Wie die Armut reduzieren? Eine neu begründete transregionale Forschergruppe erforscht die indische Bildungspolitik

Für das Deutsche Historische Institut London beginnt das Jahr 2013 mit einer großen Aufgabe. In den nächsten fünf Jahren wird der Direktor des Londoner Instituts, Andreas Gestrich, Leiter einer transregionalen Forschungsgruppe in Neu-Delhi. In Kooperation mit dem King’s India Institute am King’s College in London und dem Centre for Modern Indian Studies (CEMIS) der Universität Göttingen soll zur Sozial- und Bildungspolitik in Indien seit dem 19. Jahrhundert geforscht werden. Das Thema des Projekts ‘Poverty Reduction and Policy for the Poor between the State and Private Actors’ wird dabei in sieben Forschungsbereiche aufgeteilt, die wir hier vorstellen.

waterdotorg | Flickr | CC BY-NC-SA 2.0

Wozu arbeitet die Transregionale Forschergruppe?

Trotz der Geschwindigkeit seiner wirtschaftlichen Entwicklung bleibt Indien weltweit das Land mit den meisten Armen. Die Forschergruppe wird sich auf einen Aspekt der Armutsverringerung konzentrieren und vor allem zu Erziehungs- und Schulpolitik arbeiten. Ebenso wie Ernährung, Wohnen und Gesundheitsversorgung ist Bildung ein zentraler Politikbereich im Kampf gegen Armut. Die schnellen gegenwärtigen Änderungen im indischen Bildungssystem und neue privatwirtschaftliche Akteure machen das Thema zum vielversprechenden Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Die von der Max Weber Stiftung finanzierte transregionale Forschungsgruppe versammelt weltweite Expertinnen und Experten aus Geschichtswissenschaft, Erziehungs- und Sozialwissenschaften, insbesondere aus Indien, Großbritannien und Deutschland. Sie ermutigt – bei Konzentration auf Indien – zum vergleichenden Arbeiten und wird sich mit vergleichbaren Projekten fortwährend austauschen.

1. “Nineteenth- and twentieth-century global educational reform movements and their impact on universal schooling in India”

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gab es neben den bekannten christlichen Missionen, sowohl von Kolonialmächten als auch von einheimischen Pädagogen und Intellektuellen, Anstrengungen zum Ausbau der Bildungsmöglichkeiten. In der Zwischenkriegszeit nahmen diese Anstrengungen, beeinflusst durch die beginnende indische Unabhängigkeitsbewegung und die europäischen und US-amerikanischen Bildungsreformbewegungen, deutlich zu. Zu dieser Entwicklung gehört auch die enge Verbindung Indiens mit dem New Education Fellowship, einem internationalen Netzwerk von Reformpädagogen. Das Netzwerk wurde 1921 gegründet und ist von Beginn an sehr mit Indien und insbesondere mit dem bengalischen Nobelpreisträger und Bildungsreformer Rabindranath Tagore verbunden. Am DHI London beschäftigt sich Valeska Huber in ihrer Habilitationsschrift ‘”The Great Plan for Mass Education”: Colonial and Postcolonial Experiments with Education in the Twentieth Century’ neben einem starken Fokus auf Afrika auch mit Indien.

Die Vielfältigkeit der indischen Kasten, Stämme und Regionen stellt eine Herausforderung für homogene Vorstellungen dessen, was ein gebildetes Kind ausmacht, dar. Der Veränderung dieser Vorstellung – betrachtet vor dem Hintergrund der historischen Verbreitung schulischer Bildung – kann hierbei eine besondere Bedeutung bei zukünftigen Forschungsarbeiten zukommen, einen wichtigen Beitrag leistet dabei die Arbeit des Forschergruppenmitglieds Sarada Balgopalan. Daneben ist zudem geplant, die Arbeit von indischen Intellektuellen und Pädagogen im 19. Jahrhundert – wie beispielsweise Romesh Chunder Dutt – zu untersuchen (Benedikt Stuchtey), aber auch die sich wandelnden Konzepte des “gebildeten Kindes” in den europäischen Schulreformen mit einzubeziehen.

2. “The quest for universal elementary/school education, the private sector and edu-business
Die Einführung einer Schulpflicht und die Ausweitung von Ausbildungsangeboten wurden in den letzten Jahren durch die UNESCO und deren Bildungsprogramm EFA (Education for all) weiter vorangetrieben. Das Ziel von EFA ist es, bis 2015 allen Kindern den kostenfreien Schulbesuch zu ermöglichen. Tatsächlich gibt es in diesem Bereich allerdings kaum Fortschritte und die Zahl der Kinder, die eine Schule besuchen, fällt eher, als dass sie steigt. Private Träger gewinnen im Bereich der Ausbildung der Armen an Bedeutung, zum Teil, weil viele Länder nicht in der Lage sind, die notwendige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und die Schulpflicht einzuführen. Allerdings gibt es wegen der möglichen Gewinne, die ein ‘low cost’-Schulbesuch für die Armen bietet, ein wachsendes Interesse an Bildungsmärkten. In diesem Kontext steht dabei zudem die “Liberalisierung” des Bildungsmarktes in Europa, den USA und auch in den Entwicklungsländern.

Internationale Unternehmen und lokale non state actors bauen transnationale Befürworter-Netzwerke und Organisationsstrukturen auf und verfolgen dabei eine Strategie, in Bildung zu investieren, die nicht frei von kommerziellen Interessen ist und mit anderen Sparten ihres Unternehmens in vielen Gebieten verknüpft bleibt. Diese Trends haben erhebliche Auswirkungen auf das Recht auf Bildung für alle Kinder – besonders wenn sie zu den gesellschaftlichen Randgruppen gehören – und die Rolle des Staates, wenn non state actors diese Trends realisieren. Diese Problematik hat erst vor kurzem das Interesse einer kritischen Forschung der Geschichtswissenschaft und der Bildungssoziogie geweckt. Eine Studie, die zu diesem Thema in einem geschichtlichen Kontext forschen soll, da die Verbreitung von Bildungseinrichtungen von Nicht-Regierungsorganisationen (Sozialreformer, religiöse Gruppen) auch in Indien eine lange Tradition hat, wird von der Transregionalen Forschergruppe gefördert. Dabei können die Forscherinnen und Forscher auf die Expertise von Professor Geetha B. Nambissan zurückgreifen, die bereits auf diesem Gebiet und über die Schulpolitik in Indien geforscht hat.

3. “Caste discrimination and education policy
Ein erster Versuch der “sozialen” Gesetzgebung in Britisch-Indien befasste sich mit dem Versuch Bildung für die verarmten “unteren” Kasten anzubieten. Dieses Gesetz wurde selten umgesetzt, da man sich protestierenden Eliten gegenübersah, die nicht wollten, dass ihre Kinder Kontakt mit gesellschaftlich Niederstehenden hatten. Dennoch spielte das Gesetz eine entscheidende Rolle als historische Vorlage: es wird heute als unstrittige Verantwortlichkeit der Regierung gesehen, niederen Kasten den Zugang zu staatlich finanzierter Bildung zu ermöglichen. Dabei stellt sich die Frage, welche Denkweisen dazu geführt haben, dass Entscheidungsträger Bildung als zentralen Punkt in der Führung der Armen der unteren Kasten erachten. Dieses Forschungsprojekt soll den massiven Anstieg der Popularität dieser Strategien im postkolonialen Indien untersuchen.

Abgesehen von den deutlichen Veränderungen in den Regierungsformen, haben die Strategien nicht nur Bestand, sondern auch an Bedeutung gewonnen. Können die Auswirkungen dieser Strategien in Zusammenhang mit den erfolgreichen Bestrebungen von Bewegungen der niederen Kasten, innerhalb der letzten zwei Jahrzehnten politische Macht zu erlangen, gesetzt werden? Und wie wirken sich die sozialen Folgen dieser Politik im Kontext eines zunehmend privatisierten Bildungsbereiches aus? Dieses Projekt ist eng verbunden mit dem Forschungsschwerpunkt der Sozialgeschichte der untergeordneten Kasten von Prof. Viswanath, die an der Universität Göttingen am Centre for Modern Indian Studies lehrt.

4. “Industrial restructuring, informalization, and their consequences for access to elementary education”
Die Ursprünge der Probleme Indiens, die Schulpflicht einzuführen und die berufliche Ausbildung sowie die Erwachsenenbildung weiter zu verbreiten, stehen in Zusammenhang mit strukturellen Änderungen im indischen Arbeitsmarkt. Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und Arbeitsschutz führten zu einem tiefgreifenden Anstieg von lockeren, unsicheren und weitestgehend kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen. Während ältere industrielle Zweige mit entwickelten sozialen und bildungserzieherischen Einrichtungen seit den 1980ern abnahmen, bildeten sich an neuen Orten sehr beträchtliche Industriekonglomerate und Belegschaften heraus.

Die Auswirkung dieser Veränderungen in Bezug auf die Bildungseinrichtungen auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, auf die familiären Finanzen, die Chancen für langfristige Planungen und Investition in die Bildung von Kindern werden im Rahmen des Arbeitskreises untersucht. Diese Untersuchung wird unterstützt durch bereits laufende Forschungen zu Arbeit und industrieller Restrukturierung in den alten Zentren der Textilindustrie Ahmedabad (Rukmini Barua), Bombay (Dr. Aditya Sarkar) und Kalkutta (Anna Sailer) am Centre for Modern Indian Studies in Göttingen.

5. “Adult education and the popularisation of practical scientific knowledge
Ein weiteres Gebiet im Bereich von Bildung und Erziehung ist die Weitergabe von Wissen an Erwachsene. In diesem Kontext erlangt die Popularisierung von Wissen und Wissenschaft eine besondere Bedeutung – nicht zuletzt in ländlichen Gebieten. Die Herausforderung (westliches) Wissen weiter zu vermitteln war bereits Thema einer Session während der Tagung ‘Knowledge Production, Pedagogy, and Institutions in Colonial India‘ des DHI London. Auf Basis der Ergebnisse dieser Session soll das Thema im Kontext des postkolonialen Zeitraums weiterverfolgt werden.

Die Weitergabe von wissenschaftlicher Erkenntnis an ländliche Gebiete im kolonialen und postkolonialen Zeitraum steht dabei im Vordergrund, so soll ein Beitrag zur Entwicklung der Infrastrukturen von Wissen geleistet werden. Bildung im Kontext von internationaler Entwicklungszusammenarbeit in Bereichen wie z.B. der Landwirtschaft könnten hier eine Rolle spielen. Das Thema hat außerdem ein hohes Potential für transnationale Vergleiche.

6. “Industrial and technical institutions and the resignification of manual labour
Es ist mittlerweile bekannt, dass Missionaren eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Elite-Bildungseinrichtungen westlicher Prägung, aus denen die Gründungsväter des postkolonialen Staates hervorgingen, zukam. Weit weniger bekannt ist, dass die Missionare in Wirklichkeit eine Hierarchie der Schulen einführten, von denen einige denjenigen zugedacht waren, die als ungeeignet für den englisch-basierten, buchzentrierten, “richtigen” Unterricht erachtet wurden. Während diese “Armen-” oder “Industrieschulen” auf Modellen beruhten, die zuerst in der Metropole erprobt wurden, waren sie in Indien dazu gedacht, die Bedeutung der Handarbeit zu verändern. Es wurde angenommen, dass dies von den traditionellen Eliten als Beeinträchtigung des indischen Wirtschaftswachstums abgewertet wurde.

Die Forschung in diesem wenig durchdrungenem Gebiet soll den Umfang dieser Art von Ausbildung – finanziell und ideologisch – sowohl unter den kolonialen als auch den postkolonialen Regierungen untersuchen. Zudem stellt sich die Frage, ob, wie und mit welchen Auswirkungen neue Werte tatsächlich mit den spezifischen Fähigkeiten der Armen verknüpft wurden. Die koloniale Verbreitung der schulischen Ausbildung war auch untrennbar mit der Resignifikation der Kasten-Unterschiede durch Beeinflussung z.B. des Curriculums, von Schulzeiten und der Pädagogik innerhalb der Schule verbunden mit dem erklärten Ziel, dass Kinder der unteren Kasten kein Leben außerhalb der Handarbeit anstreben sollten.

7. “The impact of schooling on life-histories
Die Auswirkung schulischer Bildung auf Biographien hat sich zu einem wichtigen Thema innerhalb von Autobiographien und Biographien der niederen Kasten und der Dalits entwickelt. Die Rolle, die Kasten-Verbände bei der Förderung der Bildung dieser Gemeinschaften spielen, ist innerhalb der Regierungspolitik in Bezug auf das erweiterte Feld der Bildungsgeschichte in Indien weder adäquat anerkannt, noch diskutiert worden. Bildung spielt außerdem eine wichtige Rolle beim Aufbau von Lebenswegen in europäischen Autobiographien von Menschen aus einem prekären Hintergrund.

Am DHI London untersucht derzeit ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Arts and Humanities Research Council gefördertes Projekt “pauper narratives “. Dieses Projekt wird interessante vergleichende Perspektiven der ambivalenten Schulerfahrungen armer Kinder in Europa und zudem methodologische Expertise beisteuern. Zeitgleich ist das DHI London an biographischem Schreiben und Erzählungen, die in einem kolonialen Kontext stehen, interessiert. Das Institut hat dazu bereits im Frühjahr 2012 eine Konferenz veranstaltet.

Über die Transregionale Forschergruppe “Poverty Reduction and Policy for the Poor between the State and Private Actors: Education Policy in India since the Nineteenth Century”

Die transnationale Forschergruppe wird von der Max Weber Stiftung finanziert und vom Deutschen Historischen Institut London geleitet. Das DHI London kooperiert dabei mit  Centre for Historical Studies und dem Zakir Husain Centre for Educational Studies der Jawaharlal Nehru University, Neu-Delhi, dem Centre for the Study of Developing Societies, Neu-Delhi, dem Centre for Modern Indian Studies, Universität Göttingen und dem King’s India Institute, King’s College London.

Projektleiter sind Prof. Ravi Ahuja  (Moderne Indische Geschichte, Göttingen), Dr. Sarada Balagopalan (Soziologie, Neu-Delhi), Prof. Neeladri Bhattacharya  (Moderne indische Geschichte, Neu-Delhi), Prof. Andreas Gestrich (Moderne europäische Geschichte, London), Dr. Valeska Huber (Moderne europäische Geschichte und Geschichte des Mittleren Ostens, London), Prof. Sunil Khilnani (Politikwissenschaft, London), Prof. Janaki Nair (Moderne indische Geschichte, Neu-Delhi), Prof. Geetha B. Nambissan (Erziehungssoziologie, Neu-Delhi), Dr. Jahnavi Phalkey (Wissenschafts- und Technikgeschichte, London), Dr. Indra Sengupta (Moderne indische Geschichte, London), Dr. Silke Strickrodt (Moderne afrikanische Geschichte, London), Prof. Benedikt Stuchtey (Moderne europäische Geschichte, London), Dr. Louise Tillin (Politikwissenschaft und Developmental Studies, London), Prof. Rupa Viswanath (Religionswissenschaft, Göttingen).

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1555

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Das Community-Management stellt sich vor (1)

Sebastian Gießmann, CC-BY
Seit November 2012 kümmere ich mich zusammen mit Inger Brandt vom DHIP und Martin Clavey von Cléo in Marseille um den deutschen Teil der Community von Hypotheses. Dies tue ich im Auftrag der Max Weber Stiftung, die hier selber mit ihrem Portal Weber 2.0 vertreten ist. Als Kultur- und Medienwissenschaftler bin ich akademisch seit 1995 mit dem World Wide Web groß geworden. Da durfte selbstverständlich in der Doktorarbeit – “Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke” -  ein Kapitel zur Netzwerkgeschichte des Internets nicht fehlen. Und das Schöne am Internet bleibt seine Unberechenbarkeit: Gerade die Dienste, mit denen niemand gerechnet hat, feiern unerwartbarerweise große Erfolge. Vielleicht ja nun auch die Weblogs in den Kultur- und Geisteswissenschaften? Ich bin da mittlerweile sehr optimistisch.

Hätte es 2006 Hypotheses bereits gegeben, wäre mein Dissertationsblog netzeundnetzwerke.de vermutlich hier gelandet. Als ich ein Jahr später versuchte, befreundete Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaftler zur Mitarbeit auf netzeundnetzwerke.de zu überreden, scheiterte ich noch damit. Es war ganz selbstverständlich, dass eher ein Sammelband aus der Konferenz zu “Netzwerken der Moderne” entstehen musste. Aufgrund einer Fehlkalkulation mussten die Autor_innen am Ende noch selber Geld zuschießen, damit der Band publiziert werden konnte((1)). Die Beiträge des bei Königshausen & Neumann erschienenen Buches hätten online mit Sicherheit mehr Aufmerksamkeit bekommen, wenn auch zu diesem Zeitpunkt noch weniger Renommee. Nun haben wir Ende 2012 – und an den auf die Buchkultur ausgerichteten Referenzsystemen der Geistes- und Sozialwissenschaften hat sich meinem Eindruck nach wenig geändert. Auch die beiden Zeitschriften, die ich redaktionell betreue — die Zeitschrift für Kulturwissenschaften und ilinx, Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft — fühlen sich noch sehr den Druckversionen verpflichtet.

Viel geändert hat sich hingegen in der technischen Zugänglichkeit von Weblogs. Während ich bei netzeundnetzwerke noch als Autodidakt mit einer frühen Version von Drupal kämpfte, steht nun auf Hypotheses eine ausgewachsene WordPress-Plattform zur Verfügung. Und auch die populärste und legendär benutzerfreundliche aller freien Blogsoftwares ist mittlerweile eine komplexe Angelegenheit geworden, die liebevoller Pflege bedarf! Die Arbeit, die hierfür in Marseille und Paris im Hintergrund erfolgt, kann man gar nicht genug würdigen. Ich entdecke hier immer schöne neue technische Lösungen für spezifisch wissenschaftliche Bedürfnisse, z.B. für Fußnoten.((2))

All diese Sachen müssen freilich auch in der Praxis ausprobiert werden. Denn ohne lesenswerte Inhalte nützen alle schönen technischen Möglichkeiten nichts. Neben Redaktionsblog und Bloghaus findet man die meisten Artikel von mir auf “Geisteswissenschaft als Beruf” – kurz: gab_log – und auf Weber 2.0. Auf Twitter bin ich als @sebgiessmann unterwegs, wenn ich nicht gerade die @webertweets verfasse; Mails bitte an giessmann bei maxweberstiftung.de; die Homepage samt Publikationen findet Ihr hier.

Eine letzte Sache noch, die eigentlich viele Dinge beinhaltet: Was ist mir wichtig für Hypotheses?

Erstens wünsche ich mir, dass sich jede und jeder in der Community wohl fühlt und wir uns gegenseitig unterstützen. Hypotheses steht für konstruktive Diskussionen und soll eher Gedankenstürme auslösen als na-ihr-wisst-schon.

Zweitens wünsche ich mir, dass wir alle die frohe Botschaft in unsere Fächer weitertragen. Das bedeutet Überzeugungsarbeit, Überzeugungsarbeit und noch mehr Überzeugungsarbeit. Blogs sollen als Forschungsjournale, Konferenzchroniken und Entwurfsorte des Wissens zu einer anerkannten Schreibumgebung der Kultur- und Geisteswissenschaften werden.

Drittens wünsche ich mir, dass wir mit den Blogs als Schreibumgebung den wissenschaftlichen Anspruch auf Hypotheses hochhalten und dabei so interdisziplinär wie möglich aufeinander Bezug nehmen. Man merkt Texten ja an, ob sie mit Herzblut geschrieben sind… Weblogs sollten ein Ort der wissenschaftlichen Leidenschaften sein.

 

  1. Netzwerke der Moderne. Erkundungen und Strategien. Hrsg. Jan Broch, Markus Rassiller, Daniel Scholl. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007; immerhin auch auf Google Books.
  2. Schaut doch mal unter Einstellungen > Fußnoten…

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/850

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Frische Blogs eingetroffen! Alles aus dem Orient-Institut Beirut und zum Dreißigjährigen Krieg

Noch vor Weihnachten starten zwei neue wissenschaftliche Weblogs auf Weber 2.0. Zum einen begrüßen wir das Stiftungsinstitut aus Beirut, das unter dem Titel Mish ma32ool Wissenswertes und Aktuelles aus dem Nahen Osten bloggt. Außerdem hat unser Kollege Michael Kaiser ein Forschungsjournal zum 30jährigen Krieg begonnen, das kurz und bündig dk-blog heißt. Beide Neuzugänge  – auf die wir wirklich ein wenig stolz sind – wollen wir hier kurz dem geneigten Publikum vorstellen.

Alaa Awad: The Battle Mural (formerly on Tahrir Square, Cairo). All rights reserved by the artist

Artist: Alaa Awad
Title: The Battle Mural
(former) location: Tahrir Square, Cairo.
All rights reserved by the artist

Was verbirgt sich hinter dem Titel Mish ma32ool? Es handelt sich dabei um einen geläufigen arabischen Ausdruck, geschrieben im Stil der arabischen Bloggerszene. Auf Deutsch wird er “mish ma’ul” ausgesprochen. Der Ausdruck schwankt zwischen einem ungläubigen „Gibt’s doch gar nicht!“  und „Unglaublich“ oder sogar „Unvernünftig“. Auch das Titelbild des Weblogs ist eine Besonderheit: Es zeigt eine Arbeit des ägyptischen Künstlers Alaa Awad, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo zu sehen war, bevor sie durch das Militär zerstört wurde. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Orient Instituts Beirut, das 2010 auch ein Büro in Kairo eröffnet hat, werden unter diesem Signet auf Englisch über die wissenschaftlichen Aktivitäten, aber teils auch über die allgemeine Umbruchssituation im Nahen Osten schreiben. Bereits im Blog zu lesen sind Neuigkeiten vom großen Kongress “Inverted Worlds” und ein Workshopbericht zur Arbeiterorganisation.

dkblog - Quellen, Literatur, Interpretationen zum Dreißigjährigen Krieg

dkblog – Quellen, Literatur, Interpretationen zum Dreißigjährigen Krieg

Mit dem dk-blog betritt ein anerkannter Experte zum Dreißigjährigen Krieg publizistisches Neuland. Michael Kaiser, zuständig für die Open-Access-Plattform perspectivia.net, teilt hier sein Wissen und neue Ideen zu einem genuinen Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft. Er selber schreibt dazu:

Ich selbst beschäftige mich seit rund 20 Jahren mit Themen des Dreißigjährigen Kriegs. Das Interesse ist nie erlahmt, im Gegenteil. Doch ungeachtet der vielen und intensiven Auseinandersetzungen mit Problemen dieser Zeit bleibt vieles rätselhaft: Nicht nur das Wissen ist im Laufe der Jahre beständig gewachsen, sondern ebenso die Einsicht in die Vielschichtigkeit der hier berührten historischen Phänomene. Aber je mehr ich forsche, desto komplexer (und faszinierender!) stellt sich die Thematik dar. [...]

Warum dann aber die Öffentlichkeit eines Blogs? Sicher spielt die Selbstvergewisserung im Sinne einer Zusammenstellung von Material eine Rolle. Aber warum sollen diese ersten rohen Schnipsel nicht auch anderen Impulse geben? Und möglicherweise regen sie andere an, auf meine offenen Fragen zu reagieren und Probleme zu lösen, an denen ich mich abarbeite. Im Zentrum stehen weiterhin die Phänomene des Dreißigjährigen Kriegs, aber vielleicht ergibt sich ein Wechselspiel zwischen dem einsamen Arbeiten des Historikers und neuen Kooperationen, bis hin zu kollaborativen Ansätzen.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern ebenso wie den Schreibenden von Mish ma32ool und dk-blog viel Vergnügen und Erkenntnisgewinn!

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1713

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Antrittsvorlesung des neuen Direktors am DHI Rom, Prof. Dr. Martin Baumeister

Am Montag dem 10. Dezember hat Martin Baumeister seine Antrittsvorlesung »Tiber alone, transient and seaward, bent remains of Rome« am Deutschen Historischen Institut Rom gehalten.

Prof. Dr. Martin Baumeister – Jahrgang 1958 – studierte Geschichte, Germanistik und Hispanistik in München und Madrid. 1985–1989 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LMU, wo er 1992 mit einer Arbeit zur Sozialgeschichte des ländlichen Spanien promoviert wurde. 1992–1999 arbeitete er als Wissenschaftlicher Assistent an der HU Berlin, 2001 erfolgte die Habilitation mit einer Schrift zur Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Nach einer Privatdozentur an der HU Berlin (2002–2003) hat er seit 2003 den Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Schwerpunkt Südeuropa) an der LMU München inne. 2010/11 war er bereits Gastwissenschaftler am DHI Rom, im Oktober 2012 trat er dort das Amt des Institutsdirektors an.

Baumeister forscht zur italienischen, spanischen und deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Geschichte der populären Kultur und des Theaters, zur Religionsgeschichte, zur Geschichte des Zeitalters der Weltkriege und des Faschismus sowie dem Mittelmeerraum als historische Region. Er ist Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (seit 2008), im Beirat der Zeitschrift »Historia del Presente« (seit 2009), eines von der DFG finanzierten internationalen Graduiertenkollegs der LMU in Kooperation mit der Karls-Universität Prag zum Thema »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts« (seit 2009), im Beirat der Zeitschrift »Semata. Ciencias Sociales y Humanidades« (seit 2010) und der Leibniz Graduate School »Enttäuschung im 20. Jahrhundert. Utopieverlust – Verweigerung – Neuverhandlung« des Instituts für Zeitgeschichte und des Historischen Seminars der LMU (seit 2012).  Er gibt u. a. die Zeitschriften »IMS – Informationen zur modernen Stadtgeschichte« (seit 2003), »Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur« (seit 2007) und das Themenportal Europäische Geschichte (clio online) (seit 2010) mit heraus. Prof. Dr. Martin Baumeister, Direktor des DHI Rom.
Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Duchhardt, Präsident der Max Weber Stiftung. Prof. Dr. Martin Baumeister, Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Duchhardt und Prof. Dr. Gabriele B. Clemens, Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des DHI Rom. Concerto Romano Zur Begrüßung von Prof. Dr. Martin Baumeister fand am DHI Rom ein Concerto Romano statt. Concerto Romano

 

 

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1668

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Wie sollen Rentenzahlungen zur Beschäftigung in Ghettos erfolgen? Eine Stellungnahme von Stephan Lehnstaedt

Dr. Stephan Lehnstaedt, DHI Warschau
Am 10. Dezember 2012 fand im Sozialausschuss des Bundestages eine vielbeachtete Anhörung statt. Verhandelt wurden Anträge der Bundestagsfraktion von SPD, Bündnis90/Die Grünen und der Linken. Hiermit sollen Rentenzahlungen für die Arbeit in den Ghettos während des Zweiten Weltkrieges gesichert werden. Dr. Stephan Lehnstaedt, Historiker am Deutschen Historischen Institut Warschau, war als Sachverständiger zur Anhörung geladen. Wir dokumentieren hier seine schriftliche Stellungnahme, die sich in der Ausschussdrucksache 17(11)1022neu ab S. 37 findet. 

Stellungnahme von Dr. Stephan Lehnstaedt, Deutsches Historisches Institut Warschau, zur Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des 17. Deutschen Bundestags am 10. Dezember 2012.

Inhalt:

1. Arbeitsbedingungen in nationalsozialistischen Ghettos

2. Die Umsetzung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus
Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) durch Rentenversicherer und Justiz

3. Ghettoarbeit und Ghettorenten aus Sicht der Überlebenden

4. Das ZRBG und die Bundesministerien

Zusammenfassung

  • Die Juden, die während des Zweiten Weltkriegs in den deutschen Ghettos gearbeitet haben, haben dies in der weit überwiegenden Mehrzahl aus eigenem Willensentschluss und gegen Entlohnung getan, allerdings unter allgemeinen äußeren Bedingungen von Zwang, Verfolgung und Holocaust. In vielen Fällen wurden sogar Rentenbeiträge abgeführt.
  • Rentenversicherer und Sozialgerichtsbarkeit haben diese historischen Gegebenheiten bis 2009 weitgehend ignoriert. Mit dieser Einstellung gegenüber fachwissenschaftlichen Erkenntnissen konstruierten sie auf laienhafter Basis ein verzerrtes Bild der historischen Wirklichkeit. Im so entstandenen Schema hatten die Erfahrungen von zehntausenden Antragstellern keinen Platz, die Kläger wurden dadurch systematisch benachteiligt. Eine zusätzliche Ungleichbehandlung entstand dadurch, dass Überlebende aus Israel bei der DRV Rheinland weniger Erfolg hatten als die aus den USA bei der DRV Nord.
  • Bundesregierung und Ministerialverwaltung haben diese Praxis auch gegen starke nationale wie internationale Kritik verteidigt, weil sie keine Schieflage eingestehen wollten und vor allem nicht bereit waren, die höheren Kosten einer nicht systematisch benachteiligenden ZRBG-Auslegung zu tragen.
  • Paradoxerweise argumentieren alle in die Umsetzung des ZRBG involvierten Seiten mit dem Willen des Bundestags: Ministerium und Rentenversicherer verteidigten damit die harte Auslegung, Opfervertreter und die parlamentarische Opposition ihre Forderungen nach kulanteren Regelungen. Nach sieben Jahren Ghettorenten gab 2009 das Bundessozialgericht eine eindeutige Interpretation vor, die eine klare Abkehr von der bisherigen Anwendung des ZRBG darstellte – und legte damit u.a. aufgrund neuerer historischer Erkenntnisse einmal mehr fest, was der Bundestag 2002 gewollt haben könnte. Die restriktive Praxis von Rentenversicherern und Sozialgerichten wurde dabei eindeutig verworfen und als falsch gekennzeichnet.
  • Nach § 44 SGB X ist eine Korrektur dieser rechtswidrigen Praxis zum Nachteil der jüdischen Ghettoarbeiter aber nur für die zurückliegenden vier Jahre möglich. Deshalb werden den Überlebenden, denen bis 2002 jegliche Renten für Ghettoarbeit verwehrt wurden, seit 2009 die vollständigen Renten verwehrt. Die Antragsteller hatten erwartet, im Rahmen des ZRBG für tatsächlich geleistete Arbeit eine Rente zu erhalten wie andere Beschäftigte auch, und nicht bloß eine Entschädigung oder Wiedergutmachung, deren einziger Grund darin bestand, dass sie Opfer gewesen waren. Doch die erhoffte Gleichstellung von jüdischen und deutschen Arbeitern blieb aus.

1. Arbeitsbedingungen in nationalsozialistischen Ghettos

Arbeit heißt Leben! Diese Gleichung galt während des Zweiten Weltkriegs für die allermeisten jüdischen Insassen nationalsozialistischer Ghettos, denn die nicht Arbeitenden waren fast nie in der Lage, sich selbst mit dem Überlebensnotwendigen zu versorgen. Aus der Perspektive der deutschen Besatzer waren diejenigen, die keiner Beschäftigung nachgingen, schlicht unnütze Esser und daher nicht nur einem Arbeitszwang ausgesetzt, sondern fielen auch als erste den Deportationen in die Vernichtungslager zum Opfer. Arbeit nahm daher einen, wenn nicht sogar den zentralen Platz im Leben der Juden in den Ghettos ein und bestimmte zu einem großen Teil die Ökonomie dieser Einrichtungen.

Diese Kausalitäten in der ersten Phase des Holocaust schienen lange Zeit so offensichtlich, dass sie keiner näheren Untersuchung wert waren, weshalb sich neuere Studien beispielsweise nur der Ausbeutung der Juden in Lagern widmeten.[1] Ansonsten dominierte in Deutschland die Auseinandersetzung mit den nichtjüdischen Zwangsarbeitern, die zu Millionen in der Industrie des Reiches eingesetzt worden waren, während die deutsche Geschichtswissenschaft überhaupt erst in den letzten Jahren begann, sich mit Ghettos zu beschäftigen,[2] wobei wesentliche Impulse von den – wenigen – Sozialrichtern ausgingen, die für ihre Entscheidungen in ZRBG-Verfahren Gutachten in Auftrag gaben.

Dabei stellte sich schnell heraus, dass die Wissensgrundlage keineswegs besonders umfassend und die konkreten Fragen zur Ghettoarbeit oft nur schwer zu beantworten waren. Neben vereinzelten synthetisierenden Überblicksdarstellungen lagen lediglich für die besetzten polnischen Gebiete gewisse Erkenntnisse vor, die vor allem Forscher des Warschauer Jüdischen Historischen Instituts (Żydowski Instytut Historyczny) in den 1950er und 1960er Jahren vorgelegt hatten.[3] Neuere Untersuchungen waren weit weniger hilfreich, weil sich beispielsweise die in den letzten Jahren überaus ertragreiche Forschung zu den nationalsozialistischen Tätern nicht oder nur sehr peripher mit den Bedingungen in den Ghettos beschäftigt hatte.

Angesichts dessen begann eine intensive Auseinandersetzung mit der vorhandenen Literatur, zudem fuhren manche Gutachter sogar in osteuropäische Archive; Ende 2009 waren so in der zentralen Datenbank der Sozialgerichtsbarkeit (www.sozialgerichtsbarkeit.de) rund 200 Expertisen gespeichert. Darin konnte beispielsweise ganz grundlegend die Frage geklärt werden, was denn überhaupt ein Ghetto ist; die Rentenversicherer waren zunächst nur von rund 400 Ghettos in Osteuropa ausgegangen, aber die zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschrittenen Editionen zweier Ghetto-Enzyklopädien des US Holocaust Memorial Museums und der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem[4]  verwiesen diese Zahl schnell ins Reich der Mythen: Tatsächlich existierten rund 1150 Orte, für die man von einem Ghetto sprechen kann.

Zwar ist dieser Begriff keineswegs eindeutig besetzt, er hatte teilweise zeitgleich mehrere Bedeutungen und war außerdem im Laufe der Jahrhunderte einem semantischen Wandel ausgesetzt.[5] Während des Zweiten Weltkriegs definierte sich der Begriff zunächst über den Sprachgebrauch, der ein Gebiet als Ghetto, „Wohngebiet der Juden“, „Jüdisches Wohnviertel“ oder, z.B. auf Polnisch, als „dzielnica żydowska“ beschrieb. Darüber hinaus kennzeichnet Martin Dean, Herausgeber der Enzyklopädie des US Holocaust Memorial Museums, ein Ghetto als (1) einen separierten, explizit begrenzten Wohnbezirk, in dem Juden leben mussten und der ihnen in einem Vorgang der „Ghettoisierung“ zugewiesen worden war; (2) Nichtjuden durften dort nicht wohnen, während (3) den Juden das Verlassen unter Strafe untersagt war.[6]

Diese historische Definition war auch unter Juristen kaum umstritten. Ebenfalls akzeptiert war schnell, dass es längst nicht nur geschlossene, also mit einer Mauer oder einem Zaun umfasste Ghettos gab, sondern auch solche, in denen diese Elemente fehlten und demzufolge ein „offenes Ghetto“ gegeben war. Wesentlich komplexer war die Frage, was denn unter einem „eigenen Willensentschluss“ zu verstehen sei, den das ZRBG als rentenrechtliche Regelung unabdingbar erforderte – um damit eine Abgrenzung zur Zwangsarbeit zu schaffen, für die in den zurückliegenden Jahren die Stiftung „Erinnerung – Verantwortung – Zukunft“ Zahlungen geleistet hatte. Direkt mit diesem Problem verbunden war das „Entgelt“, welches die ehemaligen Ghettoarbeiter erhalten haben mussten, um sich nun für eine Rente zu qualifizieren.

Für beide Gesichtspunkte hatte die Geschichtswissenschaft vor den Gutachten für die Sozialgerichtsbarkeit keine gesicherten Erkenntnisse. In den wenigen Untersuchungen, in denen auf das Leben in Ghettos eingegangen wurde, war meist recht pauschal von „Zwang“ die Rede, der, von den allgemeinen Umständen der Inhaftierung ausgehend, genauso für die Arbeit gegolten habe.[7] Doch eine derartig undifferenzierte Sichtweise war für die durchaus artifizielle Betrachtung im Rahmen des ZRBG wenig nützlich. Tatsächlich herrschte in den Ghettos keineswegs immer nur unbezahlte Zwangsarbeit vor. Ganz im Gegenteil konnten die Gutachten vielfältige Arbeitsformen beschreiben, die Arbeitsbataillone, willkürliche Verhaftungen und Verschleppung in Arbeitslager – aber auch freiwillige Meldungen hierfür –, „shops“ der Judenräte und der Besatzer und sogar fortgesetzte Beschäftigungsverhältnisse beinahe wie vor dem Krieg umfassten. Und diese Varianten ergaben sich in unterschiedlich großen Ghettos mit je eigenen Rahmenbedingungen in verschiedenen besetzten Gebieten Osteuropas. Im Grunde war jedes Ghetto ein Sonderfall, der einzeln beschrieben werden musste und seine eigenen Spezifika aufwies. Dessen ungeachtet gab es zahllose wiederkehrende Phänomene, die sich besonders in der regionalen Unterteilung der deutschen Herrschaft spiegelten.

Hinzuweisen ist auch darauf, dass es aus Sicht der deutschen Besatzer durchaus rational war, die Juden zu bezahlen: Indem die Arbeitsämter etwa im Generalgouvernement (also dem nicht ins Reich eingegliederten Teil Polens, in dem etwa 2 Millionen Juden in insgesamt 342 Ghettos lebten) auf freiwillige Beschäftigungsverhältnisse setzten, maximierten sie den Nutzen für die deutsche Kriegswirtschaft, einfach weil Menschen, die aus eigenem Willensentschluss arbeiten, motivierter als Zwangsarbeiter sind. Der Leiter der Arbeitsverwaltung im Generalgouvernement, Dr. Max Frauendorfer, erklärte, dass es nur mit der Lohnzahlung möglich sei, „die Arbeitsfähigkeit der Juden zu erhalten, den nötigen Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen und Krankheiten und Seuchen zu vermeiden“[8] Von Mitte 1940 an bis Mitte 1942 waren 80 bis 90 Prozent der arbeitenden Juden weitgehend aus eigenem Willensentschluss und gegen Entlohnung in Form von Bargeld oder Nahrungsmitteln tätig. Das galt insbesondere für Frauen und Kinder, die weder der Lagerarbeit noch dem Dienst in den Arbeitsbataillonen unterlagen.[9] Die Arbeitsverhältnisse der Ghettoinsassen waren im Gebiet Ostoberschlesien tendenziell besser, im Warthegau und auch in den besetzten Teilen der Sowjetunion – mit der Ausnahme Litauens – schlechter.[10]

Für eine Generalisierung der Ghettoarbeit im Sinne des ZRBG lässt sich dennoch feststellen, dass der „eigene Willensentschluss“ in den allermeisten Fällen gegeben war: Arbeit zu haben stellte ein Privileg dar. Das galt nicht für die Arbeitslager, in denen die Bedingungen hart und die Todesraten hoch waren, aber doch für die Ghettos; selbst die Arbeitsbataillone, in denen niedere und schwere, aber entlohnte Hilfstätigkeiten ausgeübt wurden, konnten oft auf Freiwillige zurückgreifen. Von echter „Freiwilligkeit“ kann selbstverständlich nicht die Rede sein, vielmehr waren die Juden wegen der deutschen Hunger- und Beraubungspolitik gezwungen, jegliche Möglichkeit, etwas Essen zu erhalten, wahrzunehmen. Und da die Beschäftigungen in den Ghettos und selbst in den Lagern und Arbeitsbataillonen beinahe immer eine Gegenleistung in Form von Nahrungsmitteln beinhalteten – was die Gutachten klar zeigen –, waren sie begehrt, denn für Geld konnten Juden in den Ghettos nichts kaufen. Die Juden hatten also ein Interesse daran, eine Arbeit zu suchen. Und da es fast immer viel weniger Arbeitsplätze als Bewerber gab, war eine Stelle ein wertvolles Privileg. Die „Entlohnung“ mochte nicht angemessen sein sondern eher eine Ausbeutung dar, sie mochte oft über die Judenräte und nicht direkt von den Arbeitgebern ausgegeben worden sein, aber sie machte doch den Unterschied zwischen Überleben und Verhungern aus. Ihr Wert war insofern kaum hoch genug zu veranschlagen, und entsprechend begehrt war Arbeit, die später zudem über den längeren Verbleib im Ghetto oder die schnellere Deportation in die Vernichtungslager entschied. Hinzuweisen ist auch darauf, dass zumindest im besetzten Polen (also im Generalgouvernement, Warthegau und Ostoberschlesien) für die jüdischen Arbeiter regulär und regelmäßig Sozialversicherungsbeiträge für die jüdischen Arbeiter an die damaligen Rentenkassen gezahlt wurden – selbst für die Arbeit in Zwangsarbeitslagern.
2. Die Umsetzung des ZRBG durch Rentenversicherer und Justiz

Die eben geschilderten historischen Bedingungen waren so weder 1997, zum Zeitpunkt des grundlegenden Urteils des Bundessozialgerichts am Beispiel des Ghettos Litzmannstadt, noch 2002, bei der Verabschiedung des ZRBG im Bundestag, im wissenschaftlichen Diskurs präsent. Dies gilt in weit größerem Maße für die nichtfachliche Öffentlichkeit, zu der auch die Ministerialverwaltungen, die Deutsche Rentenversicherung und die Sozialgerichtsbarkeit gezählt werden muss. Als das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in den Jahren 1997 und 2002 für den Deutschen Bundestag das ZRBG vorbereitete und dazu auch Rücksprache mit den Rentenversicherern hielt, wurden keine Historiker in das Verfahren eingebunden. Wie eine Akteneinsicht nach dem Informationsfreiheitsgesetz in die Akten des BMAS zeigt, entstanden deshalb groteske Fehlannahmen über den zu erwartenden Umfang des ZRBG, die in dieser Form auch dem Bundestag als Entscheidungsgrundlage unterbreitet wurden: Die Schätzung über die zu erwartende Zahl der Antragsteller lag um den Faktor 100 zu niedrig: statt schlussendlich 70.000 Antragstellern rechnete das BMAS gegenüber dem Haushaltsausschuss des Bundestags Ende 2001 mit nur 700 Antragstellern, obwohl in internen Papieren auch Zahlen von bis zu 6.000 Antragstellern kursierten.[11]

Da der Zwangscharakter der Ghettos so offensichtlich erschien, waren Bundes- und Landesministerien sowie die Rentenversicherer höchst überrascht von den rund 70.000 Anträgen, die nach der Verabschiedung des Gesetzes gestellt wurden. Doch anstatt nun bei Wissenschaftlern Erkundigungen über die Arbeitsbedingungen in Ghettos einzuziehen, entwickelte die Deutsche Rentenversicherung ohne fachliche Beratung eigene pseudohistorische Kriterien, nach denen die Anträge zu bearbeiten waren, und gab dafür im September 2002 Anweisungen zur Bearbeitung von ZRBG-Fällen heraus. Auf 36 DIN-A5 Seiten sowie einem längeren Anhang, der einzelne Ghettos auflistete, wurde dort eine eigene Interpretation zu Arbeit in Ghettos vorgelegt, die auch eine Übersicht zu den Verhältnissen in den deutsch besetzten Gebieten Osteuropas enthielt. Im Januar 2006 erfuhr der Text eine Überarbeitung und Erweiterung.[12] Er diente als Grundlage für sämtliche Verwaltungsentscheidungen bis zu den Urteilen des Bundessozialgerichts von Juni 2009.

Die beiden Arbeitsanweisungen von 2002 und 2006 weisen in Bezug auf die Rezeption des historischen Forschungsstands keine Fortschritte auf. Andererseits beruhen die teilweise sehr weit reichenden Interpretationen der Rentenversicherung auf insgesamt nur acht fachwissenschaftlichen Büchern, davon vier Nachschlage- bzw. Überblickswerke. Zwar sind diese allesamt als Standardwerke zu bezeichnen, doch das älteste von ihnen ist von 1990, die zwei neuesten von 1999. Bedenkt man den Druckzyklus historischer Werke, so ist die Grundlage für die Entscheidungen der Rentenversicherung der Forschungsstand von Anfang 1998. Gleichwohl gilt selbst dies nur mit Einschränkungen, Referenz für das Reichskommissariat Ukraine sind lediglich drei Überblicksdarstellungen von 1990, 1991 bzw. 1993.

Die Auswertung der von der Rentenversicherung herangezogenen Werke geschah offensichtlich nicht durch einen Historiker, der auch eine fachliche Einordnung und Beurteilung hätte vornehmen können. So blieben zahlreiche einschlägige Studien unberücksichtigt, die gerade zu den speziellen Fragen von Ghettoisierung oder Arbeit weit detaillierter Auskunft geben als die vier Nachschlage- bzw. Überblickswerke, die die Rentenversicherung verwendet. So erklären sich zahllose Irrtümer, unzulässige Analogien und Pauschalisierungen bzw. Fehlinterpretationen. Die mangelhafte Auseinandersetzung mit den damaligen Gegebenheiten setzt sich in einem unkritischen Umgang mit den Sekundärquellen fort. Das Bild, das die Rentenversicherung in ihren Arbeitsanweisungen von der nationalsozialistischen Judenpolitik in Osteuropa zeichnet, entspricht nicht dem aktuellen historischen Forschungsstand, und entsprach ihm auch nicht zum Zeitpunkt der Entstehung der Anweisungen. Die Grundlage für das Verwaltungshandeln war eine laienhafte, ohne fachhistorische Anleitung durchgeführte Auswertung von lediglich acht unsystematisch zusammengestellten Werken.

Grundlage für die individuelle Entscheidungsfindung waren Fragebögen, die die Überlebenden auszufüllen hatten. Zwar ist dies aus Gründen der Operationalisierung bei vielen tausend Anfragen verständlich, doch die fachliche Kritik durch erfahrene Psychologen zeigt, dass die Gestaltung der Fragebögen kaum geeignet war, valide Daten zu erhalten,[13] schon alleine, weil sich Erinnerungen kaum in die starren Schemata von Vordrucken pressen lassen. Verwirrend war beispielsweise die Frage zum Zustandekommen des Arbeitsverhältnisses, bei dem die Optionen „freiwillig“, „durch Vermittlung“ und „durch Zuweisung“ gegeben sind: Viele Überlebende kreuzten alle drei Punkte an, weil sie sich an den Judenrat mit der Bitte um eine Arbeit gewandt hatten, dieser ihnen einen Arbeitgeber vermittelte, wo schließlich eine konkrete Aufgabe zugewiesen wurde. Dieser vollkommen übliche und historisch auch kaum anders denkbare Vorgang führte indes regelmäßig zur Ablehnung des Antrags.

Relevant für die Bearbeitung der einzelnen Anträge waren ferner Dokumente aus den früheren Entschädigungsverfahren der Überlebenden (nach dem Bundesentschädigungsgesetz – BEG). Sie wurden in der weit überwiegenden Mehrzahl gegen die Antragsteller ausgelegt, weil sie angeblich im Widerspruch zu den Angaben im ZRBG-Verfahren rund 50 Jahre später stünden. Doch die Annahme, Angaben im Entschädigungsverfahren seien für ZRBG-relevante Sachverhalte wegen des kürzeren Abstandes zu den strittigen Zeiten größerer Beweiswert beizumessen als Angaben im ZRBG-Verfahren selbst, kann historisch-quellenkritischen, aber auch schlicht logischen Maßstäben nicht standhalten: In den BEG-Verfahren wurden andere Sachverhalte ermittelt, vor allem Schäden an Freiheit und Gesundheit, wobei man sich auf ein Minimum an relevanten Angaben beschränkte. Das verdeutlicht die Tatsache, dass in den BEG-Akten dem eigentlichen Verfolgungsschicksal in der Regel nur wenige Zeilen gewidmet sind.

Die Vorstellungen, die hinter der Argumentation der deutschen Rentenversicherer standen, beschränken sich auf ein weitgehend eindimensionales, von ihnen selbst geschaffenes Bild einer Ghettowelt. Sie konstruierten ihre eigene Geschichte der Ghettos, die durch andauernde Wiederholung perpetuiert wurde – und lehnten dementsprechend über 90 Prozent aller Anträge ab. Wie erfolgreich die Versicherer mit ihrem Vorgehen waren, zeigt die Überprüfung ihres Handelns durch die Sozialgerichtsbarkeit. Auch hier bestand bis Mitte 2009 kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Klage gegen die Verwaltungsbescheide.

Blickt man auf das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, das als zweite Instanz für Kläger aus Israel zuständig war, wird deutlich, dass die Kläger in etwas mehr als 17 Prozent aller dort eingegangenen ZRBG-Fälle zumindest einen Teilerfolg erzielen konnten (zum Vergleich: die Erfolgsquote in Rentensachen außerhalb des ZRBG liegt etwa bei 27 Prozent).[14] Den Überlebenden gelang es nicht, ihre Ansprüche glaubhaft zu machen, weil an der Plausibilität ihrer Angaben gezweifelt wurde. Über 60 Jahre nach dem Ende ihrer Verfolgung konnten sie auch keine Dokumente mehr präsentieren, die ihr Vorbringen stützen könnten – denn es war schlechterdings unmöglich, irgendwelche Schriftstücke durch Ghetto, Lager und Vernichtung, durch DP-Camp und Auswanderung hindurch aufzubewahren. Die Überlebenden hatten keine andere Möglichkeit, als ihren ZRBG-Antrag ausschließlich durch eine nachträgliche Aussage zu untermauern. Selbstverständlich müssen sie bei der Aufklärung des Sachverhalts mitwirken und sie tragen auch die Beweislast. Letztere schließt indes nicht die Amtsermittlungspflicht von Behörden und Gerichten aus. Wie in allen Fällen nach dem Sozialgerichtsgesetz muss die Verwaltung die relevanten Tatsachen von sich aus ermitteln, wobei sie nicht an das Vorbringen oder an Beweisanträge der Antragsteller gebunden ist. Angesichts dieser Grundsätze sticht ins Auge, dass insbesondere zwei Ermittlungsansätze kaum genutzt wurden: die persönliche Anhörung der Kläger und der Sachverständigenbeweis.

Trotz der enormen Bedeutung von Aussagen für die Urteile waren die im Ausland lebenden, durchweg betagten Antragsteller dadurch benachteiligt, dass in den Verfahren in der Regel keine Anhörung stattfand, weil dazu – wenn überhaupt – eine Anreise der hoch betagten Holocaustüberlebenden zum Gerichtsstandort erwartet wurde, die dazu nur selten bereit oder in der Lage waren. So wurden nur schriftlich niedergelegte Einlassungen herangezogen bzw. die Rechtsanwälte befragt. In mehr als einem Urteil war sogar davon die Rede, dass eine Anhörung des Klägers nichts zum konkreten Fall beitragen würde, da die Fakten ja bekannt seien.[15]

Ein ähnliches Problem ergab sich bei der Hinzuziehung von Sachverständigen. Die Verfahren haben durchweg historische Tatsachen zum Gegenstand, aber es wurde auf die Einholung historischer Sachverständigengutachten in der Regel verzichtet. Damit schrieben sich die Gerichte selbst die für die Bewertung historischer Tatsachen erforderliche Sachkunde zu. Das Bundessozialgericht hat demgegenüber in mehreren zum ZRBG ergangenen Entscheidungen[16] betont, ein Gericht müsse bei der Beurteilung historischer Tatsachen nicht nur darlegen, woher es die von ihm selbst behauptete besondere historisch-wissenschaftliche Sachkunde erlangt hat, sondern auch, wie weit diese nach Inhalt und Umfang reicht. Es genüge nicht, mitzuteilen, welche Unterlagen hinzugezogen worden sind, wenn nicht dargestellt werde, über welche speziellen Kenntnisse das Gericht verfügt, die es ihm seiner Ansicht nach erlauben, den historisch-wissenschaftlichen Wert der beigezogenen Unterlagen, ihre fachwissenschaftliche Stichhaltigkeit, die fachliche Richtigkeit und Vollständigkeit der jeweils berücksichtigten Quellen sowie die Bewertung durch die verschiedenen Autoren zu beurteilen: „Auch die Lektüre umfangreicher historischer, zum Teil sogar wissenschaftlicher Veröffentlichungen, macht aus dem Leser im Regelfall keinen Sachverständigen der historischen Wissenschaft“.[17]

Das Urteil blieb indes folgenlos und wurde von den allermeisten Sozial- und Landessozialgerichten ignoriert, Historiker nur in Ausnahmefällen als Gutachter hinzugezogen – und die Vorstellungen der Richter über die Ghettoarbeit blieben entsprechend weit von der historischen Realität entfernt.[18] Dass in einem nationalsozialistischen Ghetto tatsächlich ein eigener Willensentschluss zur Arbeit und sogar eine Arbeitsentlohnung stattfanden, erschien angesichts der sonst bekannten Tatsachen über die Judenvernichtung eher unwahrscheinlich; das allgemeine Wissen über Ghettos ist fast ausschließlich mit Zwang assoziiert. Nur selten ist in den Urteilen eine Loslösung von diesem in der Bundesrepublik tradierten Bild zu beobachten. Es war für die meisten Richter kaum vorstellbar, dass im Ghetto überhaupt etwas aus freiem Willen geschah.

Für die ZRBG-Praxis bedeutete all das, dass ausschließlich Versicherungen und Justiz die Bedeutung bestimmter Begrifflichkeiten festlegten; davon abweichende Varianten führen beinahe automatisch zu einer Ablehnung des Klagebegehrens. Der Diskurs über die Ghettoarbeit, wie er von Verwaltung und Sozialgerichtsbarkeit geführt wurde, schuf eine eigene Wirklichkeit, die mit dem historischen Geschehen nichts gemein hatte. Die tatsächlichen Erfahrungen der Überlebenden hatten darin keinen Platz.

3. Ghettoarbeit und Ghettorenten aus Sicht der Überlebenden

Für die meist hoch betagten Antragsteller waren die ZRBG-Verfahren nur schwer zu begreifen. Sie hatten den Holocaust mit knapper Not überlebt und die Schrecken des Nationalsozialismus am eigenen Leib erfahren. Angesichts der mehrjährigen Verfolgung im Zweiten Weltkrieg, die eine permanente Ausnahmesituation voller Zwang darstellte, war auch in der subjektiven Wahrnehmung beinahe alle Arbeit „Zwangsarbeit“, zumal sie – gemessen an normalen Maßstäben – völlig unzureichend entlohnt wurde. Insbesondere in Nachkriegsaussagen wird der Terminus „Zwangsarbeit“ daher universell zur Benennung von Tätigkeiten während der nationalsozialistischen Verfolgung genutzt. Weder in der Perspektive der damaligen Ghettoinsassen noch der der heutigen Überlebenden, wie sie uns in überlieferten Nachkriegsaussagen zur Verfügung steht, spielte es eine Rolle, dass „Arbeitspflicht“ und „Arbeitszwang“ verschiedene Bedeutungen und Bedingungen implizierten, die aber beispielsweise nichts mit „Zwangsarbeit“ etwa in Lagern zu tun hatten. Hinzu kommt, dass nicht einmal die nationalsozialistischen Behörden und die Judenräte ihre unterschiedlichen Begriffe für die Arbeitsformen konsequent verwendeten, sondern sie häufig vermischten, was auch dem zeitlichen Wandel der Konnotationen geschuldet war.

Wenn also in den erwähnten BEG-Akten häufig von „Zwangsarbeit“ berichtet wird, steht dies nicht im Widerspruch zur später postulierten „Arbeit aus eigenem Willensentschluss“: Der seinerzeit gängige Begriff von Zwangsarbeit, wie er von Überlebenden der Shoah verwendet wird, zielte zuvorderst auf die allgemeine Zwangssituation des Ghettos ab. Einer Aussage in den Entschädigungsakten, in der der Terminus „Zwangsarbeit“ oder die Formulierung „zur Arbeit gezwungen“ vorkommt, ist nicht der Vorzug gegenüber anderen Aussagen oder Informationen zu geben, weil sie „zeitnäher“ getätigt worden ist. Bei dieser Argumentation wird von falschen Voraussetzungen ausgegangen, nämlich von der Existenz einer klaren, dem Alltagsverständnis zugänglichen begrifflichen Unterscheidung von erzwungenen und „freien“ Arbeitsverhältnissen. Der Münchener Historiker Jürgen Zarusky hat es als kafkaesk bezeichnet, dass die Anträge häufig daran scheiterten, dass die Überlebenden vor „vier oder fünf Jahrzehnten keine Antwort auf Fragen gegeben haben, die ihnen nicht gestellt wurden, und Begriffe nicht benutzt haben, die es noch nicht gab“.[19]

Dass die Glaubwürdigkeit der Kläger in den Urteilen oftmals anhand der Aktenlage abgetan wurde, war für die Überlebenden demütigend, zumal sich Vertreter der Bundesrepublik für ihr ganzes Schicksal nur selten interessiert haben.[20] Für sie schien gerade das ZRBG ein innovatives Gesetz zu sein, weil es ihnen endlich einen Anspruch zubilligte, der auf einer „normalen“, tatsächlich erbrachten Leistung beruhte: Sie erhielten eine Arbeitsrente wie andere Arbeiter auch, nicht bloß eine Entschädigung oder Wiedergutmachung, deren einziger Grund darin bestand, dass sie Opfer gewesen waren und – im Unterschied zu vielen Angehörigen – überlebt hatten. Die Zahlungen im Rahmen des BEG waren natürlich notwendig, denn viele Holocaustüberlebende sind nicht wohlhabend, weil sie während eines entscheidenden Abschnitts ihres Erwerbslebens unter deutscher Verfolgung litten und häufig seelische und körperliche Schäden davontrugen; sie sind daher auf das Geld angewiesen. Aber das ZRBG ist eben keine moralische Wiedergutmachung – und es ist sowieso fraglich, ob, und wenn ja, in wieweit der Horror des Holocaust „entschädigt“ oder „wieder gut gemacht“ werden kann – sondern schlicht eine Gleichbehandlung. Noach Flug, der 2011 verstorbene Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees und Vorsitzender der Organisation der Holocaust-Überlebenden in Israel, hat das ZRBG einmal als die Aufhebung der Nürnberger Gesetze bezeichnet,[21] denn damit würden Juden nicht mehr nur wegen ihrer Opfereigenschaft Geld aus Deutschland bekommen; die Ghettorenten stellten also – zumindest in der Theorie – eine Gleichstellung von jüdischen und deutschen Arbeitern dar.

4. Das ZRBG und die Bundesministerien

Mit dem ZRBG hat der Bundestag 2002 ein Gesetz beschlossen, das den ehemaligen Ghettoarbeitern die Möglichkeit einer Rente einräumte. Bei der Anwendung und Auslegung des Gesetzes wurden die Antragsteller von Rentenversicherern und Sozialgerichten indes systematisch benachteiligt, da historische Gegebenheiten ignoriert und die Perspektive der Überlebenden falsch interpretiert wurden. Die Aufsichtsbehörden in den Landes- und Bundesministerien waren über den Umfang der Ablehnungen genau informiert. Zweifel auch des BMAS, ob denn eine sachgemäße Behandlung der Einzelfälle gewährleistet sei, wiesen die Rentenversicherer allerdings zurück. Das Ministerium war andererseits aber auch nicht an einer Klarstellung des Gesetzes interessiert – die Auslegung durch die Rentenversicherer würden die Gerichte überprüfen, und dabei sei von einer Bestätigung auszugehen.[22]

Änderungswünsche wies die Bundesregierung zurück. Den Überlebenden weiter entgegen zu kommen, würde „Fiktionsregelungen“ schaffen und „der gesetzlichen Rentenversicherung Aufgaben zuweisen, die keinerlei Bezug mehr zur Versichertengemeinschaft haben“.[23] Tatsächlich war die Bundesregierung im August 2006 sogar der Ansicht, die hohe Ablehnungsquote resultiere aus der Unkenntnis der Antragsteller in Bezug auf die komplexe rechtliche Materie – und machte die Überlebenden damit indirekt für die geringen Bewilligungsquoten selbst verantwortlich.[24]

Versicherer und Verwaltung beriefen sich bei dieser Haltung stets auf eine Überprüfung, der die Rentenversicherung Rheinland unterzogen worden war und deren Abschlussbericht Anfang 2005 dem Bundestagsausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherheit vorgelegen hatte. Ausgehend von einer Dienstaufsichtsbeschwerde der Berliner Rechtsanwältin und Opfervertreterin Simona Reppenhagen hatte das Arbeits- und Sozialministerium Nordrhein-Westfalen knapp hundert Einzelfälle überprüft – allerdings unter Rückgriff ausschließlich auf Material der Rentenversicherer – und deren Auslegung bestätigt.[25] Damit attestierte sich die Verwaltung selbst ein tadelloses Verhalten im Rahmen der Gesetzesnormen und –intentionen.

Allerdings hatte die Bundesregierung Anfang 2006 gegenüber Israel eine Zusage gegeben, bei den Ghettorenten die Leistungen für die Holocaust-Überlebenden zu verbessern. Immer dringlichere Nachfragen, dieses Versprechen einzuhalten, brachten nach eineinhalb Jahren Wartezeit eine gewisse Bewegung in die verfahrene Situation. Im Sommer 2007 kamen Arbeits- und Finanzministerium zusammen, um über eine Anerkennungsleistung zu verhandeln. Sehr deutlich war ihnen die beinahe schizophrene Situation bewusst, nach der die Rente, die nach Argumentation der Bundesregierung vollkommen im Sinne des Gesetzgebers umgesetzt würde, eine zusätzliche Zahlung erforderte, diesmal allerdings als Wiedergutmachung. Fraglich war, was denn eigentlich anerkannt werden sollte: Die Haftzeit war durch das Bundesentschädigungsgesetz längst berücksichtigt; für Zwangsarbeit gab es die Stiftung „Erinnerung – Verantwortung – Zukunft“, und für sonstige Arbeit aus eigenem Willensentschluss gab es Renten. Eine Regelungslücke konnte eigentlich nicht existieren.

Trotzdem war das Bundesarbeitsministerium selbst 2008 weder willens noch in der Lage, von der offiziellen Linie der Bundesregierung abzuweichen. So äußerte man zwar für die „Absicht, den Menschen zu helfen, [...] volles Verständnis“, aber der Gesetzgeber sei bereits 2002 „an die Grenzen dessen gegangen, was in der gesetzlichen Rentenversicherung möglich ist. Die Bundesregierung hat deshalb mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass eine Novellierung des ZRBG nicht vorgesehen ist und eine Lösung außerhalb des ZRBG gesucht werde“.[26] Doch Anfang 2009 konnte sich nicht einmal das BMAS dem weiter wachsenden öffentlichen und außenpolitischen Druck noch länger entziehen. Zunächst intern plädierte das zuständige Referat dafür, eine Arbeitsgruppe mit Angehörigen von Ministerium und Versicherungen sowie israelischen Fachleuten und Vertretern der Conference on Jewish Material Claims against Germany (Claims Conference, JCC) einzurichten – offiziell mit der Absicht, eine einheitlichere Umsetzung des ZRBG zu erreichen. Dabei müsse einerseits der Eindruck vermieden werden, der Bund wolle den selbstverwalteten Versicherern Kompetenzen entziehen, andererseits aber „die nachdrückliche politische Erwartung des BMAS an die Träger deutlich werden, nicht nur – wie schon bisher – zu gemeinsamen Auslegungsrichtlinien zu kommen, sondern auch in Anwendung der Richtlinien zu möglichst einheitlichen Anerkennungsquoten, die sich an den bei der Anwendung des ZRBG ‚großzügigeren’ RV-Trägern orientieren.“[27] Deutlicher konnten Ministerialbeamte kaum formulieren, dass die Ghettorenten-Praxis nicht ihren Erwartungen entsprach.

Widerstand dagegen regte sich einmal mehr von Seiten des Bundesfinanzministeriums, das Präzedenzwirkungen und damit einhergehende finanzielle Belastungen ebenso fürchtete wie eine Revision der stillschweigenden Übereinkunft, die Ghettorenten als Erfolg zu deklarieren, der keiner Nachbesserung bedürfe. Nach sieben Jahren ZRBG und eineinhalb Jahren Anerkennungsrichtlinie, was „eine gewisse Befriedung der unterschiedlichen Gruppen“ bewirkt hätte, sei die Idee daher „unglücklich“; das BMAS solle überprüfen, ob diese Maßnahme „wirklich angezeigt“ sei.[28]

Die Rentenversicherer sahen ebenfalls keine Notwendigkeit für eine Kontrolle ihres Handelns und zeigten sich überrascht, dass das Bundesarbeitsministerium „entgegen sonst herrschender Meinung“ die Ansicht vertrete, ursächlich für die große Ablehnungsquote sei die Verwaltungspraxis und nicht das Gesetz selbst. Gleichzeitig musste die DRV Rheinland aber einräumen, tatsächlich durchaus restriktiver zu entscheiden, als ihre Kollegen in Hamburg. Man selbst orientiere sich an den Vorgaben der Gerichte – wenn restriktive Auslegungen akzeptiert würden, bestehe kein Grund, die eigene Praxis zu ändern; demgegenüber hätten die Kollegen in Hamburg akzeptiert, dass die dortigen Gerichte eine klägerfreundlichere Auslegung vornähmen und würden selbst entsprechend handeln.[29]

Möglich war dies, weil die verschiedenen Senate des Bundessozialgerichts vor 2009 keine einheitliche Interpretation des ZRBG vorgelegt hatten. Der 13. Senat hatte 2004 eine recht enge Auslegung gefordert, die im Wesentlichen das Vorhandensein einer tatsächlichen Versicherungspflicht für die Ghettoarbeiter sowie einen dafür notwendigen Vertragsabschluss verlangte.[30] Eine gegenläufige Auffassung des 4. Senats,[31] der bereits Ende 2006 eine großzügigere Interpretation des ZRBG durchzusetzen versuchte, war nicht auf Akzeptanz gestoßen. Der vom 4. Senat angerufene Große Senat des Bundessozialgerichts, der für die Klärung interner Auslegungsunterschiede zuständig ist, entschied in der Sache aus formellen Gründen nicht. Der Verweis auf die Meinung des 4. Senats diente aber dennoch manchen Richtern als Referenz für eine klägerfreundliche Spruchpraxis.

Das Sozialgericht München berief sich z.B. darauf, vor allem aber die Sozialgerichtsbarkeit in Hamburg, wo die Rentenversicherung Nord für Kläger u.a. aus den USA, und damit für die nach Israel zweitgrößte Überlebendengruppe zuständig ist. Die Richter am dortigen Sozialgericht waren es, die 2005 erstmals historische Gutachten bei Frank Golczewski anforderten. Nach eigenen Angaben veränderte sich der Umgang mit den ZRBG-Fällen ab diesem Zeitpunkt.[32] Seriöse Schätzungen der beteiligten Parteien belaufen sich auf 30 bis 40 Prozent für die Kläger erfolgreiche Fälle vor dem Urteil des Bundessozialgerichts im Juni 2009, wobei davon über zwei Drittel durch Anerkenntnis oder Vergleich zustande kamen.[33] Die regionalen Unterschiede beeinträchtigten indes die Gleichbehandlung der Antragsteller. Damit hatten Herkunft, sozialer Status und örtliche Nähe des Verfolgten in hohem Maße Auswirkung auf dessen Erfolgsaussichten.

Diese regionalen Unterschiede machen deutlich, wie pragmatisch letztlich das Vorgehen der Rentenversicherer war, und zeigen ferner, welch entscheidende Rolle die Sozialgerichtsbarkeit einnahm. Ganz offensichtlich waren klägerfreundlichere Deutungen, als sie in Nordrhein-Westfalen vorgenommen wurden, anderswo möglich. Weitere Auseinandersetzungen in dieser durchaus unangenehmen Lage blieben den Ministerien vor allem deshalb erspart, weil das Bundessozialgericht in seiner wegweisenden Entscheidung Mitte 2009 eine eindeutige Kehrtwende der bisherigen Ghettorenten-Auslegung anordnete.

In Berlin setzte unmittelbar darauf das große Rechnen ein. Besonders das Bundesfinanzministerium erwies sich als Widerpart gegen großzügigere Regelungen für die Überlebenden. Man fürchtete steigende Ausgaben und Präzedenzwirkungen, die auch andere Opfergruppen nach Geld verlangen lassen könnten. In einer internen Besprechung zwischen Finanz- und Arbeitsministerium hieß es im Sommer 2009: „Minister Steinbrück habe die Weisung gegeben, strikt auf Begrenzung der finanziellen Auswirkungen zu achten.“[34] Doch schon bei der Konzipierung des ZRBG vor 2002 waren für sämtliche Überlegungen stets Kostenfragen zentral gewesen.[35]

Nach 2002 haben sich die Bundesministerien nicht mit den Auslegungsfragen des ZRBG beschäftigt und verteidigten stets den eingeschlagenen restriktiven Weg, selbst wenn für die außenpolitische Rechtfertigung eine durchaus absurde „Anerkennungsleistung“ notwendig war. Erst als 2008 Opfergruppen und die israelische Regierung immer lauter protestierten und sogar das Arbeitsministerium in Nordrhein-Westfalen der DRV Rheinland Zügel anlegte, fingen in Berlin Planungen an, die ZRBG-Praxis zu reformieren – erneut gegen den Widerstand des Bundesfinanzministeriums. Aber auch in der Frage der Rückwirkung legte das BMAS kein besonderes Engagement an den Tag und wartete die nächste Entscheidung des Bundessozialgerichts ab. So erwies sich die Exekutive vorwiegend als hinhaltender Verteidiger einer Politik, die nicht vom Gedanken einer Gleichbehandlung jüdischer Arbeiter in der Rentenversicherung, sondern von den Finanznöten des Staates bestimmt wurde. Auch im Rahmen der Ghettorenten war die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen lediglich eine von den Umständen diktierte Pflicht, die viele Probleme und Fehler aus dem 20. Jahrhundert wiederholte.


[1] Wolf Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1983-1943, Berlin 1996; erweitert u.d.T.: Jewish Forced Labor Under the Nazis. Economic Needs and Racial Aims, 1938-1944, New York 2006.

[2] Vgl. die Forschungsüberblicke bei: Christoph Dieckmann / Babette Quinkert, Einleitung, in: Im Ghetto 1939-1945. Neue Forschungen zu Alltag und Umfeld, hg. v. Christoph Dieckmann / Babette Quinkert, Göttingen 2009, S. 9-29; Dieter Pohl, Ghettos im Holocaust. Zum Stand der historischen Forschung, in: Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, hg. v. Jürgen Zarusky, München 2010, S. 39-50.

[3] Vgl. etwa Tatiana Berenstein, Praca przymusowa Żydów w Warszawie w czasie okupacji hitlerowskiej, in: Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego 45/46 (1963), S. 42–93; dies., Praca przymusowa ludności żydowskiej w dystrykcie Galicja, in: ebd. 69 (1969), S. 3-46; Adam Rutkowski, Hitlerowskie obozy pracy dla Zydów w dystrykcie radomskim, in: ebd. 17-18 (1956), S. 106-128.

[4]  The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos During the Holocaust, hg. v. Guy Miron, Jerusalem 2009; The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933-1945. Volume II: Ghettos in German-Occupied Eastern Europe, hg. v. Martin Dean, Bloomington 2012.

[5] Dan Michman, Angst vor den „Ostjuden“. Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust, Frankfurt 2011. Die folgende Charakterisierung auf S. 164-166.

[6] Dean, USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Volume II, Part A, S. XLIII.

[7] Vgl. etwa Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz, a.a.O.

[8] Archiwum Państwowe Lublin, Amt des Distrikts Lublin / 906. Protokoll über die Judeneinsatzbesprechung am 6.8.1940, vom 9.8.1940.

[9] Stephan Lehnstaedt, Die deutsche Arbeitsverwaltung im Generalgouvernement und die Juden, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 409-440, hier S. 438f.

[10] Für eine Einordnung vgl. ders., Geschichte und Gesetzesauslegung. Zu Kontinuität und Wandel des bundesdeutschen Wiedergutmachungsdiskurses am Beispiel der Ghettorenten, Osnabrück 2011, S. 29-48.

[11] Bundesarchiv (künftig: BA), B 149 / 194039, unpaginiert (gesehen im BMAS im Dezember 2011). Sprechzettel für die 102. Sitzung des Haushaltsausschusses am 17.4.2002. Noch im Oktober 2003 waren die Rentenversicherer nicht in der Lage, auch nur eine ungefähre Schätzung über die Gesamtzahl der Antragsteller abzugeben: LVA Rheinprovinz, Az. IV Ausl. 445/03 (gesehen im MAIS NRW). LVA Rheinprovinz an Landesversicherungsamt NRW, 22.10.2003.

[12] Vgl. „Gemeinsame Arbeitsanweisungen LVA Rheinprovinz“ vom 6.9.2002 bzw. vom 6.1.2006. Abgedruckt in: Lehnstaedt, Geschichte und Gesetzesauslegung. a.a.O., S. 134-163.

[13] Kristin Platt, Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubwürdigkeit. Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten-Verfahren, München 2012, S. 124-144.

[14] Schreiben des LSG NRW an den Verfasser, 18.3.2010.

[15] Statt vieler: SG Düsseldorf, S 22 R 327/05, Urteil vom 17.10.2006.

[16] BSG, B 13 R 28/06 R, Urteil vom 26.7.2007; BSG, B 4 R 29/06 R, Urteil vom 14.12.2006.

[17] BSG, B 4 R 29/06 R, Urteil vom 14.12.2006.

[18] Stephan Lehnstaedt, Ghetto-„Bilder“. Historische Aussagen in Urteilen der Sozialgerichtsbarkeit, in: Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, hg. v. Jürgen Zarusky, München 2010, S. 89-100, hier S. 98ff.

[19] Jürgen Zarusky, Hindernislauf für Holocaustüberlebende. Das „Ghettorentengesetz“ und seine Anwendung, in: Die Tribüne 47 (2008), S. 155-161, hier S. 159f.

[20] Vgl. „Geld nur gegen Geschichtsverfälschung? Zwangsarbeiterrichtlinie empört Holocaustüberlebende“, in: Jüdische Zeitung, Februar 2008, S. 2.

[21] Vortrag Noach Flugs auf der Tagung „’Ghettorenten’ und historische Forschung, Institut für Zeitgeschichte München, 9.4.2008. Vgl. auch Noach Flug, Shoah und Entschädigung, in: Zarusky (Hg.), Ghettorenten, a.a.O., S. 79-88.

[22] Exemplarisch: BMAS-Az. 43754/40, 41, 42. VDR an BMAS, 30.1.2003, auf Zeichen IVb1-43/2344 des BMAS.

[23] BMAS-Az. 43754/25. BMAS an MAIS NRW, 24.11.2004.

[24] Deutscher Bundestag, Drucksache 16/1955, 26.6.2006.

[25] Deutscher Bundestag, GS-Ausschussdrucksache 0825, 28.2.2005.

[26] BMAS-Az. 43754/93-96. BMAS an Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW, 21.10.2008.

[27] BMAS-Az. IVb 1 – 43754/103. Internes Schreiben des BMAS an den Minister, 9.4.2009.

[28] BMAS-Az. 43754/103. Bundesfinanzministerium (Minister) an BMAS, 28.4.2009. BMF-Az.: V B 4 – O 1473/08/10001.

[29] DRV Rheinland, Vermerk vom 31.3.2009, ohne Az. (gesehen im MAIS NRW). Handschriftlicher Vermerk: „Vertraulich“.

[30] BSG, B 13 RJ 59/03, Urteil vom 7.10.2004. In diesem Sinne auch BSG, B 13 RJ 370/04, Urteil vom 20.7.2005; B 13 RJ 28/06, Urteil vom 26.7.2007.

[31] BSG, B 4 R 29/06, Urteil vom 14.12.2006.

[32] Schreiben von Annett Wittenberg, Richterin am SG Hamburg, an den Verfasser, 3.3.2010.

[33] Eine unvollständige Liste mit 231 Anerkenntnissen bzw. Vergleichen liegt dem Autor vor.

[34] Gedächtnisprotokoll zur Ressortbesprechung, 16.6.2009, Aktenzeichen des Bundesfinanzministeriums: IV B 4 – O 1473/06/10001:002, sowie Klemm/2009/0412321/Caster.

[35] BA, B 149 / 194038, unpaginiert (gesehen im BMAS im Dezember 2011). Entwurf über ein Ghettorentengesetz), 13.12.2001; ebenda, B 149 / 194032. Internes Schreiben BMAS, 20.12.2001.

Dr. Stephan Lehnstaedt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1614

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„To honour those who served, to remember those who died” – Premierminister David Cameron präsentiert Pläne für britischen Gedenkmarathon

Bei seiner Rede im Imperial War Museum enthüllte der britische Premierminister David Cameron erste Pläne für den anstehenden Gedenkmarathon, der im nächsten Jahr anlässlich des 100. Jahrestages des Kriegsbeginns beginnen und bis in das Jahr 2018 reichen soll. Um dem ehrenden Erinnern gerecht zu werden, wurden Investitionen in Höhe von insgesamt 50 Millionen Pfund veranschlagt.

 

„The war to end all wars“ – der 1. Weltkrieg als Basis der nationalen Identität

Dem Premier zur Folge sollen die Gedenkveranstaltungen und Feierlichkeiten den Zweck verfolgen, das Andenken an diejenigen hochzuhalten, welche ihr Leben im 1. Weltkrieg gaben und gleichzeitig der aktuellen Generation die Mahnung ins Gedächtnis zu rufen, dass ein Konflikt wie dieser niemals wieder auf europäischem Boden ausgetragen werden dürfe. Es solle bewirkt werden, dass man auch noch in 100 Jahren in gleicher Weise an das Leiden der Soldaten und Zivilisten erinnern möge, an eine Generation, die sich für die ihr nachfolgenden Generationen opferte. Cameron sprach davon, dass es sich beim Krieg und seinen Folgen um ein für die britische Geschichte fundamentales Ereignis handele, der einen wesentlichen Teil des nationalen Selbstverständnisses ausmache.  Dafür sei es wichtig, dass sich dieses Gedenken nicht ausschließlich auf rationaler Ebene abspiele, sondern zu einer Herzensangelegenheit werde („not just in our heads, but in our hearts“). Die Regierung solle eine koordinierende Rolle einnehmen, ein „Erinnerungsdiktat“ gelte es aber zu vermeiden, so wertete auch Dr. Andrew Murrison den Auftrag der britischen Regierung.
Murrison ist Mitglied des soeben einberufenen Beirats (Cameron: „World class board“), der für die Planung und Durchführung der zahlreichen Veranstaltungen die wissenschaftliche Beratung tragen wird. Neben Murrison, der als Camerons „special representative“ gilt, gehören dem Rat weitere Personen der britischen Öffentlichkeit an. Im Einzelnen sind dies: Maria Miller, Ministerin für Kultur und Medien, die ehemaligen Verteidigungsminister Tom King und George Robertson, der ehemalige Vorsitzende der Liberal Democrats, Sir Menzies Campbell, die Militärs Jock Stirrup und Richard Dannatt, hinzu kommen der Historiker Hew Strachan und der Autor Sebastian Faulks („Birdsong“). Die Hauptpartner der Regierung stellen neben einer Reihe an kleineren Initiativen in erster Linie die Commonwealth War Graves Commission, der Heritage Lottery Fund und das Imperial War Museum dar.

 

Vom pädagogischen Schlachtfeldbesuch bis hin zum Fußballspiel – das nationale Gedenken wird sich sehr unterschiedlich gestalten

Insgesamt 50 Millionen Pfund ist dem englischen Premier das Gedenken an den 1. Weltkrieg wert. Diese Summe umfasst sämtliche Projekte, die im Zeitraum 2014-2018 initiiert und durchgeführt werden sollen. Dabei beschränkt sich die Erinnerung nicht auf den Beginn des Krieges und dessen Ende durch die Unterzeichnung des Waffenstillstandes; vielmehr sollen auch die Hauptschlachten (Schlacht an der Somme, Jutland, Gallipoli, Passchendaele) eine angemessene Würdigung erfahren. Die Höhe der Summe rechtfertigt Cameron vor dem Steuerzahler, indem er sich auf die gesteigerte öffentliche Faszination gegenüber der Thematik beruft. Die Projekte, wie auch das Gedenken selbst, sollen sich dabei sehr unterschiedlich gestalten. Zunächst werden 4,5 Millionen Pfund in eine umfassende Neuausrichtung des Imperial War Museums investiert. Künftig soll es eine neue Dauerausstellung zum 1. Weltkrieg geben, die 2014 feierlich eröffnet wird. Darüber hinaus werden Mittel bereitgestellt, um jungen Menschen die Erinnerung nahezubringen. Schülern sämtlicher Secondary Schools soll der Besuch sogenannter „Battlefields of thousands“ ermöglicht werden, Schülervertreter und Lehrer werden geschult, um anschließend als Mentoren an ihren Lehreinrichtungen wirken zu können. Durch den Heritage Lottery Fund werden weitere 6 Millionen Pfund bereitgestellt, um jungen Menschen einen Zugang zur Dimension des Krieges in ihrer unmittelbaren Heimat zu ermöglichen. Daneben wird das letzte britische Kriegsschiff des 1. Weltkriegs, die HMS Caroline, in Belfast restauriert und Besuchern zugänglich gemacht. Außerdem werden die Digitalisierung von Manuskripten und die Aufbereitung von Audio- und Videomaterial vorangetrieben und neue Museen, wie beispielsweise in Oxfordshire, eröffnet. Fußballspiele sollen in Erinnerung an die Verbrüderung feindlicher Soldaten an Weihnachten 1914 ausgetragen werden.

 

Camerons Reaktion auf den Vorwurf der Untätigkeit

Die Pläne, welche Cameron in seiner Rede bezüglich des Centenarys präsentierte, stellen sich demnach sehr umfassend und facettenreich dar. Dabei kam die Vorstellung des Gedenkmarathons gerade noch rechtzeitig, um dem aufkeimenden Vorwurf von Kritikern entgegenzutreten, wonach sich die Englische Führung im Bezug auf das Gedenken zu passiv verhalte. Die Regierung musste sich die Anschuldigung gefallen lassen, sich im Vergleich zu anderen Ländern nicht in gebührendem Maße für das nationale Gedenken stark zu machen. Cameron verdeutlichte dagegen in seiner Rede, dass die Koalition mit voller Kraft hinter den zahlreichen angekündigten Veranstaltungen stehen werde. Jede Ecke der britischen Inseln solle vom Gedenken erfasst werden. Um dies zu gewährleisten, sei es, wie eingangs erwähnt, überaus wichtig, die nationale Erinnerung zu einer Herzensangelegenheit zu machen. Um dies zu verdeutlichen sprach der englische Premier auch von seinen eigenen Verwandten und ihren Erlebnissen in den beiden Weltkriegen. Stets betonte er, dass Europa nach vorne sehen müsse, egal wie frustrierend die derzeitige wirtschaftliche Lage auch erscheinen mag.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/804

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“Tiber alone … remains of Rome.” Antrittsvortrag von Martin Baumeister am DHI Rom

  Das Deutsche Historische Institut in Rom lädt am 10. Dezember 2012 um 18.00 Uhr zum Antrittsvortrag des neuen Direktors Martin Baumeister ein. Antrittsvorlesung Martin Baumeister am DHI Rom GRUßWORTE Heinz Duchhardt Präsident der Max Weber Stiftung Gabriele B. Clemens Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des DHI Rom MUSIKALISCHE INTERMEZZI Concerto Romano Martin Baumeister “Tiber alone, transient and seaward bent, remains of Rome.” Städtischer Wandel, urbanistische Debatten und das Imaginäre der Stadt im Rom der Nachkriegszeit ANSCHLIEßEND EMPFANG Via Aurelia Antica, 391 – I – 00165 Rom Tel.: +39.06.6604921 – Fax: +39.06.6623838 www.dhi-roma.itpost@dhi-roma.it    

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1381

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Deutsche Wissenschaftsblogs jenseits der Blogportale – ein Aufruf

Es gibt sie, die guten deutschen Wissenschaftsblogs. Man findet sie zum Beispiel in den Hauptknotenpunkten der Wissenschaftsblogosphäre wie de.hypotheses.orgScienceBlogs und SciLogs. Aber auch darüber hinaus existieren interessante Wissenschaftsblogs quer durch die Disziplinen. Marc Scheloske stellt sie seit fünf Jahren in seinem Blog Wissenschafts-Café vor. Jetzt ruft er in seinem Artikel “Wo gibt es deutsche Wissenschaftsblogs?” erneut dazu auf, interessante Wissenschaftsblogs dort zu melden, um die bestehende Liste zu aktualisieren und zu ergänzen. Meldungen sind über ein Kontaktformular auf seinem Blog oder per Twitter (@wisscafe) möglich. Wir sind gespannt auf das Ergebnis und wünschen viel Erfolg.

Was die gegenwärtige Geschichtsblogosphäre anbelangt, so kann man sich einen guten Eindruck verschaffen über die Liste von Wenke Böhnisch (aktuell 81 Einträge) und den Artikel “Entwicklungsfähige Blogosphäre – ein Blick auf deutschsprachige Geschichtsblogs” von Klaus Graf und mir. Verwiesen sei außerdem auf das gegenwärtige Open-Peer-Review-Projekt historyblogosphere von Eva Pfanzelter und Peter Haber gemeinsam mit dem Oldenbourg Verlag.

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/752

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Flanderns Programm des “Centenaire” des Ersten Weltkriegs 2014-18 veröffentlicht

Das Grab des Unbekannten Soldaten unter dem Arc de Triomphe, Photo Michael Reeve, 29 Januar 2004
Im November 2011 veröffentlichte die flämische Regierung ein weit ausgearbeitetes Programm der Kommemorationsveranstaltungen zum Ersten Weltkrieg 2014-18, das hier zu finden ist.

 

 
Die „Flanders Fields“ als topografisches und ideelles Fundament

Im Zentrum des flämischen Centenaire-Programms steht eine transnationale Interpretation des Krieges bzw. des Leidens im Krieg. Dieser Interpretationsansatz verdichtet sich in dem emblematischen Ausdruck „Flanders Fields“, entnommen dem Gedicht „In Flanders Fields“ von Colonel John McCrae aus dem Jahr 1915. Als topografische Angabe bezeichnet er eine Region in Flandern als Ort kollektiv erlittenen Grauens und wichtiger Knotenpunkt im Netz der kollektiven Erinnerung. Gleichzeitig steht „Flanders Fields“ synonym für den Schrecken des Ersten Weltkriegs insgesamt.

Das flämische Gedenkprogramm leitet aus dem universellen Leiden auf den “Flanders Fields”  einerseits eine pazifistische Botschaft und eine transnationale Perspektive auf den Krieg ab. Im Zentrum der zahlreichen Bildungs- und Forschungsinitiativen des Programms steht folgerichtig als pädagogischer Auftrag die Vermittlung von Pazifismus und Völkerverständigung.

Starkes internationales Engagement

Was in den französischen und australischen Programmen noch hinter dem nationalen Interesse ansteht, rückt im flämischen klar in den Vordergrund: Die Internationalität des Gedenkens. Das flämische Engagement ist ambitioniert: So stieß die flämische Regierung nicht nur früh eine internationale Koordinierung der Gedenkveranstaltungen der 50 Staaten an, deren Soldaten auf den „Flanders Fields“ kämpften, sondern auch die „Declaration Flanders Fields“. Diese ist ein von der flämischen Regierung formulierter Text, der die im November 2012 unterzeichnenden  50 Staaten an drei gedenkpolitische Ziele binden soll: Dauerhaftes Gedenken an die Flandern-Schlachten, eine Historiografie, die eine globale Perspektive einnehmen soll und schließlich die Verpflichtung, zur „Friedenserziehung“ beizutragen. 2010/11 organisierte das Département Flamand des Affaires Etrangères ein gemeinsames Vorgehen hinsichtlich der Gedenkfeierlichkeiten mit 13 anderen Staaten und schloss bereits bilaterale Abkommen mit Neuseeland und Australien. Im November 2013 soll darüber hinaus ein „Friedenskolloquium“ veranstaltet werden, zu dem Friedensnobelpreisträger eingeladen wurden.

Absage an nationale Deutungen und „Welthauptstadt Flandern“

Das Gedenkprogramm erteilt damit einer nationalen Interpretation des Krieges eine Absage und fordert zu einem gemeinsamen Gedenken jenseits von nationalen Narrativen auf. Die Autoren des Programms appellieren damit nicht zuletzt an die belgische Gesellschaft: Die historischen Selbstwahrnehmung des noch jungen Belgiens im und nach dem Krieg beruhte auf den beiden Hauptnarrativen der Interpretation des Ersten Weltkriegs „Kriegsruhm und Martyrium“, die einen großen Einfluss auf die Identitätsbildung Belgiens ausübte.1  Außerdem müssen die Umstände der innenpolitischen Zerrüttung aufgrund der sprachlich-kulturellen Teilung Belgiens berücksichtigt werden, die in der Staatskrise 2010/11 ihren Höhepunkt erreichte. Der erste Weltkrieg verschärfte den flämisch-wallonischen Konflikt erheblich, nicht zuletzt durch die sprachlich-sozialen Diskriminierungen der flämischen Soldaten durch die frankophone Militäradministration und die „Flamenpolitik“ der Deutschen. Das Martyriums-Narrativ der belgischen Kriegsinterpretation beruht auch auf dieser deutschen Spaltungs-Politik. Im aktuellen Kontext wird es interessant sein zu sehen, wie in den einzelnen Initiativen die nationalitätenpolitischen Aspekte des Weltkrieges in Flandern und Belgien behandelt werden. Die Autoren formulieren jedenfalls Völkerverständigung als klares Ziel: „un des autres objectifs de l’organisation est de conscientiser et sensibiliser les générations actuelles et futures de Flandre à propos de tolérance, le dialogue interculturel et la compréhension internationale réciproque.“ (S. 7).

Angesichts dieser programmatischen Auslassungen erscheint es einigermaßen paradox, dass es nicht gelungen ist, ein regionenübergreifendes, Wallonen und Flamen zusammenbringendes Programm zu entwickeln. Das bislang außerordentlich  souveräne Agieren Flanderns auf der internationalen Bühne stellt jedenfalls andere belgische Initiativen bis jetzt tendenziell in den Schatten. Die mise en scène Flanderns als Zentrum, ja als ‘Welthauptstadt” des Weltkriegsgedenkens gehorcht durchaus auch politischen Repräsentationsinteressen. Dass Belgien mit Paul Breyne und die flämische Region mit Pierre Ruyffelaere eigene Koordinatoren für den Centenaire haben – die wallonische Regierung wird sicher zu gegebener Zeit nachziehen – ist sicherlich einerseits schlichtweg Konsequenz der föderalen Verfassung Belgiens; darüber hinaus mag man darin jedoch auch einen Beleg für eine latente Deutungskonkurrenz sehen. In diesem Sinne erfolgen die postnationale Deutung des Weltkriegs und die Absage an nationale Narrative nicht ohne Hintergedanken.

„Friedenstourismus“

Anstatt auf Opfer- oder Heldendiskurse konzentriert sich das Programm auf die „Friedenserziehung“ und den ökonomischen Aspekt des “Centenaires” als Gelegenheit für Investitionen in touristische Infrastruktur. Beide Ziele verweben die Autoren emblematisch in dem Neologismus „Friedenstourismus“, „tourisme de la paix“ (S. 7).

Die infrastrukturell-touristischen Investitionen werden in großem Rahmen vorgenommen: 44 Projekte werden mit 37 Mio. Euro finanziert. Dazu zählen das Museum In Flanders Fields und die Öffnung des Beffroi von Ypern; „die Verbesserung der Infrastrukturen für den Gästeempfang auf dem ehemaligen Schlachtfeld von Passchendaele in Zonnebeke, die Schaffung von Gedenkstätten in Poperinge, die Umsetzung einer neuen Dauerausstellung im Turm „Tour de l‘Yser“ in Dixmude, die Renovierung des Denkmals von König Albert I. und abschließend der Aufbau eines historischen Themenzentrums über die  Hochwasserkatastrophe der Yser in Nieuport.“ Das Projekt Patrimoine de la Grande Guerre soll sich im Hinblick auf das Verschwinden sichtbarer Zeugnisse des Krieges der Aufgabe annehmen, die sichtbaren Spuren des Krieges in der Landschaft, auch solchen, die durch Grabungen zutage getreten sind, Dauerhaftigkeit zu verleihen.

Eine internationale Gedenkregion

Das Ziel ist die Schaffung einer touristisch vermarkteten „internationalen Gedenkregion“, die durch die umgesetzten Projekte räumlich abgesteckt und mit der gewünschten Bedeutung aufgeladen wird. Die Initiatoren des Programms planen, sich um eine gemeinsame Aufnahme der “Flanders Fields” und der Schlachtfelder in Frankreich (Verdun, Somme) in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes zu bewerben. Ein Erfolg würde die beschriebene Internationalität des Programms und die transnationale Deutung des Krieges zementieren.

Das flämische Centenaire-Programm zeichnet sich durch seine transnationale Sinngebung des Krieges aus: Es verneint den nationalen Interpretationsrahmen, setzt auf Pazifismus und Völkerverständigung, ersetzt „Kriegsruhm und Martyrium“ durch den Geist der „Flanders Fields“. Im Hinblick auf das bisherige Fehlen einer internationalen Gedenkpolitik zum Ersten Weltkrieg ist dieser transnationale Ansatz wegweisend. Es bleibt abzuwarten, welche Früchte diese Internationalität der „Welthauptstadt Flandern“ für die Entwicklung eines internationalen Weltkriegsgedenkens tragen wird.

 

1Laurence van Ypersele: Belgien. Enzyklopädie des Ersten Weltkriegs.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/745

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Auf die Plätze, fertig, Blog! Junge Forscherinnen und Forscher bloggen die Dresden Summer School 2012

  Seit Montag läuft die Dresden Summer School 2012 “Von der Vitrine zum Web 2.0 – Museen, Bibliotheken und Archive im digitalen Zeitalter”. Die Organisatoren begleiten die Veranstaltung nicht nur mit einem eigenen Blog, sie haben auch die insgesamt 24 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Auftakt von uns in der Software WordPress und den Grundlagen des Bloggens schulen lassen. Auf diese Weise können sie gleich in das Bloggeschehen eingreifen. Bei der Schulung am Montag mischten sich Vorfreude und großes Interesse zunächst noch mit leiser Skepsis ob dieser neuen Form der Publikation, denn auch für den Großteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist das Bloggen Neuland. Nach kurzer Zeit überwog jedoch ganz einfach der Spaß am Umgang mit dem neuen Medium und die notwendigen Grundlagen zur Erstellung eines Artikels waren im Handumdrehen gelernt. Lisa Kolb schritt dann als Erste der Gruppe zur Tat und postete ihren Beitrag „Aufbruch! Umbruch? Start der Dresden Summer School 2012“. Beim wissenschaftlichen Schreiben habe sie sich bisher immer viel Zeit genommen, nun aber habe sie einen Beitrag deutlich schneller „losgelassen“ und sei damit sehr zufrieden. Das Bloggen habe sie regelrecht angesteckt. Und noch einen Vorteil sieht sie: „Endlich einmal Schreiben ohne Fußnoten!“ Auch David Duindam gefällt die Möglichkeit, in informellerer Weise seine forschungsrelevanten Beobachtungen und Gedanken nach außen tragen zu können. Bisher habe er nicht gewusst, wie er das Medium Blog für sich nutzbar machen kann. Nun fasziniere ihn die Möglichkeit, ein Blog als eine Art öffentliches Notizbuch zu seinen Forschungen zu führen. Ein Raum zur Entfaltung der Gedanken, zum ersten Formulieren und Festhalten von Überlegungen und Zwischenergebnissen, zur Sammlung von Links und anderen Notizen sowie zum Austausch mit Kollegen, dies sind alles Eigenschaften eines Blogs, die von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern als sehr positiv bewertet wurden. Mehrere beschäftigte jedoch, ob das Bloggen nicht der wissenschaftlichen Seriosität und damit dem Ruf schaden könnte. Allerdings überzeugte die von de.hypotheses.org geleistete Qualitätssicherung, die trotz lockereren Tonfalls auf wissenschaftliche Inhalte achtet. Die Schulung war also in vielerlei Hinsicht ein voller Erfolg. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben nicht nur die Publikationsform Blog und das Portal de.hypotheses.org kennengelernt, sondern sich auch die notwendigen Grundlagen in WordPress angeeignet. Die Tipps und begleitenden Informationen waren schließlich sogar für erfahrene Blogger wie Sonja Ostendorf-Rupp interessant. Bleibt nur noch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern weiterhin eine spannende Zeit zu wünschen – wir freuen uns auf weitere Berichte und Gedanken zur Dresden Summer School 2012! ___ Foto von Inger Brandt      

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/687

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