„Steven Spielberg Announces Creation of Survivors of the Shoah Visual History Foundation to document the largest library of Holocaust survivor testimonies ever recorded.“
So heißt es am 31. August 1994 in einer Pressemitteilung. Ein Jahr zuvor war Schindlers Liste in die Kinos gekommen. Mit dem Film über den deutschen Entrepreneur-Industriellen und Lebemann Oskar Schindler, der das Leben von etwa 1.200 jüdischen Zwangsarbeitern rettete, hatte der Regisseur von Der weiße Hai (1975), E.T. (1982), Indiana Jones (1981, 1984, 1989) und zahlreichen weiteren box-office hits eindrucksvoll bewiesen, dass er auch große historische Geschichten erzählen konnte. Im Anschluss an den überaus erfolgreichen Film (sieben Oskars!) gründete Spielberg die Survivors of the Shoah Visual Foundation. Ein eindrücklicher Gründungsmythos umweht die Entstehung der Stiftung. Spielberg berichtete, wie während der Dreharbeiten immer wieder Überlebende, die als Berater am Set waren, auf ihn zugekommen seien, um ihm ihre persönlichen Geschichten zu erzählen: „I kept saying to them, ‚Thank you for telling me, but I wish you say this to a camera because this is important testimony.’ I asked them if they’d be willing to do this and they all said yes.“[1]
Der daraus resultierende Entschluss, weltweit 50.000 Holocaust-Überlebende zu interviewen, bedeutete ein – im Vergleich zu anderen, nicht nur den Holocaust betreffenden Oral History-Archiven – gigantisches Unterfangen. Zunächst wurden Interviews in Los Angeles und Umgebung aufgenommen, anschließend in Florida und New York. Anfang 1995 wurde die Stiftung auch im Ausland tätig. Es wurden insgesamt 39 Regionalbüros auf fünf Kontinenten errichtet. Binnen dreier Jahre, so der Plan, sollten die Interviewaufnahmen abgeschlossen sein. Es dauerte dann doch einige Jahre länger, was jedoch nicht daran lag, dass die Ziele nicht früher hätten erreicht werden können, sondern dass die Produktion der Interviews nicht von einem Tag auf den anderen gestoppt werden konnte. Das beispiellose Projekt wäre ohne die Erfahrungen in der Logistik großer Filmproduktionen wohl nicht zum Erfolg gebracht worden. Die Nähe zu Hollywood ließ sich auch in anderen Bereichen nicht leugnen: Die Direktoren der Shoah Foundation waren die Regisseure und Produzenten James Moll und June Beallor. In den ersten elf Jahren ihrer Existenz hatte die Stiftung ihre Geschäftsräume zudem in einem trailer park auf dem Gelände der Universal Studios und war somit „the only Holocaust-studies center, it seems safe to say, ever situated on a Hollywood studio lot“.[2] 2006 wurde die Stiftung schließlich an die University of Southern California (USC) in Los Angeles angegliedert und durch diesen Umzug akademisch aufgewertet.
Die Shoah Foundation war jedoch keinesfalls die erste Initiative, die Interviews mit Holocaust-Überlebenden führte und diese auf Ton- oder Videoband aufnahm. Bereits unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden vereinzelt Interviews geführt. In den späten 1970er und 1980er Jahren lässt sich dann ein regelrechter Boom verzeichnen. Eine Reihe sozio-kultureller und sozio-politischer Prozesse und Ereignisse (hierzu zählen beispielsweise der Jom-Kippur-Krieg, aber auch der Vietnamkrieg oder die amerikanische Bürgerrechtsbewegung) hatten den Holocaust allmählich in das Zentrum der Erinnerungskultur gerückt und mit der allgemeinen Hinwendung zur Alltags- und Kulturgeschichte fanden letztendlich auch die Überlebenden das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. Die Ära der Zeitzeugen begann, wie es von Annette Wieviorka und anderen apostrophiert wurde.[3] Mehr als 125 Archive, Museen, Stiftungen, Graswurzelbewegungen, historical societies, Vereine, survivors organizations oder Universitäten hatten allein in den Vereinigten Staaten vor 1994 die Erinnerungen von Überlebenden und anderen Zeitzeugen des Holocaust technisch konserviert.[4]
Diese Initiativen sahen ihre Bemühungen durch das $100 million project[5] von Steven Spielberg gefährdet und standen der Shoah Foundation dementsprechend kritisch gegenüber. Als geniuses at organizations, die ansonsten keine Vorstellung von der inhaltlichen Bedeutung von oral history hätten, wurde die Stiftung beispielsweise in einem internen Memorandum des U.S. Holocaust Memorial Museums, selbst ein Schwergewicht der Erinnerungskultur, bezeichnet. Wieviorka, die für ein anderes amerikanisches Oral History-Archiv Interviews mit Holocaust-Überlebenden in Frankreich aufgenommen hatte, verglich die Shoah Foundation mit einem superstore, der die Existenz der kleinen Krämer bedrohte, die zuvor das Feld der Zeitzeugeninterviews dominiert hätten.[6] Es ist durchaus nachvollziehbar, dass etablierte Oral History-Archive die Shoah Foundation als Wal-Mart der Erinnerungskultur erlebten. Wo sie antrat, war nicht mehr viel Platz für andere. Zuvor hatten lokale Initiativen das Feld dominiert – beziehungsweise Einrichtungen wie das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies oder das U.S. Holocaust Memorial Museum, die oft mit lokalen Projekten kooperierten. Etablierte Organisationen konnten sich zwar noch halten, es wurden jedoch keine neuen mehr gegründet. Die dynamische Ausdifferenzierung, die die 1980er und frühen 1990er Jahre gekennzeichnet hatte, war zu einem Ende gekommen. Den verbliebenen Oral History-Archiven wurde schnell klar, dass es sich bei den Aktivitäten der Shoah Foundation nicht um ein Strohfeuer handelte, sondern dass diese für Jahrzehnte die Erinnerungskultur prägen würde. So erklärten sich die etablierten Archive zögerlich bereit, Kooperationen einzugehen, die jedoch nicht die Aufnahme von Interviews zum Ziel hatten, sondern vielmehr deren Konservierung und Verbreitung.
Bei der Aufnahme der Interviews orientierte sich die Shoah Foundation (abgesehen von der außerordentlichen Logistik) an bewährten Methoden der Oral History. Innovativ war die Stiftung vor allem bei der Verbreitung und Bearbeitung der Interviews. Ein übergeordnetes Ziel war es stets, die Interviews einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um so den Handlungsrahmen einer ritualisierten Erinnerung zu erweitern. Bevor ein überall verbreitetes Internet es erlaubte, die Interviews von zuhause aus anzuschauen, gab es eine kurze Zwischenphase, in der der Austausch an das besonders leistungsfähige Internet2 gebunden war, das Universitäten in den USA und später auch in Europa miteinander verband. Inzwischen wurde ein Netzwerk von 48 Universitäten in Nordamerika, Europa, Israel und Australien errichtet, von denen die Interviews abrufbar sind. Sie müssen einige Stunden im Voraus bestellt werden, um sie auf das Campusnetzwerk zu laden und an stationären Computern anzusehen. Mittlerweile sind jedoch über 1.200 Interviews der Shoah Foundation auch online von jedem Ort zugänglich und es werden stetig mehr.
Einen weiteren Schwerpunkt bilden pädagogische Programme, die auf dem Internet basieren. So zum Beispiel das Projekt IWitness, das Schüler und Studenten auffordert, die Videointerviews nicht nur anzuschauen, sondern am Computer zu bearbeiten. Die Interviews können zusammengeschnitten und mit eigenen Filmaufnahmen, Musik, Bildern oder Begleitkommentaren versehen werden. So lassen sich eigene kurze Dokumentarfilme erstellen. Hinter den multimedialen Möglichkeiten verschwindet jedoch zunehmend die Geschichte. IWitness wird nicht in erster Linie als Angebot beworben, den Zugang zur Geschichte und zu den schwierig zu rezipierenden Zeitzeugenberichten zu ermöglichen, sondern als Werkzeug zum Aufbau wichtiger digitaler, medialer und informationstechnologischer Fähigkeiten, die im 21. Jahrhundert notwendig seien.[7]
Die jüngste technologische Entwicklung ist ein Hologramm, das durch modernste Spracherkennungssoftware und holografische Projektionstechnologie eine möglichst unmittelbare Gesprächssituation imitieren soll.[8] Das Bild beziehungsweise Hologramm von Überlebenden kann in einen Raum projiziert werden und simuliert so eine „natürliche“ Gesprächssituation, die möglichst auch diejenigen mitnimmt und berührt, die zu den „talking heads“ der videographierten Interviews keinen Zugang finden. Hier muss sich jedoch noch herausstellen, ob es sich tatsächlich um eine Zukunftstechnologie handelt, die eine authentische Begegnung mit zwischenzeitlich verstorbenen Überlebenden ermöglicht (wie seltsam das auch klingen mag), oder ob es als Marketing-Gag der Shoah Foundation verpufft, die unvoreingenommen verschiedene technologische Innovationen testet.
Bereits vor 15 Jahren, als das Ausmaß und die Pläne der Shoah Foundation gerade absehbar geworden waren, wurde bereits vorausgesagt, dass die Digitalisierung und allgegenwärtige Verfügbarkeit der Interviews im Internet einer historiographischen Revolution gleichkomme.[9] Diese Prophezeiung kann heute mit Einschränkungen bestätigt werden. Die Geschichtswissenschaft wie auch die Erinnerungskultur wurden vom digital turn erfasst. Die Shoah Foundation spielt(e) hier eine Vorreiterrolle. Es bleibt abzuwarten, ob Neuerungen wie IWitness oder das Hologramm den Zugriff auf die Oral History Interviews und die dahinter stehende Geschichte weiter transformieren. Bereits der „simple“ digitale Zugriff auf abertausende Stunden Ton- und Videozeugnisse hat viel bewirkt. Das Internet ist die Technologie, die den Zeitzeugeninterviews einen zentralen Platz in der Erinnerungskultur einräumt und trotzdem deren Komplexität und Sperrigkeit bewahrt. Gleichzeitig fordern die interaktiven Möglichkeiten möglicherweise die Vorherrschaft eines linearen Narrativs heraus, das mit dem Akt des Zeugnisablegens verbunden ist. Nicht zuletzt aufgrund der Tätigkeit der Shoah Foundation bilden Interviews mit Überlebenden und die digitale Entwicklung einen zentralen Verbindungspunkt, an dem auch in Zukunft Raum und Zeit der Holocaust-Erinnerung ausgehandelt werden.
Die Shoah Foundation hat somit ihr Versprechen eingelöst (wenn auch auf Kosten anderer Initiativen), das sie bereits im August 1994 mit erstaunlicher Genauigkeit prognostiziert hatte: „The Foundation’s plans include the design of a breakthrough multi-media database system to archive, manage and navigate through what will be an unprecedented mass of historical material.“
[1] Jeanette Friedman, „Steven Spielberg. Partner in History“, Lifestyles 5757 (1997): 22.
[2] Stephen J. Dubner, „Steven the Good“, in: Lester D. Friedman und Brent Notbohm (Hg.), Steven Spielberg. Interviews (Jackson: University Press of Mississippi, 2000), 234.
[3] Annette Wieviorka, The Era of the Witness, übersetzt von Jared Stark (Ithaca: Cornell University Press, 2006 [franz. 1998]).
[5] Peter Novick, The Holocaust in American Life (New York: Houghton Mifflin, 1999), 275.
[9] Wieviorka, Era, 116f.
Quelle: http://fyg.hypotheses.org/208