Das richtige Leben, umgeben vom Falschen? Religion zwischen Totalität und Relativierung

Frankreich im Jahr 1537. Zwar sind manche Gegenden noch fast unberührt von evangelischen Gruppierungen und Praktiken.1 Dennoch braut sich etwas zusammen. Flugschriften zirkulieren, vor allem in den Städten.2 Unbekannte Bilderstürmer zerstören in einer Nacht des Jahres 1528 eine Marienstatue in Paris. König Franz I. hält wenige Tages später eine monumentale Resakralisierungs-Prozession ab und stellt eine neue Figur an die Stelle der zerstörten alten.3 Auch in Rouen finden Prozessionen gegen die neue “Häresie” statt.4 Immer wieder tauchen Wanderprediger auf, ziehen die Massen an und polarisieren. Spätestens seit der Plakataffäre 1534 werden die alten Messpraktiken zu einem Unterscheidungsmerkmal für die auseinanderfallenden religiösen Zugehörigkeiten.5 Das religöse Feld in Frankreich pluralisiert sich, der Raum der Möglichkeiten öffnet sich dramatisch und in wiedersprüchliche Richtungen. Natürlich gibt dabei keine der entstehenden Glaubensgruppen ihren exklusiven Wahrheitsanspruch auf. Für sie kann jeweils nur ein Weg, nämlich der ihre, der allein seligmachende sein. Schließlich geht es um das Innerste, das Ewige, die letzte Wahrheit, die Erklärung der Welt… Himmel oder Hölle. Wie sollen sich die Gläubigen also verhalten in einer Welt der religiösen Differenzen? Gibt es ein richtiges Leben, umgeben vom “Falschen”? Wie verändert sich die Religionskultur angesichts der beginnenden Pluralität – totale Verhärtung oder Relativierung? Eine Flugschriften des [...]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/806

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Macht Großstadtluft die besseren Wissenschaftler? Eine Standpunkt

Der Streit ist alt und bis heute nicht gelöst. Welches Umfeld eignet sich besser zur geistigen Arbeit und ermöglicht in der Folge die interessanteren, innovativeren und nützlicheren Textprodukte? Die Auseinandersetzung geht zurück bis in das frühe Christentum, die Antworten waren unterschiedlich und zeigen dennoch einen Trend in der longue durée. Meine These: Stadtluft macht frei. Aber Großstadtluft macht heute die besseren sozial- und geisteswissenschaftlichen Arbeiter bzw. Arbeiten. Um es gleich vorwegzunehmen: natürlich ist das Folgende verallgemeinernd. Natürlich ist es kontinentaleuropäisch. Und natürlich ist alles auch eine Frage der Persönlichkeit. Das sollte jedoch nicht von einigen Überlegungen abhalten. Ein historischer Abriss zeigt die allmähliche Verstädterung der Geistesarbeit. Während in der Spätantike Wissen vor allem in den großen Städten des Mittelmeerraums stattfindet, endet die Urbanität und der Glanz von Bildung mit dem Zusammenbruch des Imperium Romanum. Im christlichen Frühmittelalter verlagern sich Wissen und Nachdenken meist in Klöster – und die befinden sich vielfach auf dem Land. Der Raum des intellektuell Möglichen wird zudem eingeengt auf christliche Elementarien. Der gedankliche Horizont endet am Klosterzaun. Dahinter wird Wissen vor allem bewahrt, aber nur selten produziert und mit der Außenwelt geteilt. Im engen Kloster, in einer kleinen Gruppe und in ländlichen Regionen wird das Eigene [...]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/711

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Die Gefahr hinter dem Rücken der Priester

  Priester genießen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit eine herausragende religiöse und soziale Stellung. Sie sind (im Katholizismus und der spätmittelalterlichen Kirche) Vermittler zwischen Gott und den Menschen sowie, durch die Ausgabe der Sakramente, Vermittler des ewigen Heils. Sie bilden, im Protestantismus, Pastorendynastien und einen Autoritätspunkt der Dorfgemeinschaft. Ihr Handeln berührt das Heiligste. Und doch ist die Stellung der Priester prekär, besonders in turbulenten Zeiten wie der frühen Reformation. Pfarrer wurden bis weit ins 16. Jahrhundert hinein oft aus handwerklich-bäuerlichen Schichten rekrutiert und waren in ihrer Lebensweise vom Rest des Dorfes nur zu unterscheiden, wenn sie sakrale Praktiken durchführten. Das ist besonders bei der Eucharistiefeier der Fall, aber auch bei anderen sakramentalen und liturgischen Vorgängen. Während die Priester diese Praktiken ausüben, wenden sie dem gemeinen Volk oft den Rücken zu. Sie widmen sich ganz der religiösen Handlung sowie dem heiligen oder zu heiligenden Objekt. Im Moment des Abwendens gewinnen Priester ihre soziale und sakrale Statur. Die Praktik, der Handelnde und das Objekt müssen von allen Teilnehmer/innen des Kultes als besonders “heilig” anerkannt werden. Denn wenn Kleriker dem Volk den Rücken zuwenden, verlieren sie den Überblick und die Kontrollmöglichkeit über die “untergeordneten” Teilnehmer/innen. Sie sind darauf angewiesen, dass die Religionskultur sich in diesem Augenblick selbst trägt. Andernfalls wären Verwerfungen in der Religionskultur und dem gesellschaftlichen status quo die Folge. Und genau das passiert in der frühen Reformationszeit.   Reale Präsenz Christi? Messe des Hl. Gregor im Beisein der Georgsbruderschaft-Mitglieder. Pieter Jansz Pourbus, 1559. (Martens, Maximilian P. J. (Hg.): Bruges and the Renaissance. Memling to Pourbus, Ausstellungskatalog, Ludion 1998, 204.) Ausgerechnet im bayerischen Altötting lässt sich das anhand eines Falls aus dem Jahr 1523 gut beobachten. In dem berühmten und viel frequentierten Marienwallfahrtsort hört der Rentmeister von Burghausen während einer Untersuchungsreise von skandalösen Vorkommnissen. Darüber hat er am 20.8.1523 einen kurzen Bericht an Bayernherzog Wilhelm IV. verfasst.1 Während seines Aufenthalts wurde dem Rentmeister in Altötting ein Mann angezeigt. Zwei Taten dieses Mannes, der wie der/die Anzeiger nicht namentlich genannt wird, werden in dem Bericht nach München erwähnt. Erstens habe der Mann öffentlich gegen die Wundertätigkeit Marias gesprochen. Die Gebete und Hilfegesuche nützten nichts, habe er gesagt. Die Brisanz und die sozial-kulturelle Sprengraft hinter diesem Diskurs werden verständlich, wenn man sich die religiöse und auch ökonomische Rolle von Marienpraktiken und -mobilität in Altötting um 1500 vor Augen hält. Viel schwerer wiegt aber das Handeln des Manns während einer Seelenmesse in der Altöttinger Pfarrkirche. Im Bericht des Rentmeisters heißt es: “Vener hat ain brister in der pfarkirchen im selambt gesungen. Also er sich vor dem Alltar umbkert unnd fur all glaubig selen gepet, hat diser burger gegen seinen mit burger, einen so neben sein gestannden, gered: Sich an den Narn, was dreibt er fur kleifft [in etwa "dummes Zeug", M.M.]. Es ist pueberey [Betrügerei, M.M.], kumbt den sellen nit zu hilf. Mit den unnd dergestallt worden sich grob gehallten.”2 Der Mann verleiht seiner Kritik, sicher nicht zufällig, während einer Seelenmesse Ausdruck. Seelenmessen waren um 1500 ein inflationärer Bestandteil der Zeit- und Totenkultur, ein Aspekt der religion flamboyante (Jacques Chiffoleau). Durch das Lesen einer oft großen Anzahl von Messen sollte die Zeit der verstorbenen, sündigen Seelen im Fegefeuer verkürzt werden. Die Messpraktik bildete also auch eine Art zeitlich-vertikale Kommunikations- und Affektlinie zwischen Lebenden und Toten. Diese Totenkultur lehnen Evangelische seit den 1520er Jahren zunehmend ab. Reformatorische Theologen sehen den Weg zum Heil in Glaube und Gnade, der Mensch ist dabei machtlos. Sie und immer mehr ihrer Anhänger verwerfen das Fegefeuer. In diesem Umfeld entstehen distinktiv evangelische Totenkulturen mit anderen Wissensordnungen und Praktiken, die klare Unterschiede zwischen den späteren Konfessionen entwickeln sollten.3Die ablehnende Sinnzuschreibung zur alten, nun altgläubigen Seelenmesse und der Kultur, in der diese praktiziert wird und die diese repräsentiert, drückt der Anonymus in Altötting aus durch Spott (der Pfarrer als Narr und Betrüger) und eine evangelische Deutung (Messen nützen den Seelen nicht). Wichtig ist der exakte Augenblick, zu dem der Mann diese Aspekte evangelischer Religionskultur in Worte fasst. Es ist der Moment, in dem sich der Priester zum Altar hin umdreht, um für alle gläubigen Seelen (auch die der Anwesenden) zu bitten. Er steht mit dem Rücken zum Volk, wie üblich während der Messliturgie. Nun sollte der oben skizzierte, sozial-religiöse Sakralitäts-Automatismus Umdrehen-Praktik-Objekt greifen. Doch der funktionniert eben nur in einer weitestgehend homogenen Religionskultur. Darin müssten die Messbesucher/innen zumindest äußerlich den Praktiken, Objekten und der Rolle des handelnden Priesters die gleiche Deutung und die gleiche Wirkung zuschreiben. Das Kultursystem müsste so internalisiert sein, dass es sich selbst trägt. Da schert der Anonymus in Altötting aus. Er greift die Praktik, den Zelebranden und die hinter diesen stehende, theologisch-kulturelle Wissensordnung an. Dabei verspottet er zudem die Person des “närrischen” Priesters. Der sakrale Zusammenhang wankt oder gerät in Gefahr – leider kennen wir die Reaktionen der übrigen Messbesucher nicht. Der Mann repräsentiert in dem für die altgläubig-spätmittelalterliche Religionskultur entscheidenden Moment seine in dieser Situation distinktive religiöse Zugehörigkeit und Wissenskultur. “Christus vera lux” – Seelenmessen sind in der lutherischen Totenkultur überflüssig und repräsentieren vielmehr die “andere” Seite. Holzschnitt von Hans Holbein, 1526. (Wikimedia Commons) Dies geschieht in sozialer Interaktion. Der Mann ruft die Worte nicht einfach in die Kirche, sondern sagt sie gezielt seinem Nachbarn, dessen Reaktion leider auch nicht bekannt ist. Da die Worte beim Rentmeister angezeigt werden, ist es sehr wahrscheinlich, dass es in Altötting Einzelne oder Gruppen gibt, die gegen das religiöse Wissen, die situative Differenz und deren öffentliche Manifestierung sind. Merkmale und Momente entstehender, noch sehr an einzelne Situationen gebundener, distinktiver Zugehörigkeiten, werden offenbar und sicher auch verstärkt. Dass der Bruch aber nur in Berührung, Verbindung und direkter Auseinandersetzung mit dem “Anderen” möglich ist, wird ebenso deutlich. Es gibt kein erkennbares “Eigenes” ohne das oder die “Anderen”. Dieser Prozess der ständigen, distinktiven Konstruktion und Aktualisierung – ein langsamer, diskontinuierlicher Prozess – ist typisch für die westeuropäischen Religionskulturen des 16. Jahrhunderts. In den 1520er und 1530er Jahren finden sich erste Merkmale, die von immer mehr Zeitgenossen als bezogen auf distinktive religiöse und somit soziale Zugehörigkeiten gedeutet werden. Mehr als ungewisse Ansätze lassen sich jedoch noch nicht beobachten. Sinnvollerweise ist zu diesem Zeitpunkt also von einer zusätzlichen und in bestimmten, praktischen und kulturellen Momenten distinktiv verstärkten Heterogenität der Religionskulturen zu sprechen. Hölzerne Christusfigur auf dem Esel, repräsentiert den Einzug in Jerusalem. (Das Schweizerische Landesmuseum 1898-1948. Kunst, Handwerk und Geschichte. Zürich 1948, Abb. 32.) Angriffe auf den Preister, wenn er den Rücken bei einer liturigsichen Handlung dem Volk zudreht und darauf angewisen ist, dass sich die soziale und religiöse Kultur selbst trägt, sind zudem keine Seltenheit. Über Messstörungen wird häufig berichtet, viel öfter noch über Predigtstörungen. Gefahr hinter dem Rücken der Priester droht auch bei liturigischen Handlungen am Palmsonntag. Vielfach war es vor der Reformation Brauch, an diesem Tag mit einer großen Prozession einen hölzernen Esel, auf dem eine Christusfigur reitet, in die Kirche zu schieben. Das Volk, das die Prozession begleitete oder am Wegesrand stand, schlug zu bestimmten Augenblicken mit Palmbuschen auf den Esel ein. Die Buschen erhielten dadurch eine sakramentale Funktion, nicht zuletzt deretwegen dieses Rollenspiel von den Reformatoren kritisiert und zusehends aus der evangelischen Kultur verdrängt wurde. So kommt es bei einer Palmsonntagsprozession im schweizerischen Dorf Sommeri am Bodensee zu einem Zwischenfall. Die mehrheitlich evangelischen Bewohner/innen warten den Moment der Prozession ab, in dem der (altgläubige) Pfarrer sich vor dem Esel niederlegt und die Figurenkombination anbetet. Dann schlagen sie auf den Pfarrer ein, nicht nur mit ihren Palmbuschen.4 Der Moment ist aus evangelischer Perspektive perfekt gewählt. Der Pfarrer wendet sich von der Gemeinde ab und begeht die “abgöttische” Praktik mit dem “götzenhaften” Objekt. In diesem Moment werden die Risse in der religiösen Kultur und dem sozialen Gefüge sichtbar. Wenn also in den 1520er Jahren der Priester dem Volk bei liturgischen Handlungen den Rücken zudreht, droht Gefahr: Ihm und der Religionskultur, in der er seine alten und nun altgläubigen Praktiken vollzieht. Der momentane Kontrollverlust ist ein Test dafür, ob die Religionskultur und die soziale Trennung Klerus-Laien von den Letzteren internalisiert und akezptiert ist. Devianzen, andere Kulturen, Wissensordnungen und Praktiken können hinter dem Rücken der Priester besonders gezielt und effektvoll ausgedrückt werden. Unterschiede werden sichtbar und verstärkt. Der anonyme Mann aus Altötting übrigens versuchte sich beim Verhör durch den Rentmeister mehr schlecht als recht herauszureden. Das Lavieren nutzte ihm nichts. Er wurde bis zu einer Entscheidung des Bayernherzogs vom zuständigen Hauptmann eingekerkert.
  1.  Hauptstaatsarchiv München, Kurbayern Äußeres Archiv, 4246, fol. 5r-6v.
  2. Ibid, fol. 5r-5v.
  3.  Siehe die aktuellen Forschungen zum konfessionellen Konflikt um Begräbnisstätten im 16. und 17. Jahrhundert: Luria, Keith P.: Les frontières du sacré, in: Chrétiens et Sociétés 15 (2008); Karant-Nunn, Susan C.: The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern Germany (Christianity and Society in the Modern World), London/New York 1997, 133-182; Koslofsky, Craig: ‘Pest’ – ‘Gift’ – ‘Ketzerei’. Konkurrierende Konzepte von Gemeinschaft und die Verlegung der Friedhöfe (Leipzig 1536), in: Jussen, Bernhard/Ders. (Hg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch, 1400-1600 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), Göttingen 1999, 193-208; Brademann, Jan/Freitag, Werner (Hg.): Leben bei den Toten. Kirchhöfe in den ländlichen Gesellschaften der Vormoderne (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 19), Münster 2007. Aktuell zu Sterbekulturen in der Frühen Neuzeit vgl. Thiessen, Hillard von: Das Sterbebett als normative Schwelle. Der Mensch in der Frühen Neuzeit zwischen irdischer Normenkonkurrenz und göttlichem Gericht, in: HZ 295 (2012), 625-659.
  4.  Burg, Christian von: “Das bildt vnsers Herren ab dem esel geschlagen”. Der Palmesel in den Riten der Zerstörung, in: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, hg. v. Peter Blickle (HZ Beihefte 33), München 2002, 117-141, hier 133.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/518

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Historischer Methodenstreit? Anthropologie vs. Sozialer Raum

Moderne Historiker/innen arbeiten vielfach mit Methoden der Soziologie und der Anthropologie – gerne auch mit beiden. Doch was passiert, wenn grundlegende Ansätze der Nachbarfächer eigentlich unvereinbar sind? So verhält es sich mit dem soziologischen Konzept des Sozialen Raums (Bourdieu) und grundsätzlichen Ausrichtungen der Anthropologie. Beide stehen für unterschiedliche Zugriffe, Beschreibungs- und Darstellungsebenen. Worin genau besteht der Unterschied zwischen den beiden Methoden? Und muss daraus ein Methodenstreit entstehen – oder gibt es einen dritten Weg der methodischen Integration?


Wie (un-)vereinbar sind Anthropologie und Sozialer Raum?

Ein rein anthropologischer Ansatz würde etwa für mein Dissertationsprojekt zu den altgläubigen Zugehörigkeiten und Kulturen bedeuten, dass ich mich zwischen meinen Quellen und Artefakten gleichsam wie ein Ethnologe bewege. Ich würde die Praktiken, Kommunikationsarten, sozialen Distinktionen, Deutungen und Selbstwahrnehmungen von innen heraus, aus der Perspektive der untersuchten Akteure nachvollziehen. Der Zugriff erfolgte im Rahmen von Mikrostudien speziell auf eine soziale Entität oder deren paradigmatische Figuren. Von den dort gemachten Beobachtungen – es geht der Anthropologie vielfach weniger um zeitlich diachrone Kausalitäten und Ereignisketten, sondern um Nachvollziehung und Beschreibung – wird bei dieser Methode vielfach auf allgemeine menschliche Verhaltenskonstanten und Strukturen geschlossen, die das situativ erfasste Handeln determinieren. Gerade die synchrone Arbeitsweise und die mitunter etwas rasche Ausweitung der Beobachtung auf generelle menschliche Verhaltensweisen dürfte für Historiker/innen problematisch sein.[1] Denn sie sind naturgemäß auf Quellen aus der Vergangenheit angewiesen, haben also keinen “unverfälschten” Zugriff auf Kulturen. Allerdings kennen auch Ethnologen dieses Problem, so Robert Scribner. “The mere presence of an observer changes the situation he or she intends to observe, indeed, the ethnologist may well find that what he or she observes is merely the natives observing him or her, so that access to any ‘native point of view’ is virtually impossible.”[2]

Einen bei genauer Betrachtung sehr verschiedenen Zugang zum Sozialen verkörpern Theorie und Methode zur Erfassung des Sozialen Raums, bekanntlich maßgeblich entwickelt von Pierre Bourdieu und der Schule der kritischen Soziologie. Wenden Historiker/innen diese Herangehensweise an, vollziehen sie nicht neutral “von innen”, also aus der Kultur der Studierten selbst heraus, nach. Vielmehr ordnen sie; zeigen, was die Protagonisten selbst nicht sehen; weisen Plätze zu. Entlang von distinktiven Praktiken, Verhaltensweisen, familiärer Herkunft und ökonomischem Kapitel setzt der Forscher die studierten Gruppen oder Personen auf verschiedene Positionen im  Sozialen Raum, der einen Gesamtüberblick “von oben” auf die Konfiguration der Gesamtgesellschaft ermöglichen soll. Dass die studierten Akteure sich selbst, ihr Tun oder andere Gruppen ganz anders oder manches gar nicht wahrnehmen, stört dabei nicht. Denn es ist der Historiker-Soziologe, der dekonstruiert und (be-)urteilt. Er lüftet den Vorhang für den Blick auf das, was die Gesellschaft im Innersten zusammen hält… und trennt. Gerade das wurde in den 1990er Jahren von Soziolog/innen wie Luc Boltanski und aktuell vom Anthropologen Didier Fassin kritisiert.[3] Doch Überblicke und Generalisierungen – kurz, das kritische Moment – sind ein zentraler Bestandteil von sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalysen. Ohne einen nicht an die Perspektiven der Akteure gebundenen Blick “von oben” ließe sich kein Konflikt mehr darstellen, geschweige denn zusammenfassen. Zudem gibt es ja unzweifelhaft verschiedene sozial-kulturelle Zugehörigkeiten, die von den Akteuren als solche bewusst oder unbewusst erkannt und ausgedrückt werden. Es gibt, möchte man sagen, vielleicht keinen Sozialen Raum. Sehr wohl aber Soziale Räume.

Bürger drängen in die Kathedrale von Bourges. Drinnen feiert der Bischof eine Messe – Kulturformen und soziale Praktiken, die dem Historiker nur auf Umwegen zugänglich sind. Doch wie soll man auf sie zugreifen? (Bild: Henfflin-Werkstatt, um 1470)

Bleibt für das theoretisch-methodische Gerüst einer historischen Studie also getrennt, was prinzipiell unvereinbar scheint? Nein, wenn man beide Ansätze ausgleichend kombiniert und integriert. Der Mehrwert aus der praktischen Vereinigung übersteigt meiner Ansicht nach die letztlich unüberwindlichen theoretischen Antagonismen. Mehrere Ansatzpunkte sind hier denkbar, auf einige greife ich auch in meiner Dissertation zurück.

1. Ich sehe mich grunsätzlich einer auf das Soziale gerichteten, konstruktivitischen Kulturwissenschaft und historischen Anthropologie verpflichtet. Es geht mir um den Nachvollzug von innen und unten, um Praktiken, Sinngebungsprozesse und soziale Konfigurationen. Interessant ist für mich die Beschreibung der Aktualisierung altgläubiger Kulturen aus deren Kultursystem selbst heraus. Das bedingt die von Didier Fassin für anthropologisch-soziale Studien geforderte Aussetzung des Urteils (“suspension du jugement”). Ich setze also beim inneren Nachvollzug einer Teilgruppe im fiktiven Sozialen Raum an, natürlich im Bewusstsein um dessen Vielschichtigkeit und Komplexität.

2. Gerade diese Komplexität des Sozialen verdeutlicht, dass sich etwas Eigenes nicht bildet, menschliche Kultur nicht funktionniert, ohne Alterität. Es gibt keine abgeschottete, “reine” Kultur, die man ohne ihre inneren und äußeren Auseinandersetzungen und Abgrenzungen in Bezug auf “die Anderen” im Sozialen Raum untersuchen könnte. Die Fixierung auf nur eine Gruppe, ohne die distinktiv-heterogene Dimension des Sozialen zu berücksichtigen, ist eine Sackgasse. Deshalb versuche ich zudem, den Blick der von mir untersuchten Altgläubigen auf das langsam und situativ konstruierte Andere zu untersuchen. Gleichzeitig ist das sozial-kulturelle Handeln von Altgläubigen aus der Perspektive der “Anderen” (etwa bei reformatorischen Visitationen) oder von “Dritten” (etwa bei Verhören zweier streitender Gruppen) zu untersuchen. Denn ein Merkmal des Eigenen ist es, dass es vielfach so internalisiert ist, dass es “normal” wird. Das Eigene sagt man nicht – außer im Moment der Auseinandersetzung. So verrät auch der Blick der Anderen etwas über kulturelle Eigenheiten der studierten Gruppe. Bei einem rein nachvollziehend-anthropologischen Ansatz würden diese Erkenntismöglichkeiten wegfallen.

3. So sollte die Methode des Vergleichs besondere Beachtung finden. Dies kann der Vergleich zwischen den Wahrnehmungen oder Praktiken verschiedener, jeweils allein aus sich selbst (also anthropologisch) nachvollzogener Gruppen sein. Dies kann durch den gekreuzten Blick der “Anderen” auf das “Eigene” entstehen. So lässt sich zumindest ansatzweise auf die nachvollziehende Rekonstruktion der Sozialen Räume in den verschiedensten Wahrnehmungen, Deutungen, Überlagerugnen und Wiedersprüchen hoffen. Das Soziale ließe sich dann nur noch im Plural schreiben.

4. Nicht nur auf die Wiedersprüche und Abgrenzungen bei der Aktualisierung und Disktinktion verschiedener Kulturen ist Wert zu legen, sondern auch auf Formen und Folgen von Interaktion und gegenseitiger Beeinflussung. Diese müssen nicht immer “freundschaftlich” oder bewusst kooperativ erfolgen, sondern entstehen auch in der Ablehnung oder dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher sozialer, ökonomischer oder geographischer Kulturformen. Schließlich entsteht auch Distinktion in der Interaktion. Solche Ansätze verfolgt seit gut zehn Jahren die histoire croisée (Michael Werner). So können etwa in Gesellschaften Kämpfe um Denominiationen oder Begriffsbildungen für Ereignisse, Gruppen, Devianzen usw. dargestellt werden. Daraus könnte sich eine an das soziale gebundene, aus dem Sozilen entstehende und das Soziale bzw. Distinktive gleichzeitig schaffende Repräsentationengeschichte ergeben.[4]

5. Die Zugriffsebene ist in meinen Forschungen die Mikroebene. Ich untersuche Konflikte, Spannungen, Praktiken und Begriffskonstruktionen entlang von präzisen Fällen, Auseinandersetzungen und Fragen in einem klar abgesteckten geographischen Rahmen. Gerade im Reich kann “Mikroebene” freilich nicht bedeuten, nur die lokalen Bezüge zu untersuchen. Dazu sind zu schnell und zu oft zu viele Akteure unterschiedlicher herrschaftlicher, hierarchischer oder rechtlicher Ebenen involviert. Microstoria bedeutet heute die Bezogenheit auf einen Fall oder eine Auseinandersetzung. Gerade für die Lösung des hier beschriebenen Methodenstreits hat Didier Fassien den Bezug auf enjeux vorgeschlagen.[5]

Letztlich ergibt sich bei der durchaus möglichen Verbindung von Anthropologie und Sozialem Raum ein Blick auf die Kulturen des Sozialen und das Soziale der Kulturen, wie sie eben sind: vielfältig, wiedersprüchlich und veränderbar. Die Verirrtheit in Komplexität, das ständige Suchen und (vergebliche) Festhalten am Bekannten sind somit wohl eine der wenigen Konstanten der Menschheitsgeschichte.

 

[1] Historiker/innen bleiben letztlich nach dem Ende der Strukturgeschichte bei Fällen, die sie diachron und kontextuell einordnen, ohne sich wirklich von diesen Einzelfällen zu entfernen. Über das Verhältnis und die Unterschiede zwischen Geschichtswissenschaft und Anthropologie vgl. Bensa, Alban: “Anthropologie et histoire”, in: Delacroix, Christian u.a. (Hg.), Historiographies. Concepts et débats, Bd. 1 (Folio histoire inédit), Paris 2010, 42-53.

[2] Scribner, Robert: “Historical Anthropology of Early Modern Europe”, in: Ders./Hsia, Ronnie Po-Chia (Hg.), Problems in the Historical Anthropology of Early Modern Europe (Wolfenbütteler Forschungen 78), Wiesbaden 1997, 11-34, hier 31.

[3] “Donner à comprendre signifie-t-il pour autant se placer dans une position surplombant d’où le savant verrait ce que les autres ne discernent pas et révélerait ce qu’ils se dissimulent à eux-mêmes?” Fassin, Didier: “Sur le seuil de la caverne. L’anthropologie comme pratique critique”, in: Haag, Pascale/Lemieux, Cyril (hg.), Faire des sciences sociales. Bd. 1, Critiquer, Paris 2012, 263-287, hier 270.

[4] Vgl. dazu Cavaillé, Jean-Pierre: Pour un usage critique des catégories en histoire, in: Faire des sciences sociales. Bd. 1, Critiquer, hg. v. Haag, Pascale/Lemieux, Cyril, Paris 2012, 121-147.

[5] Fassin, Anthropologie, 284-285.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/465

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Ein französisch-amerikanisches Gespräch über die Begeisterung für Geschichte

Die kanadisch-US-amerikanische Historikerin Natalie Zemon Davis hat im Jahr 2010, gemeinsam mit dem Franzosen Denis Crouzet, ein Gesprächsbuch veröffentlicht (Natalie Zemon Davis. A Passion for History. Conversations with Denis Crouzet, hg. v. Michael Wolfe (Early modern studies 4), Kirksville 2010). Herausgekommen ist eine Unterhaltung über das Leben, Politik und wie beides bei einer großartigen Historikerin die Arbeit als Wissenschaftlerin prägte.


Natalie Zemon Davis. (Quelle: http://www.magazine.utoronto.ca/new/wp-content/uploads/2010/06/loc_social_historian_480.jpg)

Davis, geboren 1928 in Detroit in einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus, ist eine der innovativsten Forscher/innen über das frühneuzeitliche Frankreich. Seit ihrer Emeritierung in Princeton ist sie an der Universität Toronto tätig. Während ihrer Karriere lehrte sie unter anderem in Yale, Berkeley, Oxford und an der EHESS Paris. Davis arbeitet zur Religions-, Frauen- und Sozialgeschichte Frankreichs, v.a. im 16. Jahrhundert. Bis heute unumgänglich – auch für mich in meiner Dissertation – ist ihr Aufsatz zur rituellen und sozial konstruierten Dimension der Gewalt in den französischen Religionskriegen (The Rites of Violence, in: Past and Present 59, 1973, 51-91)

Denis Crouzet, der in A Passion for History die Rolle des Interviewers, aber auch des kongenialen Vergleichers und Anreicherers übernimmt, wurde 1953 in Paris geboren. Heute lehrt er an der Université Paris IV-Sorbonne. Crouzet veränderte in den 1980er und 1990er Jahren den Blick der Wissenschaft auf die französische Reformation und die Religionskriege. Eschatologische Erwartungen (bzw. deren Abbau), religiöse Gewalt und konzeptuell-anthropologische Dimensionen der Reformation sind sein Thema. All das vereinigte Crouzet besonders detailliert in einer 1990 erschienenen, zweibändigen Monographie (zurückgehend auf seine Dissertation): Les Guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion (vers 1525-vers 1610).

Denis Crouzet. (Quelle: http://newsletter.paris-sorbonne.fr/local/cache-vignettes/L120xH180/D._Crouzet-b5231.jpg)

Das Gesprächsbuch geht zurück auf eine Reihe von Treffen im Jahr 2003. Natalie Zemon Davis ist seit Jahren eine begehrte Gesprächspartnerin auch außerhalb der Historikerzunft. Ihr Leben lädt zu spannenden Berichten ein. Davis’ Herkunft aus der jüdischen Kultur, ihr linkes politisches Engagement in den Hexen jagenden USA zu Beginn der 1950er Jahre (ihr Mann musste für ein halbes Jahr ins Gefängnis, die Konsequenz war ein längeres “Exil” in Toronto) und ihre Beziehung zu Frankreich bieten Gesprächsstoff genug. Besonders spannend ist dabei, wie sich diese persönlichen, beruflichen und politischen Lebenserfahrungen auf ihre Arbeit als Historikerin ausgewirkt haben. Immerhin hat Natalie Zemon Davis mit ihrem sozial- und kulturgeschichtlichen Ansatz die Frühneuzeitforschung bis heute geprägt. Davon zeugt u.a. ein jüngst veröffentlichter Sammelband, der sich mit ihren Thesen aus heutiger Forschersicht auseinandersetzt (Grame Murdock/Penny Roberts/Andrew Spicer (Hg.): Ritual and Violence. Natalie Zemon Davis and Early Modern France (Past and Present Supplement, 7), Oxford 2012).

Diesen Fragen geht Crouzet mit klugen Fragen nach, besonders auf der Suche nach der Verbindung von persönlicher Lebenserfahrung und Wissenschaft. Das ergibt auf schlanken 218 Seiten einen Parforceritt durch das amerikanische Judentum des 20. Jahrhunderts, das Aufkommen der gender studies und der Neuen Kulturgeschichte, Frankreich, politische Hoffnungen und Enttäuschungen und die Verbindung der Geschichte mit dem hier und jetzt. Es geht um Fragen der menschlichen Anthropologie, nach vielleiecht grundsätzlichen Veranlagungen, nach sozialen Dynamiken und den Kämpfen der politisch oder sozial Randständigen. Freilich wird auch die heutige politische und kulturelle Situation, besonders in den USA, in den Blick genommen.

Natalie Zemon Davis erzählt über die Geschichte, ihre Geschichte des 20. Jahrhunderts und die Geschichtswissenschaft darin. Ein spannendes Buch über ein Leben in und mit der Geschichte und wie beide die Blicke aufeinander prägen und verändern. Unbedingt zu empfehlen – ein intelligenter, kurzweiliger und politischer Schmöker.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/442

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“Faire des sciences sociales”. Was Historiker daraus machen können

Was sind, wo sind und wie sind die Sozialwissenschaften in den humanities zu Beginn der 10er Jahre? Dazu liefert ein ambitioniertes Publikationsprojekt der Ecole des hautes études en sciences sociales Paris nun einen wirklich empfehlenswerten, umfassenden, kontroversen und pointierten Blick. In drei Bänden erschien im November 2012 “Faire des sciences sociales” in den éditions EHESS – sozial- und kulturwissenschaftlich arbeitende Historiker/innen sollten sie kennen.


Die drei Bände von “Faire des sciences sociales”.
Quelle: http://lettre.ehess.fr/4525

Die Reihe beinhaltet drei Bände, die es – wie im Bild – auch zum günstigen Gesamtpreis von 45 Euro in einer Box gibt. Diese befassen sich mit (1) “Critiquer” (2) “Comparer” und (3) “Généraliser” als den drei Hauptaufgaben der Sozialwissenschaften. In jedem Band nehmen Autor/innen aus den verschiedensten Fakultäten der EHESS zu dem Hauptthema Stellung, meist unter Bezugnahme auf das eigene Forschungsgebiet. Doch sind die Beiträge bewusst so allgemein gehalten, dass alle aus den humanities von der Lektüre profitieren.

Die Bände reflektieren natürlich besonders die Sozialwissenschaften der EHESS nach dem “cultural turn” der 1990er Jahre. Während in Deutschland und der Schweiz das Soziale häufig noch gegen das Kulturelle gestellt wird, bilden beide in Frankreich eine selbstverständliche, produktive Einheit. Schon Roger Chartier sprach vor fast 25 Jahren von einer Wende von der histoire sociale du culturel hin zur histoire culturelle du social. Wenn ich mein Dissertationsthema in Deutschland vorstelle, spreche ich (eigentlich gegen meine Überzeugung) von einer “Kulturgeschichte der Altgläubigen”, in Frankreich von einer “Sozialgeschichte”.

Für Historiker/innen halten die drei Bände eine Menge spannender, interessanter und anregender Einsichten bereit. In Band eins (“Critiquer“) befasst sich etwa Jean-Pierre Cavaillé mit der seit Hegel aktuellen Frage, ob Historiker/innen das, was sie an sozialen, politischen und kulturellen Zusammenhängen vor Augen haben, zur Beschreibung und gedanklich-diskursiven Fixierung in Kategorien packen dürfen. Didier Fassin stellt die Anthropologie – eine der methodisch-theoretischen Implusgeberinnen moderner Sozialwissenschaften – als eine “pratique critique” dar. Auch Gesellschaftskritisches bleibt nicht aus. David Martimort kritisiert und dekonsturiert die Expertengesellschaft des 21. Jahrhunderts.

Band zwei (“Comparer“) befasst sich mit dem sozialwissenschaftlichen Vergleich. Ein Ausschnitt: Mir fällt natürlich gleich der Beitrag von Bruno Karsenti auf, in dem er (nach langer Zeit erstmals wieder) einen strukturalistischen Ansatz für die Religionssoziologie diskutiert. Frédéric Joulian fragt danach, ob und wie man das nicht-Vergleichbare vergleichen kann. Welcher Historiker stand noch nicht vor diesem Problem?

Band drei (“Généraliser“) fragt nach den (möglichen-unmöglichen) Generalisierungen. Auch dieser Teil ist für Historiker/innen höchst interessant, denn besonders in Deutschland gehört die zusammenfassend-einordnende Konzeptbildung schon in das Schlusswort der ersten Hausarbeit. Die Beiträge befassen sich u.a. mit dem methodischen Weg von der Einzahl zum repräsentativen Allgemeinen. Anregend ist auch der Beitrag von Michel de Fornel: das Undefinierte generalisieren. Oder aber das Kulturübergreifende generalisieren, wie bei Jocelyne Dakhlia (Europa und der Islam im Kontakt im frühneuzeitlichen Mittelmeer).

Ich bin jedenfalls sehr angetan von der ersten Lektüre. Deutschland sollte die drei Bändchen aus Frankreich entdecken! Man muss (und soll auch nicht) alle Positionen und Methoden daraus teilen oder gar anwenden. Die Lektüre ist aber auf jeden Fall ein Gewinn und ein Gedankenbeschleuniger – und sei es nur beim Schmökern.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/415

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Rolle vorwärts. Warum Mikrofilme endlich aus den Archiven verschwinden müssen

Viel zu lange und trotz guter Alternativen haben Historikerinnen und Historiker geschwiegen. Doch jetzt muss es raus: Mikrofilme und Mikrofiches haben in den Archiven des 21. Jahrhunderts nichts mehr verloren. Meine momentane Recherche im Hauptstaatsarchiv München brachte das Fass zum Überlaufen. Was ich dort sehen will, ist auf den Mikrofilmen, die ich bekam, teilweise gar nicht und immer so abgelichtet, dass eine wissenschaftliche Rückverfolgbarkeit nicht gewährleistet werden kann. Dazu kommen die üblichen Schwierigkeiten mit dem Format Mikrofilm. In Zeiten des digitalen Wissensmanagements droht der status quo in deutschen Archiven in Vergessenheit zu geraten. Zeit also für ein Wutpamphlet in sechs Punkten.


Mikrofilm-Lesegeräte im Hauptstaatsarchiv Stuttgart.
Quelle: www.landesarchiv-bw.de

1. Quellenbestände auf Mikrofilmen sind unübersichtlich und oft schlampig gespeichert. Was auf den langen Rollen abgelichtet ist, bleibt bisweilen unklar. Das liegt an ihrer schieren Länge – mitunter dutzende Aktenbestände wurden aneinandergereiht. Nummerierungen und Bezeichnungen stimmen nicht mit dem überein, was in den Findbüchern steht. Mehrmals ist es mir schon passiert, dass in den Schächtelchen falsche Rollen lagen. Zudem scheint mir die Verfilmung, die zumindest bei den mich interessierenden Beständen oft aus den 1960er Jahren stammt, ungenau und unsystematisch. Im aktuellen Münchner Fall wurden aus einer Bestandsgruppe Aktenteile fast willkürlich durcheinander aufgenommen. Es mangelt an einer klaren Führung durch den Mikrofilm.

2. Mikroformate sind oft unleserlich und lassen zentrale Quellenbestandteile verschwinden. Jeder, der schon mal eine Quelle auf Mikrofilm gelesen hat, kennt das Problem. Sie sind oft verwischt, undeutlich oder zu kleinformatig aufgenommen. Problematisch wird das besonders bei vormodernen Dokumenten, an denen die Zeit besonders genagt hat und deren Schrift und Sprache wissenschaftlich besonders anspruchsvoll sind. Für diese ist in puncto Analysefähigkeit der Mikrofilm die schlechteste Wahl. Allgemein problematisch ist die schwarz-weiß-Verfilmung. Unterschiedliche Schriftfarben oder farbige Vermerke – die entscheidend sind für die korrekte Quelleninterpretation – sind so nicht erkennbar. 

3. Die Arbeit an Mikroformat-Lesegeräten ist gesundheitsschädlich. Die Benutzer/innen sind an die Lage des Apparats gefesselt. Anders als bei Papierdokumenten oder am Netbook können sie die Position des Arbeitsgeräts oder die eigene Haltung nicht wirklich wechseln. Das geht auf den Rücken, genauso wie die oft schlechten Verfilmungen, die zum ständigen Vorbeugen zum Bildschirm zwingen. Die schaden auf Dauer den Augen. Oft stehen die Lesegeräte in separaten Kabinen, die durch die Apparate schnell warm werden. Die schlechte Luft, das ungünstige Sitzen und die schlechte Dokumentqualität erschweren die Konzentration. Es leiden Gesundheit und wissenschaftliche Qualität.

Kein guter Arbeitsplatz: Mikrofilm-Lesegerät.

4. Mikrofilme sind schwierig und teuer zu reproduzieren. Wenn schon die Verfilmungen schlecht sind, gilt das um so mehr für die Abzüge von den Filmen. Bedenkt man, dass die meisten Historikerinnen und Historiker heute nicht zum Exzerpieren, sondern zum Reproduzieren in die Archive gehen, hat das negative Folgen für den wissenschaftlichen output. Denn am heimischen Schreibtisch sind manche Mikrofilme so schlecht reproduziert, dass die Auswertung schwierig wird. Zudem sind meiner Erfahrung nach Mikrofilm-Kopien immer teurer als Kopien aus den Originalen. Warum, bleibt mir rätselhaft. Die Benutzerinnen und Benutzer zahlen mehr, bekommen aber eine schlechtere Qualität der Repros.

5. Die Lesegeräte sind störanfällig, die Technik ist oft veraltet. Auch dieses Phänomen kennen Archivbesucherinnen und -besucher. Gerade hat man sich auf der unübersichtlichen Filmrolle zurechtgefunden, in eine Handschrift eingelesen und angefangen zu kopieren oder zu exzerpieren – da geht das Licht aus und das Lesegerät macht schlapp. Alte Geräte überhitzen leicht und geräuschvoll. Moderne Lesegerät-Technik ist nicht Standard in deutschen Archiven.

6. Mikrofilme entfremden von den Quellen. Dieser Vorwurf wird von Traditionalisten gerne an Historikerinnen und Historiker gerichtet, die mit digitalisierten Quellen arbeiten oder selbst in Archiven (was in Deutschland selten genug der Fall ist) Quellen digitalisieren. Wo bleibt der Geschmack des Archivs? Der ist bereits seit den 1960er Jahren durch die Mikrofilme verloren gegangen. Wo hingegen Digitalisate authentischer abbilden oder die Reproduktion selbst am Original vorgenommen werden muss, ist der Kontakt mit den Quellen viel direkter, physischer und visuell nachdrücklicher. All das fällt bei Mikrofilmen weg. Sie stehen unüberwindlich zwischen Historiker/in und Quelle – zumal die Originaldokumente von den Archiven mit dem Hinweis auf die Mikrofilme hermetisch unter Verschluss gehalten werden.

Oft unübersichtlich und unsorgfältig: Mikrofilm-Rollen.

Mikrofilme eignen sich also nicht für eine qualitativ hochwertige, exakte, kostengünstige und effektive historische Arbeit. Sie schaden sogar dem Leistungsvermögen der Archivbesucher und verbauen den direkteren Gang ad fontes. Dennoch prägen sie vielfach den Archivalltag, v.a. in den großen Archiven. Darüber muss gesprochen werden. Denn es gibt Alternativen: Digitalisierung, Foto-Reproduktion durch die Benutzer/innen (wie es etwa in den Archives départementales in Frankreich auch für vormoderne Dokumente möglich ist) oder der direkte Zugriff auf die Quellen. Und schon vorweg: gerade für alte Dokumente dürfte die Bestellfrequenz ohnehin nicht sonderlich hoch sein. Zudem werden die Originale von geprüften und gut ausgebildeten Fachleuten eingesehen, die wissen, wie man mit altem Schriftgut umgeht. Alles ist besser als Mikrofilme.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/348

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Streit um den Hühnermarkt – wenn Geflügel Konfessionen macht

Am Sankt-Veits-Tag (15. Juni) findet in Leipheim – einer zur Reichsstadt Ulm gehörenden Gemeinde im Schwäbischen Donaumoos – die traditionelle Kirchweih zu Ehren des Namenspatrons der Pfarrkirche statt. Teil des Kirchweihfests ist ein Markt, der entweder ganz oder in Teilen ein Geflügelmarkt ist – und in der Kirche stattfindet. Bisher war das kein Problem. Doch im Jahr 1529 wird der Hühnermarkt zu einem der distinktiven Kristallisationspunkte im reformatorischen Glaubensstreit.

Wiederstand gegen den Kirchweihmarkt kommt vom evangelischen Pfarrer Jakob Ritiman. Der offensichtliche Zwinglianer – erkennbar an seiner aggressiven Ablehnung der Realpräsenz und der Transsubstantiationslehre – ergreift im Frühjahr 1529 einige Maßnahmen zur, wie er betont, langsamen aber zielstrebigen Ausmerzung der (altgläubigen) Missstände in Leipheim. Dazu gehören auch das Einstellen des Glockenläutens vor den vielen Feiertage. Damit beginnt der Pfarrer – symbolisch wichtig – am Vorabend von Fronleichnam, trifft dabei aber auf den Wiederstand seines (mutmaßlich altgläubigen) Messmers, der die Sache beim Bürgermeister zur Anzeige bringt. Weiterhin versucht Ritiman, das Öffnen der “tafel” zu unterbinden – gemeint ist vermutlich das Retabel in der Pfarrkirche, das wahrscheinlich Heiligenrepräsentationen oder ähnliches enthält.

Das Auftreten und die Maßnahmen Ritimans erregen die Missbilligung des Bürgermeisters, der gemeinsam mit dem Gericht und dem Ulmischen Vogt den Gemeindepfarrer befragt, ermahnt und sich wegen Erfolglosigkeit in einem Beschwerdebrief an die Ratsherren von Ulm wendet. Der Bürgermeister ist laut Ritiman “ain großer bäbstler”. Auch Ritiman wendet sich an die Ratsherren. Durch diese Briefe (Stadtarchiv Ulm, A Ulmensien 279, fol. 51r-54r) sind wir über die Auseinandersetzungen informiert.

Besonders interessant ist dabei die Auseinandersetzung um den Hühnermarkt an Kirchweih. Es ist durchaus beachtenswert, wie so ein auf den ersten Blick wenig dafür geeignetes Ereignis zu einem konfessionellen Distinktions- und Kristallisationspunkt wird.


Kirchweih in Schelle (Jan Brueghel d. Ä., 1614. Kunsthistorisches Museum Wien)

Bürgermeister und Gericht erklären, worum sich der Hühner-Streit genau dreht:

“Zum drytten hat auch der pfarrer yetz uff zukunftigen Sannt veitz aubent und tag ain jarmarckt die kyrchen zu beschliessen und darein nemalz gaun laussen wollenn. Wie wol er darvon gestanden ist und die kyrchen offen staun laussen will, so will er doch Sant Veitz pfleger nit zugebenn und gestattenn, das sy inder kyrchen nemalz mit Sant Veitz hayltumb bestraichen und von hänen oder anders ain nemen, wie dann von alther her gescheen sey… [Wir werden] im das nit gestatten und neuwerungen laussen machen.”

Was der altgäubige Bürgermeister hier präzise anprangert, ist ist die Veränderung eines offensichtlich wichtigen Bestandteils des Kirchweihmarkts. Demnach wolle der evangelische Pfarrer die sonst zu diesem Anlass offene Kirche abschließen und den Kirchenpflegern nicht erlauben, eine in der Quelle nicht ganz klare Praktik des Bestreichens mit oder durch die Veits-Reliquie vorzunehmen oder vornehmen zu lassen. Zudem wolle der Pfarrer nicht gestatten, dass die Pfarrkirche von Hühnern oder anderem Geflügel eingenommen wird. Ritiman kann diesen Plan am Ende nicht durchsetzen – womöglich auch aufgrund des Drucks der Bevölkerung oder zumindest des altgläubigen Teils.

Der evangelische Pfarrer rechtfertigt das Vorhaben in seinem Brief an den Rat:

“It[e]m ich hab auch mitt meinem meßmar verschafft, das er uff Sant Veittz tag die kierchen vor unnd nach, so man das wort gottes geprediget hatt, zuschliessen sol. Dann ich wöll nitt haben, das man furterhin mer ain hunermarck[t] da uffricht und also uß dem huß des herren ain kauffhuß mach…” Dass  er dies nun doch zugelassen hat, beschwere sein Gewissen “größlich”.

Bäuerin mit Henne und Glucke, in: Buch der Natur. Lauber-Werkstatt, Hagenau, 1442-48.

Ritiman fokussiert sich ganz auf den Hühnermarkt, der in der Kirche stattfindet. Die alte Praktik mit der Veits-Reliquie erwähnt er nicht extra, vielleicht weil sie selbstverständlicher Bestandteil des Hühnermarkts ist, vielleicht weil der Hühnermarkt in den Augen der Ulmer Ratsherren skandalöser wirken könnte als eine der noch so verbreiteten Heiligenpraktiken.

Das Vorgehen gegen den Jahr-/Hühnermarkt und die unklare Veits-Reliquienpraktik ist Teil des Reformationsprogramms des Pfarrers. Er setzt das selbst in diesen Kontext. Kirchweihfeste mit ihren Märkten und Festivitäten zu regulieren (oder zu versuchen, sie ganz abzuschaffen) war allgemein schnell ein Ziel reformatorischer Pfarrer und Obrigkeiten. In diesem Zusammenhang geht der Leipheimer Seelsorger gegen zwei Aspekte vor, die ihm ein besonderer Dorn im Auge sein müssen.

Das Geflügel in der Kirche, zusammen mit der Heiligenfrömmigkeit, gerät nun also in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen um die dörfliche Religionskultur. Schon bei anderen Gelegenheiten haben sich Risse und punktuell divergierende Lagerbildungen in Leipheim gezeigt. Als Ritiman wie berichtet das Glockenläuten vor Feiertagen abschafft, kommt es zu Murren und Wiederstand der Päpstlichen.

Der Geflügelmarkt in der Pfarrkirche zu Kirchweih provoziert erneut unterschiedliche Haltungen. Der Pfarrer und mit ihm wohl der eher evangelische Teil der Gemeinde, sind gegen diese alten Praktiken. Der Bürgemeister und das Gericht wollen, womöglich stellvertretend für andere Gemeindemitglieder, von diesem alten Brauch hingegen nicht ablassen.

So wird die Haltung zu einem Geflügelmarkt in der Kirche zu einem Moment, in dem in einer oberschwäbischen Landgemeinde grundsätzlichere religiöse Haltungen und Zugehörigkeiten sichtbar und verstärkt werden. Der Raum des sozial-religiös Möglichen soll deshalb durch den Ulmer Rat neu bestimmt werden. Und bis dahin macht Geflügel Konfessionen.

 

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/266

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Religiöse Zeitlichkeiten im 16. Jahrhundert

Selten wird in der westeuropäischen Religionsgeschichte die Frage nach der Zeitlichkeit so brisant wie in der Reformationszeit. Es ist eine eschatologische, ja apokalyptische Zeit. Für die einen ist der Antichrist schon auf Erden, nämlich als römischer Papst. Für die Anderen bringen die lutherischen “Vorläufer des Antichristen” den Zorn Gottes und das Ende der Welt näher. So oder so, die Welt dreht sich schneller.


Drachen und Tiere aus der “Cloister Apokalypse” (1405-08). Metropolitan Museum of Art, New York. 

Und überhaupt: die Veränderungsfrage. Selten zuvor und danach war sie so stark zeitlich aufgeladen. Veränderungen finden in der Religion des 16. Jahrhunderts statt, das ist allen Beteiligten klar. Nur der Ort und die Bewegungen der Zeitlichkeiten sind umstritten. Die Altgläubigen sehen sich als die, die beim alten Glauben – das heißt dessen Praktiken und materiellen Artefakten – bleiben. Sie bleiben in dieser Sicht in einer linearen und weder veränder- noch entwickelbaren zeitlichen Kontinuität der Religionskultur. Die halten sie für legitimiert durch die Praktik seit “uralten” Zeiten. Dabei ist ihnen nicht klar, wie sehr sich die Sinnzuschreibungen, (nun zusätzlich z.B. Konfessionen distinguierende) Bedeutungen und sicher auch Inszenierungen der tatsächlichen Praktiken verändern und nuancieren. So wird selbst-wahrgenommene Konservierung beim Blick auf das gesamte soziale Feld ebenso zur Aktualisierung.

Und natürlich kollidiert diese Zeitkultur der Altgläubigen mit jener der evangelischen “Neuerer”. Doch die verwehren sich gegen den Vorwurf der Neuheit. Im Gegenteil, sie sehen die Papisten als die wahren Neuerer, denn die hätten die urchristliche Religion mit neuen “Aufsetzungen” und “Zusetzungen” immer mehr auf die schiefe Bahn gebracht. Die Reformatoren wollen durch Veränderung bzw. “Reform” zurück zum reinen, alten, wahren Christentum, basierend auf dem “puren, lauteren Wort Gottes”. Sie sehen in den Praktiken der Christen um 1500 keine zeitliche statische Kontinuität des wahren Christentums, sondern gehen von einer stattgefundenen, qualitativen “Verschlechterung” der Religion im Fortschreiten der Zeit aus. Das macht die zeitliche Rückkehr zur wahren, alten Religion nötig. Oder vielmehr: das Wahre, Alte soll in das Jetzt geholt werden.

Nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch in der Selbstsicht der Akteure finden im 16. Jahrhundert also “Gleichzeitigkeiten” (Achim Landwehr) bei den Zeitauffassungen statt. Altgläubige und Protestanten, ganz zu schweigen von den “radikalen” evangelischen Gruppen, leben gleichzeitig in verschiedenen, sich mitunter auch gezielt wiedersprechenden religiösen Zeiten. Und da sich Zeitlichkeiten als kulturelle Konstrukte immer dann besonders schnell wandeln, wenn sich die Kulturen, die sie hervorbringen, schnell wandeln, sind auch die Aktualisierungen der religiösen Zeitlichkeiten im 16. Jahrhundert besonders schnell – und unterschiedlich, ja gezielt antagonistisch.

Es findet eine beschleunigte Aktualisierung und Diversifizierung der Zeitkulturen statt. Diese sind dabei so plural und wiedersprüchlich wie auch der Ort von Zeit und Kultur: der Mensch.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/229

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Für längere Dauern, größere Räume und materiellen Determinismus?

Turns gibt es viele in der Geschichtswissenschaft. Ihr Rhythmus scheint sich mit der Beschleunigung der globalisierten Welt selbst zu beschleunigen. Wir erleben “Gleichzeitigkeiten” (Achim Landwehr) von Wenden bezüglich der Interessenschwerpunkte, Theorien und Methoden.

Mir scheint aber, dass diese turns mehr gemeinsam haben, als es auf den ersten Blick scheint. Nicht immer, wenn in der Historiographie eine neue Seite aufgeschlagen wird, beginnt auch immer ein neues Kapitel. An vier Punkten will ich versuchen, die Gleichartigkeiten der turns seit der kulturalistischen Wende der 1970er Jahre (in Frankreich und Italien) bzw. der 1990er Jahre (in Deutschland) zu bezeichnen. Meine Einlassungen zu diesen vier Merkmalen der aktuellen Kulturgeschichte sind freilich nur flüchtige Überlegungen – zumal auch ich eigentlich auf der kulturwissenschaftlichen Methodenseite stehe.

1. Mikrostudien. Der große räumliche Wurf wird nur mehr selten gewagt. Die Skalierung von Studien bezieht sich auf kleinteilige Räume: Städte, Landgerichte, kleine und mittlere Reichsterritorien oder Regionen, einzelne Klöster oder Zwischenräume wie Fenster, Brücken und Türen. Freilich gibt es Ausnahmen, die mir in der französischen Forschung mit ihrer alten Tradition der grands espaces noch am häufigsten scheinen. Aber auch dort herrscht der Mikrotrend. Friaul mit Käse und Würmern statt totaler Mittelmeergeographie.

2. Eher kurze Dauer.
100 Jahre sind lang, länger werden nur Minimalthemen oder (quellenmäßg) rare Phänomene behandelt. Thesen, die mehrere Jahrhunderte umfassen, werden seltener – abgesehen von den wild wuchernden Epochen-Überblicksbänden für Studienanfänger. Ein zeitlicher und auch konzeptuell fassbarer Großblick à la temps des réformes eines Pierre Chaunu würde womöglich nicht mehr ernst genommen werden.

3. Materialität und Grundbedingungen. Eigentlich erlebt Materialität gerade wieder ein Comeback, allerdings in einer kulturalisierten theoretischen Form. Es geht heute um die Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungne zu Artefakten, deren “Materialität und Präsenz” in Ding-Raum-Mensch-Geflechten. Was ich aber meine, ist eine andere Art von Materialität: natürliche, geographische, ökonomische, klimatische Bedingungen für die Lebenswelt der Menschen. Grundbedingungen im eigentlichen Sinne, die menschliches Handeln und Wahrnehmen prägen, möglich machen, formen und konditionieren. So unkonstruktivistisch wie möglich!

4. Wehe den Determinsimen…! rufen dann viele. Der Mensch sei der Ort der Geschichte und allen Handelns, Wahrnehmens, aller Bedeutung und Sinnhaftigkeit. Aber müsste die Postmoderne nicht ein wenig von diesem anthropozentrischen Geschichtsbild abrücken? Ist es nicht tatsächlich so, dass Berge mit ihren klimatisch-geographischen Bedingungen die Landwirtschaft, Ökonomie und sogar die Zahl der Menschen dort stärker beeinflussen als umgekehrt? Präzise gefragt: Konstruiert der Mensch den Berg oder nicht doch der Berg den Menschen? Ist Geschichte bis zur Moderne nicht eine der langen Zeit und starren (da, ja, determinierten) faktischen Strukturen?

So sind doch die meisten aktuellen turns keine historiographischen Wenden, die in Bedeutung und Umbruch dem Wandel von der Politik- zur Sozial- zur Kulturgeschichte gleichen würden. Seit der kulturalistischen Wende, beginnend mit den mental und linguistic turns, schwanken Interessen. Die Grundausrichtungen aber bleibt.

Kann es überhaupt etwas anderes geben als die aktuelle kulturalistisch-anthropologische Geschichtsschreibung? Vielleicht täte es gut, mal wieder einen Blick in seinen Braudel oder – für die Deutschen – ihren Wehler zu werfen. Was mir vorschwebt ist freilich keine Rückkehr zur alten Sozialgeschichte der 1950er und 60er Jahre. Aber ein verstärkter Rückgriff auf längere Dauern, größere Räume, essentiell-materielle Lebensbedingungen und Determinismen für das menschliche Leben in der Vormoderne wäre womöglich eine Perspketive. Nicht zuletzt, um mal wieder einen fundierten und fruchtbaren Theorie- und Methodenstreit in der forschenden Zunft zu provozieren. Denn der vergangene Historikertag in Mainz war doch arg harmonisch.

Fernand Braudel, der Entdecker der longue durée und des Mittelmeers.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/205

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