“Muss ich das lesen? Ja, das hier schon. Wissenschaftliches Publizieren im Netz und in der Überproduktionskrise”, lautet der Titel des netzkritischen Artikels von Valentin Groebner in der FAZ vom 6. Februar 2013, Seite N 5 (nicht kostenfrei online, den Hinweis verdanke ich
Anton Tantner). Weder das allzu kurze Exposé im
RKB-Blog noch der jetzige FAZ-Beitrag enthalten die recht üblen Sprüche der Vortragsfassung auf der Tagung Rezensieren – Kommentieren – Bloggen. Das Zitat “Blogs vermitteln das Gefühl rastloser Masturbation” ist auf Twitter
dokumentiert. Was Groebner alles gesagt hat, wird man hoffentlich bald nachhören können, wenn die Tagungsvideos bei L.I.S.A online sind.
Groebner, Autor eines Büchleins zur Wissenschaftssprache, spart nicht an flotten Formulierungen (“Das Netz ist eine mythische Fabel, die so oft wiederholt worden ist, dass sie ihre eigene Wirklichkeit geschaffen hat.”, “Dieser weiche warme Hippie-Kitsch wird in den Netzutopien umso unübersehbarer, je enthusiastischer sie sind.”, “Das Netz ist 2013 also ein altes Medium. Es ist die Zukunft von gestern.”). Aber eine schlüssige stringente Argumentation suche ich vergebens.
Groebner kritisiert den selbstzufriedenen Wissenschaftsbetrieb: “Man muss etwas Neues herausfinden; aber gleichzeitig muss man zeigen, dass die Disziplin diese neue Information – die eigene Idee, den eigenen Fund – notwendig braucht, um weitermachen zu können wie bisher. [...] Man darf aber – und jetzt kommt die gute Nachricht – dabei möglichst kurz, möglichst unverschämt und möglichst witzig sein.” Klingt wie eine Beschreibung von
Archivalia, das soeben
10 Jahre alt wurde …
Er macht auf die wissenschaftliche Überproduktion aufmerksam. Knapp sei “nicht Speicherplatz, sondern Lesezeit”. Nach einer wenig überzeugenden Gegenüberstellung von Buchwissen und Netzwissen erwähnt Groebner die Blogs: “Wer sich durch Selbstdarstellungen von Wissenschaftlern auf dem Web klickt, merkt rasch, dass die meisten Blogs und persönlichen Websites sich nach Aufmerksamkeit von außen sehnen.” Das galt freilich immer schon. Jeder der schreibt, will Aufmerksamkeit und ich behaupte, dass Open-Access-Publikationen ungleich mehr Leser haben als jede gedruckte Fachveröffentlichung. Während niemand weiß, wie oft ein Aufsatz in der HZ tatsächlich gelesen wird, kann man bei Schriften auf Dokumentenservern durch Downloadzahlen der PDFs durchaus zu verlässlichen Schätzungen kommen.
Groebner erwähnt Peter Habers Vorhersage, die Kommunikationsstrukturen auf Papier würden in den nächsten Jahren alle verschwinden, und äußert Skepsis. Angesichts der geisteswissenschaftlichen Netzresistenz ist mir “in den nächsten Jahren” in der Tat etwas zu kurz bemessen. Aber man sieht doch jetzt schon an den Naturwissenschaften, wohin die Reise unumkehrbar geht. Das Journal mit den meisten publizierten Beiträgen im Jahr ist das Open-Access-Journal
PLoS One. Es hat einen ausgezeichneten Impact-Faktor und huldigt einem sehr erfolgreichen Peer-Review-Konzept, das nicht auf die Attraktivität von Themen setzt, sondern wissenschaftliche Verlässlichkeit genügen lässt. Die sehr stark auf die Zeitschriftenveröffentlichung fokussierte Wissenschaftskultur der Naturwissenschaften ist jetzt schon weitgehend von Online-Publikationen geprägt.
“In dem Bereich, in dem ich selbst arbeite, der Geschichte des Mittelalters und der Renaissance”, schreibt Groebner, “weiß ich von keiner wissenschaftlichen Idee und von keinem aufregenden Fund, der zuerst auf dem Netz dagewesen wäre und sich wegen seines Erfolgs und wegen positiver feedback-loops dann von dort dann in anderen Medien – wissenschaftliche Zeitschriften und Bücher – durchgesetzt hätte”. Wenn man “aufregend” hinreichend elitär definiert, dann wird man das nicht bestreiten können. Wenn man die Auffindung der ersten hochmittelalterlichen Handschrift der Vita Heriberti des Rupert von Deutz genügen lässt, so kann man etwa darauf verweisen, dass der in Archivalia publizierte Fund im “Deutschen Archiv” 2010
referiert wurde.
Der in Luzern wirkende Historiker Groebner ist durch seine im Feuilleton regelmäßig als brillant gewerteten, überwiegend schmalen
Bücher bekannt geworden. Aber:
“Es sind ja doch nicht alles Meistererzähler”. Man kann die Publikationsflut beklagen, aber wie kann man sie eindämmen, wenn man nicht zugleich die Axt an die hergebrachten Reputationsmechanismen legt, die (gedruckten) Publikationen zuviel Wert beimessen? Wissenschaft ist nicht nur Hochgebirge, wo Groebner und ein paar andere Feuilleton-Lieblinge Zitier-Seilschaften bilden, es ist auch Mittelgebire oder sogar mühevolle Ebene. Das an den Hochschulen so populäre Exzellenz-Gefasel verkennt, dass es in der Wissenschaft nicht nur auf Hochleistungssport, sondern auch auf Breitensport ankommt.
Groebner singt ein Hohelied auf die gedruckten Bücher: “Weil sie eben keine Korrektur-, update- und refresh-Funktion haben, sind sie – wenn sie gut gemacht sind – Ergebnis pur.” Er ignoriert die vielfältigen Bemühungen um die Langzeitarchivierung digitaler Daten, wenn er behauptet: “Das Netz ist kein haltbarer Informationsspeicher, und es hat keine effizienten Filtermechanismen entwickelt”. Gerade Bücher oder Zeitschriftenaufsätze werfen hinsichtlich des Formats (PDF/A gilt als zukunftsfähig) die geringsten Probleme auf. Die Geisteswissenschaften kennen, Groebner sollte das besser wissen, keine dauerhaft in Stein gemeißelten Ergebnisse, der historische Stoff wird immer wieder uminterpretiert, neu gelesen und ausgelegt. Von daher ist sowohl die Konzentration auf den “Autor” (ein Relikt der Genie-Ästhetik des 18. Jahrhunderts) als auf das “gute Buch” (als unübertroffene Kondensierung wertvollen Wissens) lebensfremd.
HochschullehrerInnen, die sich tagtäglich aufreiben, um eine gute Lehre bieten zu können, die von Gremiensitzungen beansprucht werden und auch ab und an ein Privatleben möchten, würden liebend gern ein gutes Buch schreiben. Oft langt es nur für den Aufsatz im Sammelband, dessen Deadline man phantasievoll herauszuzögern gelernt hat. Was wir brauchen ist eine flüssigere Wissenschaft jenseits der gängigen Schubladen der Druckwelt. Es geht nicht nur um meinen
Kult des Fragments, sondern um mutige Experimente hinsichtlich der Präsentationsformen von Wissenschaft. Nicht alles kann kurz, unverschämt und witzig sein wie Groebners Bücher.
Natürlich pendele auch ich in zwei Welten, was kein Wunder ist, da ich mit über 200 gedruckten Publikationen seit 1975 in der durch den Buchdruck bestimmten vordigitalen Kommunikationskultur der Geschichtswissenschaft (und Heimatkunde) sozialisiert wurde. Schreibe ich einen Aufsatz für den Druck, bemerke ich, dass er gegenüber den meisten meiner Blogpostings konzentrierter argumentiert und auch im Formalen weniger schlampig ist. Zugleich ärgere ich mich, dass ich im Druck nicht einfach mit einem Link sofort die Überprüfung meiner Aussagen ermöglichen kann (Quellen und ältere Sekundärliteratur sind oft schon im Netz). Bei meinen Themen und für die Wissenschaftssprache Deutsch gibt es aber kein qualitätsgesichertes E-Journal, dem ich meinen Beitrag alternativ anbieten könnte.
Eine bestimmte Veredelungs- und Reifestufe ist auch unabhängig vom Fetisch “Druck auf Papier”, der Gelehrte der Generation Groebners (er ist 4 Jahre jünger als ich) nach wie vor gefangenhält, realisierbar. Für viele kleine Beiträge bedarf es aber aus meiner Sicht gar keiner solchen Veredelungsstufe. Die meisten der über
140 Forschungsmiszellen in Archivalia können durchaus in ihrer etwas rohen Präsentationsform bestehen bleiben. Entscheidend ist, dass sie die Wissenschaft auf Neufunde aufmerksam machen (und zwar mit Belegen) und dass ich, sobald ich etwas Neues finde oder etwas, was ich übersehen habe, sie sofort aktualisieren kann – eine Möglichkeit, die bei gedruckten Publikationen eher nicht funktioniert. Auch wenn man in der gleichen Zeitschrift einen Nachtrag veröffentlicht, ist die Wahrscheinlichkeit nicht ganz gering, dass dieser übersehen wird. Nur das Netz kann solche nützlichen Verknüpfungen schaffen.
Anders als Theisohns Polemik gegen Open-Access ist Groebners Aufsatz kein
Geschwurbel. Er lässt aber deutlich erkennen, dass sein Autor von seinem Thema, wenn es ums Netz (und vor allem ums Social Web) geht, zu wenig Ahnung hat. Die Rückzugsgefechte der Buch-Fetischisten sollten uns nicht vom Bloggen abhalten.
Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/951