14. Das Private wird historisch

FamilienbildEine eigene Geschichte

Einst lautete ein Sponti-Spruch der 68er: Das Private ist politisch. Ein Satz, der Hoffnung und Programm zugleich war. Die Belange der Vielen sollten zum Maßstab politischer Prozesse werden, Individuum und Familie sollten Ausgangs- und Zielpunkt politischer Entscheidungen sein, und nicht zuletzt sollte damit das Versprechen verbunden sein, dass die Einzelnen als aktiv Teilnehmende im Feld des Politischen einen Unterschied machen könnten.

Ein halbes Jahrhundert später kann man Zweifel hegen, ob das Private überhaupt noch politisch sein will. Eher hat sich eine andere Maxime etabliert: Das Private ist historisch. Man will nicht mehr einen Unterschied in politischen Entscheidungsprozessen machen, sondern in der zukünftigen Vergangenheit. I am history.

Für diese Entwicklung gibt es unterschiedliche Indizien. Die Ausweitung und Demokratisierung medialer Artikulationsmöglichkeiten gibt jeder und jedem die Mittel an die Hand, die „eigene Geschichte“ zu veröffentlichen und zu verewigen (je nachdem, wie lange eine solche Ewigkeit dauern mag). Gleichzeitig verlangt unser Mediensystem nach solchen „Geschichten“, schließlich will es gefüttert werden, so dass die Grenzen des Berichtenswerten beständig neu bestimmt werden.

So mag es Zeiten gegeben haben, in denen der Status des „Zeitzeugen“ noch mit der Aura des Besonderen umgeben war. Das waren nicht nur Menschen, die aufgrund glücklicher historischer und biologischer Umstände ein gewisses Alter erreicht hatten, sondern die in dieser Lebensspanne auch etwas erlebt hatten, das sie vor anderen auszeichnete. Dieser Typus des Zeitzeugen ist nicht nur dadurch entwertet worden, dass er in der einen oder anderen historischen Fernsehproduktion ein paar Mal zu oft auf der Mattscheibe zu sehen war [1], sondern dass ihm inzwischen jegliche Exklusivität abhandengekommen ist. Wir alle sind Zeitzeugen (von was auch immer)! Wir alle sind das „Gedächtnis der Nation“, dürfen in einen Bus steigen, der in ganz Deutschland herumfährt, um dort eine „spannende Geschichte zu erzählen“, die nicht „verloren gehen“ soll, sondern „nachfolgenden Generationen zur Verfügung“ gestellt wird – wenn diese Generationen denn vor lauter Erinnerungs- und Vergangenheitsaufarbeitung überhaupt noch zum Luftholen kommen.

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ wäre ein weiteres, beliebig herausgegriffenes Beispiel. Auch sie ist auf den Nostalgiezug aufgesprungen und hat mit „Die Zeit der Leser“ eine eigene Seite aufgesetzt, in der das Privathistorische einmal an die große Öffentlichkeit gebracht werden darf. Dort wird dann aus Großvaters Notizbuch zitiert, werden Muttis Küchenrezepte zum Besten gegeben, werden Damals-und-Heute-Fotos gegenübergestellt und wird die gute alte Zeit häuslich-familiärer Eintracht besungen.

Als wäre „Ich“ nie gewesen

Mittels Privathistorisierung, so steht zu vermuten, soll die Schere zwischen Weltzeit und Lebenszeit geschlossen werden, sollen die überbordend komplexen Vorgänge, die wir als „Geschichte“ zu bezeichnen pflegen, mit der eigenen Biographie gekoppelt werden. [2] Schließlich geht es um das Ärgernis, dass die Welt nach dem sehr vorhersehbaren individuellen Ende weiterbestehen soll, dass „die Geschichte“ auch nach dem eigenen Dahinscheiden einfach so weitergehen wird, als sei nichts gewesen – und vor allem als sei „Ich“ nie gewesen. Es ist für so manchen historisch gesinnten Menschen wohl nur schwer erträglich, dass nach dem eigenen vergänglichen Leben noch so viel mehr Vergangenheit aufgehäuft werden wird, in der „Ich“ nicht vorkommt, dass dieser Zustand sofort geändert werden muss. Man versucht Vergangenheit zu hinterlassen, um postmortale Zukunft zu gewinnen.

Wenn ich dagegen Bedenken äußere, klingt das verdächtig nach beleidigtem Geschichtsprofessor, der sich seiner Interpretationshoheit über die Vergangenheit beraubt sieht. Auch wenn ich solche Reflexe gar nicht ausschließen möchte, meine ich doch an diversen (nicht-professoralen) Stellen ein gewisses Genervtsein über den einen oder anderen Auswuchs der Geschichtskultur des frühen 21. Jahrhunderts zu bemerken. Aber was nervt so daran? Warum will man nicht jede Familiengeschichte als Buch veröffentlicht sehen, nicht jedes Tagebuch im Internet lesen können, nicht jedes Alltagserlebnis in der Zeitung abgedruckt finden?

Weil es sich um eine Verwechselung von Relevanz und Referenz handelt. Fraglos sind diese Kindheitserlebnisse, Urlaubserinnerungen oder Familienschicksale bedeutsame Ereignisse. Aber nicht für jeden. Die Alltagshistoriker des eigenen Lebens, die aus jedem Wochenendausflug ein Ereignis zu machen versuchen, das der Welt nicht vorenthalten werden darf, wollen einen Unterschied machen, der nur durch andere gemacht werden kann.

Was an diesen Privatgeschichten zuweilen so peinlich wirkt und sogar zum Fremdschämen provoziert, ist die selbstherrliche Bedeutungszuschreibung. Wie kann man davon ausgehen, dass ausgerechnet das eigene Leben all den anderen etwas zu sagen hätte? Das Historische, das wir im Nachhinein über andere produzieren und das andere später irgendwann über uns produzieren werden, entsteht einerseits über Relationierung, soll heißen: Eine gegenwärtige Kultur stellt mit bestimmten Teilen der Vergangenheit Beziehungen her, von denen sie meint, dass sie wichtig für ihre eigene Selbstdeutung sind. Andererseits entsteht dieses Historische über eine sehr rigide Selektion, soll heißen: Nur ein verschwindend geringer Teil des Vergangenen übersteht diese Relevanzprüfung. Der Rest verschwindet im Orkus des Vergessens.

Womöglich ist es gerade diese Demütigung, die für einige nur schwer zu ertragen ist – die lastende Gewissheit, in nicht allzu ferner Zukunft niemandem mehr etwas zu sagen zu haben. Aber wir sind ein paar Milliarden. Wo kämen wir hin, wenn auf unabsehbare Zeit jeder allen etwas zu sagen hätte?

Vergangenheit ist nicht vorhersagbar

Bei alldem geht es nicht um die Frage, ob der Alltag der Vielen den Wert zugesprochen bekommt, „historisch“ zu sein oder nicht. Es ist nur zu begrüßen, wenn die Produktion von Geschichte demokratisiert wird und an Vielfalt gewinnt. Aber eitle Selbstdarstellung in Form von Möchtegern-Historisierung zählt nicht unbedingt dazu. Denn ansonsten verliert die Geschichte ihr kritisches Potential. [3]

Es ist nämlich ein weit verbreiteter Irrtum, dass die Produktion von Geschichte dazu dienen soll, die Erinnerung zu bewahren, und zwar im besten Fall an alles und jeden. Die Historie hätte demnach im Idealfall die Aufgabe, eine naturgetreue Kopie alles Geschehenen anzufertigen. Eine solche totale Memoria ist nicht nur unmöglich, sondern würde auch zu weitgehenden Lähmungserscheinungen führen. In der Erzählung „Das unerbittliche Gedächtnis“ von Jorge Luis Borges besitzt die Hauptfigur Ireneo Funes diese totale Erinnerung – und muss genau deswegen eine Existenz führen, in der Handeln, Denken und Sinnhaftigkeit keinen Platz mehr haben, weil sie von der überwältigenden Vielfalt der erinnerten Einzelheiten überwuchert werden.[4]

Daher zum Mitmeißeln: Geschichtsschreibung betreibt keine Mumifizierung des Gewesenen, will nicht bewahren, um vor dem Vergessen zu retten. Im Gegenteil: Vergessen ist gut, Vergessen ist richtig, Vergessen ist überlebensnotwendig. Genauso wie das Erinnern. Aber wir erinnern uns nicht um des Erinnerns willen, sondern weil wir hier und heute Fragen haben, bei denen wir das Gestern für hilfreich halten.

Wir können durchaus versuchen, heute schon unsere eigenen Geschichten für morgen zu produzieren, unser Privates schon jetzt historisch aufzubereiten, jetzt schon Vergangenheit aufzuhäufen, um die zukünftige Geschichte bereits Hier und Heute zu schreiben. Es könnte aber sein, dass in künftigen Gegenwarten dieses Bemühen nur ein Stirnrunzeln hervorruft angesichts der Obsession, jeder Kleinigkeit den Wert des Historischen zumessen zu wollen. Denn die Vergangenheit ist genauso wenig vorhersagbar wie die Zukunft. Wir wissen nicht, was das Morgen bringen wird. Wir wissen aber auch nicht, was das Gestern uns noch bedeuten kann.

[1] Martin Sabrow/Norbert Frei: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012

[2] Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M. 2001

[3] Achim Landwehr: Die Kunst sich nicht allzu sicher zu sein: Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung, in: WerkstattGeschichte 61 (2012) 206-211

[4] Jorge Luis Borges: Fiktionen. Erzählungen 1939-1944, 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1999, 95-104


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/10/23/14-das-private-wird-historisch/

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Gedenktafel für Stalinismusopfer am Haus der Parteizentrale DIE LINKE

Erklärung von Inge Münz-Koenen und Wladislaw Hedeler zum Beschluss des Bundesvorstandes der LINKEN über die Gedenktafel für Stalinismus-Opfer am Karl-Liebknecht-Haus:

Am Freitag, dem 18. Oktober 2013 beschloss der Parteivorstand der LINKEN, dem seit 13. Dezember 2010 vorliegenden Antrag des “Arbeitskreises zum Gedenken an die in der sowjetischen Emigration verfolgten, deportierten und ermordeten Antifaschisten” unter dem Dach der Berliner VVN-BdA für eine Gedenktafel an der Fassade des Karl-Liebknecht-Hauses zuzustimmen. In den Jahren zuvor hatte dieser Vorschlag immer wieder zu Kontroversen innerhalb der Linkspartei geführt. Die Tafel soll die Inschrift tragen:

„Ehrendes Gedenken an Tausende deutsche Kommunistinnen und Kommunisten, Antifaschistinnen und Antifaschisten, die in der Sowjetunion zwischen den 1930er und 1950er Jahren willkürlich verfolgt, entrechtet, in Straflager deportiert, auf Jahrzehnte verbannt und ermordet wurden”

Mitglieder des Arbeitskreises, der seit 2008 besteht, sind ehemalige Sowjetemigranten und deren Nachkommen sowie international ausgewiesene HistorikerInnen mit dem Schwerpunkt Kommunismusforschung.
Eltern, Geschwister und Großeltern der Initiatoren gehörten zu den Tausenden deutschen Antifaschisten, die seit 1933 in die Sowjetunion emigrierten oder schon vorher dem Ruf der Komintern bzw. der sowjetischen Regierung gefolgt waren, ihre Kräfte in den Dienst der kommunistischen Bewegung und des sozialistischen Aufbaus zu stellen. Sie entgingen der Verhaftung durch die Gestapo, gerieten aber ab Mitte der 1930er Jahre völlig unverschuldet in die Fänge des NKWD. Die Ergebnisse historischer Forschung über diese doppelte Verfolgung belegen, dass unter den Millionen Opfern, die der Große Terror in der Sowjetunion forderte, mehrere Tausend Deutsche waren, vor allem Mitglieder der KPD.
In einer ersten Erhebung aus dem Jahre 1991 war von über 1.000 Erschossenen die Rede, die dem Großen Terror zum Opfer gefallen sind. Im Zuge der Öffnung der sowjetischen bzw. russischen Archive konnten diese, bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossenen Recherchen, weitergeführt werden. Wir kennen gegenwärtig die Namen, Lebens- und Sterbedaten von exakt 7.858 Deutschen, die sich in den 1930er Jahren in der Sowjetunion aufgehalten haben. Die mit Archivdokumenten belegte Anzahl der Zurückgekehrten beläuft sich auf rund 1.400 Remigranten, die in der Sowjetunion geborenen Kinder eingeschlossen.
Der Antrag auf eine Ehrentafel am Karl-Liebknecht-Haus war im Ergebnis der vom Arbeitskreis initiierten Tagung „Das verordnete Schweigen. Deutsche Antifaschisten im sowjetischen Exil“ (Berlin 2010) entstanden. Ergebnis der zweiten Tagung „Nach dem Schweigen. Erinnerungsorte, Gedenkbücher, Opferlisten des sowjetischen Exils “ (Berlin 2011) mit Beteiligung russischer Forscher war die Konzeption einer zweisprachigen Ausstellung (deutsch und russisch) mit dem Titel „’Ich kam als Gast in euer Land gereist …’ Deutsche Hitlergegner als Opfer des Stalinterrors. Familienschicksale 1933-1956Link zur Buchpublikation). Sie wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand gefördert und im Frühjahr 2013 in Moskau und Berlin eröffnet. Im Juli 2012, zum 75 Jahrestag der “Deutschen Operation des NKWD“ haben wir auf einer öffentlichen Namenlesung der 1937 in der Sowjetunion erschossenen deutschen Emigranten gedacht. Die Ausstellung ist auf ihrer Wanderschaft durch Deutschland zur Zeit in Meiningen zu sehen. Ihr russisches Double wird am 30. Oktober, aus Kasachstan kommend, in Novosibirsk eröffnet. Nächste Stationen im Ausland sind das Europa-Parlament in Brüssel und das Heinrich-Heine-Haus in Paris.
In den lebhaften Reaktionen auf die Ausstellung kommt immer wieder die Praxis des jahrzehntelangen Verschweigens und Verdrängens stalinistischer Verbrechen zur Sprache, die auch nach dem Sieg über Hitlerdeutschland ihre Fortsetzung fand. Als besonders eindringlich wird die kaum vorstellbare Tragik dieser Familienschicksale empfunden. Eine große Anzahl von Politemigranten wurde von Sondertribunalen willkürlich zu Konterrevolutionären und Spionen erklärt, gefoltert und erschossen. Die Toten wurden in Massengräbern verscharrt, von denen viele unauffindbar sind. Ihre Angehörigen haben bis auf den heutigen Tag keinen Ort, an dem sie ihrer Verwandten gedenken können. Andere Emigranten wurden zu hohen, teilweise mehrfachen Strafen in Gulags verurteilt. Viele starben dort an Entkräftung infolge von Mangelernährung bei grotesk überhöhten Arbeitsnormen. Für Überlebende folgte auf die Haft in Gefängnissen und Lagern die Verbannung „auf ewig”, d. h. ohne Aussicht, jemals zu ihren Familien zurückkehren zu können. Wieder andere wurden an die Gestapo ausgeliefert und kamen in deutsche Konzentrationslager.
Tausende deutsche Emigranten und ihre Angehörigen erlitten in der Sowjetunion das gleiche Schicksal wie Millionen Staatsbürger russischer und anderer Nationalität. Viele der Deutschen überlebten den staatlich sanktionierten Terror, Haft und Verbannung nur Dank der Solidarität ihrer sowjetischen Leidensgefährten. In den sowjetischen Lagern trafen sie auch auf Landsleute – politische Gefangene, die nach dem Einmarsch der Roten Armee in Deutschland verhaftet und verurteilt worden waren. Allein in Russland (auf dem Territorium der ehemaligen RSFSR) gibt es heute 256 solcher Gedenkorte.
Nach 1945 verwehrten die sowjetischen und die DDR-Behörden überlebenden Emigranten die Rückkehr in die Heimat. Viele von ihnen konnten erst in den Jahren 1955 bis 1959 in die DDR kommen. Den Zurückgekehrten wurde von der SED-Führung auferlegt, über die Repressionen zu schweigen. Eine Rehabilitierung erfolgte oft nur halbherzig, verklausuliert oder gar nicht. Erst nach dem Zusammenbruch der DDR wurde das wahre Ausmaß der damals begangenen Verbrechen öffentlich.
Der Arbeitskreis ist der Meinung, dass das Karl-Liebknecht-Haus, in dem von 1926 bis 1933 das Zentralkomitee der KPD seinen Sitz hatte, der angemessene Ort für eine solche längst überfällige Würdigung ist. Dort haben Kommunisten gearbeitet, die im Auftrag der Parteiführung nach Moskau gegangen sind und in der Sowjetunion ermordet wurden. Das Haus war die Arbeitsstätte jener Mitglieder der KPD-Spitze, die dem Stalinterror entgangen sind und die nach 1945 als führende SED-Funktionäre das Verschweigen und Vergessen mit zu verantworten haben.

Dr. Inge Münz-Koenen; Dr. Wladislaw Hedeler

Quelle: www.memoreal37.wordpress.com. Blog zum Gedenken an die während des Stalinismus verfolgten und ermordeten AntifaschistInnen.


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/10/21/gedenktafel-fur-stalinismusopfer-am-haus-der-parteizentrale-die-linke/

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Erinnerungen eines anarchistischen Auswanderers (Rezension)

kniestedt-erinnerungen-umschlag_seite_1(Von Philippe Kellermann) Manch einer – vor allem in Ländern ohne größere anarchistische Tradition – kam eher zufällig zum Anarchismus: „Nach dem Verfahren“, so der us-amerikanische Anarchosyndikalist Sam Dolgoff rückblickend zu seinem Ausschluss aus der Socialist Party,

kam einer der Beteiligten zu mir und sagte: ‚Weißt du, du bist gar nicht so übel. Du hast dich soweit ziemlich gut verteidigt, auch wenn dein Fall hoffnungslos ist. Ich gebe dir einen Tipp. Du bist kein Sozialist. Du bist ein Anarchist.’ Also fragte ich ihn: ‚Wo kann ich die finden?’

In gewisser Weise ähnlich erging es dem Anarchisten Friedrich Kniestedt (1873-1947), der in seinen nun im „Verlag Barrikade“ veröffentlichten Erinnerungen berichtet, wie er im Laufe einer Diskussion aus einem sozialdemokratisch dominierten Arbeiterbildungsverein mit dem Hinweis verwiesen wurde, er sei Anarchist – und kommentiert:

Einige der Anwesenden verließen mit mir das Lokal. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass ich damals noch nicht Anarchist war, wusste nun aber, dass ein Mensch, welcher für die Opfer der Tyrannei eintrat, unbedingt ein Anarchist sein musste. (S.16)

Das deutsche Kaiserreich, in dem sich diese Geschichte zutrug, war tatsächlich alles andere als bekannt für seinen einflussreichen Anarchismus. Vielmehr war es eines jener Länder, sogar das Land, in dem sich der Marxismus festigen und durch die numerischen Erfolge der Sozialdemokratie in alle Welt ausstrahlen konnte. Auch Kniestedts Biografie macht dies deutlich und so sehen wir ihn zu Beginn seines politischen Werdegangs im Umkreis sozialdemokratischer Organisationen, denn, wenngleich sein „Verhältnis zur Sozialdemokratischen Partei immer ein recht sonderbares“ gewesen sei (S.25), habe gegolten:

Ich hatte innerlich mit der Sozialdemokratie gebrochen, eigentlich gehörte ich nie zu ihr. Aber ich musste ein Betätigungsfeld haben; und dann diese Menschen, welche gleich mir im Elend geboren, im Elend und der Lüge erzogen, mit allen Fasern ihres Gemüts und Gefühls zur Freiheit strebten und glaubten, durch die Sozialdemokratie den Sozialismus und die Freiheit erringen, erkämpfen zu können – das war der Grund, warum ich nicht schon damals offen mit der sozialdemokratischen Partei brach. Ich muss gestehen, dass aber auch der Glaube, dass es doch noch möglich sein würde, die sozialdemokratische Partei von innen heraus zu revolutionieren, mich zu ihr hielt. Eine Illusion, an der schon unzählige Kämpfer zu Grunde gegangen sind. (S.31)

Die Sozialdemokratie greift er in seinen Erinnerungen heftig an, nicht zuletzt, weil sie in keiner Weise gewillt war, anarchistische Aktivitäten zu tolerieren. So berichtet er im Kontext der Einberufung eines landesweiten Anarchistenkongresses 1907:

Die Sozialdemokraten befolgten erst die Taktik des Totschweigens. Als aber die sogenannte Generalanzeiger-Presse die Vorbereitungen breit behandelte, musste man aus der Reserve heraus. Dann begann ein schmutziger Kampf, wie er eben nur von dieser Seite geführt werden konnte. Die Massen sollten gegen uns rebellisch gemacht werden, es waren das dieselben Mittel, die später von den Nazis gegen die Marxisten angewandt wurden und noch heute angewandt werden. Überhaupt, wer so wie ich, Jahrzehnte in der Opposition gegen den Marxismus gestanden hat, für den ist (…) alles, was die Nazis gegen ihre Gegner anwenden, absolut nichts Neues. Nein, auch hier gilt das Sprichwort: ‚Alles ist schon dagewesen.’ Die Nazis haben von ihren Vätern gelernt. Die Herren Demokraten, vor allem ihre ‚roten Brüder’, haben den jetzigen Demagogen nicht nur die Steigbügel gehalten, nein, sie haben ihnen gelehrt [sic!], wie man es macht. (S.60)

Wie stark allerdings die Verbindung zur Sozialdemokratie gewesen sein muss oder: wie komplex das innere Leben in dieser sich darstellte, wird noch aus Kniestedts Bemerkung deutlich, wenn er mit Respekt von den „links eingestellten Sozialdemokraten der alten Schule“ (S.44) spricht.

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/10/20/erinnerungen-eines-anarchistischen-auswanderers-rezension/

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Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie, Münster, 2013

933-5Bernd Hüttner rezensiert auf der website des Magazins “prager frühling” das Buch
Gottfried Oy/Christoph Schneider: Die Schärfe der Konkretion. Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie, Münster, 2013, 252 S., 24,90 Euro
Er schreibt: “Der 1930 geborene Reinhard Strecker organisierte 1958 aus dem SDS heraus eine Petition an den Bundestag, in der eine Verfolgung der Straftaten von Richtern, Ärzten und Staatsanwälten während des Nationalsozialismus gefordert wurde. Aus den dafür mühsam zusammengetragenen Materialien erstellte er zusammen mit anderen eine Ausstellung, die erstmals – eher halböffentlich – im Mai 1959 im Rahmen einer Konferenz des SDS in Frankfurt/Main gezeigt wurde. Thema der Konferenz war der zehnte Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes.” Abschließend urteilt er: “Oy und Schneider haben mit ihrem Buch das Wirken von Strecker und anderen Einzelpersonen gewürdigt. Neben der lesenswerten Gesellschaftsdiagnose liefern sie ein eindrückliches Beispiel dafür, dass das engagierte Handeln von einzelnen Menschen sehr wohl Bedeutung und Folgen hat.” (Zum Text der Rezension)
Johannes Spohr hat es bereits Mitte Juli auf der Themenseite Geschichte der Rosa Luxemburg Stiftung besprochen. Spohr schreibt zum Ende seiner ausführlichen Besprechung: “Es ist verdienstvoll, dass die Autoren sich die Mühe machen, den aufwendigen und erkenntnisreichen Weg der Konkretion zu gehen. Sie zeigen damit, dass es Wege gibt, um sich jenseits von „68er-Bashing“ und der Reproduktion des Mythos’ der über den NS aufklärenden Generation den tatsächlichen Formen von Auseinandersetzung zu nähern.” (Zum Text der Rezension).
Deutschlandradio Kultur hat, ebenfalls im Juli, über das Buch berichtet. Winfried Sträter schreibt: “…wer genauer wissen und verstehen will, wie sich die Bundesrepublik nach der NS-Katastrophe entwickelt hat, dem sei das Buch von Gottfried Oy und Christoph Schneider ans Herz gelegt. Es ist ein aufschlussreiches Buch, das nicht mit großem Geschrei auf den Buchmarkt drängt.” Abschließend urteilt er: “Historisch interessierten Lesern ist das Buch sehr zu empfehlen. Mit der Konkretion der persönlichen Geschichte eines Aufarbeitungspioniers und der Reflexion der bundesdeutschen Entwicklung ist es klug aufgebaut, mit den Erläuterungen von Namen, Begriffen und Hintergründen ist es auch verständlich für alle, die die historischen Details nicht kennen. Was fehlt, ist – neben einem Register – Bildmaterial.” (Zum Text der Rezension)


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/09/26/reinhard-strecker-1968-und-der-nationalsozialismus-in-der-bundesdeutschen-historiografie-munster-2013/

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Denkmal mit Gebrauchsanweisung

Das Stelenfeld zählt zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten Berlins. Kaum jemand, der die Hauptstadt besucht, nimmt nicht auch die Gelegenheit wahr, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu besuchen. Vielen dient das von Peter Eisenman entworfene Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals jedoch nur als … Weiterlesen

Quelle: http://musermeku.hypotheses.org/615

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Zwei neue Publikationen über Moses Hess

Volker Weiß, Mitglied des Beirates der Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg hat für Friedrich-Ebert-Stiftung eine Broschüre über Moses Hess geschrieben: Moses Hess (1812 – 1875) : Leben, Werk und Erbe eines rheinischen Revolutionärs; Bonn, Friedrich-Ebert-Stiftung, Archiv der Sozialen Demokratie, 2013. – 40 S. = 2,5 MB, PDF-File. – ( Reihe des Gesprächskreis Geschichte  der FES, Band 99) ISBN 978-3-86498-423-5. Die Broschüre ist hier online.

Prof. Mario Keßler hat soeben “Moses Hess and Ferdinand Lassalle: Pioneers of Social Emancipation”, 2013, [= BzG – Kleine Reihe Biographien, Bd. 28], 131 S., ISBN 978-3-86464-044-5, 14,80 EUR im Berliner trafo Verlag publiziert.


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/08/30/neue-broschure-uber-moses-hess/

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Gedenken 2.0 – Das Forschungsprojekt „Holocaust Websites“ (Teil 2)

In ihrem zweiten Gastbeitrag geht Eva Pfanzelter auf weitere Beispiele ihres aktuellen Forschungsprojektes „Holocaust Websites“ ein und stellt das Projekt näher vor. Anders als das im ersten Beitrag erwähnte Beispiel Yad Vashem, bei dem der Internet-Auftritt auch einen „Ort der … Weiterlesen

Quelle: http://musermeku.hypotheses.org/573

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Gedenken 2.0 – Das Forschungsprojekt „Holocaust Websites“ (Teil 1)

In ihrem Gastbeitrag stellt Eva Pfanzelter, Assistenzprofessorin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, ihr aktuelles Forschungsprojekt „Holocaust Websites“ vor. Im ersten Beitrag gibt die Autorin einen Überblick über das Thema. Zu Beginn der 1990er Jahre sprach der französische Kulturhistoriker … Weiterlesen

Quelle: http://musermeku.hypotheses.org/569

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Schweiz: Kolonialismus ohne Kolonien?

Es wird Zeit, dass sich die Schweiz ihren kolonialen Verstrickungen und den daraus hervorgegangenen Bildern und Denkmustern stellt. Das ist der Tenor der Forschungen einiger jüngerer kritischer Historiker_innen und Ethnolog_nnen. Besprechung von drei Büchern zum Thema in der linksliberalen schweizerischen Wochenzeitung vom 30. Mai 2013.


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Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/06/22/schweiz-kolonialismus-ohne-kolonien/

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Die International Task Force (ITF) erhält neuen Namen und neue Homepage

Als im Januar 2013 die Umbenennung der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research (ITF)  umgesetzt wurde, folgte kurz darauf auch ein Relaunch der Homepage. Die nun als International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) bezeichnete Institution hatte sich … Weiterlesen

Quelle: http://musermeku.hypotheses.org/227

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