Wann hat mein Baby seine endgültige Augenfarbe?
Viele Babys, die uns besuchen, haben blaue Augen. So kamen wir irgendwann mit einer Familie ins Gespräch und folgende Frage stand im Raum: Es werden doch alle Babys mit blauen Augen geboren, oder? Wann bekommt mein Baby denn seine endgültige … Weiterlesen →
Als Historiker/in im Verlag – Eindrücke vom Historikertag 2014
Die Verwobenheit von Geschichtswissenschaft und Verlagsbranche tritt vielleicht nirgendwo so augenfällig zutage wie auf dem Historikertag. Auf der Fach- und Verlagsausstellung präsentierten in Göttingen laut Programmheft über 120 Aussteller ihre Arbeit, darunter schwerpunktmäßig deutsche Fachverlage zur Geschichtswissenschaft. Die Stände gaben Aufschluss über Trends und Neuerscheinungen der Geschichtswissenschaft, während Lektoren und Historiker – vielleicht der wichtigere Aspekt – Kontakte knüpften und pflegten oder neue Projekte besprachen. Das gedruckte Buch als Produkt ist dabei trotz aller Diskussionen um digitales Publizieren und Open Access noch längst nicht am Ende.1
Eigentlich eine gute Gelegenheit, um nachzufragen, wie die Arbeit einer Lektorin oder eines Lektors heute aussieht und welche Möglichkeiten es für den Berufseinstieg für Absolventinnen und Absolventen der Geschichtswissenschaft gibt. Michael Volkmer, Lektor und stellvertretender Programmleiter beim Bielefelder transcript Verlag, ist zwar kein Historiker sondern Soziologe und Philosoph, findet aber: „Historiker sind für Verlagsberufe grundsätzlich gut geeignet“, denn mit ihrem Studium gehe oft eine Affinität zum geschriebenen Wort einher. Da er die Herausforderungen für das Verlagswesen der Zukunft im Bereich der Digitalisierung sieht, sei es für am Verlagswesen interessierte Historikerinnen und Historiker vorteilhaft, über Informatikkenntnisse und eine gewisse Medienkompetenz zu verfügen. Insgesamt sei ein konstruktiver Umgang mit der Digitalisierung gefragt – der natürlich je nach Verlag unterschiedlich ausfallen könne.
Und wie kommt man an einen Job im Verlag? Darauf fällt die Antwort recht eindeutig aus: zunächst empfehlen sich studienbegleitende Praktika, nach dem Studienabschluss (meistens auf Masterniveau) folgt dann ein Verlagsvolontariat. Ein solches absolviert der promovierte Wirtschaftshistoriker Albrecht Franz gerade beim Franz Steiner Verlag in Stuttgart. „Bunt gemischt“ seien die Aufgaben während des zweijährigen Volontariats; Ziel sei es, alle Bereiche des Verlags – Programmplanung, Marketing, Vertrieb – kennenzulernen. Das Highlight kann dabei ein erstes eigenes Buchprojekt sein, welches von den ersten Gesprächen über das Manuskript bis zum Vertrieb umgesetzt werden muss. Allgemein gibt es für Volontariate im Verlagswesen keine Standards zu Ausbildungsinhalten und Gehalt, und auch die Dauer kann von sechs Monaten bis zu zwei Jahren betragen. Interessierte sollten ein Angebot also genau abwägen und vergleichen.2
Seine persönliche Motivation sieht Albrecht Franz in „der persönlichen Neigung zum Buch, zur Sprache, zum Text“. Besonders das Erlebnis des gedruckten Buches sei faszinierend und mache die Arbeit im Verlag durchaus zu einem Traumjob. Ähnlich sieht es auch Rabea Rittgerodt, Project Editor History bei De Gruyter Oldenbourg: „Thematisch kommt man nicht näher an das heran, was man studiert hat.“ Insofern sei die Tätigkeit für sie ein wirklicher „Glücksfall“. Rabea Rittgerodt betreut den Bereich Internationale Geschichte. Als wichtigste Fähigkeiten für angehende Lektorinnen und Lektoren sieht sie Sprachkompetenzen an; zunächst in der deutschen Sprache (inklusive Rechtschreibung und Grammatik), aber auch Fremdsprachenkenntnisse. Wichtig sei aber auch, sich im eigenen Fach gut auskennen, um auf Augenhöhe mit den Autoren kommunizieren zu können. Eine gute Arbeitsorganisation sei ebenfalls zentral, weil man durchaus 20 bis 30 Projekte gleichzeitig koordinieren müsse. Und die Berufschancen? Albrecht Franz sieht es so: „Ein Praktikum zu bekommen ist kein Problem, beim Volontariat geht es auch noch, aber dann wird die Luft dünner.“
Weitere Hinweise:
- Ich mach was mit Büchern (Initiative für eine stärkere Vernetzung der Buchbranche, u.a. Jobinterviews und Stellenangebote)
- Mareike Menne, Berufe für Historiker, Stuttgart 2010, S. 70-78 sowie Link- und Literaturhinweise im Begleit-PDF (Stand: Februar 2014)
- Interessant in diesem Zusammenhang war die Sektion „Digitalisierung der Geschichtswissenschaften: Gewinner und Verlierer?“, die als Livestream abrufbar ist.
- Negativbeispiel aus dem Literaturbereich: sechs Monate Volontariat bei 500 Euro Bruttolohn.
Quelle: http://beruf.hypotheses.org/37
Fundstücke
- Wie Werbeleute im Ersten Weltkrieg Dinge verkauften (Englisch). Auch im Krieg wurde Werbung gemacht, gerade mit dem Krieg.
- Erster-Weltkriegs-Diskussion mit Gauck.
- Die Schuld am Ersten Weltkrieg in der FAZ.
- Schöner Artikel mit Bildern über die Taktik des Grabenkrieg (Englisch).
Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/09/fundstucke_29.html
Recherchen zu ungarischen Fragämtern 2
Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1011169403/
Berlin III
Berlin III
Historische Blicke auf die Nachkriegszeit
Der historische Blickwinkel ist bei der Untersuchung der Deutschen Nachkriegskinder von großer Bedeutung. Psychologische Diagnosen, Methoden und Begrifflichkeiten haben ihrerseits eine Geschichte, die sich im Laufe der Zeit verändert. Der Annales-Historiker Ariès, der eine Geschichte der Kindheit verfasst hat, zeigte beispielsweise auf, wie sich das Rollenverständnis von Kindheit über die Jahrhunderte verändert hat, vom „kleinen Erwachsenen“ zur eigenen Lebensphase.1 Eine Untersuchung über das Kindheitsbild der Nachkriegszeit ist nicht bekannt. Thematisch sehr passend ist das Buch von Svenja Gottesmann,2 die das Trauma-Konzept in der Psychiatrie der Nachkriegszeit am Beispiel der rückkehrenden Flüchtlinge und deren Krankenakten historisch untersucht. Menschen galten zu dieser Zeit prinzipiell als unbegrenzt belastbar. Sie zeigt auf, wie sich dieses Konzept des Nichtvorhandenseins von Traumata auf die Zuschreibung des Opferstatus und die damit verbundene fehlende Entschädigungen auswirkt. Auch die historische Rückübertragung des Begriffs Verdrängung kritisiert sie, da „Schweigen auch in hohem Maße eine Reaktion auf die ‚Marktbedingungen’ gewesen sei (es war kaum jemand interessiert), wie auch eine Folge auf die vielfach proklamierten Aufforderungen, zu vergessen“,3 (Goltermann zitiert ihrerseits Peter Novick). Bei der Lektüre der Krankenakten sollte man also Zuschreibungen von Diagnosen
oder auch Emotionen4 aus historischer Perspektive hinterfragen,5 weswegen eine historische Bearbeitung der Nachkriegskinder-Studie aus dieser Perspektive von hoher Bedeutung ist.
Der Geschichte der Nachkriegs- und Kriegskinder wird seit einigen Jahren von Seiten der Historiker mehr Aufmerksamkeit zuteil, sowohl im nationalen Rahmen,6 wie im internationalen.7 Zur Nachkriegszeit gibt es mehrere historische Einführungen.8
Quelle: Foerster, S. (2013). Von den „Deutschen Nachkriegskindern“ zu einer Längsschnittstudie der Entwicklung über die Lebensspanne. Evaluation der Methodologie einer Stichprobenreaktivierung (Diplomarbeit). Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn, S. 12-13.
- Ariès, P. (2007). Geschichte der Kindheit. München: dtv.
Erikson, E. H. (1999). Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta. - Goltermann, S. (2009). Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München: DVA.
- Goltermann, S. (2009). Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München: DVA. S.
423 - Assmann, A., & Frevert, U. (1999). Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. München: DVA.
Biess, F., & Moeller, R. G. (Hrsg.). (2010). Histories of the Aftermath. The Legacies of the Second World War in Europe. Oxford (UK): Berghahn Books. - Seidler, G., & Eckart, W. (Hrsg.). (2005). Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Gießen: Psychosozial.
- Ackermann, V. (2004). Das Schweigen der Flüchtlingskinder: Psychische Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung bei den Deutschen nach 1945. Geschichte und Gesellschaft, 3(30), 434–464.
Seegers, L., & Reulecke, J. (2009). Die „Generation der Kriegskinder“. Historische Hintergründe und Deutungen. Giessen: Psychosozial.
Seegers, L. (2009). Die „Generation der Kriegskinder“ als Erinnerungsphänomen in Deutschland. In Kinder des Krieges. Materialien zum Workshop in Voronež. 11.-13. März 2008. Moskau 2009 (Bd. 3, S. 14–25). Moskau: Deutsches Historisches Institut. Abgerufen von http://www.perspectivia.net/content/publikationen/dhi-moskau-bulletin/2009-3/0014-0025 - Maubach, F. (2009). Der Krieg im Spiel – Kindliche Aneignungen kriegerischer Gewalt 1939-1945. In Kinder des Krieges. Materialien zum Workshop in Voronež. 11.-13. März 2008. Moskau 2009 (Bd. 3, S. 26–36). Moskau: Deutsches Historisches Institut.
Satjukow, S. (2009). ,,Bankerte!” Verschwiegene Kinder des Krieges. In Kinder des Krieges. Materialien zum Workshop in Voronež. 11.-13. März 2008. Moskau 2009 (Bd. 3, S. 57–69). Moskau: Deutsches Historisches Institut. Abgerufen von www.perspectivia.net/content/publikationen/dhi-moskau-bulletin/2009-3/0057-0069 - Faulstich, W. (2002). Die Kultur der fünfziger Jahre. München: Fink.
Faulstich, W. (2003). Die Kultur der sechziger Jahre. München: Fink.
Naumann, K. (Hrsg.). (2001). Nachkrieg in Deutschland. Hamburger Edition.
26. Todesanzeigen oder Zeit, zu gehen
10.000 Jahre im Dunkel
Der Tod, ja sicherlich. Über so etwas kann man eigentlich nur Plattheiten von sich geben. Es sei denn, man macht es wie Elias Canetti [1] und gräbt sich hinein in dieses Thema, widmet sein ganzes Leben diesem Tod, in der beständigen Weigerung, ihn als das zu akzeptieren, was er ist: nicht einfach nur das Ende des Lebens, sondern die einzige, die wirklich einzige Gewissheit, die wir über unsere Zukunft besitzen. Eigentlich wäre eine solche Sicherheit schon ganze Menge, wenn da nicht an die Stelle der Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen, die wir immer schnell zu beklagen bereit sind, eine Gewissheit treten würde, die ihr tödliches Finale kaum zu verbergen vermag. Es sei denn, man nimmt Zuflucht zu einem Gedicht von Jorge Luis Borges mit dem Titel „Jemand“ („Alguien“), in dem folgende eingeklammerte Erkenntnis zu lesen ist:
„(die Beweise für den Tod sind nur statistisch,
und jeder läuft Gefahr,
der erste Unsterbliche zu sein)“ [2]
Im Gegensatz zu den vielen Unsterblichkeitsphantasien, die durch sämtliche fiktionale Genres geistern, hat diese Überlegung den Charme der Statistik auf ihrer Seite. Anstatt sich auf Jungbrunnen, genetische Mutationen oder Auserwähltheitsfantasien zu verlassen, bezieht sich Borges auf die Gewissheit der großen Zahl: Irgendwann kann es passieren… Aber er spricht zurecht auch von der Gefahr der Unsterblichkeit. Wollte man das wirklich anstreben? Ich habe neulich von dem vermutlich ältesten Lebewesen der Welt erfahren: einem Riesenschwamm, der in den Gewässern der Antarktis beheimatet ist und mutmaßlich bis zu 10.000 Jahre alt wird. Das Geheimnis seines langen Lebens? Bewegungslos in durchschnittlich zwei Grad kaltem Wasser in ewiger Dunkelheit existieren und dabei die überlebenswichtigen Funktionen auf ein absolutes Minimum reduzieren. Wem’s gefällt …
Mein bester Freund ist Tod
Aber auch wenn wir wissen, dass der statistische Ausnahmefall der Unsterblichkeit uns nicht treffen wird, und auch wenn wir es nicht wirklich erstrebenswert finden, mehrere tausend Jahre alt zu werden: Dem Tod möchte man am liebsten doch aus dem Weg gehen. Und in eben dieser lebensgeschichtlichen Zwickmühle, eingezwängt zwischen der Gewissheit und ihrer Verweigerung, versagen nicht selten die Worte, die eigenen wie die fremden, und nehmen Zuflucht zu Floskeln, die man allerorten schon einmal vernommen hat. Finden Sie mal die passende Formulierung für eine angemessene Beileidsbekundung, die nicht mit den üblichen gestanzten Schablonen daherkommt! Da wird der Tod dann unausweichlich, aber zugleich unerwartet, da findet das lange Leben ein plötzliches Ende, da wird man vom Herrn gerufen oder auch heimgeholt, und da wird dann Abschied genommen in tiefer Trauer und großer Bestürzung.
Über die sprachliche Unbeholfenheit von Todesanzeigen wurden schon diverse Bücher veröffentlicht, Zeitungsartikel geschrieben und Internetseiten eingerichtet. Sie alle zeugen von der sprachlichen Hilflosigkeit angesichts des Existentiellen. Wenn man sich ein wenig mit den stilistischen Ausrutschern beschäftigt, die in diesen Ablebensbenachrichtigungen versammelt sind, dann kann man eigentlich nur hoffen, niemals in die Situation zu kommen, eine eben solche verfassen zu müssen. Schließlich handelt es sich um einen außergewöhnlichen und einmaligen Anlass, eine gravitätisch aufgeladene Situation, die durch einen besonderen Text gewürdigt werden soll – der dann aber auch schon einmal besonders daneben gehen kann. Manch mortale Stilblüte könnte es auch in den allgemeinen Sprachschatz schaffen. So wenn beispielsweise der Verstorbene „überraschend sanft entschlafen“ ist oder die sprachliche Bestürzung sich in dem Ausruf Bahn bricht: „Mein bester Freund ist Tod.“ Aber spätestens wenn eine „Persönlichkeit von ungeschmälerter Gültigkeit“ betrauert oder der Tod mit einem „Meteoriteneinschlag“ verglichen wird, dessen „Krater nie zu schließen“ ist, sollte man die Reisepässe bereithalten, weil die Grenze zur Peinlichkeit näher rückt.
Bei der Frage, wie man den Tod eines Menschen in angemessene Worte fassen soll, um dem gewesenen Leben halbwegs gerecht zu werden, ist die Option nicht ganz aus dem Auge verlieren, es vielleicht einfach zu lassen. Wenn die Worte versagen, kann man diesem Unvermögen auch ruhig einmal nachgeben.
Grenzbeschreitungen
Eine wichtige Funktion von Todesanzeigen lässt sich an einer anderen standardmäßigen Formulierung ablesen. Es geht um die paradoxe Angelegenheit, dass die Trauerfeier im „engsten Familienkreis“ stattfinden werde (also wurde selbst der enge Familienkreis noch einmal ausgedünnt, wohl um missliebige Verwandte erst gar nicht zu dieser Veranstaltung zuzulassen), diese angeblich sehr private Angelegenheit dann aber gleichzeitig möglichst öffentlichkeitswirksam verkündet wird. Am besten ist das natürlich bei halbwegs prominenten Menschen: Anzeige in die Süddeutsche und die FAZ und noch in ein paar andere Zeitungen, so dass es einige hunderttausend Menschen lesen können, aber zum Leichenschmaus wird dann nur eine Handvoll eingeladen. Guten Appetit.
Abgesehen von der befremdlichen Verwendung des Superlativs wäre damit eine zentrale Funktion dieser eigentlich doch seltsamen Textgattung auf den viel beschworenen Punkt gebracht: Todesanzeigen sollen ganz offensichtlich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vermitteln, wie sich bei einem Blick in deren Geschichte erweist. In dem Maße, in dem Sterben und Tod nicht mehr als weitgehend öffentliche Angelegenheiten zumindest in einem lokalen Kontext zelebriert werden konnten, in dem Maße also, in dem der Tod zu einer privaten und eigentlich sogar verschämten Angelegenheit wurde, mussten Todesanzeigen die Stelle der dahingeschiedenen Öffentlichkeit beim einst öffentlichen Dahinscheiden übernehmen.
Die Todesanzeige gibt den Noch-nicht-Toten, vulgo: Hinterbliebenen, die Möglichkeit, den Lesern das Lebensende als letztlich recht einschneidendes Ereignis mit unbestreitbar liminalem Charakter in seiner ganzen Grenzen aufzeigenden Existentialität vor Augen zu führen: Nicht nur die Sagbarkeits- und Peinlichkeitsgrenzen der Sprache spielen hier eine Rolle, auch nicht nur die allzu offensichtliche Begrenzung des Lebens oder die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem werden in Todesanzeigen be- und verhandelt – es ist auch die Grenze zwischen den Zeiten, die hier immer wieder sichtbar wird.
Wir haben es mit einem aussagekräftigen Medium zu tun, in dem Kulturen die Zeit und die Zeiten behandeln, in dem Lebenszeit, Dauer, Schnelligkeit oder Ewigkeit (die ja bekanntlich recht lange dauert) thematisiert werden. Da sterben dann über 90-Jährige nicht nur plötzlich und unerwartet, sondern auch noch viel zu früh, gehen aber gleichzeitig in die Ewigkeit ein (zuweilen begleitet von dem Wunsch, den bereits Verstorbenen im Jenseits einen Gruß auszurichten). Da wird unmittelbare Gegenwärtigkeit evoziert, wenn Anzeigen mit dem Satz beginnen: „Ich bin gestorben“ oder „Mein Leben ist zu Ende und ich bedanke mich bei allen.“ Da wird (Individual-)Historisches kenntlich, wenn die Verwandten eines Verstorbenen dem „Rauchclub Germania“ für die Anteilnahme danken und man Mutmaßungen über die Todesursache anzustellen beginnt. Und da zeigt sich ganz fatal die Überschneidung der Zeiten, wenn ein noch Lebender kübelweise Beileidsbekundungen erhält, weil im selben Ort ein Namensidentischer das Zeitliche gesegnet hat. Diesseits und Jenseits. Jetzt und Einst, Immer-Noch und Nicht-Mehr liefern sich hier ein lustiges Stelldichein.
Wir haben es hier also mit einer bemerkenswerten Überkreuzung der Zeiten zu tun. Weit davon entfernt, nur das Ende eines individuellen Lebens und damit einer individuellen Zeit zu markieren, kann man Todesanzeigen gerade auch dahingehend bestimmen, dieses Ende der Zeit aufzuheben. Todesanzeigen fungieren als eine Art temporaler Propeller, der sich um die Gegenwart des Todes eines Menschen dreht und die Vergangenheit eines Lebens mit der Zukunft einer Erinnerung zu verbinden sucht. Und gerade weil es so schwierig ist, über den Tod zu reden oder gar zu schreiben, verraten diese Anzeigen viel über ihre Zeit und deren Verzeitungen.
[1] Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München 2014.
[2] Jorge Luis Borges, Die zyklische Nacht. Gedichte 1934-1965, Frankfurt a.M. 1993, 151
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Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2014/09/28/26-todesanzeigen-oder-zeit-zu-gehen/
26. Todesanzeigen oder Zeit, zu gehen
10.000 Jahre im Dunkel
Der Tod, ja sicherlich. Über so etwas kann man eigentlich nur Plattheiten von sich geben. Es sei denn, man macht es wie Elias Canetti [1] und gräbt sich hinein in dieses Thema, widmet sein ganzes Leben diesem Tod, in der beständigen Weigerung, ihn als das zu akzeptieren, was er ist: nicht einfach nur das Ende des Lebens, sondern die einzige, die wirklich einzige Gewissheit, die wir über unsere Zukunft besitzen. Eigentlich wäre eine solche Sicherheit schon ganze Menge, wenn da nicht an die Stelle der Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen, die wir immer schnell zu beklagen bereit sind, eine Gewissheit treten würde, die ihr tödliches Finale kaum zu verbergen vermag. Es sei denn, man nimmt Zuflucht zu einem Gedicht von Jorge Luis Borges mit dem Titel „Jemand“ („Alguien“), in dem folgende eingeklammerte Erkenntnis zu lesen ist:
„(die Beweise für den Tod sind nur statistisch,
und jeder läuft Gefahr,
der erste Unsterbliche zu sein)“ [2]
Im Gegensatz zu den vielen Unsterblichkeitsphantasien, die durch sämtliche fiktionale Genres geistern, hat diese Überlegung den Charme der Statistik auf ihrer Seite. Anstatt sich auf Jungbrunnen, genetische Mutationen oder Auserwähltheitsfantasien zu verlassen, bezieht sich Borges auf die Gewissheit der großen Zahl: Irgendwann kann es passieren… Aber er spricht zurecht auch von der Gefahr der Unsterblichkeit. Wollte man das wirklich anstreben? Ich habe neulich von dem vermutlich ältesten Lebewesen der Welt erfahren: einem Riesenschwamm, der in den Gewässern der Antarktis beheimatet ist und mutmaßlich bis zu 10.000 Jahre alt wird. Das Geheimnis seines langen Lebens? Bewegungslos in durchschnittlich zwei Grad kaltem Wasser in ewiger Dunkelheit existieren und dabei die überlebenswichtigen Funktionen auf ein absolutes Minimum reduzieren. Wem’s gefällt …
Mein bester Freund ist Tod
Aber auch wenn wir wissen, dass der statistische Ausnahmefall der Unsterblichkeit uns nicht treffen wird, und auch wenn wir es nicht wirklich erstrebenswert finden, mehrere tausend Jahre alt zu werden: Dem Tod möchte man am liebsten doch aus dem Weg gehen. Und in eben dieser lebensgeschichtlichen Zwickmühle, eingezwängt zwischen der Gewissheit und ihrer Verweigerung, versagen nicht selten die Worte, die eigenen wie die fremden, und nehmen Zuflucht zu Floskeln, die man allerorten schon einmal vernommen hat. Finden Sie mal die passende Formulierung für eine angemessene Beileidsbekundung, die nicht mit den üblichen gestanzten Schablonen daherkommt! Da wird der Tod dann unausweichlich, aber zugleich unerwartet, da findet das lange Leben ein plötzliches Ende, da wird man vom Herrn gerufen oder auch heimgeholt, und da wird dann Abschied genommen in tiefer Trauer und großer Bestürzung.
Über die sprachliche Unbeholfenheit von Todesanzeigen wurden schon diverse Bücher veröffentlicht, Zeitungsartikel geschrieben und Internetseiten eingerichtet. Sie alle zeugen von der sprachlichen Hilflosigkeit angesichts des Existentiellen. Wenn man sich ein wenig mit den stilistischen Ausrutschern beschäftigt, die in diesen Ablebensbenachrichtigungen versammelt sind, dann kann man eigentlich nur hoffen, niemals in die Situation zu kommen, eine eben solche verfassen zu müssen. Schließlich handelt es sich um einen außergewöhnlichen und einmaligen Anlass, eine gravitätisch aufgeladene Situation, die durch einen besonderen Text gewürdigt werden soll – der dann aber auch schon einmal besonders daneben gehen kann. Manch mortale Stilblüte könnte es auch in den allgemeinen Sprachschatz schaffen. So wenn beispielsweise der Verstorbene „überraschend sanft entschlafen“ ist oder die sprachliche Bestürzung sich in dem Ausruf Bahn bricht: „Mein bester Freund ist Tod.“ Aber spätestens wenn eine „Persönlichkeit von ungeschmälerter Gültigkeit“ betrauert oder der Tod mit einem „Meteoriteneinschlag“ verglichen wird, dessen „Krater nie zu schließen“ ist, sollte man die Reisepässe bereithalten, weil die Grenze zur Peinlichkeit näher rückt.
Bei der Frage, wie man den Tod eines Menschen in angemessene Worte fassen soll, um dem gewesenen Leben halbwegs gerecht zu werden, ist die Option nicht ganz aus dem Auge verlieren, es vielleicht einfach zu lassen. Wenn die Worte versagen, kann man diesem Unvermögen auch ruhig einmal nachgeben.
Grenzbeschreitungen
Eine wichtige Funktion von Todesanzeigen lässt sich an einer anderen standardmäßigen Formulierung ablesen. Es geht um die paradoxe Angelegenheit, dass die Trauerfeier im „engsten Familienkreis“ stattfinden werde (also wurde selbst der enge Familienkreis noch einmal ausgedünnt, wohl um missliebige Verwandte erst gar nicht zu dieser Veranstaltung zuzulassen), diese angeblich sehr private Angelegenheit dann aber gleichzeitig möglichst öffentlichkeitswirksam verkündet wird. Am besten ist das natürlich bei halbwegs prominenten Menschen: Anzeige in die Süddeutsche und die FAZ und noch in ein paar andere Zeitungen, so dass es einige hunderttausend Menschen lesen können, aber zum Leichenschmaus wird dann nur eine Handvoll eingeladen. Guten Appetit.
Abgesehen von der befremdlichen Verwendung des Superlativs wäre damit eine zentrale Funktion dieser eigentlich doch seltsamen Textgattung auf den viel beschworenen Punkt gebracht: Todesanzeigen sollen ganz offensichtlich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vermitteln, wie sich bei einem Blick in deren Geschichte erweist. In dem Maße, in dem Sterben und Tod nicht mehr als weitgehend öffentliche Angelegenheiten zumindest in einem lokalen Kontext zelebriert werden konnten, in dem Maße also, in dem der Tod zu einer privaten und eigentlich sogar verschämten Angelegenheit wurde, mussten Todesanzeigen die Stelle der dahingeschiedenen Öffentlichkeit beim einst öffentlichen Dahinscheiden übernehmen.
Die Todesanzeige gibt den Noch-nicht-Toten, vulgo: Hinterbliebenen, die Möglichkeit, den Lesern das Lebensende als letztlich recht einschneidendes Ereignis mit unbestreitbar liminalem Charakter in seiner ganzen Grenzen aufzeigenden Existentialität vor Augen zu führen: Nicht nur die Sagbarkeits- und Peinlichkeitsgrenzen der Sprache spielen hier eine Rolle, auch nicht nur die allzu offensichtliche Begrenzung des Lebens oder die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem werden in Todesanzeigen be- und verhandelt – es ist auch die Grenze zwischen den Zeiten, die hier immer wieder sichtbar wird.
Wir haben es mit einem aussagekräftigen Medium zu tun, in dem Kulturen die Zeit und die Zeiten behandeln, in dem Lebenszeit, Dauer, Schnelligkeit oder Ewigkeit (die ja bekanntlich recht lange dauert) thematisiert werden. Da sterben dann über 90-Jährige nicht nur plötzlich und unerwartet, sondern auch noch viel zu früh, gehen aber gleichzeitig in die Ewigkeit ein (zuweilen begleitet von dem Wunsch, den bereits Verstorbenen im Jenseits einen Gruß auszurichten). Da wird unmittelbare Gegenwärtigkeit evoziert, wenn Anzeigen mit dem Satz beginnen: „Ich bin gestorben“ oder „Mein Leben ist zu Ende und ich bedanke mich bei allen.“ Da wird (Individual-)Historisches kenntlich, wenn die Verwandten eines Verstorbenen dem „Rauchclub Germania“ für die Anteilnahme danken und man Mutmaßungen über die Todesursache anzustellen beginnt. Und da zeigt sich ganz fatal die Überschneidung der Zeiten, wenn ein noch Lebender kübelweise Beileidsbekundungen erhält, weil im selben Ort ein Namensidentischer das Zeitliche gesegnet hat. Diesseits und Jenseits. Jetzt und Einst, Immer-Noch und Nicht-Mehr liefern sich hier ein lustiges Stelldichein.
Wir haben es hier also mit einer bemerkenswerten Überkreuzung der Zeiten zu tun. Weit davon entfernt, nur das Ende eines individuellen Lebens und damit einer individuellen Zeit zu markieren, kann man Todesanzeigen gerade auch dahingehend bestimmen, dieses Ende der Zeit aufzuheben. Todesanzeigen fungieren als eine Art temporaler Propeller, der sich um die Gegenwart des Todes eines Menschen dreht und die Vergangenheit eines Lebens mit der Zukunft einer Erinnerung zu verbinden sucht. Und gerade weil es so schwierig ist, über den Tod zu reden oder gar zu schreiben, verraten diese Anzeigen viel über ihre Zeit und deren Verzeitungen.
[1] Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München 2014.
[2] Jorge Luis Borges, Die zyklische Nacht. Gedichte 1934-1965, Frankfurt a.M. 1993, 151
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Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2014/09/28/26-todesanzeigen-oder-zeit-zu-gehen/