Vier Schätze des Studierzimmers (II)

Während archäologische Befunde den Gebrauch von tuscheähnlichen Substanzen bereits für das Neolithikum belegen, schrieb man die Erfindung der Tusche traditionell dem Kalligraphen Wei Dan 韋誕 (179-253) zu[1]. Das später in der Bedeutung “Tusche” gebrauchte Schriftzeichen mo 墨 bezeichnete ursprünglich eine Methode der Bestrafung, bei der das Gesicht geschwärzt beziehungsweise tätowiert wurde[2].

Zumindest ab der Han- (206. v. – 220 n. Chr.) und bis in die Song-Zeit (960-1279) war der Ruß, den man beim Verbrennen von Kiefernholz gewann, der zentrale Bestandteil chinesischer Tusche. Erst danach wurde auch Lampenruß – der beim Verbrennen tierischer, pflanzlicher und mineralischer Öle entstand – für die Tuscheproduktion verwendet.[3]. Wie Song Yingxing 宋應星 (1587-1666?) in seiner in der ausgehenden Ming-Zeit (17. Jahrhundert) entstandenen technisch-naturkundlichen Enzyklopädie Tiangong kaiwu 天工開物 (“Die Nutzung der natürlichen Vorkommen”) schrieb, wurden damals 90% der Tusche aus Kiefernruß und nur 10 % aus Lampenruß gewonnen[4]

Für die Veredelung der Tusche stand ein breites Repertoire erlesener Ingredienzen zur Verfügung:

Der Abrundung von Farbe und Glanz der Tusche diente die Zugabe von feinst zerstoßenen Perlen, die Beimengung von Schweine- und Karpfengalle sowie von Extrakten aus Galläpfeln, Granatapfelschalen, Päonienrinde usw. Das Rosinchen für den Kenner war die olfaktorische Aufbesserung mit Hilfe von Kampfer, pulverisierten Nelken, Sandelholzaroma, Moschus, etc.[5]

Wie wichtig die Herstellung der Tusche war, spiegelt sich nicht zuletzt darin, dass vor allem ab der Tang-Zeit (618-906) eine ganze Reihe von bedeutenden Produzenten namentlich bekannt sind.[6]

Die Masse, die nach längerem Bearbeiten in einem Mörser entstand, wurde schließlich in Formen gepreßt und getrocknet, so dass feste Tuschestücke entstanden. Vor dem Schreiben mussten diese Tuschestücke – im Laufe der Geschichte zunächst Kugeln oder Halbkugeln, später dann rechteckig – in einem Reibstein unter Hinzufügen von angerieben werden. [7]

  1. Tsien Tsuen-hsuin: Paper and Printing (= Joseph Needham (Hg.): Science and Civilisation in China. Volume 5: Chemistry and Chemical Technology, Part 1; Cambridge 1985) 237 f.
  2. Vgl. ebd., 238.
  3. Vgl. Klaus Flessel: “Die Erfindung des Buchdrucks in China sowie einige Anmerkungen zu seiner frühen Nutzung” In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 57 (2003) 267 f.
  4. Tsien: Paper and Printing, 241. Zu Song vgl. Dagmar Schäfer: “Der Außenstehende. Song Yingxing 宋應星 (1587-1666?). In: Heiner Roetz (Hg.): Kritik im alten und modernen China (Jahrbuch der Deutschen Vereinigung für Chinastudien 2, Wiesbaden 2006) 165-178.
  5. Flessel, “Erfindung des Buchdrucks”., 268. Vgl. dazu auch Tsien: Paper and Printing, 246 sowie Thomas O. Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte (München 2008) 219 “Pflanzliche Beimengungen der Tusche (zusammengestellt nach den Erwähnungen im Mopu fashi)
  6. Vgl. dazu Tsien: Paper and Printing, 245 f.
  7. Vgl. Roland G. Knapp (Text), Michael Freeman (Fotos): Things Chinese. Antiques – Crafts – Collectibles (Tokyo/Rutland/Singapore, 2011) 41 f.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/523

Weiterlesen

Abstract zum Vortrag von Dr. Claudia Kauertz: Die Fördergrundsätze des LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrums für archivische Aufgaben

Die Leiterin des Sachgebiets Archivberatung des LVR-AFZ Dr. Claudia Kauertz erläutert die Grundsätze der Förderung nichtstaatlicher rheinischer Archive im Kontext der Kulturförderung des LVR. Ihr Vortrag beginnt am 14. Juni um 10.00 Uhr.

Mit der Vielzahl seiner Kulturdienststellen in den verschiedenen Regionen des Rheinlandes sowie mit seinen Beratungsleistungen und Fortbildungsangeboten tritt der Landschaftsverband Rheinland (LVR) als bedeutender Kulturförderer in Erscheinung. Darüber hinaus stellt der LVR finanzielle Fördermittel zur Weiterentwicklung der verschiedenen Kultursparten bereit. Auch die nichtstaatlichen Archive im Rheinland profitieren von den an verschiedener Stelle und in unterschiedlicher Höhe zur Förderung der archivischen Infrastruktur vom LVR bereit gestellten Zuschussmitteln. Allein in den letzten 5 Jahren hat der LVR im Rahmen verschiedener Förderprogramme insgesamt Mittel in Höhe von ca. 1,78 Mill. Euro an nichtstaatliche rheinische Archive ausgegeben.

Der vorliegende Beitrag informiert über die verschiedenen Fördermöglichkeiten, die der LVR allen nichtstaatlichen rheinischen Archiven – sowohl Kommunalarchiven wie auch übrigen Archiven – anbietet. Dabei geht er sowohl auf Fördermaßnahmen ein, bei denen die Mittel maßgeblich vom Land bereit gestellt, aber von den beiden nordrhein-westfälischen Landschaftsverbänden bewirtschaftet und vergeben werden, wie auch auf die vom LVR aus eigenem Etat zur Verfügung gestellten Zuschussmittel. Letztere werden den rheinischen Archiven v. a. im Rahmen der allen Kultureinrichtungen zu Gute kommenden Regionalen Kulturförderung vom LVR-Kulturdezernat (Dezernat 9) sowie im Rahmen der spartenspezifischen Archivförderung vom LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum (LVR-AFZ) zur Verfügung gestellt. Der Fokus liegt dabei auf der Archivförderung des LVR-AFZ, dessen Fördergrundsätze und -kriterien vorgestellt werden.

Quelle: http://lvrafz.hypotheses.org/953

Weiterlesen

“…und trageten die blauen Röck so lang, bis sie vom Leib herbfauleten, vor auch wenn einer ohne das ein Schwein ist.” – Eine neue Quelle zur Salzburger Domliturgie


Neuerwerbung im Archiv der Erzdiözese Salzburg – Bemerkungen für den Dom-Ceremoniar Band II.

Vorderdeckel der Bemerkungen für den Dom-Ceremoniar

Vorderdeckel der Bemerkungen für den Dom-Ceremoniar

Im Juni 2013 konnte für das AES eine wichtige Quelle zur Domliturgie erworben werden. Die “Bemerkungen für den Dom-Ceremoniar” enthalten einige Dokumente finanzielle Angelegenheiten die Domkustorei betreffend aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dann laufende Bemerkungen über verschiedene Liturgien am Dom und andere Feierlichkeiten in Anwesenheit des Erzbischofs vom beginnenden 19. Jahrhundert bis 1869. Beigefügt sind auch Aufstellungspläne, genaue zeitliche Abläufe und auch persönliche Bemerkungen zur Liturgie und ihren Begleitumständen.

Der gut erhaltene Band mit Lederrücken und schönem Marmorpapier am Vorder- und Hinterdeckel ist 352 Seiten stark und besitzt ein handschriftliches recht ausführliches Register.

Aus diesem Band soll eine besonders bemerkenswerte Mitteilung zur Kleidungsausstattung der Domchoralisten wiedergegeben werden:

Pro memoria

Alle 3 Jahre um das Fest ascensionis D. N. J. Ch. beckommen die Choralisten die blauen Chorröck. anno 1781 haben die Choralisten anstatt die Chorröck anmessen zu lassen, das Tuch in natura nehmen wollen, um ihnen ein Kleid machen zu lassen, welches aber ich Franciscus Moschee als dermahliger Subcustos nicht zugegeben habe, weilen, wann man es denen Choralisten angehen ließe, auch die Meßner und Ministranten, wie auch der Meßner in Mirabell auch practiciren wollten, zu dem ließen, auch die Choralisten den alten Chorrock wenden, und  in Fall, es sterbete einer ein halbes oder Viertljahr nach bekommenen neuen Röcken, so hätte der Nachfolger anstatt eines neuen, den alten umgewendeten, und auf solche Art wurde der Nachfolger defraudiert. Auf dieses sollte der Subcustos sehr bedacht seyn, solches intereßirtes und schmutziges Wesen abzustellen, denn wenn man solches angehen ließe, so wären die Choralisten im Stand, und trageten die blauen Röck so lang, bis sie vom Leib herbfauleten, vor auch wenn einer ohne das ein Schwein ist.

Doppelseite mit Planskizzen zu verschiedenen Feierlichkeiten

Doppelseite mit Planskizzen zu verschiedenen Feierlichkeiten

 

Quelle: http://aes.hypotheses.org/105

Weiterlesen

Pommersche Gravamina, Teil V – Menschenfresserei

Nr. 52 der Pommerschen Gravamina: Aufgrund der rigorosen Eintreibung von Kriegssteuern durch die Besatzer verlieren die Menschen im Land ihre Lebensgrundlagen; allenthalben breitet sich Hunger aus. Man behilft sich damit, junge Triebe und Knospen von den Bäumen zu ernten, manche essen „wie das Viehe“ Gras, ja manche werden mit Gras im Mund verhungert aufgefunden. Die Not treibt die Menschen sogar dazu, sich vom Fleisch der Toten zu sättigen, und einige haben sogar „jhr eygenen Eltern Fleisch gefressen“. Vor zwei Monaten, so der Bericht in dieser Flugschrift, habe „ein Weib jr Kind schlachten / selbiges kochen / vnd sich also deß Hungers erwehren wollen“.

Mit diesem Passus ist in der Schilderung der Exzesse seitens der kaiserlichen Söldner und der Not, die die Bevölkerung erleiden mußte, ein Höhepunkt erreicht. Schon auf dem Titelblatt findet sich die Formulierung, „wie gantz Tyrannisch / Vnchristlich vnd Barbarisch“ das Militär sich verhalten habe, und am Ende der Gravamina wird das Verhalten der kaiserlichen Truppen derart bewertet, „daß es auch Tartarn vnnd Türcken nicht so gar arg gemacht haben würden“ (S. 15). Die Wortwahl macht bereits deutlich, daß in den Augen der pommerschen Gesandtschaft die Militärs nicht einfach nur über die Stränge geschlagen haben, sondern daß sie alle verbindlichen Normen verletzt und Greuel verübt haben, wie sie allenfalls in der Welt der Barbaren üblich sein konnten (siehe zu dieser Thematik auch meinen Aufsatz im Sammelband Kriegsgreuel). Die Folgen dieser Exzesse münden in einer Hungersnot, die die Menschen immer mehr verzweifeln läßt und zu immer radikaleren Mitteln der Sättigung antreibt, wobei die „vnnatürlichen Speisen“ von Knospen und Gräsern bis zum Fleisch der Toten und dann der getöteten eigenen Kinder reicht.

Deutlich sichtbar wird hier in der Darstellung die dramaturgisch aufgebaute Klimax. Vor einigen Jahren hat Daniel Fulda Anthropophagieberichte aus dem Dreißigjährigen Krieg dahingehend gedeutet, daß sie auch dazu dienten, das nicht für möglich gehaltene Ausmaß von Gewalt und Exzeß zu beschreiben, das eben auch jede göttliche Ordnung verletzt (im Sammelband Ein Schauplatz herber Angst, 1997). Dabei arbeitet er auch die „ästhetische Faszination“ dieses Tabus heraus und auch die rhetorische Technik in der Darstellung, deren Steigerungsprinzip sich genau in dieser Form auch in der pommerschen Schilderung wiederfinden läßt.

Mit diesem Ansatz wird natürlich in keiner Weise darüber entschieden, ob die Schilderung der pommerschen Verhältnisse übertrieben oder gar völlig fiktiv ist (was auch D. Fulda nicht behauptet). Letztlich läßt sich dies nicht beweisen – aber eben auch nicht abstreiten, und die Not der Menschen in diesen Zeiten mag tatsächlich auch Fälle von Kannibalismus befördert haben. Wichtig bleibt aber doch zu sehen, daß die Schilderungen in diesen Beschwerden nicht einfach nur berichteten, wie es war, sondern durchaus einer spezifischen Rhetorik folgten, einer Rhetorik zumal, die als solche auch identifiziert und verstanden werden wollte, eben um das schier unermeßliche Elend in Worte zu kleiden, das die Menschen damals in Pommern erlitten.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/157

Weiterlesen

Wladislaw II. und Ludwig II. – Das jagiellonische Erbe in Kamenz

Das vom böhmisch-ungarischen König Wladislaw II. in Kamenz gegründete Franziskanerobservantenkloster St. Annen steht im Mittelpunkt des Vortrags von Jan Rüttinger M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sakralmuseum St. Annen in Kamenz, am Donnerstag den 13.06.2013. Zum Abschluß der Ausstellung Camencia Jagellonica. Die Gründung des Franziskanerklosters St. Annen in Kamenz, die am 16.06.2013 schließt, werden nochmal die Hintergründe und die Entstehungsgeschichte des Klosters beleuchtet, sowie die intensive Förderung durch die jagiellonischen Herrscher Wladislaw II. und Ludwig II. Die Besonderheit der letzten franziskanischen Klostergründung in der Oberlausitz als eine herrschaftliche Stiftung [...]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/4685

Weiterlesen

Fortbildung “Web 2.0 und Kommunalarchive”

Termin: 1. Oktober 2013

Referenten: Dr. Antje Diener-Staeckling (LWL-Archivamt für Westfalen), Dr. Bastian Gillner (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland), Thomas Wolf (Kreisarchiv Siegen-Wittgenstein)

Ort: LWL-Archivamt für Westfalen, Münster

Teilnehmerzahl: 15

Kosten: 35 €

Anmeldeschluss: 2. September 2013

“Seit einigen Jahren finden neben dem herkömmlichen Internetauftritt zunehmend auch Web 2.0-Anwendungen Eingang in die Kommunen, auch befördert durch eine allgemeine Initiative des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Als Teil der Verwaltung haben sich kommunale Archive immer mehr mit veränderten Nutzererwartungen auseinaderzusetzen oder können mit neuen Möglichkeiten ihre klassische Aufgabenerfüllung optimieren. Doch was ist das überhaupt: Blogs, Facebook, Twitter und Co?

Das Seminar möchte verschiedene Formen von Anwendungen vorstellen und zeigen, welche sozialen Medien für Archive möglich und sinnvoll erscheinen. Damit ist auch das “Einmann/Einfrau-Archiv” angesprochen, das seine Ressourchen gut einteilen muss. Hier können umfassende Informationen zu den Instrumenten des Web 2.0 helfen, um eigene Konzepte in diesem Bereich zu entwicklen, die die Arbeit des Archivs unterstützen und erleichtern werden.”
Link zum Fortbildungs-Programm (PDF)

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/683

Weiterlesen

Oral History – Geschichte mal anders?

Folgende Szene sollte den meisten Studenten der Geschichtswissenschaft geläufig sein: Man hört einer gut besuchten Vorlesung seines Lieblingsprofessors der Zeitgeschichte zu. Der Vortrag neigt sich zu Ende, deshalb lädt der engagierte Dozent seine Zuhörer ein, Fragen zu stellen. Aber natürlich meldet sich niemand. Niemand? Doch, aber kein junger Student, sondern meist ein älterer Zuhörer nimmt die Chance wahr. Oftmals ist es eine Frage, manchmal wird aber auch ein Kommentar abgegeben und wenn wir viel Glück haben, erleben wir sogar einen Zeitzeugen, der den Vortrag entweder bestätigt oder kritisiert. Immerhin: “Er war dabei”. Dies ist meist das erste Erlebnis eines jungen Studenten mit einem echten Zeitzeugen (wenn wir mal die unzähligen Knoppschen Filme außen vor lassen).  Aber wer von uns hatte schon einmal die Chance mit jemand länger über seine “Zeitzeugenschaft” zu sprechen? Wohl nicht allzu viele, und das obwohl die Oral History ein wichtiger Teil der Erinnerungsgeschichte des 20. Jahrhunderts geworden ist. Im Folgenden möchte ich aber eine Sonderform der Oral History besprechen: das Experteninterview.

Der Zeitzeuge als Feind des Historikers?

1829188_300
Aber nun zu meiner Erfahrung mit einem Zeitzeugen. Ich hatte letzten Montag ein gutes Expertengespräch mit einem ehemaligen CDU Angestellten (bzw. späteren Staatsekretär). Mein Vorgehen bestand in einem vorher erarbeiteten Leitfragebogen und einer offenen Gesprächssituation. Vor dem Gespräch und auch jetzt noch, stelle ich mir aber immer wieder folgende Fragen: Ist die Oral History in der Praxis sinnvoll? Wieso habe ich das Gespräch gesucht? Welche Vor- und Nachteile haben solche Gespräche? Dies will ich anhand meiner eigenen Arbeit kurz besprechen.

Vorweg muss ich gestehen, dass mein Projekt eine archivgestützte Arbeit ist, die von der Idee her völlig auf eine Zeitzeugenbefragung verzichten kann. Ich baue meinen Narrativ und auch meine Argumentationsstruktur nicht auf Zeitzeugenaussagen auf. Allerdings konnte ich in meiner Magisterarbeit über Stadtplanung in München schon erste Erfahrungen mit Experteninterviews sammeln. Trotzdem bleiben solche Gespräche höchstens eine Hilfestellung. Aber für was? Hier kommen wir zum eigentlich Kern der Sache. Meine Doktorarbeit kreist in wichtigen Aspekten darum, wie Politik verhandelt wird, wie sich eine Organisationskultur verändert und wie wissenschaftliche Expertisen Politiker anleiten. Diese “Wie-Fragen” deuten natürlich auf einen kulturgeschichtlichen Ansatz hin und bezeugen die Suche nach Bedeutungen und Rollenmustern. Dafür ist ein gewisses “Feeling” für informelle Beziehungen von Vorteil. Wichtig war mir nicht unbedingt, die Spitzenpolitiker zu befragen, sondern die Menschen “hinter den Kulissen”. Schließlich geht es mir nicht um den “arkanen Zirkel” der Macht. Trotzdem kann ich durch ihre Beschreibungen von Prozessen die Aussagekraft meiner schriftlichen Quellen besser einschätzen. Wie Berater und Politiker zusammenarbeiten, findet sich wenn man Glück hat in der Korrespondenz oder bestimmten Nachlässen, aber eben nicht immer. Deshalb sind persönliche Einschätzungen zu diesen symbiotischen Beziehungen hilfreich. Wichtig ist, dass man sich stark darauf beschränkt “wie” der Zeitzeuge bestimmte Sachverhalte erzählt und bewertet. Für mich war sein eigenes Selbstverständnis und die Rollenzuschreibung wichtig. Das “was” und die Selbsteinschätzung der eigenen Taten stehen dabei definitiv im Hintergrund.

Ein anderer Grund ist die Motivation. Es macht ganz einfach Spaß ein gutes Gespräch mit jemanden zuführen, der sich in dem Gebiet auskennt. Natürlich darf man die kritische Betrachtungsweise nicht verlieren (auch wenn dies im Gesprächsverlauf passieren kann), aber durch eine gute Nachbereitung und die Distanz zu seinem Objekt sollte das kein großes Problem sein. Außerdem sollte man schon vorher klar wissen, welchen Platz diese Aussagen in der Arbeit haben werden. Für mich war das Gespräch deshalb eher eine Bestätigung und eine Ergänzung, als eine Generierung von neuem Wissen. Ich habe das Gespräch auch erst nach meiner Archivrecherche getätigt und wusste relativ klar worauf ich hinaus will und was mich erwartet. Die richtige Vorbereitung ist der Schlüssel zum Erfolg. Ein weiterer Nebenaspekt ist die Ergänzung von Details oder mögliche Quellenfunde. Manchmal wird ein Buch empfohlen oder man findet Zeitungsausschnittssammlungen. Andere Gespräche führen zu Kontakten mit weiteren involvierten Personen. Diese pragmatische Dimension sollte man nicht unberücksichtigt lassen und hier durchaus seine Fühler ausstrecken.

Neben den allgemeinen Problemen der Oral History, wie dem Gedächtnis, der Befragungssituation oder der emotionalen Nähe zu seinem Zuhörer, lag meine größte Sorge jedoch darin begründet, sich einen Narrativ “aufschwatzen” zu lassen. Das gilt vor allem für Experteninterviews, weil man es in der Regel mit Kommunikationsprofis zu tun hat. Diese haben sicherlich mehr Erfahrung mit Interviewsituationen als der jeweilige Historiker. Daher ist auch hier das Wissen um die Person und die Einordnung seiner Leistung schon vor dem Interview unumgänglich.

Als Resümee bleibt zu sagen, dass die Zeitgeschichte offen bleiben sollte und ich auch Zeithistoriker ermutigen will: Fragt nach! Sie darf den Zeitzeugen nicht kategorisch ablehnen, sondern muss wissen, wie sie ihn in ihre Geschichte integriert. Dies gilt natürlich auch für die Präsentation von Zeitzeugen in den Medien. Wenn man aber zu vorsichtig ist, verschließt man sich lediglich einer weiteren Dimension, die in dieser Art nur der Zeitgeschichte zur Verfügung steht. Allerdings darf man nicht zu viel erwarten. Neues Wissen oder echte Hilfe für die Arbeit kommt dabei in der Regel nicht heraus (außer es ist ein dezitiertes Oral History Projekt). Mir helfen diese Gespräche auf meinem langen Weg zur Promotion, weil sie Spaß bereiten und mich bestätigten. Welche bessere Motivation kann es geben?

Literaturtipps:

Mittlerweile gibt es natürlich sehr viel Literatur zu dem Thema und immer mehr Material wird online gestellt. Eine kleine Einstiegsliste für englische Projekte findet ihr hier, eine wahren Fundgrube für Hausarbeiten oder Abschlußarbeiten. Ich selbst habe mich auf die Expertengespräche mit sozialwissenschaftlichen Handbücher vorbereitet. Sie sind Schulbuchhaft geschrieben, besprechen aber wichtige Aspekte wie das Leitfadeninterview sowie allgemeine Anforderungen und Situationen: Gläser, Jochen/Laudel, Grit: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, 2. Aufl, Wiesebaden 2006; Alexander Bogner: Das Experteninterview: Theorie, Methode, Anwendung, Opladen 2002.

Quelle: http://konservativ.hypotheses.org/68

Weiterlesen

100 Jahre Erster Weltkrieg | Linkliste Geschichtslernen

2014 naht. Der Erste Weltkrieg wird im kommenden Jahr in Öffentlichkeit, Politik und Medien große Aufmerksamkeit erfahren – allerdings ist das bislang nur verhalten spürbar. Die Welt diskutierte im Januar die Frage: Warum Deutschland den Ersten Weltkrieg vergaß und stellte fest: “Ausgerechnet in dem Land, das im Zentrum der Katastrophe stand, ist der Krieg entrückt”.

Durch Giftgas verwundete britische Soldaten 1918 | Foto: T.L. Aitken, Wikimedia.org (Public Domain)
 

Dies spiegelt sich in den deutschsprachigen Online-Angeboten zum Geschichtslernen und für den Geschichtsunterricht wider. Während wissenschaftliche Blogs und Portale sich dem Thema bereits intensiver widmen, stehen für das Geschichtslernen zwar gute (teils ältere) Materialien auf verschiedenen gängigen Informationsportalen und Medienanbietern bereit. Auffälliger ist jedoch der Mangel an konkreten und didaktisierten Online-Lernangeboten. Weil zurzeit das Inhaltsfeld Erster Weltkrieg auf der Lernplattorm segu erstellt wird – hier das Ergebnis der bisherigen Recherche. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Ressourcen zum Erstellen freier Bildungsmedien (OER) mittels Creative Commons-lizensierter oder gemeinfreier (Public Domain) Medien. Gute Linktipps – insbesondere zu digitalisierten, frei verfügbaren Quellen und zu didaktisierten Lernmaterialien – können gerne als Kommentar gepostet oder an kontakt[at]segu-geschichte.de gesendet und somit die Linkliste laufend ergänzt werden.

1 | Für Schüler/innen geeignete Informationsseiten
2 | Lernaufgaben und -umgebungen
3 | Unterrichtsvorbereitung für Lehrer/innen
4 | Ressourcen zum Erstellen von OER (Open Educational Resources)
5 | Medienangebote, urheberrechtlich geschützt
6 | Wissenschaftliche Blogs und Portale zum Ersten Weltkrieg (zur Vertiefung)
7 | Linklisten
 
 

1  |  Für Schüler/innen geeignete Informationsseiten

allgemein: Wikipedia, LeMo, Deutsche Geschichten, Geschichtszentrum

für jüngere Schüler/innen: Hanisauland, Was ist Was?

zu bestimmten Themenschwerpunkten: Verdun/Planet Wissen

Social Media: Facebook-Seite Leon Vivien (frz.), twitter, z.B.: @IWM_Centenary, @1914_2014

Zeitungsdossiers: Die Zeit, Zeit für die Schule, Spiegel, einestages

 

2  |  Lernaufgaben und -umgebungen

segu (im Aufbau), zwei Lernzirkel/Landesbildungsserver BW, Lernmodul “Heimatfront”/Landesbildungsserver BW

 

3  |  Unterrichtsvorbereitung für Lehrer/innen

allgemein: ZUM (Zentrale für Unterrichtsmedien)Lernen aus der Geschichte MagazinKaiserreich/BpB, Vorkrieg 1913/BpB, Landesbildungsserver BW

Quellen: Menschen im Ersten Weltkrieg/Volksbund.de, Objektdatenbank DHM, Bildpostkarten/Univ. Osnabrück

Regionalgeschichtliche Beispiele: Karlsruhe-Wiki, Freiburg

Museen: Historial Péronne, Imperial War Museums GB, National WW1 Museum Kansas City, MHM Dresden

 

Um urheberrechtlich unbedenkliche Lernmaterialien als OER (Open Educational Resources) zu erstellen und zu veröffentlichen, muss man auf Medien zurückgreifen, die unter CC (Creative Commons) Lizenz stehen oder gemeinfrei (Public Domain, durchgestrichenes Copyright-”C”) sind. Screenshot: Wikimedia.org (Public Domain)

 

4  |  Ressourcen zum Erstellen von OER (Open Educational Resources)

Bildmedien: Wikimedia; Themenschwerpunkte z.B. Kriegsanleihe bzw. War Bonds (Plakate), Verdun War (oder andere Stichworte in die Mediensuche/”Multimedia” eingeben), Suchmaschine CC Search (zu verschiedenen Suchbegriffen)

digitalisierte Quellen als CC (Creative Commons): Bildersuche/Europeana.eu (nicht alle Fotos/Quellen sind CC!)

verschiedene Medienangebote als OER: ZUM (Zentrale für Unterrichtsmedien)

OER-Video: Dolchstoßlegende [ansonsten kaum Filme als CC oder PD]

 

5  |  Medienangebote, urheberrechtlich geschützt

Fotos: Bundesarchiv, Süddeutsche Zeitung photo, Photos of the Great War

Medienportale (mit Audios und Videos): D-Radio, LexiTV/MDR, ZDF Mediathek, arte Themenportal, ARD Mediathek, BBC, Hörspiel/Lernen aus der Geschichte

 

6 | Wissenschaftliche Blogs und Portale zum Ersten Weltkrieg (zur Vertiefung)

Blog 1914_2014, 1914-1918 Online, Themenportal Clio Online, Themenportal Max-Weber-Stiftung, Zeitgeschichte Online, Europeana 1914-1918

 

7 | Linklisten

Politische Bildung Online, Lernen aus der Geschichte

 

empfohlene Zitierweise    Pallaske, Christoph (2013): 100 Jahre Erster Weltkrieg | Linkliste Geschichtslernen. In: Historisch denken | Geschichte machen | Blog von Christoph Pallaske, vom 6.6.2013. Abrufbar unter URL: http://historischdenken.hypotheses.org/1840, vom [Datum des Abrufs].

Quelle: http://historischdenken.hypotheses.org/1840

Weiterlesen

Vier Schätze des Studierzimmers (I)

Entsprechend der großen Bedeutung von Schrift und Schriftlichkeit maßen die Gelehrten-Beamten im traditionellen China den zum Schreiben benötigten Utensilien große Bedeutung bei. Diese Bedeutung von Schriftlichkeit und Schriftkunst spiegelt sich nicht zuletzt in dem für die im Frühjahr 2004 an der Pariser Bibliothèque Nationale gezeigte Ausstellung gewählten Titel “Chine: l’Empire du trait” wider. In diesem Sinne würdigt “De rebus sinicis” die kulturgeschichtlichen Bedeutung dieser Utensilien im Rahmen einer Serie, die mit der Erläuterung des Begriffs der “Vier Schätze” und mit einem Überblick über frühe Abhandlungen darüber beginnt.

Papier (zhi 紙), (Schreib-)Pinsel (bi 筆 bzw. maobi 毛筆), Stangentusche (mo 墨) und Reibstein (yan 硯) wurden gemeinhin als die “vier Schätze des Studierzimmers” (wenfang sibao 文房四寶) bezeichnet.[1]

“Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, daß die Schreibutensilien des Gelehrten nicht nur zu höchster Verfeinerung entwickelt wurden, sondern sich auch eine Kennerschaft und Liebhaberei um das Schreibgerät herausbildete, wie sie sich in diesem Maße in keiner anderen der uns bekannten Kulturen finden.”[2]

Die intensive Beschäftigung mit diesen “vier Schätzen” führte schließlich auch zu deren ausführlicher Beschreibung.

Vier Schätze

“Vier Schätze” | Foto: Monika Lehner

Der aus der heutigen Provinz Sichuan stammende Autor Su Yijian 蘇易簡 verfasste im 10. Jahrhundert (das Nachwort ist auf das Jahr 986 datiert) das Wenfang sipu 文房四譜 (d. i. “Abhandlung über die Vier Schätze des Studierzimmers”; in einigen Bibliographien auch mit dem Titel Wenfang sibao pu 文房四寶 gelistet). Su präsentierte darin Informationen über jeden dieser Vier Schätze, unter anderem zur Herstellung sowie zu “historischen Begebenheiten”[3].

Später folgte das von Lin Hong 林洪 verfasste Wenfang tuzan 文房圖贊 (“Illustrierte Huldigungen zur Studierstube”, Vorwort aus dem Jahr 1237). Auch wurden einzelnen dieser Vier Schätze ähnliche Abhandlungen gewidmet, so widmete sich Gao Sisun 高似孫 im 13. Jahrhundert den Tuschereibsteinen (Yan jian 硯箋, 1223)[4].

Weitere Autoren beschrieben die Herstellung von Tusche beziehungsweise den qualitativen Aspekten. Von besonderer Bedeutung ist beispielsweise das vermutlich im späten 11. Jahrhundert 李孝美 verfasste Mopu fashi 墨譜法式, das detaillierte Angaben zur den bei der Herstellung von Tusche erforderlichen Arbeitsschritten enthält.[5]

  1. Vgl. u.a. die Bemerkungen zu “The Scholar’s Desk” in The British Museum/Online Tours: “Mountains and Water: Chinese landscape painting”. Die “vier Schätze” durften auch bei der von Juni bis Oktober 2012 an der Universitätsbibliothek Marburg gezeigten Ausstellung “Kulturgeschichte des chinesischen Buches” nicht fehlen.
  2. Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (München, 2. Aufl., 1999) 84 f.
  3. Vgl. dazu Martina Siebert: Pulu 譜錄. “Abhandlungen und Auflistungen” zu materieller Kultur und Naturkunde im traditionellen China (Opera Sinologica 17; Wiesbaden 2006) 218 sowie chinaknowledge.de: “Wenfang sipu. Notes on the Four [Tools] of the Study”
  4. Vgl. dazu Siebert: Pulu, 218 (Yan jian) und 233 (Wenfang tuzan).
  5. Vgl. dazu ebd., 183, zur Übersetzung des Titels vgl. ebd., 139 Anm. 246. Zum Mopu fashi vgl. auch Thomas O. Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte (München 2008) 220 f.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/497

Weiterlesen

Juliette Sibon (Albi): Die Juden des europäischen Mittelmeerraums im späten Mittelalter aus wirtschaftshistorischer Perspektive. Quellen, Methoden und neue Ergebnisse

Deutschsprachige Zusammenfassung des Vortrages vom 10. Juni 2013: Les juifs d’Europe méditerranéenne au bas Moyen Age à la lumière de l’approche économique: sources, méthodes et nouveaux apports

Die Geschichtsschreibung zur Geschichte der Juden kennt zwei wesentliche Entwicklungen: die eine, die man als „weinerlich“ bezeichnen könnte, hochsensibel für die Nöte des Volkes  Israel, die Verfolgungen, die Diskriminierungen; und die andere, voller Idealismus, idyllisch, auf die auch die Idee der convivencia zurückgeht, der Mythos des friedlichen Zusammenlebens der drei Religionen auf der iberischen Halbinsel.

Tatsächlich wird das südliche Europa oft als Ausnahme gesehen, als „ein neues Judäa“ (J. Michelet), im Gegensatz zu den nördlichen Regionen Zarfat (hebr. Frankreich) und Aschkenas (hebr. Deutschland), wo die mittelalterlichen Juden unter viel dramatischeren Bedingungen gelebt hätten. Sicherlich wird diese Schwarz-Weiß-Zeichnung von den meisten Spezialisten heute nuanciert, doch bleibt sie nichtsdestoweniger bedeutsam und spaltet die Ansichten.

Ich, für meinen Teil denke, dass der Versuch, diese Debatte zu klären, aussichtslos ist. Die Grundlagen zur Erneuerung der Reflexion sind nicht da. Der Verzicht auf jeden Anachronismus und jede Teleologie – Grundvoraussetzung jeder historischen Untersuchung – sollte zum Mißtrauen gegenüber allzu negativen wie allzu harmonischen Darstellungen führen, und nicht dazu, daß man sich für eine der beiden Varianten entscheidet. Neue und fruchtbare Perspektiven hingegen eröffnet es meines Erachtens, wenn man die Ambivalenz der Lebensbedingungen der mittelalterlichen Juden analysiert und vor allem, wenn man das Schicksal der Juden weder als linear noch als außergewöhnlich begreift; wenn man eine „Geschichte der Juden“ statt einer „Jüdischen Geschichte“ betreibt.

 1)    Quellen : zwei miteinander verbundene Typologien

 

 «literarisch»

normativ

pragmatisch

lateinisch

ExegeseChroniken

kanonisches Recht

römisches Recht

notarielle Urkunden

Gerichtsakten

städt. Bekanntmachungen

hebräisch

Exegese

Chroniken

halakha

Responsen

takkanot (Gemeindesatzungen)

pers. Aufzeichnungen

 a)      Lateinische Texte zur Geschichte der Juden: das Beispiel Provence

Da das Ungleichgewicht zwischen christlichen und hebräischen Quellen für die Provence unter angevinischer Herrschaft (1245-1481) besonders ausgeprägt ist, hat sich das interne Leben der Gemeinschaften nur Schritt für Schritt aus den städtischen Archiven und den Registern der lateinischen Notare und Gerichte wie der kirchlichen Rechtsprechung und der Rechnungen der städtischen Schatzmeister (clavaires) rekonstruieren lassen.

Die immensen Sammlungen rabbinischer responsa, wie sie für das Katalonien des 13. und 14. Jahrhunderts oder für das Italien des 16. Jahrhunderts existieren, fehlen in der Provence, so dass man sich als Historiker, abgesehen von den literarischen jüdischen Quellen, auf eine vollständig lateinische Quellengrundlage stützen muss.

Es sind daher die normativen und pragmatischen Dokumente lateinischer Provenienz, auf denen seit den in der Revue des Études Juives seit dem Ende des 19. Jahrhunderts publizierten Pionierarbeiten die regionalen Studien beruhen, ebenso wie die quantitativen Studien zum ökonomischen Leben und die jüngeren Monographien v.a. sozial- und kulturhistorischer Prägung. Sie bieten ein Panorama der jüdischen Gemeinden, nicht mehr nur für die gesamte Provence, sondern auch für das Languedoc und den Roussillon, die Cerdagne, Sardinien und die Iberische Halbinsel.

 b) Die hebräischen Texte

Das scheinbare Fehlen hebräischer Quellen für den westlichen Mittelmeerraum im Mittelalter wurde lange Zeit als gegeben akzeptiert. Dies hat sich seit einigen Jahren geändert und die Arbeit des Sammelns, der Restaurierung, Klassifizierung, der Transkription und der Übertragung „nicht-literarischer“ und „nicht kalligraphischer“ Schriften beginnt erste Früchte zu tragen und die ökonomische Anthropologie der mittelalterlichen Juden im christlichen Westen zu erneuern.

Die Bandbreite der der erhaltenen Dokumente pragmatischer Schriftlichkeit im Hebräischen ist tatsächlich sehr groß: responsa, persönliche Notizbücher (pinqassim im Hebräischen), nebst hebräischer „Urkunden“, Verträge (zweisprachige Verkaufsverträge, Schuldscheine und Quittungen, Forderungsabtretungen, Eheverträge und Testamente samt Inventaren), selbst hastig geschriebene „Kritzeleien“ am Rande lateinischer Register, deren Funktion noch zu untersuchen bleibt.

 2. Die Methode

 a)      Eine „entgetthoisierte“ Geschichte, eine vergleichende Geschichte

Eine „entgetthoisierte“ Geschichte ist eine Geschichte die sich des Erbes der „Wissenschaft des Judentums“ annimmt und den Platz der Juden in der mittelalterlichen Gesellschaft neu durchdenkt.

Der ökonomische Zugang ist hier  besonders fruchtbar. Nicht nur die Rolle der Juden im Handel, sondern auch in der Produktion im Rahmen handwerklicher und vor allem landwirtschaftlicher Unternehmungen wird in den Blick genommen. Durch ein neues Verständnis ihrer Beziehungen zu den Christen einerseits, und durch den Vergleich der jüdischen Gemeinschaften unterschiedlicher geographischer Räume andererseits wird ihr Verhältnis zum Geld, ihre unternehmerischen Techniken und ihre Integration in die civitas seitdem neu betrachtet.

Und auch in dem Maße, in dem sich die Fragen der Spezialisten der jüdischen Gemeinschaften mit jenen des Handels und der Arbeitswelt im christlichen Milieu überschneiden, gewinnt diese Geschichte an Offenheit.

 b)     Ein Beispiel zur Umsetzung: Die Frage der Zugehörigkeit der Juden zur Bürgerschaft in der christlichen mittelalterlichen Stadt

 Im christlichen Mittelmeerraum im Spätmittelalter sind die Juden in den Städten habitatores und cives. Das ist im christlichen Sizilien ebenso der Fall wie in der angevinischen Provence, und ganz besonders in Marseille, das eine der drei großen jüdischen Gemeinschaften der Grafschaft beherbergt – schätzungsweise 1000 bis 2000 Personen, d.h. ungefähr 10% der Gesamtbevölkerung  der Stadt. Hier werden die Juden in den lateinischen Dokumenten ausdrücklich als cives bezeichnet, in der gleichen Weise wie auch ihre christlichen Nachbarn. Unter der Krone von Aragon hingegen werden die Juden niemals als cives bezeichnet. Heißt das, dass ihre Lebensbedingungen jenen der Juden in Marseille diametral entgegengesetzt sind, wo sie, zumindest theoretisch, eine politische Größe in der Stadt bilden? Verweist das gebrauchte Vokabular auf einen unterschiedlichen Status, de jure wie de facto?

Antwort ?

Ob sie nun ausdrücklich als cives bezeichnet werden – wie in Marseille und, in einem gewissen Maße, auch in Mallorca – oder nicht, die Juden sind sehr wohl Mitglieder der Bürgergemeinschaft und können innerhalb der mehrheitlich christlichen Gemeinschaft der Stadt von Rechts wegen eine Bürgerschaft   in Anspruch nehmen, die theoretisch zwar durch ihre nachgeordnete Stellung begrenzt ist, die aber weit davon entfernt ist, völlig gehaltlos zu sein. Der christianitas nicht zugehörig, sind die Juden nichtsdestoweniger Teil der civitas.

 3) Neue Erkenntnisse: einige Beispiele

 a) Die Juden und die Zinsleihe: Shatzmiller neu interpretiert

Joseph Shatzmiller ist der erste Historiker, der die Bedeutung des Marseiller Juden und Geldleihers Bondavin de Draguignan, Sohn Abrahams († 1316), gesehen und ans Licht gebracht hat. Dank seines Vermögens, das auf Krediten, Seehandel und Immobilienbesitz basierte, hat sich Bondavin an die Spitze der städtischen Gesellschaft aufgeschwungen. Vom Beispiel Bondavins ausgehend, zeichnet Shatzmiller ein positives Bild des jüdischen Geldleihers. Weit davon entfernt, ein Aussätziger zu sein, ist Bondavin ehrbar und genießt das Vertrauen und die Freundschaft der Eliten der Mehrheitsgesellschaft, bereit seine Glaubwürdigkeit vor dem angevinischen Gerichtshof zu bezeugen.

Bondavins Finanzgeschäfte haben zweifellos eine ökonomische Dimension. Einerseits unterstützen sie die landwirtschaftliche Produktion, das Handwerk und den Handel. Zum anderen tragen sie zum Aufschwung des großen Kapitals und zur indirekten Finanzierung der expansionistischen Politik der von Anjou bei.

Statt zur Stigmatisierung und zur Exklusion der jüdischen Geldleiher zu führen, sind die diversen Schuldverhältnisse Bestandteile eines Systems von persönlichen Beziehungen und des Zusammenhalts zwischen den Eliten der beiden Gemeinschaften, in welchem der symbolische Wert der Transaktion deren wirtschaftliche Bedeutung deutlich übersteigt.

Die symbolische Dimension der Finanzaktivitäten Bondavins ist sowohl im vorgelagerten wie im nachgelagerten Bereich sichtbar. Der Ausdruck ex causa gracie et amoris ist keineswegs sinnentleert. Sie gehört zur „moralischen Ökonomie des Schenkens“ (Barbara Rosenwein), an der die städtischen Eliten Marseilles, die christliche wie die jüdische, Anteil haben. Mitnichten überflüssig, ist sie Teil der Freundschaftsrhetorik, die sichtbarer Zeichen bedarf. Der Erfolg Bondavins stützt sich auf die Solidarität unter Reichen, auf eine nach außen getragene Zuneigung – wie im Prozess von 1317 –, einer öffentlichen Meinung, die ihn heraushebt.

 b) Der Platz der Jude auf den mittelalterlichen Märkten: Das Beispiel Mordacays Joseph

Das lateinische Archiv Marseilles birgt einige hebräische Dokumente, die, obgleich bruchstückhaft, das Verständnis der wirtschaftlichen Aktivitäten der Juden in eine neue Perspektive rücken. Allem voran der pinqas des Mardcays Joseph. Die vorrangige Aktivität, die dieses Heft verzeichnet, ist der Korallenschnitt: Mordacays stellt die Rohstoffe zur Verfügung, die „Arbeiter“ liefern ihm die bearbeiten Korallen.

Der pinqas macht das Korallengeschäft Mordacays nachvollziehbar: er bezieht die Rohstoffe aus der Fischerei im sardischen Meer (zwischen Sardinien und den Balearen) und er stellt Korallenhandwerker an, um diese dann zu bearbeiten. Insgesamt erscheinen 14 Namen in dem pinqas, von denen fünf christlich und neun jüdisch sind.

Übersetzung: Torsten Hiltmann, Georg Jostkleigrewe, Christian Scholl

Informationen zu Marie Bouhaïk-Gironès: hier

Zum Programm im Sommersemester 2013: hier

Quelle: http://jeunegen.hypotheses.org/797

Weiterlesen