S. 412)”14.

Bald nach der oben für 1492 angesetzten Priesterweihe hat sich Schinnagel nach Sulzberg begeben, wo er 1493 im Schematismus erscheint. Vor 1498 wurde er auch Stadtpfarrer in Landsberg, wo er noch 1504 bezeugt ist. Wenig später scheint er diese Stelle aufgegeben zu haben. Angesichts des angenommenen Geburtsdatums um 1450 möchte ich bei dem Sulzberger Beleg 1533 vorerst ein dickes Fragezeichen machen (Schmagl ist sicher als Schinagl zu lesen). Schinnagel ist also nicht vor 1504 gestorben, vielleicht sogar nicht vor 1533.

Nur weil ich auch auf die Idee kam, nach Marcus Schünagel zu suchen, wurde ich auf einen entlegenen Pariser Beleg aufmerksam. 1496 korrespondierte der Pfarrer von Sulzberg mit Herzog René von Lothringen über astrologisch-politische Konstellationen. Da die schlechte Qualität des Pariser Digitalisats15 nicht zur Lektüre des eigenhändigen Briefs einlädt, überlasse ich die Auswertung dieser Quelle gern der weiteren Forschung.

NACHTRAG 29. April 2014

Die UB Heidelberg hat freundlicherweise ihre Inkunabelfragmente von Werken Schinnagels digitalisiert:

http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00335000_a
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00335000_b
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00335000_c
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00334900

Das sind die Nummern 1621-1624 im Heidelberger Inkunabelkatalog.

Zu einem Aufenthalt Schinnagels in Konstanz um 1490 fand ich nachträglich drei Quellen. Ausgangspunkt war eine Suche nach Schunagel in Google Books, die auf einen Hinweis in der Arbeit von Johannes Häne (1899) über den St. Galler Auflauf 1491 führte (in: Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 26, S. 344 PDF). Die dort zitierte Chronik Rütiners bezieht sich auf das Zeugnis des Hermann Miles, dessen St. Galler Chronik 1902 ediert wurde (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 28, S. 294). Dort steht zu lesen: “Am fritag darnach [6. Mai 1491, KG] must der Schniagel [sic! KG] mit gewalt von Costanz uß haß des gemainen mans; der wais ein kostlicher ostromey und hat lang von des himels lauf gesagt und ouch von diser kelti; darum si mantend, si habens von im”. Der Prophet wurde also auf Druck der einfachen Leute aus Konstanz verjagt, da er für das Eintreten seiner Prophezeiung verantwortlich gemacht wurde. Das bezieht sich wohl auf den Schadenszauber-Vorwurf der Hexenprozesse. Für diese Nachricht konnte das Stadtarchiv Konstanz in seinen Beständen keine Bestätigung finden. Allerdings erscheint ein D. Schmagel (= Dr. Schinagel) 1490 in den Steuerbüchern im Quartier St. Stefan (diese wurden in Zehnjahresschritten ediert: Die Steuerbücher der Stadt Konstanz Bd 2, 1963, S. 72 Nr. 661). Sein Name wurde gestrichen, er steuerte nur 3 Pfennig aus einem Garten.

Hans Rudolf Lavater war so liebenswürdig, mir einige Seiten aus der Ausgabe Johannes Rütiner: Diarium 1529-1539 zu scannen, der an zwei Stellen auf Schinagel zu sprechen kommt (hrsg. von Ernst Gerhard Rüsch, 1996, Textbd. I.2, S. 460f. Nr. 785, S. 697f. Nr. 977). Beidesmal erwähnt er die Vertreibung des Astrologen aus Konstanz, dem er zuverlässige Vorhersagen attestiert.  Doktor Marcus Schunagel habe Laurentius Teusch in St. Gallen besucht und diesen auf den bevorstehenden Konflikt mit den Schweizern (1490) hingewiesen. Unter Berufung auf Hermann Miles berichtet er, dass die Bauern ihn in Konstanz aus der Stadt verlangt hätten, nachdem alle Reben in einer einzigen Nacht durch Frost zugrunde gegangen waren. Schunagel habe als erstes Prognostiken herausgegeben (“primus fuit qui prognosticationes edidit” bzw. an der zweiten Stelle “prognosticationes annales”). An der zweiten Stelle erzählt Rütiner von dem Besuch einiger St. Galler Bürger bei Dr. Marcus Schunagel in Konstanz, damals im Weissagen sehr berühmt (“celeberrimum praesagiendo”). Er sagte den Krieg mit den Eidgenossen (1489/90), den Aufruhr in St. Gallen 1491 und noch anderes voraus. Alles sei eingetreten, wie er es gesagt hatte.

Diese Nachrichten aus dem Bodenseeraum ergänzen die bisherigen Notizen zu Schinnagel auf das trefflichste. Da Schinnagel ihnen zufolge 1489 in Konstanz lebte und aus diesem Jahr sein seit dem 17. Jahrhundert in Petershausen bezeugtes Kompendium stammt, darf man mit größerer Sicherheit als bisher annehmen, dass es in Konstanz entstanden ist und ursprünglich für das Benediktinerkloster Petershausen bestimmt war.

 

 

 

Foto von Dr. Bernd Gross (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons

  1. “Für Baden gerettet” (1995), S. 126f. Nr. 83 mit Abbildungen.
  2. Richard L. Kremer: Marcus Schinnagel’s winged polyptych of 1489 : astronomical computation in a liturgical format. In: Journal for the history of astronomy. Bd. 43 (2012), Nr. 3, S. 321-345.
  3. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 2. Auflage 8 (1992), Sp. 680f. Google.
  4. http://manuscripta.at/?ID=6998 mit Link zum Katalog HANNA. Brévart im Verfasserlexikon  folgt ganz Ernst Zinner: Verzeichnis der astronomischen Handschriften des deutschen Kulturgebietes (1925), S. 494 und nennt die falsche Signatur Cod. 10584.
  5. Kremer Anm. 1.
  6. Iulia Capros: Students from Košice at foreign Universities before and during the reformation period in the town. Dissertation Budapest 2010, S. 238-240 Nr. 111 online mit Wiedergabe der Quellenstellen.
  7. Siehe etwa http://donauschwaben-usa.org/kosice.htm.
  8. Weitere Abbildung: erste Seite der Wiener Prognostik auf 1493 bei Seethaler 1982 S. 795 PDF.
  9. Nach der Abbildung bei Frederick R. Goff: Some undescribed ephemera of the 15th century in the Library of Congress. In: Beiträge zur Inkunabelkunde, 3. Reihe, I (1965), S. 100–102, Abb. 20 Commons. Der Anfang (ebd. Abb. 19): Commons.
  10. Gerhard Benecke: Maximilian I. (1982), S. 164-174.
  11. Katalog.
  12. Vgl. auch Natalia Nowakowska: Church, State and Dynasty in Renaissance Poland [...] (2007), S. 92 Google.
  13. Grażyna Rosińska: Scientific writings and astronomical tables in Cracow (1984), S. 241 online.
  14. Anfragen beim Stadtarchiv Landsberg am Lech, bei der Pfarrei Mariä Himmelfahrt in Landsberg und bei dem Sulzberger Heimatforscher Otto Pritschet blieben leider ohne Ergebnis.
  15. Gedreht: Commons.

Quelle: http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1615

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