Vor fast genau zwei Jahren begannen die Ägypter mit ihrer Protestbewegung, die schließlich in der Revolution und im Sturz ihres ehemaligen Präsidenten Mubarak münden sollte. Auch mich haben die Bilder der standhaften Demonstranten auf dem Kairoer Tahrir-Platz beeindruckt. Sie waren so entschlossen, wirklich etwas zu verändern. Und ich habe dabei auch oftmals an die erfolgreiche Friedliche Revolution 1989 in der DDR gedacht, die vorher auch kaum jemand für möglich gehalten hätte. War der so genannte „arabische Frühling“ für die Menschen dort wirklich so eine Befreiung wie der 1989 durch die Revolution ermöglichte Mauerfall für die Menschen in der DDR? Um diese Fragen beantworten zu können, ist eine differenzierte Betrachtung notwendig, die die kulturellen Hintergründe dieser Region einbezieht.
Historische Hintergründe
In den Tagen der arabischen Revolution 2011 war viel davon die Rede, dass die Araber erst die Aufklärung nachholen müssen, bevor eine Demokratisierung stattfinden kann. Doch der tunesische Literaturwissenschaftler Sarhan Dhouib betonte bei seiner Ringvorlesung an der Leuphana Universität Lüneburg am 18. Januar 2013 mit dem Titel „Europa von außen gesehen: Eine arabisch-islamische Perspektive“, dass es seit dem 19. Jh. aufklärerische und säkulare Tendenzen in der arabischen Welt gegeben habe. Bereits in dieser Zeit, so Dhouib, hätten arabische Intellektuelle nach europäischem Vorbild Ideen für säkulare, auf rechtsstaatlichen Prinzipien aufbauende Verfassungen entwickelt. Es hat also Ansätze der Aufklärung gegeben, sie konnten sich nur nicht durchsetzen.
Der heute für so viel Konfliktstoff sorgende Islamismus entstand erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich um eine politische Bewegung, die die religiösen Gefühle der Menschen gezielt instrumentalisiert. Von Anfang an verstand sich der Islamismus als Gegenbewegung zu diversen Reformen Anfang des 20. Jahrhunderts – er wandte sich insbesondere gegen die umfassende politische Neuordnung nach der Säkularisierung und der Abschaffung des Sultanats in der Türkei. Abgesehen von den technischen Errungenschaften lehnten die Islamisten alle modernen Werte und die daraus resultierenden politischen Perspektiven ab. Einen Aufschwung erlebt der Islamismus vor allem am Ende des 20. Jahrhunderts infolge der fortschreitenden Unzufriedenheit und Desorientierung vieler Menschen in den arabischen Ländern: Migration und Digitalisierung bieten zudem noch nie da gewesene Kommunikationsmöglichkeiten an. Mit der Islamischen Revolution im Iran von 1979 gelang es den Islamisten erstmals, in Regierungsverantwortung zu gelangen. Spätestens seit den verheerenden Anschlägen vom 11. September 2001 dominierten diese Eindrücke das Bild von den Arabern und vom Islam in der westlichen Welt.
Die säkulare Gegenbewegung entwickelte sich allerdings ebenfalls in eine totalitäre, die Menschen unterdrückende Richtung. Ebenfalls in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der so genannte Panarabismus. Diese Ideologie strebte nach der Vereinigung aller arabischen Länder. Wichtig war hier nicht die Religion, sondern der Nationalismus. Infolge des Panarabismus entstanden in vielen Ländern – unter anderem in Tunesien, in Ägypten, in Libyen, in Syrien oder im Jemen – totalitäre Regime, die jahrzehntelang das eigene Volk terrorisierten. Viele von ihnen wurden durch die Revolutionen von 2011 zu Fall gebracht.
Die Welle der Revolution schwappt über die arabischen Länder
Was das Fass schließlich zum Überlaufen brachte
Jahrzehntelang hatten sich die Menschen in Ägypten, Tunesien, Libyen und Syrien eher aus Pragmatismus, denn aus Begeisterung den Verhältnissen in ihren Ländern angepasst. Von den einst vollmundig propagierten Visionen des Sozialismus und der arabischen Einheit war schon längst nichts mehr übrig geblieben. Stattdessen herrschten Korruption und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit. Mächtige Geheimdienst-Apparate schüchterten die Menschen ein und versuchten, jede Kritik im Keim zu ersticken.
Doch auf einmal spielten die Menschen dieses ganze Spiel nicht mehr mit. Anzeichen dafür, dass etwas ins Rollen kam, hatte es bereits im Sommer 2010 gegeben, als die Ägypter die in ihrem Land herrschende Polizei-Willkür nicht mehr hinnehmen wollten. Es kam verstärkt zu Solidaritätsbekundungen für deren Opfer. Als der 28-jährige Khaled Said auf offener Straße zu Tode geprügelt wurde, bekundeten zahlreiche Menschen via Internet ihre Anteilnahme. Der offene Protest nahm im Dezember 2010 in Tunesien seinen Anfang. Ein junger Gemüsehändler, der die andauernden staatlichen Schikanen in seinem Berufsalltag nicht mehr ertrug, verbrannte sich am 26. Dezember 2010 selbst. Dieser öffentliche Selbstmord war die Initialzündung für landesweite Demonstrationen gegen die schlechten Zukunftsperspektiven. Offen entlud sich der Unmut über die Korruption und die desolate Wirtschaftslage. Protest-Aufrufe verbreiteten sich in Windeseile auf Web 2.0-Plattformen wie Facebook und Twitter. Die Protest-Lawine war ins Rollen gekommen und sie war kaum noch aufzuhalten.
Initialzündung aus Tunesien
Die Umwälzung der politischen Verhältnisse vollzog sich in den Tagen um den Jahreswechsel 2010/2011 herum praktisch unbemerkt von der internationalen Gemeinschaft. Demonstrationen weiteten sich zu Volksaufstand aus und erfassten schließlich das ganze Land. Am 14. Januar 2011 überschlugen sich die Ereignisse. In einer eigens anberaumten Rede kündigte Ben Ali seinen Rücktritt bis 2014 an. Doch damit wollten sich die Demonstranten nicht mehr abfinden. Noch am selben Tag reist Präsident Ben Ali unter dem Druck der Straße in sein ausländisches Exil ab. Am 17. Januar wird eine Übergangsregierung gebildet. Damit war die Ära Ben Ali nach mehr als 30 Jahren zu Ende. Alles in allem lässt sich sagen, dass sowohl die Regierung als auch die ihr unterstellten Sicherheitsorgane von den Vorgängen vollkommen überrumpelt wurden. Darauf, dass alles so schnell ging, war es wohl auch zurückzuführen, dass Tunesien das einzige Beispiel einer wirklich friedlichen Revolution in der arabischen Welt darstellte. Mit den neuen, im Internet organisierten Protestformen war das Regime offensichtlich überfordert. Die Revolution in Tunesien zeigte auf, wie schnell es möglich war, die politischen Verhältnisse für immer zu verändern.
Ägypten setzt ein Ausrufezeichen
Der Funke, der aus Tunesien nach Ägypten übersprang, entflammte auch dort die revolutionäre Bewegung. Am 25. Januar 2011 entlud sich bei einem so genannten „Tag des Zorns“ der ganze, über Jahre angestaute Unmut über das seit 30 Jahren festgefahrene autokratische System in offenem Protest. Gleichzeitig fanden in verschiedenen Städten des Landes Massendemonstrationen mit Tausenden von Teilnehmern statt.
Bereits am folgenden Tag schlug das Mubarak-Regime zurück. Der Tahrir-Platz wurde unter Einsatz von Wasserwerfern geräumt. Es folgte die erste Verhaftungswelle. Darüber hinaus blockierte das Regime wichtige Social Media-Plattformen, um der Protestbewegung ihre Kommunikationsbasis zu entziehen. Doch davon ließen sich die Demonstranten nicht mehr abhalten, als der Protest bereits ins Rollen gekommen war.
Schon am 28. Januar 2011 begann die entscheidende Phase der ägyptischen Revolution. Erstmals schaltete sich die Armee ein, um einen Ausgleich zustande zu bringen. Gleichzeitig distanzierten sich die Streitkräfte vom Mubarak-Regime. Ende Januar setzten sich die Demonstranten dauerhaft auf dem Tahrir-Platz – dem Zentrum ihres Protests – fest. Dort herrschte Augenzeugenberichten zufolge eine nie gekannte euphorische und gelassene Stimmung, die erstmals einen freien und offenen Dialog der verschiedenen politischen Lager ermöglichte. Konsequent und entschlossen forderten die Demonstranten den Rücktritt Mubaraks als Staatschef. Dieser verlor unterdessen auch im Ausland an Rückhalt, als US-Präsident Barack Obama erstmals die Notwendigkeit eines Regierungswechsels in Ägypten andeutete. Gewalt war das letzte Mittel, das dem um seine Macht kämpfenden Autokraten noch blieb, als der Kampf schon längst verloren war. Anfang Februar 2011 schickte Mubarak seine aus den Armenvierteln Kairos rekrutierten Schlägertrupps gegen die Demonstranten los. Die folgenden Gewaltexzesse forderten einem Untersuchungsbericht vom 19. April 2011 zufolge 846 Menschenleben. Darüber hinaus waren 6.467 Verletzte zu beklagen. Doch von all dem Terror ließen sich die Demonstranten nun nicht mehr einschüchtern und blieben standhaft. Gewaltfrei harrten sie auf dem Tahrir-Platz aus.
Unterdessen schwand Mubaraks Rückhalt bei der Armee und bei den Verbündeten im Ausland weiter dahin. Die Rede des Präsidenten vom 10. Februar 2011 entpuppte sich nicht als der von ihm erhoffte Befreiungsschlag. Mit vagen Reformversprechen sowie mit der Ankündigung seines Rücktritts nach den Wahlen im September konnte er sein Volk nicht mehr erreichen. Im Gegenteil: Der Unmut über diese Rede schürte den Protest weiter. Am folgenden Tag, dem 11. Februar 2011 konnte die Opposition mehr Menschen als jemals zuvor für ihre Protestkundgebungen im ganzen Land mobilisieren. Am späten Nachmittag gab Mubarak dem Druck der Straße nach und kündigte seinen Rücktritt an. Damit war die Ära Mubarak nach 30 Jahren zu Ende gegangen. Mit ihrem gewaltfreien Massenprotest hatten die Demonstranten das Regime schließlich in die Knie gezwungen. Die erfolgreiche Revolution in Ägypten setzte ein deutliches Zeichen für Veränderung, zumal das Land am Nil als kulturelles und gesellschaftliches Zentrum der arabischen Welt gilt.
Die Schattenseite der arabischen Revolution: Bürgerkriege in Libyen und Syrien
Schließlich erreichte der Funke der Revolution auch die als besonders brutal geltenden Diktaturen in Libyen und Syrien. Doch diese Regime verstanden es, die Revolutionäre in blutige Bürgerkriege mit unabsehbaren Folgen zu verwickeln. Was auch in diesen Ländern als friedliche Revolution geplant war, versank in brutalster Gewalt.
Relativ schnell nach dem Sturz Mubaraks in Ägypten erreichte die Revolution auch das benachbarte Libyen. Bereits am 17. Februar 2011 kam es auch dort zu einem „Tag des Zorns“. Doch das Gaddafi-Regime reagierte sofort mit brutalster Gewalt. Es folgten gezielte Bombenangriffe gegen wehrlose Demonstranten. Angesichts dieser Gewaltexzesse entschloss sich die libysche Opposition dazu, den Weg des friedlichen Protests zu verlassen und ihre Anhänger gewaltsam gegen derartige Übergriffe zu verteidigen. Bereits bis zum 23. Februar 2011 war es den Rebellen gelungen, die Kontrolle über den Ostteil Libyens zu erlangen. Doch was nun folgte war ein von immer brutalerer Gewalt gekennzeichneter Bürgerkrieg. Nach erneuten schweren Bombenangriffen erließ der UN-Sicherheitsrat am 18. März eine Resolution zur Einrichtung einer Flugverbotszone, die die Zivilbevölkerung vor weiteren Bombardements schützen sollte. Zu deren Durchsetzung griff die Nato militärisch in den Konflikt ein. Mit Hilfe dieser Unterstützung aus dem Ausland gelang es den Rebellen schließlich im Sommer 2011, den Bürgerkrieg nach erbitterten Kämpfen für sich zu entscheiden. Ende August war auch das Gaddafi-Regime nach mehr als 40 Jahren entmachtet. Doch der Preis, der hier zu bezahlen war, war mit Zehntausenden von Kriegsopfern außerordentlich schmerzlich. In den Monaten erbitterter Kämpfe hatten die Rebellen sich ihrerseits Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen schuldig gemacht. Gaddafi wurde schließlich im Oktober 2011 von Rebellen hingerichtet.
Nur einen Tag später als in Libyen begannen am 18. Februar 2011 auch in Syrien Proteste gegen die Regierung, die sich im März spürbar ausweiteten. Auch hier reagierte das Assad-Regime mit brutalster Gewalt gegen die eigene Zivilbevölkerung. Es kam ebenfalls zu einem Bürgerkrieg, der den in Libyen in seiner Grausamkeit noch übertreffen dürfte. Hier kam es aufgrund der geostrategischen Lage im Spannungsfeld des Nahostkonflikts nicht zu einer Intervention aus dem Ausland. Das Assad-Regime ist entschlossen, seine Macht bis zum Letzten zu verteidigen.
Kreativität und Selbstwirksamkeit in den arabischen Protestbewegungen
Schon in der Phase ihrer Entstehung setzten die neuen arabischen Protestbewegungen auf die Breitenwirkung der aufkommenden Social Media-Plattformen. So konnten sie ihre Kritik an den Regimen und ihre politischen Botschaften an der Zensur vorbei einer breiten Masse zugänglich machen. Darüber hinaus ermöglichten die Plattformen des Web 2.0 den Aktivisten die Mobilisierung ihrer Anhänger für Demonstrationen. Außerdem versetzten diese neuen Kommunikationsformen die Protestbewegung schnell in die Lage, sich zu vernetzen, um auf Maßnahmen von Seiten der Regime, die sie bekämpften, reagieren zu können.
Angesichts der Brutalität der Unterdrückungsapparate von Seiten der Regierungen entwickelten die Demonstranten kreative und höchst wirkungsvolle Formen des Protests, die nicht so schnell auszuschalten waren. So vereinbarten sie durch Vernetzung im Internet und durch Handys Spontan-Kundgebungen, die sich ebenso schnell wieder auflösten, wie sie sich formiert hatten. Charakteristisch für die Protestbewegung in den arabischen Ländern war auch die gezielte Besetzung wichtiger Plätze, auf denen die Demonstranten dann tagelang gewaltfrei ausharren konnten.
In der Übergangsphase, in der das alte Regime schon im Untergang begriffen war, ein neues politisches System sich aber noch nicht gefestigt hatte, war es für die Menschen wichtig, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Dazu entwickelten sie neue zivilgesellschaftliche Organisationsformen, die frei von allem ideologischen Ballast das Nötige für das Überleben der Menschen taten. In der chaotischen Phase des Übergangs bewachten Nachbarschaftskomitees Häuser und Wohnungen, um sie vor Plünderern zu schützen. Darüber hinaus kümmerten sich Nachbarn auch darum, die Menschen, die auf dem Tahrir-Platz und auf anderen öffentlichen Plätzen ausharrten, mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen.
Innerhalb der revolutionären Bewegungen waren erhebliche politische und religiöse Differenzen zu überwinden. Das gemeinsame Ziel aller Gruppen ermöglichte in den Revolutionstagen einen Zusammenhalt. Dass sich dieser für die folgende Zeit als wenig tragbar erwies, stellte sich bereits in den Monaten nach dem Umsturz heraus.
Herausforderungen des Neubeginns
Derzeit ist die Situation in der arabischen Welt von großen Unsicherheiten geprägt. Die Orientierungslosigkeit entsteht dadurch, dass das Alte zwar definitiv vorbei ist, aber noch nicht klar zu erkennen ist, wie sich die weitere Entwicklung gestalten wird. Die derzeitige verworrene Lage erinnert an die Lage in Europa 1918.
Demokratische Reformen werden nur von einer kleinen, meist aus dem gehobenen Bildungsbürgertum stammenden Minderheit befürwortet. Diese Bevölkerungsschicht hatte einen maßgeblichen Anteil an der Revolution. Doch es ist ihr auch zwei Jahre nach dem Ende der Diktaturen nicht gelungen, eigene Organisationsstrukturen sowie ein tragfähiges politisches Programm zu entwickeln. Für die breite, politisch weitgehend orientierungslose Masse der Bevölkerung sind die einfachen Lösungen und Patentrezepte von Islamisten, die vermeintlich Sicherheit versprechen, oftmals attraktiver als mühsame demokratische Prozesse. Wie das Beispiel Ägypten zeigt, werden in einem solchen System die Freiheitsrechte des Einzelnen – vor allem der Christen und der Frauen – massiv eingeschränkt. Inwieweit die davon in ihren Freiheiten beeinträchtigten Teile der Bevölkerung diese Mehrheitsentscheidung hinnehmen müssen, darüber ist in Ägypten ein heftiger, von Gewaltexzessen begleiteter Konflikt entbrannt, dessen Ausgang offen ist. Das Gewaltpotential, das diese Auseinandersetzungen beinhalten, ist möglicherweise sogar dazu angetan, die Errungenschaften der Revolution zumindest teilweise rückgängig zu machen. Das zeigt sich beispielsweise an der Wiedereinführung des Ausnahmezustandes in drei ägyptischen Städten fast auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Beginn der Revolution. Wenngleich die Konflikte in Tunesien auf kein derart breites Echo in der Medien-Öffentlichkeit stoßen wie diejenigen in Ägypten, so sind sie doch ebenfalls brisant. Auch dort werden liberale Kultureinrichtungen zum Ziel von Übergriffen extremistischer Salafisten, ohne dass die vermeintlich „moderat“ islamistische Regierungspartei „Ennahda“ dem etwas entgegensetzt. In Libyen ist man zusätzlich zu diesen Herausforderungen auch noch mit der Bewältigung der Kriegsfolgen – vor allem dem Wiederaufbau der Infrastruktur und dem Einsammeln aller illegalen Waffen aus den Arsenalen von Gaddafi beschäftigt. Weite Teile des Wüstenstaates drohen zu einem Rückzugsraum mir islamistische Terroristen zu verkommen. Syrien befindet sich immer noch in einem brutalen Bürgerkrieg, der von täglich neuen Gräueltaten aller Seiten geprägt ist.
Doch auch diejenigen Länder, die nicht wie Libyen oder Syrien unter Kriegsfolgen zu leiden haben, kämpfen mit einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Technologisch haben die arabischen Staaten in vielen Bereichen den Anschluss an den Westen, aber auch an Indien, China und die südostasiatischen Länder verloren. Auch der Tourismus, von dem gerade Tunesien und Ägypten abhängig sind, ist infolge der von Unruhen und Gewaltausbrüchen geprägten instabilen Lage eingebrochen. Darüber hinaus wird die Wirtschaftskraft dadurch beeinträchtigt, dass viel Geld in den dunklen Kanälen der Korruption versickert. Diese korrupten Strukturen, die infolge der Revolution nur zu einem kleinen Teil beseitigt werden konnten, führen zu einer sehr ungerechten Verteilung der ohnehin knappen wirtschaftlichen Ressourcen. Die Sicherung der Lebensgrundlagen für alle gesellschaftlichen Schichten ist eine Grundvoraussetzung für dauerhaften sozialen Frieden und politische Stabilität.
Doch um Unterdrückung, Konflikte und Gewalt wirklich hinter sich zu lassen, sind noch weitaus tiefer greifende Veränderungen in der Einstellung der Menschen notwendig. Die Zensur im Denken zu überwinden ist seit 2011 eine der größten Herausforderungen. Oftmals tritt heute der in seinem Wesenskern totalitäre Islamismus an die Stelle der ideologischen Vorgaben der gestürzten autokratischen Regime. Die einfachen Antworten im Schwarz-Weiß-Denken sorgen für vermeintliche Sicherheit in einer Zeit der Orientierungslosigkeit. Erst wenn die arabischen Gesellschaften den Mut entwickeln, die Freiheit und die Würde eines jeden einzelnen Menschen unabhängig von seiner Religion, seiner Herkunft oder seines Geschlechts zu respektieren, wird es einen Ausweg aus der Unterdrückung geben. Der „arabische Frühling“ wird erst dann zur Realität, wenn die Menschen die Verantwortung für ihr Schicksal selbst übernehmen, anstatt fatalistisch auf die Segnungen einer vermeintlich gottgewollten Ordnung zu hoffen.
Was unterscheidet die Revolutionen in der arabischen Welt 2011 von der Friedlichen Revolution 1989 in der DDR?
Noch heute stehen die Friedliche Revolution 1989 in der DDR und der durch sie ermöglichte Mauerfall für einen sehr ermutigenden Wendepunkt in der deutschen und europäischen Geschichte. 2011 war viel vom so genannten „arabischen Frühling“ die Rede, von dem man sich eine ähnlich positive Wende der Entwicklungen in den arabischen Ländern erwartete. Doch nicht nur in Hinblick auf das Bürgerkriegsland Syrien, sondern auch hinsichtlich der von Gewalt begleiteten politischen Spannungen in Ägypten heißt es heute oft, der „arabische Frühling“ habe sich zum „arabischen Winter“ entwickelt. Heute, da die erste Euphorie verflogen ist, werden die Unterschiede zur Friedlichen Revolution 1989 in der DDR immer deutlicher:
- Auch wenn es in der ehemaligen DDR in der Umbruchsphase ebenfalls zu erheblichen Enttäuschungen und Frustrationen kam, entluden sich diese nicht in Gewalt. Dagegen wird die Neuordnung in den arabischen Ländern seit der Revolution 2011 – aktuell besonders massiv in Ägypten – wiederholt von gewaltsamen Unruhen begleitet. Selbst wenn es 2011 noch zu gewaltfreien Protesten kam, kann diese Entwicklung heute im Ganzen betrachtet nicht mehr als friedliche Revolution bezeichnet werden.
- Die neuen politischen Strukturen mussten in der DDR nicht neu erfunden werden. Durch den Zusammenschluss mit der BRD konnte man deren seit Jahrzehnten bewährtes politisches System übernehmen und somit schnell rechtsstaatliche Grundlagen schaffen. Für die arabischen Staaten mit ihrer kolonialen Vergangenheit ist Europa dagegen kein Vorbild. Sie stehen somit vor der Herausforderung, ihr eigenes System zu entwickeln.
- Im Gegensatz zur ehemaligen DDR in der Umbruchsphase nach 1989 spielt die Religion in den arabischen Ländern als politischer Faktor eine zentrale Rolle. Vermeintlich gottgewollte Regeln und Vorschriften verschärfen die Gegensätze zu Minderheiten und fördern deren Ausgrenzung. Anders als in der DDR, wo die christlichen Kirchen den gewaltfreien Protest unterstützten, tritt der politische Islamismus in der arabischen Welt als gewaltfördernder Faktor in Erscheinung.
- Zwar waren die wirtschaftlichen Verhältnisse in der ehemaligen DDR in der Wendezeit schwierig. Doch fehlte es der dortigen Bevölkerung im Gegensatz zu derjenigen in den arabischen Ländern niemals am Lebensnotwendigen. In vielen arabischen Staaten hat sich die Armut durch die Revolution noch weiter verschärft, so dass viele Menschen den Verlust ihrer existentiellen Lebensgrundlagen fürchten müssen.
Quelle: http://revolution1989.hypotheses.org/68