Vom weltweit größten Watson-Tutorial

Anfang der Woche fand in Darmstadt im beeindruckenden Hörsaal im “Alten Maschinenhaus” ein Tutorial zu den Hintergründen des Computer-Jeopardy!-Spielers Watson von IBM statt. Eingeladen hatte Chris Biemann vom Fachbereich Informatik der Uni Darmstadt, erschienen waren der Dozent Alfio Massimiliano Gliozzo (IBM Research) sowie mehr als 130 interessierte Zuhörer, welche die Veranstaltung dann auch zum “biggest Watson-Tutorial wordwide so far” machten.

Watson ist eine von IBM entwickelte und auf spezieller Hardware umgesetzte Software, der es im Frühjahr 2011 gelungen ist, das Spiel Jeopardy! gegen die bis dahin erfolgreichsten (menschlichen) Kandidaten zu gewinnen. Dieses Ereignis hatte ich damals hier im Blog aufgegriffen, als Paradebeispiel dafür, was man in meinem Fach Informationsverarbeitung bzw. Computerlinguistik so alles anstellen kann. Für uns war diese Meldung eine echte Sensation, weil sie viel unvorhergesehener kam als der Sieg von Deep Blue (dem ungleich berühmteren Schachprogramm, ebenfalls von IBM entwickelt) über den Schachweltmeister Garry Kasparov 14 Jahre zuvor. Weshalb aber wurde das Schachproblem viel früher als das Jeopardy!-Problem gelöst? Lösen heißt hier: Gegen die ausgewiesen besten Menschen in dem Spiel zu gewinnen.

IBM Watson

Watson bei IBM: Eine zimmergroße Maschine. Bild: Clockready CC-BY-SA-3.0

Schach – so unendlich groß die Zahl der möglichen Spiele auch sein mag (selbst Deep Blue konnte bei weitem nicht alle möglichen Züge analysieren) – ist ein rein mathematisches Problem. Es gibt eine begrenzte Menge an Zuständen, die in eine ebenfalls begrenzte Anzahl von Folgezuständen überführt werden können. Menschen waren dem Computer lange überlegen, weil sie Muster in Schachspielen erkennen konnten, die sie mögliche Gewinnstrategien entwerfen ließen. Die ersten Schachcomputer hatten dann auch eine erbärmliche Performance. Später schlugen sie Anfänger, irgendwann Hobbyspieler und am Ende dann eben auch den amtierenden Weltmeister (Deep Blue 1997). Letzteres allerdings auch erst im zweiten Versuch, das erste Aufeinandertreffen hatte Kasparov 1996 noch für sich entschieden. Nebenbei: Der auf gewisse Weise entthronte Weltmeister unkte nach der Niederlage 1997, Deep Blue hätte zwischendurch Hilfestellungen durch Menschen bekommen. Der Vorwurf wurde nie wirklich aufgeklärt, weil IBM keine Untersuchung zuließ und Deep Blue dann auch demontierte. Insgesamt sind lediglich 12 Partien des Rechners öffentlich bekannt – jeweils 6 in den Jahren 1996 und 1997, sämtlich mit Kasparov als Gegner. Da aber in der Zwischenzeit Deep Fritz, ein Programm, um das sehr viel weniger Geheimhaltungs-Popanz gemacht wurde, 2006 den damaligen Weltmeister Wladimir Kramnik mit 4:2 schlug, zweifelt niemand mehr ernsthaft daran, dass Computer in der Lage sind, Menschen jederzeit im Schach zu schlagen.

Der Sieg von Watson über Ken Jennings und Brad Rutter kam dagegen gewissermaßen aus dem Nichts. Nie zuvor hatte jemand versucht, eine Maschine in einem Spiel wie Jeopardy! einzusetzen, wo es darum geht die zugehörigen Fragen zu sehr trickreich formulierten Antworten herauszufinden (also schlicht ein umgedrehtes Frage-Antwort-Spiel). Um ein Beispiel zu geben:

Antwort: “Aufgezeichnete Sachverhalte oder Gedanken, bisweilen mit Tagebuchcharakter, die auf einer Webseite zu finden sind.”

Die dazu passende Frage wäre: “Was ist ein Blog?”

Die Themenkomplexe, aus denen die Antworten stammen, sind dabei nicht eingegrenzt, sollten aber die Zuschauer interessieren – schließlich handelt es sich um eine Fernsehshow, die von den Einschaltquoten lebt. Man benötigt also ein breites Wissen, um in dem Spiel zu bestehen. Dieses dürfte zwar tatsächlich vollständig oder zumindest in großen Teilen irgendwo hinterlegt sein, wo es auch für Computer zugänglich ist – im Zweifelsfall eben in der Wikipedia. Die drei größten Herausforderungen bestehen aber darin,

  1. Die Antworten richtig zu interpretieren, um eine Ahnung davon zu bekommen, wonach überhaupt gefragt wird.
  2. Eine Wissensbasis so zu gestalten, dass interpretierte Antworten auf mögliche Fragen abgebildet werden können.
  3. Aus möglichen Fragen diejenige auszuwählen, die als die passenste erscheint.

Um gut Schach spielen zu können, genüge es, Mathematik zu beherrschen; Jeopardy! aber gründe in der menschlichen Kognition, sagte Gliozzo. Statt wohldefinierter Zustände in begrenzter Zahl hat man es mit prinzipiell unendlich vielen Ausdrücken zu tun, die auch noch verschiedene Bedeutungen tragen können. Die Antworten, mit denen ein Jeopardy!-Kandidat konfrontiert wird sind genauso wie der größte Teil des verfügbaren Wissens in menschlicher Sprache hinterlegt und damit ambig, kontextabhängig und teilweise implizit.

Welche Ansätze IBM dabei verfolgte, die Aufgabe anzugehen und erfolgreich zu gestalten, war Thema des Workshops und Gliozzo gelang es aus meiner Sicht wirklich gut, dieses ansprechend und informativ darzulegen. Insgesamt bestand der Vortrag aus vier etwa zweistündigen Blöcken, einer Art eingedampften Form eines Kurses, den Gliozzo auch an der New Yorker Columbia Universität anbietet. Zwischendurch wurden immer wieder von IBM produzierte Filme zu Watson, der Jeopardy!-Challenge und der Zukunft des Systems gezeigt, die aus unterrichtstechnischen Gründen angebracht waren (inmitten des sehr anspruchsvollen Stoffs konnte man sich mal zurücklehnen und konsumieren), die auf mich als europäischen Wissenschaftler mitunter aber etwas überproduziert und pathetisch wirkten (Dan Ferrucci, Leiter des Watson-Projekts mit Tränen in den Augen und so, auf der IBM-Seite kann man sich selbst ein Bild davon machen).

Sehr gut hat mir die Live-Demo gefallen, eine Art simuliertes Spiel Watson gegen Vortragspublikum. Dabei zeigte sich auch, dass die Maschine mit denen eigens für das europäische Publikum ausgewählten Fragen offensichtlich nicht besonders gut zurecht kam. So war Watsons Vermutung, wo nach dem Schengen-Abkommen keine Kontrollen mehr stattfinden: passport. Erst danach folgte das korrekte borders, witzigerweise dicht gefolgt von Austria.

In den einzelnen Sessions ging Gliozzo auf die Teilbereiche (I) DeepQA-Architecture, (II) Natural Language Processing Components, (III) Structured Knowledge Components und (IV) Adaption to the Medical Domain ein. Die Klammer um das Ganze war ein Diagramm, das die Performances von Jeopardy!-Gewinnern und Watson, ausgestattet mit bestimmten Komponenten zeigte. War die Maschine anfangs noch meilenweit von einer Performance entfernt, auch nur ein einziges der historischen Jeopardy-Spiele zu gewinnen, sah man, dass die Zuschaltung der nacheinander erläuterten Komponenten immer weitere Fortschritte brachte. Das war als roter Vortragsfaden schon ziemlich genial. Detailliert berichte ich davon vielleicht mal an anderer Stelle. Schließen möchte ich mit einer Reihe von Aspekten, die ich aus dem Tutorial mitnehmen durfte:

  1. Watson versteht nicht. Er gleicht Muster ab und führt eine unglaubliche Anzahl von Bewertungsfunktionen durch. Die Entwickler haben eine Unzahl verschiedener Techniken gegeneinander evaluiert und diejenigen, welche sich in Tests als erfolgreich herausstellten, im System behalten.
  2. IBM hat nicht gezaubert oder vorher unbekannte Techniken entwickelt, sondern einfach nur bekanntes miteinander kombiniert. Gliozzo ist auf so gut wie jeden Schritt aus einem anfangs völlig undurchschaubar komplizierten Workflow-Diagramm eingegangen (natürlich nicht immer im Detail) und meinte am Ende so in etwa: “Jetzt kann das jeder von euch nachbauen. Viel Spaß!” Dabei unterschlug er allerdings nicht, dass eine selbstgebaute Antwortmaschine wahrscheinlich Tage für die Lieferung der Frage benötigen würde, was Watson auf seiner speziellen Hardware (3000 Prozessorkerne, 15 TeraByte RAM) in unter 3 Sekunden schaffen musste (ansonsten hätte er gegen seine menschlichen Konkurrenten keine Chance gehabt).
  3. Watson ist eine Maschine, um Jeopardy! zu gewinnen. Die ersten Versuche, ihn einzusetzen, um bspw. Mediziner bei der Diagnose oder der Behandlung von Krankheiten zu unterstützen, waren eher ernüchternd. Nachdem viel Arbeit in die Adaption gesteckt wurde, konnten zwar Fortschritte erzielt werden, man hat es aber weiterhin mit einer domänenspezifischen Anwendungen zu tun. IBM ist das klar und sucht deshalb nach neuen Lösungen.
  4. Offenbar war den Entwicklern vorher nicht klar, ob Watson die Challenge tatsächlich für sich entscheiden würde – man ging von einer 50% Chance aus. Im oben erwähnten Diagramm sah man, dass Jennings in vielen historischen Spielen eine deutlich bessere Performance hinlegte, als Watson am Ende seiner Jeopardy!-Entwicklung. Watson ist also – im Gegensatz zu Schachcomputern – weiterhin schlagbar.

Soweit meine (erste) Nachlese zum Watson-Tutorial. Vielleicht kann ich demnächst nochmal auf die Gesamtarchitektur oder einzelne Komponenten des Systems eingehen. Ich hoffe, mir ist es einigermaßen geglückt, auszudrücken, dass ich die Veranstaltung für wirklich gelungen hielt und möchte hier die Gelegenheit ergreifen, mich herzlich beim Organisator Chris Biemann zu bedanken. Falls so etwas noch einmal stattfinden sollte, kann ich jedem NLP-, Machine Learning- und Knowledge Engineering-Interessieren mit bestem Gewissen raten, daran teilzunehmen!

 

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/865

Weiterlesen

Archive 2.0 auf dem 65. Westfälischen Archivtag

 

Auf dem 65. Westfälischen Archivtag in Münster wurde der Bereich Archiv 2.0 zwar nicht explizit thematisiert, wohl aber an etwas versteckter Stelle angesprochen – und zwar auf dem Diskussionsforum “Verzeichnest du noch oder gefällst du schon? Archive als Anbieter digitaler Dienstleistungen”. Im Folgenden sei mein eigenes Impulsreferat dokumentiert:

 

„Diese Verzeichnung gefällt mir! Das Archiv 2.0 als Anbieter digitaler Dienstleistungen“

Am 13. März 2013 stieg weißer Rauch über der sixtinischen Kapelle in Rom auf und ein neuer Papst war gewählt worden.

Schornstein Sixtinische Kapelle

Was hat das zu tun mit uns als Archiven oder gar unserem heutigen Archivtag?

Vielleicht soviel, dass es ein Archivar war, der das „Habemus Papam“ verkündete, nämlich der Kardinalprotodiakon Jean-Louis Tauran, der von 2003 bis 2007 das Vatikanische Geheimarchiv leitete. Es war das Schweizerische Bundesarchiv, das diese Nachricht publik machte.

Vielleicht aber auch soviel, dass Päpste – oder besser: der schriftliche Nachlass päpstlichen Handelns – für die allermeisten Archive kein unbekanntes Thema sind. Vielerorts bilden Papsturkunden den Grundbestand der Alten Abteilungen, lässt sich mittelalterliche Geschichte insbesondere durch Papsturkunden rekonstruieren. Aus Anlass der Papstwahl berichtete beispielsweise das Österreichische Staatsarchiv über die Tagebücher des Erzbischofs von Wien, der 1655 nach Rom reiste um am damaligen Konklave teilnahm. Im Vergleich dazu brandaktuell war die Mitteilung des Stadtarchivs Linz am Rhein, dass in seinen Beständen die Erteilung des apostolischen Segens an die Bürger der Stadt direkt nach der Wahl des nunmehr emeritierten Papstes im Jahr 2005 vorhanden sei.

Und auch die us-amerikanischen National Archives nahmen das Ereignis zum Anlass, auf eine umfangreiche Fotosammlung zu den Begegnungen von Päpsten und Präsidenten der vergangenen Jahrzehnte zu verweisen.

Warum sind diese Informationen für uns heute interessant? Weil alle diese Archive ihre Rolle als digitale Dienstleister ernst genommen haben und ihre Nutzer mit aktuellen archivnahen Informationen versorgt haben – und gemacht haben sie das über den in diesem Fall wohl bequemsten virtuellen Weg: nämlich über das soziale Netzwerk Facebook.

Papst Österreichisches Staatsarchiv

 

Papst US National Archives

Das „gefällt mir“ kann ich da als Nutzer sagen – und ich bezweifle, dass auch nur eins der genannten Archive für diese nette kleine tagesaktuelle Aufmerksamkeit irgendwie seine Kernaufgaben vernachlässigt hätte. Das ist es nämlich, was die Leitfrage unserer Diskussion hier impliziert: „Verzeichnest du noch oder gefällst du schon?“

Hier scheinen zwei Aspekte gegeneinander zu stehen

  • Auf der einen Seite die eigentliche Arbeit eines Archivs, seine Kernaufgaben (wofür hier die Verzeichnung sinnbildlich steht): eine anspruchsvolle, eine fordernde, bisweilen eine mühselige, vielleicht auch ungeliebte Arbeit; ist ein laufender Meter Verzeichnungsarbeit geschafft, warten schön die nächsten fünf. Dank und Lob für eine erfolgreiche Verzeichnungsarbeit erhält man nicht.
  • Ganz anders dagegen dieses ominöse „gefällst du schon?“: Gefallen, wollen wir das? Wir sind doch das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft. Wir erinnern an Geschichte, an Politik, an Herrscher, an wichtige Geschehnisse, an mitunter schreckliche Untaten. Wir sind seriös, wir sind staatstragend, wir sind eine Behörde. Da müssen wir doch keinem gefallen. Und außerdem sind wir Monopolisten: Wer unsere Dokumente einsehen will, der muss schließlich zu uns kommen, egal ob wir ihm gefallen oder nicht. Und letztendlich: Bei Facebook wissen wir doch alle: das ist bloß Spielerei, irgendwas für Teenies und allenfalls noch für Studenten, da kann ja jeder alles reinschreiben und morgen kann das alles wieder weg sein, außerdem steht da sowieso nichts Wichtiges, denn das Wichtige wird nämlich gedruckt.

Dieser Gegensatz aber scheint mir an den gegenwärtigen und vor allem an den zukünftigen Arbeitsrealitäten von Archiven vorbeizugehen:

  • Die archivische Arbeit wird sich zunehmend in den digitalen Raum verlagern, durch Digitalisate, durch Online-Publikationen, durch virtuelle Lesesäle – entsprechend notwendig wird es sein, die Strukturen zu besitzen, um diese digitalen Inhalte zu bewerben und direkt den Interessenten zuzuleiten
  • Die technischen Mittel für einen virtuellen Auftritt – für die Präsentation von Archivalien und Beständen, für Kommunikation und Interaktion mit den Nutzern, für den fachlichen Austausch mit den Kollegen – stehen längst bereit: Soziale Netzwerke, Sharing-Plattformen, Blogs, Micro-Blogs, Foren, Wikis u.v.a.m.
  • Wir Archivare müssen nur bereit sein, diese technischen Mittel zu nutzen – oder wie es ein niederländischer Kollege (wo sie uns in diesen Belangen tatsächlich Lichtjahre voraus sind) formulierte: „It’s not about technology, it’s about attitude!“

Archives Cantal

Zu den Möglichkeiten, einer archivischen Nutzung von sozialen Medien (= Archiv 2.0) möchte ich schließlich 4 Thesen formulieren:

1) Die Nutzung von sozialen Medien ist für einen wachsenden Teil der Bevölkerung alltägliche Normalität. Die deutschen Archive haben noch keine Antwort auf diese neue Mediennutzung gefunden und stehen der Entwicklung weitgehend passiv gegenüber.

2) Die archivische Nutzung von sozialen Medien erlaubt eine unkomplizierte und unmittelbare Vermittlung archivischer Anliegen: Präsentation von Archiv und Beständen, Kommunikation und Interaktion mit den Nutzern, Mitteilung von Neuigkeiten, Publikationen, Veranstaltungen u.v.a.m.

3) Die archivische Nutzung von sozialen Medien erlaubt einen intensivierten fachlichen Austausch ohne auf punktuelle Ereignisse wie Archivtage oder auf persönliche berufliche Netzwerke angewiesen zu sein. Fragen und Probleme können unkompliziert und unmittelbar unter Einbeziehung aller Interessenten thematisiert werden.

4) Die archivische Nutzung von sozialen Medien verlangt einen Bewusstseinswandel: weg von hierarchischem, beständeorientiertem, reaktivem Denken und hin zu kommunikativem, kollaborativem, nutzerorientiertem Denken.

Andernorts funktioniert der archivische Umgang mit den sozialen Medien bereits – daran könnten wir uns ein Beispiel nehmen!

(Bastian Gillner)

 

 

 

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/592

Weiterlesen

Europa wächst durch den Austausch seiner Vergangenheit

Der Staatsanzeiger für Baden-Württemberg veröffentlichte in seiner letzten Ausgabe am vergangenen Freitag, 15. März 2013 (S. 31), einen Bericht über die Entwicklung vier grenzüberschreitender Projekte basierend auf Studien zur gemeinsamen Vergangenheit der Bewohner des Oberrheins: das „Netzwerk Geschichtsvereine am Oberrhein“, „Netzwerk Museen 2014“, das Ausstellungsprojekt „Menschen im Krieg. 1914 bis 1918 am Oberrhein“ und „Archivum Rhenanum“. Wir freuen uns sehr über diese Entwicklung.

Staatsarchiv_Artikel

Quelle: http://archives.hypotheses.org/278

Weiterlesen

Papstkritik

Es ist Ende Juli 1630 in Regensburg. Ein Mönch hält eine Predigt, in der er die Person des Papstes scharf angreift: „Wann der babst der Antichrist wehre, so wehre eß gewißlich dieser.“ Berichtet hat diesen ungeheuerlichen Vorwurf Sigismund von Götze, kurbrandenburgischer Kanzler und Geheimer Rat, in einem Brief an einen Kollegen im Geheimen Rat, Levin von dem Knesebeck (31.7.1630, GStA PK, I. HA Rep. 12, Nr. 162 fol. 20-22‘ Ausf.). Götze hielt sich in diesen Wochen in der Reichsstadt auf, weil dort der Regensburger Kurfürstentag stattfand, den er als Vertreter Brandenburgs besuchte. Er selbst hatte diese Predigt nicht gehört, sondern berief sich aufs Hörensagen. Dadurch wird diese Episode nicht unglaubwürdig, denn einen solchen Vorgang wird man schlecht frei erfunden haben. Warum auch hätte er als Reformierter sich die Predigt eines Mönches, also eines katholischen Geistlichen, anhören sollen?

Als er von dem Vorfall erfuhr, wird er es aber vielleicht sogar bedauert haben, daß ihm dieses Schauspiel entgangen ist. Wann kam es schon einmal vor, daß von katholischer Seite genau der Vorwurf ins Spiel gebracht wurde, der zu den Klassikern reformatorischer Papstkritik gehörte? Genauso gut kann es sein, daß diese Geschichte bei Götze zuerst nur auf ungläubiges Staunen gestoßen ist und ihn im Weiteren vor allem irritiert hat, zumal in einer Situation, die von Bedrängnis und Unsicherheit gekennzeichnet war. Auf dem Regensburger Kollegialtag ging es, wie die einschlägige Literatur ausweist (Kober, S. 229-246, Kaiser, S. 279-302, Albrecht, S. 733-759), vor allem um Wallenstein und die Frage, wer das Oberkommando über die kaiserliche Armee übernehmen sollte. Gerade für die protestantischen Reichsstände standen aber die Religionsgravamina im Vordergrund, über die sie verhandeln wollten. Denn sie begannen immer stärker die Auswirkungen des Restitutionsedikts zu spüren und fürchteten nun ein kaiserliches Durchregieren mit dem Vorzeichen einer ungehemmten Gegenreformation.

Götze leitete seine Erwähnung der mönchischen Anti-Papst-Predigt aber noch mit einem bezeichnenden Satz ein: Mit dem Papst sei man hier gar nicht zufrieden, meinte er, was darauf hindeutet, daß er womöglich noch mehr antikuriale Kritik mitbekommen hatte. Dies wiederum überrascht nicht, denn tatsächlich waren insbesondere der Kaiserhof und auch einige katholische Reichsstände unzufrieden mit der Politik des Heiligen Stuhls. Schon seit einigen Jahren waren sie über das mangelnde Engagement Roms in diesem Krieg enttäuscht; konkret hatten sie sich – wenig verwunderlich – vor allem eine stärkere finanzielle Unterstützung der Kriegsanstrengungen Kaiser Ferdinands II. und der Katholischen Liga erhofft. Doch die Kurie hielt es für ratsam, die habsburgischen Machtphantasien nicht allzu sehr in den Himmel wachsen zu lassen. Gerade mit Blick auf die Kräfteverhältnisse in Italien konnte der Papst eine schrankenlose Machtfülle der Casa d’Austria nicht befördern.

Solche unübersehbaren Risse in der Front der katholischen Mächte werden den brandenburgischen Kanzler allerdings kaum getröstet haben. Seine Briefe vom Regensburger Kurfürstentag sind durchweg von einer düsteren Stimmung gekennzeichnet, mit der er die Verhandlungen des Kollegialtags begleitete. „Jst viel gereded vonn einem solchem Mann“, schließt Götze seinen Bericht über die Papstkritik ab. Letztlich unklar ist hier, wen er konkret meinte: Sprach man damals viel von dem papstfeindlichen Mönch oder war etwa der Antichrist ein häufiges Thema? Für den Brandenburger wird man eher die apokalyptische Sichtweise annehmen können. Tatsächlich sollte der heraufziehende schwedische Krieg noch einmal mehr Belastungen und mehr Unheil bringen – für alle daran Beteiligten.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/125

Weiterlesen

Zahlen lügen wieder – Die Studie zu Facebook-Likes und Persönlichkeit

Wahrscheinlich ist inzwischen fast jede|r über die von Microsoft Research unterstützte Studie zu Facebook-Likes und Persönlichkeitsstruktur gestolpert. Sie ist bei PNAS Open Access erschienen, so dass sich jede|r ihr|sein eigenes Bild machen kann. Kollege Lars Fischer von den Scilogs hat das Ganze dankenswerterweise mal aufgegriffen, ich habe mich ein wenig in den Kommentaren vergangen und schließlich beschlossen, mich hier etwas länger auszulassen. Wenn ich mich nicht irre, gibt es nämlich Erstaunliches zu berichten. Ich habe ja schon öfter hier zur Statistik geschrieben und dabei auch erwähnt, dass ich keine wirkliche Ausbildung auf dem Gebiet genossen habe, sondern allenfalls eine gefährliche Mischung aus Bauchgefühl und angelesenem Halbwissen zum besten geben kann. Ich lasse mich also gerne verbessern.

Zunächst zu den Ergebnissen – die Studie behauptet z.B. zwischen Homo- und Heterosexuellen Männern zu 88% richtig zu diskriminieren (“The model correctly discriminates between homosexual and heterosexual men in 88% of cases”). Da es mehr als zwei Spielarten der sexuellen Orientierung gibt, die Autoren aber ein binäres Merkmal (also +/-) haben wollen, vereinfachen sie so, dass jeder Mann, der nicht ausschließlich Männer als mögliche Sexualpartner angegeben hat, das heterosexuelle Merkmal trägt. Was aber bedeuten die 88%? Lars meinte (durchaus nachvollziehbar, das dürften die meisten so interpretieren, hier z.B. auch die Zeit), der Algorithmus läge in 88% der Fälle richtig, d.h. von 100 Homosexuellen erkennt er 88 als homosexuell, 88 von 100 Heterosexuellen als heterosexuell. Wenn jetzt das Verhältnis sehr unwuchtig wird (d.h. eine Gruppe im Vergleich zur anderen sehr klein wird), bekommt man verhältnismäßig viele falsche Zuordnungen (falsch positive) in der kleineren Gruppe. Genau das habe ich in meinem Weihnachtsblogpost anhand eines anderen Beispiels thematisiert.

Schaut man in die Studie, so geben dort 4,3% der Männer an, sie seien homosexuell veranlagt. Insofern hätte ich einen guten Algorithmus an der Hand, der 95,7% der Probanden richtig zuordnet – indem nämlich alle als heterosexuell eingeordnet werden.

Ganz so einfach ist es dann doch nicht – die 88% sind nämlich (sorry, ich drück mich ums Übersetzen) “the prediction accurancy of dichotomous variables expressed in terms of the area under the receiver-operating characteristic curve (AUC)”. Puh, Integralrechnung, denkt sich der Kenner, alle anderen lesen den anschließenden Halbsatz “which is equivalent to the probability of correctly classifying two randomly selected users one from each class (e.g., male and female).” Übertragen auf unser Beispiel: Man nehme zwei Individuen, eines, das sich das homosexuelle, eines, das das heterosexuelle Merkmal gegeben hat. Der Algorithmus, basierend auf vergebenen Facebook-Likes (mit einer mehr oder weniger aufwändigen Hauptkomponentenanalyse dahinter), ordnet einem der Individuen das homosexuelle, dem anderen das heterosexuelle Merkmal zu.

Und da frag ich mich jetzt, ob das Ergebnis besonders gut oder zumindest aussagekräftig ist. Betrachten wir zuerst die Baseline: Die Wahrscheinlichkeit, völlig uninformiert richtig zu liegen, beträgt 50%. Offenbar leistet der Algorithmus also gute Arbeit, 88% sind ja ne ganze Stange mehr richtige Vorhersagen, von 100 Paaren werden nur 12 falsch zugeordnet. Aber was hat man davon? Wann in der Welt hat man es denn mit einem Personenpaar zu tun, von dem man weiß, dass nur eine Person ein Merkmal trägt (also z.B. heterosexuell ist), die andere aber auf keinen Fall. Und beauftragt dann einen Algorithmus, der mehr oder weniger sicher herausfindet, welche die Merkmalsperson ist? Also, der Messwert scheint zwar in Ordnung zu sein, sagt uns aber nichts darüber, in wie vielen Fällen der Algorithmus richtig läge, würde ihm nur ein Individuum präsentiert. Die Zahl wäre aber die Interessante gewesen (bzw. derer vier: Anzahl der richtig positiven, der falsch positiven, der falsch negativen und der richtig negativen). Kann sich jetzt jede|r selbst zusammenreimen, weshalb die Autoren sie nicht angeben.

So bin ich lediglich erstaunt darüber, wie eine Studie, die eine sehr eingeschränkte Aussage trifft, auf so große Resonanz stößt. Es gibt auch noch ein paar weitere Dinge zu bemängeln, etwa, dass offenbar direkt auf den Trainingsdaten klassifiziert wurde, statt Testdaten dafür zu erheben. Das würde in keiner Studie zur Sprachverarbeitung so durchgehen. Aber irgendwas scheint hier anders zu funktionieren.

Not facebook not like thumbs down

By Enoc vt (File:Botón Me gusta.svg) [Public domain or CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/841

Weiterlesen

Crowdsourcing – Was ist das und was macht das?

crowdsourcing
Der Begriff „Crowdsourcing“ wurde 2006 von Jeff Howe geprägt und ist ein Kunstwort aus den Begriffen „Crowd“ und „Outsourcing“.

Was ist Crowdsourcing?

Beim Crowdsourcing werden Aufgaben ausgelagert und von externen Personen bearbeitet. Heute geschieht das meist über das Internet, weil man hier viele Menschen erreichen kann, so dass die Wahrscheinlichkeit, eine gute Lösung zu finden, steigt. Häufig werden Einzelproblemlösungen für verschiedenste Aufgaben gesucht (z.B. Programmierung, Medizin, Produktgestaltung, etc.), aber auch sich wiederholende Tätigkeiten (wie beim Mechanical Turk von Amazon) sind möglich.

Dabei gibt es die Idee des Crowdsourcings schon lange, wie die in der Literatur häufig zitierten Beispiele des Gordischen Knotens und der Bestimmung der geographischen Länge zeigen.

Kriterien von Crowdsourcing sind:

  • Definition einer Fragestellung, die es zu beantworten bzw. eine Aufgabe, die es zu lösen gilt.
  • Die Frage/Aufgabe wird an mehrere Menschen adressiert.
  • Diese Menschen müssen nicht unbedingt über ein Fachwissen in dem adressierten Bereich verfügen.
  • Auswahl der besten Idee z.B. durch eine Jury / die Projektverantwortlichen / die Crowd selbst.
  • Durchführung des besten Lösungsansatzes.
  • Vergabe einer Prämie / Nennung des Namens des Gewinners.
  • Heute ist für die erfolgreiche Durchführung von Crowdsourcing-Projekten die Bildung einer Community wichtig.

Folgende Crowdsourcing-Konzepte gibt es:

Und auch bei folgenden Maßnahmen handelt es sich letztlich um Crowdsourcing:

  • Meinungsumfragen
  • Bewertungen, wie Sternchenvergabe
  • Posten eines Tweets zu einem Hashtag, der auch von anderen Twitter-Usern verwendet wird (z.B. #Vatican, #Jobs, etc.).

Die Nennung der Plattformen und Firmen ist nur ein kleiner Ausschnitt aus den existierenden Websites zu diesem Thema. Wer mehr wissen möchte, kann das bei

Oliver Gassmann: Crowdsourcing. Innovationsmanagement mit Schwarmintelligenz, München 2013, nachlesen.

Dieses Buch bietet einen umfassenden Überblick über das Thema, zugehörige Prozessschritte und die Anwendung in der Praxis. Ich hätte nicht gedacht, dass schon so viele bekannte Unternehmen bereits auf diesen Zug aufgesprungen sind und ich von der Crowd erfundene und gestaltete Produkte im Supermarkt kaufen kann (und auch schon gekauft habe) und nicht nur immer davon in Büchern lese.

Aber ein Crowdsourcing-Projekt beinhaltet auch Risiken:

  • So müssen – abhängig von der zu lösenden Aufgabe – Geheimhaltungsvereinbarungen von den Teilnehmern unterzeichnet werden, weil das betreffende Unternehmen Einsicht in seine Betriebsgeheimnisse gewähren muss, damit die Aufgabe gelöst werden kann.
  • Die Frage der Rechteübertragung ist ein wichtiger Punkt, der bereits im Vorfeld geregelt werden sollte. So muss klar sein, dass beispielsweise der Ideengeber seine Rechte an das ausschreibende Unternehmen abtritt, damit dieses seine Lösung verwerten kann. Ebenfalls sollte geklärt sein, wie der Vorschlag abgegolten wird: ob per Fixprämie, späterer Umsatzbeteiligung und/oder Nennung des Namens des Gewinners.
  • Die Crowd muss mit entsprechender Sensibilität betreut werden, sonst schlägt die Stimmung leicht um und wendet sich gegen das Unternehmen (z.B. Vegemite, sh. Abschnitt „Vegemite Cheesybite“).

Trotz einiger Wagnisse gehen Unternehmen diesen lohnenswerten Weg, sich an die Crowd zu wenden. Denn schließlich haben sie damit Zugriff auf eine weltweite Masse von talentierten Teilnehmern.

Insgesamt zeigt Crowdsourcing, dass sich unsere Arbeitswelt wandelt. Waren Angestellte früher Einzelkämpfer und wurden im Wettbewerb quasi gegeneinander aufgehetzt, so kann sich ein erfolgreiches Unternehmen das heute nicht mehr leisten. Aufgaben sind so komplex geworden, dass sie immer weniger von Einzelnen gelöst werden können. Viele Köpfe haben viele Ideen, so dass beim Crowdsourcing die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass die richtige dabei ist. Außerdem ist vermehrt Teamwork angesagt, denn hier kann jeder sein spezielles Wissen zur Lösung beitragen.

Wie man bei Gassmann nachlesen kann: “Wenig innovative Unternehmen schmoren weiterhin im eigenen Saft und erfinden das Rad, im übertragenen Sinne, eher zweimal.“ Man kann sich leicht ausrechnen, welche Unternehmen mit welchen Konzepten in Zukunft erfolgreich sein werden.

Quelle: http://games.hypotheses.org/973

Weiterlesen

Dresden Summer School 2012 – Publikation


Teilnehmer und Teilnehmer der DSS 2012
Digitale Technologien haben in der heutigen Lebenswelt einen fundamentalen Wandel verursacht, der sich mit enormer Schnelligkeit vollzieht. Allein das Medium Internet, das in seiner offen nutzbaren Form erst seit 1991 existiert (1), hat nicht nur in der geschäftlichen, sondern auch in der privaten und wissenschaftlichen Sphäre eine Bedeutung eingenommen, die jene der zuvor bekannten Medien mindestens gleichkommt – wenn nicht sogar übersteigt. Diese Entwicklung ist unumkehrbare Realität und damit theoretisch wie alltagspraktisch ein unumgängliches Diskursthema der heutigen Zeit. Analog zur Industriellen Revolution wird von einer Digitalen Revolution gesprochen, die mit einem Medienwandel einhergeht, der mit der Ablösung oraler Tradierung durch das Schrifttum oder mit der Erfindung des Buchdrucks gleichzusetzen ist.(2)

Das Programm

Für die Dresden Summer School 2012 hat sich die TU Dresden mit ihren benachbarten Kulturinstitutionen, die zu den führenden des Landes gehören, zusammengeschlossen, um der Diskussion über die Digitale Revolution aus geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Sicht ebenso wie aus der alltagspraktischen Perspektive von Museen, Bibliotheken und Archiven eine offene Plattform zu bieten. Gemeinsam mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden und dem Militärhistorischen Museum der Bundeswehr wurde ein zweiwöchiges Programm entwickelt, das einerseits von den beteiligten Institutionen und ihren spezifischen Besonderheiten ausging, andererseits der Vielschichtigkeit des Themas in möglichst vielen Aspekten gerecht werden sollte.

Den Auftakt machte dabei die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, die einerseits ihre technologische Herangehensweise bei der Digitalisierung von Schriftgut und die Aufbereitung der so gewonnenen Daten für semantisch verknüpfte und offen recherchierbare Datenbanken vorstellte, andererseits durch Vortrage die Rolle von Open Access-Publikationen und Wikipedia für das wissenschaftliche Arbeiten diskutierte.

Dr. Achim Bonte und Teilnehmer/innen der DSS 2012 in der SLUB
Teilnehmerinnen der DSS 2012 in der SLUB
Teilnehmer/innen der DSS 2012 in der SLUB

Die TU Dresden widmete sich in der zweiten Sektion sowohl Schnittpunkten von Technik- und Geisteswissenschaften – wie etwa der Schaffung von virtuellen Umgebungen zur Rekonstruktion des Bildaufbaus in Gemälden oder der Nutzung von 3D-Scans für kunstwissenschaftliche Zwecke – als auch der Präsentation der universitätseigenen Sammlungen von Anschauungs- und Archivmaterial.

3D-Scannen mit Dr.-Ing. habil. Christine Schöne, TU Dresden
Teilnehmerinnen der DSS 2012 während des Vortrags von Prof. Dr. Rainer Groh, TU Dresden
Prof. Dr. Rainer Groh, TU Dresden

In der dritten, von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gestalteten Sektion lag der Fokus auf der Vorstellung des Provenienzforschungsprojekts “Daphne”, das sämtliche im Besitz der Museen befindliche Objekte auf ihre Ankaufs- und Erwerbsgeschichte hin untersucht und die Ergebnisse in einer umfassenden Datenbank zusammenträgt. Nach außen hin werden diese Forschungsergebnisse in der Online Collection präsentiert, die die bedeutendsten Kunstwerke im Netz vorstellt und zu virtuellen Themenführungen zusammenfugt.

Teilnehmer/innen der DSS 2012 im Treppenhaus des Residenzschlosses, SKD
Prof. Dr. Dirk Syndram führt durch das Historische Grüne Gewölbe
Historisches im Vorbeigang. Teilnehmer/innen der DSS 2012 im Historischen Grünen Gewölbe, SKD

Das Thema der Internetpräsenz von Kulturinstitutionen wurde in der vierten, vom Deutschen Hygiene-Museum Dresden gemeinsam mit dem Militärhistorischen Museum der Bundeswehr gestalteten Sektion aufgegriffen und vertieft. Dabei konzentrierten sich die Diskussionen auf die Frage, wie soziale Medien in Kulturinstitutionen sinnvoll genutzt werden können.

Teilnehmer/innen der DSS 2012 im DHMD
Teilnehmer/innen der DSS 2012 im DHMD
Prof. Klaus Vogel, Felicitas von Mallinckrodt und Gisela Staupe im DHMD

Das Programm wurde ergänzt von Führungen durch die beteiligten Institutionen und öffentlichen Vortragen. Hinzu kamen zwei Exkursionen – eine an das Museum zur Geschichte der deutschsprachigen Bewohner in den böhmischen Ländern in Ústí nad Labem (Tschechien) und eine zweite in das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz -, die die Bedeutung digitaler Medien für den heutigen Museumsbetrieb anhand zweier im Aufbau befindlicher Institutionen erläuterten. Diese Programminhalte bildeten den Hintergrund vor dem die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Dresden Summer School eingeladen waren, eigene Konzepte und Ideen zu erarbeiten. Diese wurden einerseits in dem eigens eingerichteten Blog veröffentlicht, andererseits bei der Abschlussveranstaltung am 12. Oktober 2012 im Deutschen Hygiene-Museum präsentiert.

Die Ausgangsposition

Die Leitlinien des Diskurses, der sich während der Dresden Summer School entspann, wurden bereits in der Auftaktveranstaltung umrissen. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion gingen dort Peter Strohschneider, Hartmut Böhme, Karl-Siegbert Rehberg und Hubertus Kohle der Frage nach, welche Auswirkungen die Digitale Revolution auf heutige Wissensstrukturen hat. Dabei konstatierten sie einhellig eine neue Fluidität des Wissens, das wesentlich leichter und auch zu einem größeren Umfang zuganglich geworden sei. Daraus ergebe sich der Bedarf an neuen Wissensordnungen, die gerade Museen, Bibliotheken und Archive vor neue Herausforderungen stellten. Als traditionelle Wissensspeicher und damit Kristallisationspunkte der Herausbildung von kulturellen Identitäten läge ihre Aufgabe darin, ein Gegengewicht zu dem Allvorhandensein digitaler Information zu bilden. Eine reines ‘Entweder-Oder’ von Objekt und Digitalisat erschien dabei als zu kurz gegriffen und der Komplexität der Koexistenz und Überlagerung unterschiedlicher Medienformen nicht gerecht werdend. So lag für Hartmut Böhme der Punkt des Interesses gerade in der aus diesen komplexen Verhältnissen entstehenden Spannung. Sie gelte es zu analysieren, um auf diesem Wege zu verlässlichen Erkenntnissen zu gelangen.

Peter Strohschneider unterschied in seinen Beiträgen zwei Ebenen der Diskussion – eine systemische und eine politische. Die Debatte um Kulturpessimismus versus Medieneuphorie werde dabei vor allem auf der politischen Ebene vor dem Hintergrund politischer wie monetärer Macht- und Verteilungskampfe geführt. Auf der systemischen Ebene – also mit Bezug auf die theoretischen wie zeitanalytischen Diskurse um die Digitale Revolution – waren in seinen Augen drei Aspekte von Bedeutung. Zum einen die Abwendung der neuen Medienkultur vom Erinnern hin zu Instrumenten der Selektion und des Vergessens: Das Erinnern sei durch die sofortige Abrufbarkeit von Informationen unproblematisch geworden und es fehlten nun angesichts dessen neue Wege im Umgang mit Wissensordnungen. Ein zweiter Aspekt der systemischen Fragestellung war für Strohschneider die Verschiebung der Kategorien von Wahrheit und Mehrheit. Da Internetstrukturen auf häufig nachgefragtem Wissen basierten, würden die Grenzen zwischen Wahrheit und Mehrheit zunehmend unscharf und mussten in ihrem Verlauf neu bestimmt werden. Als dritten Diskussionspunkt identifizierte er die Plagiatsdebatte, der in seinen Augen ein technizistischer Textbegriff zugrunde liegt, der einen Text als Wortlautidentität begreift und keine Unterscheidungen zum Diskurs mehr erlaubt.

Auch Karl-Siegbert Rehberg sah in der verbreiteten Nutzung digitaler Medien keine existentielle Bedrohung für Kulturinstitutionen. Er konstatierte vielmehr für den aktuellen Moment ein vermehrtes Bedürfnis nach Dinglichkeit und Materialität, das nun auf Jahrzehnte der Virtualitätseuphorie folge. Das Museum als Ort der unmittelbaren Begegnung mit dem Objekt gewänne in diesem Prozess nur weiter an Bedeutung. Die Gefahr, der Wert des originalen Objekts könne angesichts seiner massenhaften digitalen Reproduktion nivelliert werden, sah keiner der Diskutanten als ernsthaft bedrohlich an. Die umfassende, “auratische” Bedeutung von Kunstwerken sei, so Hartmut Böhme, bereits seit Jahrhunderten durch Reproduktionen und Berichte geschaffen worden. Die in Frequenz und Verfügbarkeit erhöhten heutigen Reproduktionen konnten diesen Ruhm eines Kunstwerkes nur weiter steigern und damit den Wert seines faktischen Vorhandenseins an einem Ort nur erhöhen.

Hubertus Kohle verwies in seinen Beitragen auf den praktischen Nutzen von Digitalisaten im Zusammenhang mit Open Access. Gerade in diesem Verfügbarmachen von Wissen liegt für ihn einer der größten Errungenschaften der Digitalen Revolution. Er kritisierte, dass die Potentiale dieser Entwicklung bis heute nicht hinreichend erkannt und im Wissenschaftsbetrieb ausgeschöpft worden seien. Die Diskussion bot auf diese Weise in wissenschaftspraktischer ebenso wie in systemischer und politischer Hinsicht umfassende Denkimpulse für den weiteren Verlauf der Dresden Summer School. Gerade die Betonung der gleichzeitigen Überlagerung von Medienkonzepten und das Herausarbeiten von zu untersuchenden Spannungsverhältnissen – etwa zwischen Transparenz und Geheimnis – zeigten, wie ausgedehnt das Diskursfeld ist, auf dem die Dresden Summer School agierte. Dieses Feld zu vermessen und die ihm innewohnenden Prozesse und Konfliktlinien zu analysieren, dazu wollte sie gemeinsam mit ihren Teilnehmerinnen und Teilnehmern einen erhellenden Beitrag leisten.

Programmhefte DSS 2012
Dr. Hartwig Fischer, Generaldirektor der SKD, bei der Eröffnung der DSS 2012
Prof. Dr.-Ing. Hans Müller-Steinhagen, Rektor der TU Dresden, bei der Eröffnung der DSS 2012
Prof. Dr. Hans Vorländer, Leiter der DSS 2012, bei der Eröffnung der DSS 2012
Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg, Prof. Dr. Hartmut Böhme, Moderatorin Cécile Schortmann, Prof. Dr. Peter Strohschneider und Prof. Dr. Hubertus Kohle
Eröffnungsfeier der DSS 2012

Dieser Artikel ist zugleich erschienen in: Dresden Summer School 2012. Von der Vitrine zum Web 2.0 – Bibliotheken, Museen und Achive im digitalen Zeitalter, hg. von Hans Vorländer, Felicitas von Mallinckrodt und Kerstin Küster, Dresden 2013.

Die Broschüre gibt es hier zum Download.

 

Quelle: http://dss.hypotheses.org/1107

Weiterlesen

Zur Rolle des Subjekts in den sozialen Praktiken – Von Benjamin Köhler

Zugespitzt und umfassend wurde der sog. „Practice Turn“ (2001) durch Theordore Schatzki, Karin Knorr-Cetina und Eike von Savigny ausgerufen, der später durch Reckwitz für den deutschsprachigen Raum als Sozialtheorie systematisiert wurde (vgl. Reckwitz 2003). Inhaltlich treten die sozialen Praktiken (altgriechisch: prâxis; … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/4513

Weiterlesen

Kulturgeschichtliches zu den Himmelsrichtungen (IV): der Westen

Die Himmelsrichtungen hatten in der Kulturgeschichte Chinas ihren festen Platz in den – in ihren einzelnen Zuschreibungen zum Teil höchst unterschiedlichen – kosmologischen Systemen. (vgl. auch (I) der Norden, (II) der Osten und (III) der Süden)

Das Schriftzeichen xi 西 (Westen) zeigt einen Vogel, der sich am Abend – wenn die Sonne im Westen steht – in seinem Nest niedergelassen hat. Nach traditionellen Vorstellungen korrespondiert der Westen mit dem Planeten Venus, mit der Farbe Weiß, mit dem Herbst, mit der Lunge und mit der Wandlungsphase Metall. [1]

Nicht nur der Osten sondern auch – und im noch stärkeren Maße – der Westen galten seit dem Altertum als die “klassischen Himmelsrichtungen für das Paradies” [2].

Im Westen vermutete man den Sitz der Xiwangmu 西王母, der “Königlichen Mutter des Westens”. Der Begriff leitete sich ursprünglich von einem Ortsnamen ab und erhielt schließlich – nicht zuletzt durch das für die Transkription verwendete Zeichen  mu 母 (Mutter) die später geläufige Bedeutung. Wie Fracasso einleitend schreibt, haben wenige Figuren des chinesischen Pantheon so viel Aufmerksamkeit erhalten wie Xiwangmu [3]. Als Sitz der “Königlichen Mutter des Westens” galt das Kunlun 崑崙-Gebirge. Wurde die Göttin zunächst in den düstersten Farben geschildert, so wandelte sich ihr Äußeres in späteren Texten und in der Ikonographie grundlegend. Nach Ferdinand Lessing zeigen bildliche Darstellungen “eine vornehme chinesische Dame [...] deren Erscheinung die Mitte hält zwischen mädchenhafter Zartheit und der Fülle der Matrone.” [4] Anläßlich ihres Geburtstages, den sie – so die Vorstellungen – am 3. Tag des 3. Monats des chinesischen Mondkalenders feiert, lädt sie Götter und Unsterbliche ein, um diesen die nur alle paar tausend Jahre reif werdenden “Pfirsiche der Unsterblichkeit” (pantao 蟠桃) aufwarten zu lassen. [5]

Die mit dem Westen verknüpften Paradiesvorstellungen wurden mit der Verbreitung des Buddhismus in China weiter verstärkt. Die Jingtu 淨土-Schule (“Schule des Reinen Landes”) des Buddhismus verehrte besonders den Buddha Amitābha, der das “Reine Land”, das im Westen gelegene Paradies, regiert. Einige weitere Begriffe, die im Zusammenhang mit dem Buddhismus geprägt worden waren, enthielten das Schriftzeichen xi 西 (Westen): Indien wurde mit Xiguo 西國 (Land im Westen) und Sanskrit mit Xiyu 西語 (Sprache des Westens) wiedergegeben. [6]

Ab dem 10. Jahrhundert wurden die Meere Südostasiens mit dem Begriff Xiyang 西洋(“Westlicher Ozean”) bezeichnet. Für die bedeutenden maritimen Expeditionen des Zheng He 鄭和 in den Indischen Ozean wurde ebenfalls der Ausdruck xia Xiyang 下西洋, “den westlichen Ozean befahren”) gebraucht. Schon kurz nach ihrem Erscheinen an den Küsten Chinas zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden schließlich die Europäer unter anderem auch als Xiyang ren 西洋人 (“Menschen vom westlichen Ozean”) bezeichnet. Im frühen 17. Jahrhundert prägten die Jesuitenmissionare und deren chinesische Mitarbeiter den Ausdruck Da Xiyang 大西洋 (“Großer Westlicher Ozean”), der fortan für den Atlantik stand. [7]

 

[1] Grand Dictionnaire Ricci de la langue chinoise Bd. 2, S. 940 (Nr. 4080). [nach oben]

[2] Wolfgang Bauer: China und die Hoffnung auf Glück, 142. [nach oben]

[3] Ricardo Fracasso: “Holy Mothers of Ancient China. A New Approach to the Hsi-wang-mu Problem.” In: T’oung Pao 74 (1988) 1-46. – Vgl. auch Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Singapore 2008) 203 f. (“Xi Wangmu”). [nach oben]

[4] Zitiert nach Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Bildsprache der Chinesen (München, 5. Aufl. 1996) 136-138 (“Hsi-wang-mu”). [nach oben]

[5] Welch: Art, 204. [nach oben]

[6] Endymion Wilkinson: Chinese History. A Manual. Revised and enlarged (Cambridge, Mass., 2000) 729. [nach oben]

[7] Wilkinson: Chinese History, 729 f. [nach oben]

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/184

Weiterlesen

Wie lautet die korrekte Anrede Wallensteins?

Im Jahr 1625 trat der Dreißigjährige Krieg in eine neue Phase, als der Konflikt mit König Christian IV. eskalierte. In dieser Situation beschloß der Kaiser, eine neue Armee aufzustellen; der Auftrag dafür ging an Wallenstein, der schon zu dem Zeitpunkt der größte Kriegsgewinnler und Aufsteiger par excellence war. Bekanntermaßen überraschte der neue Feldherr des Kaisers vor allem mit der Größe des Heeres. Entsprechend groß gestalteten sich auch die Probleme, die Truppen einzuquartieren – und ebenso die Klagen über die Quartierlasten. Im Herbst suchten Wallensteinische Regimenter unter anderem im Erzstift Magdeburg Winterquartiere. Um sich davor zu schützen, baten betroffene Städte und landsässige Adlige in zahlreichen Bittschreiben um Verschonung. Noch besser war es, wenn man einen prominenten Reichsstand gewinnen konnte, Fürsprache einzulegen. Genau dies tat Johann Georg, Kurfürst von Sachsen, als er Wallenstein am 5. November 1625 darum bat, die im Magdeburgischen gelegenen Güter Ludwigs von der Asseburg d.Ä. zu Wallhausen nicht mit Soldaten zu belegen.

Ein Vorgang, der so üblich war, daß man kein weiteres Wort darüber zu verlieren bräuchte. In dem Fall fällt jedoch auf, daß der Brief eben nicht in der Registratur des kaiserlichen Heeres auftaucht, sondern in der kurbrandenburgischen Überlieferung – und dies auch nicht in Abschrift, sondern in der Ausfertigung, die aus Dresden an Wallenstein geschickt wurde. Die Erklärung für diese kuriose Provenienz findet sich in einer Notiz am oberen Rand des Schreibens. Derzufolge reichte Wallenstein diesen Brief an den Kurfürsten von Brandenburg weiter, damit dieser den „gleichen stylum wie der Churfurst zue Sachßen an Jhme [=Wallenstein] fuhren möchte.“ Der frisch gebackene Feldherr schickte also beispielhafte Schreiben, damit andere Reichsfürsten entsprechende Muster für korrekte Anschreiben an ihn hatten. Der kursächsische Brief an Wallenstein begann mit der Anrede: „Vnser freundlich dienst zuuor, Hochgeborner, insonders lieber Herr vnd Freund“. Und die Adresse lautete: „Dem Hochgebornen, vnserm insonders lieben herrn vnd freund, herrn Albrechten, Regirern des Hauses Wallstein, Herzogen zu Fridland, Röm:Key:Maith: KrigsRath, Cämmerern, Obersten zu Prag, vnd Generaln über dero Armée.“ (GStA PK I. HA GR, Rep. 41 Nr. 735)

Das alles hat Wallenstein gefallen, ja er fand diese Version der Anrede offenbar nachahmenswert. Ob die kurbrandenburgische Kanzlei einer solchen Form der Nachhilfe bedurfte, weil sie womöglich Wallenstein gegenüber bereits eine andere, weniger ehrenvolle Adresse verwendet hatte, wissen wir nicht. Deutlich wird aber daran, wie sehr Wallenstein auch schon zu diesem frühen Zeitpunkt in Fragen der Titulatur unnachgiebig auf die Wahrung des ihm gebührenden Rangs und aller ihm zustehenden Ehrenbezeugungen Wert legte. Sein Stern sollte bekanntermaßen noch weiter aufsteigen und ihn zum Herzog von Mecklenburg und damit zum Reichsfürsten machen – was dann bei einigen Reichsständen erst recht für Unmut sorgte. Der Zank um die korrekte Titulatur sollte also noch größer werden. Nun war die Streitlust in diesem Punkt sicher auch das Gebaren eines Aufsteigers. Doch deutlich wird schon an dieser Episode das unerbittliche Rangsystem der ständischen Gesellschaft, in der man den sozialen Aufstieg eben auch dadurch manifestierte, daß einem die neu zustehende Ehrbezeugung tatsächlich zuteil wurde.

Und was geschah mit den Gütern Ludwigs von der Asseburg? Wir erfahren in diesem Zusammenhang nicht, ob die kursächsische Interzession die Einquartierung dort hat verhindern können. Aber nach dem, was wir über das Gebaren der Wallensteinschen Regimenter auch schon in ihrem ersten Kriegsjahr wissen, dürften die Chancen nur gering gewesen sein, der Belegung mit Soldaten zu entkommen. So viel bewirkte die korrekte Anrede des Herzogs von Friedland dann auch nicht.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/87

Weiterlesen