DH-Kolloquium an der BBAW, 13.9.2019: Martin Grötschel: Digital Humanities – aus der Sicht von Mathematik und Informatik

Im Rahmen des DH-Kolloquiums an der BBAW möchten wir Sie herzlich zum nächsten Termin am Freitag, 13. September 2019, 17 Uhr s.t. im Einstein-Saal der BBAW einladen:

Prof. Dr. Dr. h. c. mult.

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Quelle: https://dhd-blog.org/?p=12132

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Über die Dialektik der Kennzeichnung quantifizierten Leserhandelns

"kindle dictionary entry for literacy" by Jimmie (flickr-CC BY 2.0)

Es begab sich relativ zufällig, dass ich an das Kindle-Reader-Programm geraten bin. Auf dem Weg in die Weihnachtsferien stellte sich natürlich die Frage, welche Bücher mir die langen Zug- und Autofahrten in die Heimat und den Urlaub versüßen sollten; und wie immer stellt man nach ein paar Seiten und stolpernd über den ein oder anderen Literaturhinweis fest, dass man doch noch ein weiteres Buch aus dem Regal hätte mitnehmen können oder sollen. In meinem Fall handelte es sich um Hegels Phänomenologie des Geistes. Nun gut, es gibt auch genügend gute Gründe Hegel nicht mit in die Weihnachtsferien zu nehmen; die dicke des Buches wäre schon mal einer von ihnen. Wie dem auch sei; ich hätte ihn jetzt gern zur Hand gehabt. Ideal ist aber, dass Hegel schon ausreichend lange tot ist, um seine großen Schriften – kostenlos – als Kindle-E-Book herunterladen zu können. Und das sogar ohne Kindle-E-Book-Reader, denn den gibt es auch als Programm für PCs bzw. Notebooks. Um Hegel soll es hier aber gar nicht gehen.

Als ich nämlich die Phänomenologie des Geistes und – weil es ja kostenlos ist – beide Bände der Wissenschaft der Logik heruntergeladen und den ersten Ärger über die schlechte Orientierbarkeit in so einem E-Book überwunden hatte, fielen mir beim Reinlesen Markierungen im Text auf. Unter Sätze wie bspw.

„Die Philosophie aber muß sich hüten, erbaulich sein zu wollen./Noch weniger muß diese Genügsamkeit, die auf die Wissenschaft Verzicht tut, darauf Anspruch machen, daß solche Begeisterung und Trübheit etwas höheres sei, als die Wissenschaft.“ (Hegel: Phänomenologie des Geistes, Position 108; ja, E-Books haben keine Seitenzahlen)

ist da eine dünne, gestrichelte Linie gezogen, an deren Beginn der Vermerk steht: „4 Textmarker“. Ohne es bisher überprüft haben zu können (ich bin ja im glücklicherweise webstinenten Ostsee-Urlaub; sitze aber soeben mit meinem Laptop auf dem Schoß auf der Rückbank eines VW-Busses), nehme ich an, dass es sich bei diesen Markierungen um getrackte Quantifizierungen von Lese- oder besser Markierungshandeln von Lesern handelt.1 Mehr oder weniger subtil wird einem damit also vermittelt, dass – wie im obigen schöngeistigen Beispielsatz – 4 andere Leser der E-Book-Ausgabe von Hegels Phänomenologie des Geistes diese Stelle als zumindest markierenswert erachtet haben. Es ist ein bisschen so, als würde man in ein antiquarisch erstandenem Klassiker die Lesespuren des oder der Vorbesitzer/s entdecken; eine Angelegenheit, die ich aufgrund ihrer Individualität immer als äußerst spannend empfunden habe. Hier nun aber ist diesen Spuren aufgrund ihrer Quantifizierung jegliche Individualität und Situiertheit genommen.

Über das Potenzial dieser Quantifizierung von Markierungshandeln kam mir nun ein kleiner Gedanke, den ich im Folgenden kurz ausführen möchte. Vollkommen unkommentiert bleibt dabei die Frage, welchen ökonomischen Mehrwert eine solche Quantifizierung für Kindle (also Amazon) hat. Vermutlich ist es eine weitere Quelle, äußerst individuelle Profile ihrer Käuferschaft zu modellieren.2

Aber übertragen aus meinen Selbstbeobachtungen, wie ich mit Texten umgehe, die von anderen bereits gelesen, markiert und kommentiert wurden, habe ich mich gefragt, was für ein Potenzial die quantifizierte Sichtbarkeit solchen Markierungshandelns für die Rezeption haben kann. Immerhin handelt es sich bei Markierungen – mögen sie nun auf einer Papierseite, in einer PDF-Datei oder in einem Kindle-E-Book gemacht sein – minimal immer um eine Zuschreibung einer gewissen Wichtigkeit. Der Individualität dieser Zuschreibung wird nun mit der Quantifizierung versucht zu begegnen und vermittels des Quantors (im obigen Beispiel ganze 4!) für den Leser einschätzbar zu machen: Wie viele Leser erachteten betreffende Stelle als wichtig? Der Schwellenwert jedoch für die Sichtbarmachung dieser Zuschreibung scheint dabei offenbar nicht sehr hoch zu sein. Das obige Beispiel scheint deswegen vielleicht nicht das idealste zu sein. Aber allein in der Vorrede gibt es auch eine  Stelle, die z. B. 41 Mal identisch oder zumindest ähnlich3 markiert wurden. Andere Werke mögen andere Zahlenwerte erreichen. Und auch erst über größere Zahlenwerte können solche Quantifizierungen wohl wirkliche Wirkungspotenziale entfalten. Man müsste sich mal anschauen, welche Zahlenwerte bspw. zeitgenössische Werke erreichen und ob dort signifikante Unterschiede zu verzeichnen sind.

Welcher Art könnte dieses Wirkpotenzial nun sein? Liest man ein – z. B. wissenschaftliches oder philosophisches – E-Book und bekommt kontinuierlich die Stellen angezeigt, die eine gewisse Menge anderer, anonymer Leser mit einer unbestimmten Wichtigkeit versehen haben, zeigt sich schon im Buch selbst also eine Art ausgemittelter Common-Sense über die wichtigsten Sätze oder besser Propositionen, die nicht der Autor selbst also solche erachtete, sondern die gesammelte also quantifizierte Leserschaft. Es wird also die Nachgeschichte eines Werkes, der Diskurs über das Werk, verschränkt mit dem Werk selbst. Auf äußerst rudimentäre, reduzierte, ja verdinglichte Weise wird also die herrschende Meinung über die Un-/Wichtigkeit einzelner Passagen zur Darstellung gebracht.

Im Unterschied zum einzelnen antiquarisch gekauften Buch, das vielleicht die Spuren von ein, zwei oder drei Lesern versammeln kann, bevor es vollkommen unlesbar wird, kann sich im E-Book – auf oben beschriebene Weise und d.h. ausschließlich quantitativ – der gesamte Diskurs abbilden. Und mögen Markierungen in einzelnen Büchern nur von Wichtigkeit sein, wenn man bspw. Foucaults Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft in die Hände kriegt (und man gleichzeitig Foucault-Exeget ist), so ermöglicht die Quantifizierung den koinzidierenden Unterstreichungen die beschriebene abbildende Qualität und somit eine ganz andere wirkmächtige Wichtigkeit zukommen zu lassen.

Schon bei der individuellen Lektüre gebrauchter Bücher mit individuellen Unterstreichungen und Kommentaren habe ich immer wieder bemerkt, wie solch unscheinbare Marginalien die mentale Verarbeitung des Gelesenen beeinflussen:

Vormaliger Leser fand diese Stelle wichtig. Vormaliger Leser fand offenbar diese Stelle wichtig? Vormaliger Leser fand ausgerechnet diese Stelle wichtig!? Warum das denn? Ach so, ja leuchtet ein. Oder? Nein, was für ein Quatsch!

Die Spanne der möglichen Reaktionen auf solcherart Markierungen ist denkbar breit, was offensichtlich mit ihrer umfangreichen Individualität, Situiertheit und – in ihrer Spurqualität für den Anderen – folglich unglaublichen Vagheit zu begründen ist, die ein Verstehen bis aufs Äußerste erschweren. Die Hoffnung der Quantifizierung oder besser: die Hoffnung der Quantifizierer ist nun, dass sich all diese Idiosynchrasien verrechneten und somit eine Form von Eindeutigkeit sich ergäbe, die ein Verstehen von etwas ermöglichte. Wie bewusst sich die Quantifizierer darüber sind, wie äußerst Begrenzt das zu Verstehende durch die Verrechnung nur noch ist, ist eine Frage, die sicherlich von den offenen und verdeckten Zielen und Zwecken der Verrechnung her gedacht und problematisiert werden müsste. Hier interessiert ja aber erst einmal die Wirkung auf den durchschnittlichen Leser, der mit solcherart Verrechnung konfrontiert wird. Ich bin ja Hermeneut.

Ermöglicht die Verrechnung und Kennzeichnung dem Leser einen einfacheren Einstieg in den Diskurs, indem er weiß oder zu wissen glaubt, was die wichtigen Stellen sind, die zu beachten und zu besprechen wären; und welche unwichtigen Stellen nur überflogen, ja vielleicht sogar übersprungen werden können, um sich mit nur wenig Aufwand im Diskurs zurecht zu finden, eine Meinung zu haben und mitsprechen zu können? Das wäre die eine Seite, die gewissermaßen die Common-Sense-Lesart solcher Markierungen ist. Sie birgt die offensichtliche Gefahr oberflächlicher Lektüre, die einen Mehrwert, eine innovative Lesart geradezu verhindert.

Es gibt aber auch eine andere Seite, eine Möglichkeit, die die Dialektik solcherart Markierungen entbirgt. Diese Möglichkeit besteht darin, auf die Lücken zwischen den quantifizierten Markierungen acht zu geben. Die herrschende Zuschreibung von Wichtigkeit zu hinterfragen und ein E-Book auf die scheinbar unwichtigen Stellen hin zu lesen und sie in Relation zu den vermeintlich tragenden Passagen wechselseitig zu perspektivieren. Damit wird nicht nur eine tiefere Lektüre und begründetere Argumentation, sondern auch die innovative Kraft abweichender Lesarten und (mithin) die Erhellung blinder Flecken im Diskurs, ja in ganzen Paradigmen ermöglicht.4

Die devolutionierende Tendenz dieser Markierungen wird also aufgehoben durch die innovationierende Lesart derselben. Beides wiederum ist aufgehoben im Potenzial des Umgangs mit solchen Quantifizierungen von Wichtigkeitszuschreibungen.

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  1. Dazu Amazon: "Neben Ihren eigenen Markierungen können Sie in manchen Kindle eBooks auch Beliebte Markierungen aufrufen. Beliebte Markierungen zeigen Ihnen, welche Textstellen in einem eBook am häufigsten von anderen Kindle-Lesern markiert wurden."
  2. Zum "gläsernen Leser" und möglichen Folgen siehe Pleimling (02.10.2012) in diesem bpb-Artikel.
  3. Die Frage, wie groß die Abweichung oder wie klein die Übereinstimmung einzelner Markierungen sein muss, um als „identische“ Markierung gezählt zu werden, ist eine weitere Frage, die interessant wäre zu klären. Bestimmt sie doch den Grad der für die Quantifizierung nötigen Desituierung der einzelnen Markierungen.
  4. Beide Aspekte für den Deutschunterricht zu nutzen, bespricht dieser Artikel.

Quelle: http://metablock.hypotheses.org/825

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Psychologie als SozialWissenschaft – die Instrumente der Psychologie

Psychologen messen gerne. Ob bei der Evaluation einer Unternehmensstrategie, bei einem Vorstellungsgespräch oder in der Therapie, eine Frage stellen Psychologen gerne: Wie meinen Sie das genau? Was genau meinen Sie mit Kundenzufriedenheit, woran könnte ich einen zufriedenen Kunden erkennen? Was genau meinen Sie, wenn Sie sagen, dass Sie flexibel sind, können Sie mir Beispiele für flexibles Handeln in Ihrem Leben nennen? Was genau meinen Sie mit Schlafproblemen, bei welcher Schlafmenge und -qualität würden Sie von gesundem Schlaf sprechen? Mit solchen Anstößen zur Konkretisierung versuchen Psychologen die Verbindung herzustellen zwischen dem eher allgemeinen Abstraktionsniveau, auf dem sich alltägliche Gespräche und Gedanken oft bewegen, und der Sphäre des für jedermann Beobachtbaren.

Fragen wie diese können zu einer gewissen Genervtheit führen, weil sie in den Bereich dringen, der für uns selbstverständlich ist (“Ja, Herr Psychologe, Albträume find’ ich nicht so toll…”). Und auch wenn es stimmt, dass in vielen Fällen das für uns Selbstverständliche ebenso für Mitmenschen gilt, so unterschätzen wir aus unserer egozentrischen Sicht doch oft, wie anders die Anderen tatsächlich sind. Es gibt z. B. Studien zur Wahrnehmung von Wahrscheinlichkeits-/Häufigkeitsbegriffen wie ‘wahrscheinlich’, ‘vielleicht’, ‘oft’ und ‘selten’, die zeigen, dass die mit den Begriffen verbundenen Zahlen sowohl zwischen verschiedenen Menschen als auch zwischen verschiedenen Situationen massiv schwanken. “Ich komme wahrscheinlich” kann in Bezug auf ein Vorstandstreffen etwas anderes bedeuten als wenn eine Party gemeint ist und kann von Sabine anders verstanden werden als von Ahmad. Wissenschaft hat aber den Anspruch, erstens für jeden Menschen gleichermaßen wiederholbar zu sein und zweitens konkrete Ergebnisse zu liefern. Darum darf nur das objektiv Selbstverständliche auch für selbstverständlich genommen werden.

Psychologen messen so ziemlich alles. Von der Intelligenz bis zur Fluktuationsrate im Unternehmen, von der Rückfallwahrscheinlichkeit eines Straftäters bis zur Flow-Intensität beim Kochen – alles wird unter die metaphorische Lupe genommen und quantifiziert, d. h. in Zahlen verwandelt. Das Ziel dieser Psychodiagnostik ist dabei immer, zukünftiges Verhalten und Erleben vorherzusagen und Entscheidungshilfen anzubieten. Bei der Berufsberatung bspw. wird versucht, überdauernde Fähigkeiten und Neigungen zu identifizieren und diese mit dem Eigenschaftenprofil verschiedener Berufsgruppen abzugleichen. Der Unterschied zum Ratschlag eines Freundes ist der weitere Horizont der gängigen psychologischen Tests. Standardisierte Persönlichkeits-, Eignugs- und Kompetenztests wurden und werden von so vielen Menschen bearbeitet, dass die Datenbasis weit über die Meinung eines einzelnen Menschen hinausgeht. Die Tests wissen sozusagen besser, wie gut sich jemand konzentrieren kann und wie ausgeprägt die Offenheit für neue Erfahrungen im Vergleich zu Abertausenden von anderen Menschen ist. Sie ermöglichen einen unverstellten Blick auf das eigene Innenleben.

Andererseits kann keine Testbatterie die Einzigartigkeit irgendeines Lebens erfassen und punktgenaue Vorhersagen machen. Es ist ebenso unsinnig, einem einzelnen Testwert sehr viel Gewicht beizumessen wie es kurzsichtig ist, ihm jegliche Relevanz abzusprechen. Die Schwierigkeiten bei der Übersetzung von menschlichem Leben in Zahlen sind niemandem so bewusst wie Psychologen, die, unabhängig von ihrem Spezialgebiet, im Studium zu Experten in Sachen Tests und Untersuchungsdesigns ausgebildet werden. Der diagnostische Blick bleibt nicht auf den Output eines einzelnen Instrumentes beschränkt. Im Gegenteil ist Psychologen daran gelegen, ein möglichst umfassendes Bild von einem Menschen zu bekommen, so dass z. B. Selbstauskünfte (“Ich bin schlau”) sowohl mit Testergebnissen (IQ-Test) als auch mit Verhaltensbeobachtungen (Schachspielen, Sprachgebrauch, …) abgeglichen werden.

Zwei Screeningfragebögen

Die bunten Fragen konstituieren zwei Screeningfragebögen, von denen einer international bewährt und der andere frei erfunden ist. Augenscheinlich sind sie sich ziemlich ähnlich. Wodurch wird eine Reihe von Fragen zu einem nützlichen psychologischen Instrument? Was unterscheidet psychologische von Dr. Sommer-Diagnostik?

Objektivität

Ein psychologisches Testergebnis sollte so unabhängig von den Umständen der Testung sein wie möglich. Darum entwerfen Psychologen strikte Richtlinien zu Durchführung, Auswertung und Interpretation. Die Reihenfolge der Aufgaben oder Fragen wird festgelegt, die Darbietungsform ist immer die gleiche und sogar die exakten Worte, die der Versuchsleiter bei jedem Schritt sagt, sind im Testmanual nachzulesen. Ebenso werden die Rechenschritte vom ‘Item’ (Fachbegriff für die kleinste Testeinheit, meistens eine Frage im Fragebogen oder eine Aufgabe im Test) bis zum Gesamtergebnis beschrieben. Und zu guter letzt werden auch die konkreten Begriffe vorgeschrieben, mit denen das Ergebnis beschrieben werden soll. Ein IQ von 104 Punkten bspw. wird ’durchschnittlich’, ein IQ von 116 Punkten wird ‘überdurchschnittlich’ genannt. Diese rigorose Standardisierungsunternehmung schafft zwar ein eher kühles und gekünsteltes Ambiente und findet ihre Erfüllung in der Übergabe der Versuchsleitung an einen Computer, doch liegt gerade darin auch die Stärke der Psychodiagnostik: Durch die Entkoppelung des Testergebnisses von zwischenmenschlichen Faktoren lassen sich Entscheidungen fernab von Sympathie und Vetternwirtschaft treffen. Auch wenn Frau Dr. Psycho mich nicht mag, mir etwas Böses will oder mich für extrem dumm hält, kann ich sicher sein, dass sich dies nicht in meinem Testergebnis niederschlagen wird.

Reliabilität

Ein Testergebnis sollte so genau und verlässlich sein wie möglich. Wenn mein IQ gestern 93 war und heute bei 121 liegt, ohne dass ich gestern völlig neben mir stand oder heute geschummelt habe, ist der Test unbrauchbar. Meistens versuchen Psychologen, die Ausprägung relativ stabiler Charakterzüge in Erfahrung zu bringen. Wenn ein Test nun von einem Tag auf den anderen stark schwankt, ist er auf jeden Fall nicht geeignet, etwas Stabiles zu erfassen, sondern misst irgendwelche mysteriösen Zufallsfaktoren, deren Einfluss auf das Testergebnis Psychologen unter dem Begriff ‘Messfehler’ zusammenfassen. Reliabilität ist Unabhängigkeit vom Messfehler und kommt außer in der gerade angesprochenen heute-morgen-Reliabilität (fachsprachlich Retest-Reliabilität) noch in einigen anderen Gewändern daher. Unter anderem umfasst Reliabilität auch das Ausmaß, in dem verschiedene Items dieselbe Eigenschaft messen. Z. B. könnten die Fragen “Mögen Sie Äpfel?”, “Mögen Sie Bananen?” und “Mögen Sie Birnen?” alle die Eigenschaft der Fruchtliebhaberei messen. Aber ob die Fragen “Mögen Sie gebackene Bananen?” und “Mögen Sie Bratäpfel?” denselben Geschmacksvorliebenbereich abdecken, ist fraglich.

Validität

Das Ziel, das psychologische Instrumentenbauer verfolgen, ist letztlich ein einfaches: Sie wollen, dass das Instrument genau das misst, was es messen soll. Wenn ein Test oder Fragebogen dies leistet, nennt man ihn valide und freut sich. Auf dem Weg zur Validität muss man jedoch zunächst die Hürden der Objektivität und der Reliabilität nehmen. Ein Test, der nach Annas Auswertung ein anderes Ergebnis hervorbringt als nach Julians Auswertung, kann nicht zuverlässig und genau sein. Und wenn ein Test nicht zuverlässig und genau ist, wenn er also stark messfehlerbehaftet ist, kann er nicht gut das messen, was er messen soll. Objektivität ist eine Voraussetzung für Reliabilität ist eine Voraussetzung für Validität.

Die Frage, was psychologische Instrumente messen, ist ganz und gar nicht trivial. Führen wir uns noch einmal vor Augen, wie viele gedankliche Schritte zwischen einem praktischen Anliegen wie der Entscheidung, ob ich Selin oder Klaus die attraktive und gut bezahlte Führungsposition anbiete, und einer Aufgabe wie der hier abgebildeten liegen. Einer dieser Schritte ist der zu dem Konstrukt, das wir ‘Intelligenz’ nenneraven matrixn und dem wir als Persönlichkeitseigenschaft eine gewisse, meist nicht allzu geringe Bedeutung beimessen. Aber was ist Intelligenz denn nun eigentlich? Als Laie meine ich, dass Intelligenz etwas mit schnellem Denken zu tun hat und mit dem Erkennen von Mustern und Zusammenhängen – allgemeine geistige Fähigkeiten. Und wenn ich mehr erfahren möchte, komme ich nicht umhin, mir einen Intelligenztest anzusehen. Messinstrumente sind die konkreten Ausformungen eines abstrakten Konstruktes und definieren dieses rückwirkend mit.

Das grundlegende Problem ist, dass es keine absolute Autorität gibt, die ein für alle Mal die Bedeutung von Begriffen festlegt. Die Entscheidung, ob ein Instrument Intelligenz misst oder Kreativität oder Purzelbaumaffinität, treffen Experten auf dem jeweiligen Fachgebiet mit keinem anderen Kriterium als ihrem gesunden Menschenverstand und ihrer einschlägigen Erfahrung. Wer sagt, dass die Experten tatsächlich Experten sind? Der Rest der Gesellschaft, wir alle gestehen ihnen diesen Status und damit auch die Autorität zu, solche Entscheidungen zu treffen. Die menschlichen Eigenschaften, mit denen forschende Psychologen sich beschäftigen, sind durch und durch sozial konstruiert und stehen für Kritik und Revision weit offen. Wenn wir uns heute alle gemeinsam dazu durchringen würden, einen anderen Haufen Leute als Experten zu betrachten als bisher, würde das den gängigen psychologischen Fragebögen und Tests ihrer Basis berauben. Der Wert jedes psychodiagnostischen Instrumentes ist es, Expertenwissen breitflächig verfügbar zu machen.

Fazit

Psychologen sind Messer. Sie quantifizieren stabile Persönlichkeitseigenschaften mit dem Ziel, Entscheidungshilfen vor einem gesamtgesellschaftlichen Horizont anzubieten. Ihre Messinstrumente sollten so objektiv und genau wie möglich messen und dienen dazu, Expertenwissen breitflächig nutzbar zu machen.

Verwendete Bilder:
NICO looks at himself by Georgia Pinaud, PD, http://en.wikipedia.org/wiki/File:NICO_looks_at_himself.jpg
Empty Wine bottle by Patrick Heusser, CC-BY-SA Unported 3.0, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Empty_Wine_bottle.jpg
Raven-Matrices a11 by Widescreen, PD, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Raven-Matrices_a11.jpg

Quelle: http://psych.hypotheses.org/107

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