Dieser Artikel soll einige Gedanken zum Verhältnis von Religionsgemeinschaften, persönlicher Religiosität und Geschichtsschreibung anstellen. Anlass dafür ist eine im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (14. August 2012) auszugsweise abgedruckte Rede des Münsteraner Kirchenhistorikers Hubert Wolf, die er eine Woche zuvor bei den Salzburger Hochschulwochen gehalten hat.
Darin beklagte Wolf die unbedeutende und zu angepasste Rolle, die die universitäre Kirchengeschichte für die politischen und theologischen Entscheidungen des Vatikans spielten. Die Amtskirche solle viel stärker auf ihre Historiker hören, denn: “Ohne Kirchengeschichte fehlt dem theologischen Blick die nötige Tiefenschärfe.” Kirchengeschichte könne der Kirchenleitung demnach die ganze (katholische) Vielfalt der theologischen Meinungen und deren historische Entwicklungen und Brüche demonstrieren. Sie könne zeigen, dass es in der Theologie keine Lehrkonstanz gibt. Nicht einmal in Rom. Dabei müssten freilich wissenschaftliche Standards eingehalten werden. Dazu beschreibt Wolf wie folgt das Wesen von Glauben in und für die (Kirchen-)Geschichte: “Der Traditionsprozess, der seinen Ausgangspunkt im historischen Christusereignis nimmt, kommt niemals zum Stillstand, weil Gott sich in Jesus Christus ganz auf die Geschichte eingelassen hat und die Kirche unter den wechselnden Bedingungen der jeweiligen Zeit die zentrale Aufgabe hat, den Tod und die Auferstehung des Herrn zu bezeugen.”
Hier beginnen die Schwierigkeiten, die ich mit einigen Aspekten der Rede habe.
Kirchenhistoriker sind noch immer auf der Suche nach dem “Gottesteilchen” in der Geschichte. Volker Leppin hat diese Aufgabe vor kurzem so formuliert: “In diesem Zusammenhang stellt die Kirchengeschichte wirklich eine eigene theologische Frage: die nach der Verschiedenartigkeit der kulturell bestimmten Bilder, die den Gott der biblischen Offenbarung sprechen lassen.” [1] Zweifel, ob es sich dabei nicht um eine – frei nach Lucien Febvre -
question mal posée handelt, ja handeln muss, tauchen nicht auf. Ich habe noch nie in einer kirchengeschichtlichen Arbeit die Frage gelesen: gibt es das überhaupt, was wir da nachverfolgen? Auch unabhängig davon, wie man diese Frage beantwortet, ist die notwendigerweise so an persönliche Glaubensbejahung gebundene Geschichtsbetrachtung eine große Hypothek für die daraus resultierende Forschung. Die aus dem und mit dem Glauben (und laut Wolf für die Kirche) heraus operierende Hermeneutik setzt den Kirchenhistorikern eine Brille für Deutungen und großrahmige Einordnungen der Geschichte auf, die stärker sind als jede Theorie. Kirchenhistoriker antizipieren, wenn sie ihr Aufgabenfeld wie Wolf und Leppin begreifen, unausgesprochen eine Kraft hinter die Geschichte, an die man letztlich als seriöser Historiker nicht herankommen kann. Kirchenhistoriker versuchen dies trotzdem über die Theologiegeschichte (die an sich ein ehrenwertes und höchst anregendes Forschungsfeld ist!), mitunter auch über Institutionen (bzw. deren “Sieg” oder “Untergehen”). So wird freilich das Pferd der Clio von hinten aufgezäumt.
Die stark auf Gott und Formen der göttlichen Offenbarung in Theologie und Kirchenstrukturen abzielende deutsche Kichengeschichte bringt somit eine falsche Sakralität in einen Forschungsbereich, den manch einer für Atheisten oder Agnostikern sogar verschlossen sieht. Die Debatte, ob nicht-religiöse Menschen überhaupt Zugang zu historischer Religiosität haben, kocht immer wieder hoch. [2]
Fast noch problematiascher ist aber der durch die Suche nach dem “Gottesteilchen” verengte Blick auf die Religionsgeschicht. Gerade die frühneuzeitliche Religionsgeschichte und in ihr besonders die Reformation werden in Deutschland von Kirchenhistorikern dominiert. Das ist zunächst einmal weder gut noch schlecht. Aber ihre einseitige Fokussierung auf Theologie und Institionen verdrängt das für die größte Zahl der historischen Zeitgenossen wichtigste an den Rand: Kulturformen, Praktiken, Deutungen und soziale Wirkmächtigkeiten von Religion.
So werden aus einer schlecht gestellten Frage nicht gestellte Fragen!
Der Umstand, dass Kirchenhistoriker in aller Regel als Beschäftigte an Theologischen Seminaren von der Kirche ausgewählt und besoldet werden, macht dies nicht besser. Die Kirchen suchen sich also die aus, die dann über sie schreiben. Dabei kommen vielfach ausgebildete Theologen zum Zuge. Natürlich, zahlreiche gläubige Menschen und Theologen betreiben hervorragende Forschung. Dennoch werden somit nicht bessere und neue Fragen an die Geschichte gestellt. Vielleicht liegt auch hier ein Grund für die innerkirchliche Zahmheit und Marginalität der konfessionellen Kirchengeschichte, die Hubert Wolf konstatiert hat.
Im Ausland läuft manches besser. Das Beispiel Frankreich zeigt, was für exzellente und innovative Forschung zur Religionsgeschichte ohne die deutsche Sonderform der Theologie- und Kirchenhistorie entsteht. In Frankreich gibt es keine staatlichen Theologischen Fakultäten. Dort kümmern sich “Allgemeinhistoriker” um die Religionsgeschichte. Sie machen eine theoretisch-methodisch moderne
histoire des religions und werden so zu Religionshistorikern.
Religionshistoriker und Agnostiker: Lucien Febvre (1878-1956)
[1] Volker Leppin: Histoire de l’Eglise et histoire des religions, in: Christophe Duhamelle/Philippe Büttgen (Hg.): Religion ou confession. Un bilan franco-allemand sur l’époque moderne (XVIe-XVIIIe siècles), Paris 2010, 57-72, hier: 72.
[2] Siehe dazu demnachäst Marc Mudrak, Rez. zu C. Scott Dixon: Contesting the Reformation (Contesting the Past), New York 2012, unter: H-Soz-u-Kult. Cf. auch Tracy, James D.: Believers, Non-Believers, and the Historian’s Unspoken Assumptions, in: Catholic Historical Review 86 (2000), S. 403-419. Gläubige sehen Religion laut Tracy als ein persönliches Phänomen und die Person als in rational-bewusstem Handeln erklärbar. Atheisten sehen Religion sowie einzelne Personen demnach im Zusammenhang sozialer und kultureller Prozesse und sind theorieaffiner.
Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/165