Einer von 37.000 ist einer von 24 Millionen!

Damit hatte kaum jemand gerechnet, zumindest nicht vor dem ersten Wahlgang vom 2. November 2014: Klaus Johannis wird der neue Präsident von Rumänien. Der Bürgermeister von Hermannstadt und Vorsitzende der Christlich-Liberalen Allianz fuhr bei einer Rekordwahlbeteiligung von 64,1 Prozent mit 54,5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen1 einen überragenden Sieg im zweiten Wahlgang der rumänischen Präsidentschaftswahlen 2014 ein. Über die Gründe, wie er binnen zweier Wochen einen Rückstand von 10 Prozentpunkten auf den Erstplazierten Victor Ponta nicht nur aufholen,2 sondern seinerseits in einen 10 Prozentpunktevorsprung umwandeln konnte, ist in den letzten Tagen schon viel gemutmaßt worden. Mit Sicherheit hat die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung damit zu tun – junge Menschen und ältere Leute vor allem, die im ersten Wahlgang noch zu Hause geblieben waren, machten sich nun auf und gingen in die Wahllokale, um dort ihre Stimme abzugeben. Und diese zusätzlichen Stimmen kamen in erster Linie Klaus Johannis zugute. Was aber führte zu diesem Anschwellen der Wählerströme?

Zum einen war es die furchtbar desaströs verlaufene Abstimmung im Ausland, die viele Rumänen im Lande selber dazu brachte, nun ihre Stimme in die Waagschale zu werfen. Dreieinhalb Millionen Rumänen leben im Ausland, und viele von ihnen wollten am 2. November in den eigens eingerichteten Wahllokalen wählen gehen. Durch eine schlampige Organisation und überforderte Mitarbeiter wurden sie aber vielfach daran gehindert. Zwar waren in 95 Staaten insgesamt 294 Wahllokale eingerichtet worden, zumeist in den Botschaften und Konsulaten,3 doch waren diese zumeist sehr dürftig ausgestattet. So standen im Generalkonsulat in München nur fünf Wahlkabinen zur Verfügung,4 während andernorts Stempel fehlten oder die Stimmzettel ausgingen. In London waren die Einlaßkontrollen der Botschaft so strikt, daß über 1000 Wahlberechtigte innerhalb der Öffnungszeiten einfach nicht mehr in das Gebäude kamen.5 Protestierende Rumänen wurden in Paris, London, Wien und Turin von der Polizei vertrieben. Rasch wurden Vorwürfe laut, die Regierung unter Führung von Premierminister Ponta, zugleich Kandidat der Sozialdemokraten für das Präsidentenamt, hätte diese Situation bewußt herbeigeführt oder zumindest billigend in Kauf genommen,6 um zu verhindern, daß die Diaspora allzu viele Stimmen abgeben konnte, denn in der Tendenz wählt diese keinen linken Kandidaten. So bot die Stadt München an, für den 2. Wahlgang unentgeltlich nicht nur Räumlichkeiten, sondern auch Wahlurnen und Sichtblenden zur Verfügung zu stellen – von rumänischer Seite hieß es nur, daß daran kein Interesse bestehe.7 Was die Sozialdemokraten dabei völlig unterschätzen, war die Wut der Rumänen, in der Disapora wie in der Heimat, und die Macht der modernen Kommunikation. Denn die Tausende von Emails, SMS und Kommentaren via Twitter und Facebook, oft versehen mit Bildern von den unhaltbaren Zuständen vor den Wahllokalen, die die Lieben aus der Ferne an die Familie daheim sandten, trugen viel zu der Stimmung bei, die den satten Vorsprung von Victor Ponta binnen zweier Wochen dahinschmelzen ließ. In Rumänien wurde in mehreren Städten für das Wahlrecht der Auslandsrumänen demonstriert,8 und auch Klaus Johannis selbst machte seinem Unmut hierüber Luft. Als Sündenbock wurde der Außenminister ausgetauscht… geholfen hat dieses Manöver indes nicht.

Zum anderen war es der Wahlkampf selber und vor allem dessen ideologische Zuspitzung in den Tagen vor der Stichwahl, der viele Rumänen dazu motivierte, am 16. November zur Stichwahl zu gehen. Präsentierte sich Klaus Johannis als der unbestechliche und fleißige Macher im strahlend weißen Hemd (“Gesetz. Nicht Diebstahl.” oder “Taten. Kein Gerede.”),9 der auch mal mit seinem siebenbürgisch-sächsischen Image kokettierte, setzte Victor Ponta eindeutig auf die rumänisch-nationale Karte. So warb er nicht nur mit dem Slogan “Wir sind stolz, Rumänen zu sein”, den man in Rumänien gerne im Munde führt, sondern griff auch zu kräftigeren Ausdrücken. Johannis sei “kein richtiger Rumäne” und auch “kein orthodoxer Christ”.10 Er, Ponta, lehne “Kerle aus dem Ausland” ab, die “Rumänien mit Füßen getreten” hätten – wen er genau damit meinte, ließ er sich nicht entlocken, aber in Verbund mit einem Sager, wonach er in Johannis einen “Vertreter ausländischer Interessen” sah, der Siebenbürgen sogar von Rumänien abspalten wolle, wird die Stoßrichtung klar.11 Sie Wahlplakate der Sozialdemokraten zeigten einen Victor Ponta, der zwar brav im modischen Anzug herablächelte, aber optisch stets begleitet war von pseudofolkloristischen Stickereien,12 was an die Plakate zur Europawahl erinnerte, die mit ähnlichen Motiven und sogar der “Endlosen Säule” von Constantin Brâncuși geschmückt waren.13 Für Victor Ponta sprach sich auch die orthodoxe Kirche aus, zu der sich fast 90 Prozent der Rumänen bekennen. Unverhohlen ließ sie wissen, daß nur ein Kandidat mit dem richtigen Glauben, eben ein Orthodoxer, als Staatspräsident tragbar wäre14 – und dies sogar noch am Tag der Stichwahl.15 Vizepremier Liviu Dragnea sagte ebenso deutlich wie dämlich, daß Popen, die die Wahl Victor Pontas unterstützen, den orthodoxen Glauben verteidigten.16 Der peinsame wie peinliche Gipfel dieses nationalen wie religiösen Schwachsinns war erreicht, als Victor Ponta behauptete, Klaus Johannis würde die Nationalhymne Rumäniens nicht kennen – in einem Interview darauf angesprochen, schmetterte dieser sofort los17 und bewies dabei sowohl Textsicherheit wie auch Kenntnis der Melodie. Ponta selber scheiterte übrigens live im Fernsehen an dieser Aufgabe…18

Und so sollte die national-religiöse Stoßrichtung Victor Pontas nicht verfangen. Die rumänischen Wähler waren erkennbar wenig daran interessiert, welcher Konfession oder welcher MInderheit der Kandidat der Nationalliberalen angehörte. Nichts dokumentiert dies schöner als jener mit Kugelschreiber geschriebene Text auf einem Stückchen Papier, den ein unbekannter Scherzbold an eines der 10 Dixiklos klebte, die man in München beim Generalkonsulat für die Wartenden aufgestellt hatte – “Stimmen Sie hier für einen christlich-orthodoxen Präsidenten”. Sie interessierten sich vielmehr für einen Mann, der seit gut 14 Jahren in Hermannstadt als Bürgermeister viele Reformen in Gang setzte und mit seiner pragmatischen Wirtschaftspolitik Erfolge feierte. Sie sahen einen Kandidaten, der mit zart siebenbürgisch-sächsischem Akzent in bedächtiger Manier seine Ideen präsentierte und nicht die ewig hohlen Phrasen der etablierten Politikerkaste aus Bukarest ins Volk hineindreschen wollte. Und sie hörten wohl gut zu, als er sich für ganz konkrete Verbesserungen des Wahlsystems wie Briefwahl einsetzte und sich nicht in unrealistischen Versprechungen verlor.

Als Klaus Johannis im Rahmen eines Vortrags, den er bei einem Besuch im damaligen Südost-Institut am 4. Mai 2010 hielt, auf die Fortschritte zu sprechen kam, die in Hermannstadt unter seiner Ägide gemacht wurden, da sprach er recht wenig über sich selber. Rumänien, so sagte er, habe eine fleißige und talentierte Bevölkerung, nur mit der Organisation des Landes hapere es. Seine Aufgabe war es in Hermannstadt eben, Voraussetzungen zu schaffen, Dinge zu entflechten und sinnvoll neu zu organisieren, als Ansprechpartner immer da zu sein und als Vorbild zu dienen. Den wirtschaftlichen Aufschwung, den haben dann die Menschen selber erarbeitet. Mit diesen bescheidenen Worten beschrieb er seine Tätigkeit. Klaus Johannis, der bei seiner ersten Wahl im Jahre 2000 von 69 Prozent der Hermannstädter, die an die Urnen gegangen waren, gewählt worden war, obwohl nicht einmal mehr 2 Prozent der Bevölkerung dort noch Siebenbürger Sachsen sind, war der Bürgermeister aller 148.000 Einwohner. Nun ist er, einer von noch verbliebenen 37.000 Rumäniendeutschen, der Präsident von 24 Millionen rumänischen Staatsbürgern. Ein Bürgerpräsident, das will er sein. Einer von ihnen.

  1. http://ro.wikipedia.org/wiki/Alegeri_preziden%C8%9Biale_%C3%AEn_Rom%C3%A2nia,_2014
  2. Unmittelbar nach dem ersten Wahlgang schrieb Karl-Peter Schwarz, daß Johannis “es schwer haben [wird],  diesen Vorsprung einzuholen”, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 256 vom 4.11.2014, S. 8
  3. http://www.mediafax.ro/politic/alegeri-prezidentiale-2014-in-strainatate-sunt-294-de-sectii-primii-voteaza-cei-din-noua-zeelanda-13482717
  4. Karl-Peter Schwarz, “Verhinderte Wahlbürger”, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 256 vom 4.11.2014, S. 3
  5. http://www.romania-insider.com/chaos-at-romanias-voting-polls-abroad-long-queues-protests/134937/
  6. http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/rumaenien-der-deutschstaemmige-praesidentschaftskandidat-klaus-johannis-im-portrait-13266420.html
  7. http://www.br.de/mediathek/video/sendungen/nachrichten/rumaenien-stichwahl-auslandsrumaenen-muenchen-100.html
  8. http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/chaotische-wahl-in-rumaenien-verhinderte-wahlbuerger-13245411/protest-gegen-13245465.html
  9. http://blog.br.de/studio-wien/files/2014/10/Foto-Johannis-2.jpg
  10. http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/klaus-johannis-gewinnt-praesidentenwahl-2014-in-rumaenien-13270731.html
  11. http://derstandard.at/2000008110216/Stichwahl-in-RumaenienAuslaendische-Kerle-gegen-Korrupte
  12. http://someseanul.ro/wp-content/uploads/2014/10/afis-electoral-ponta-presedinte.jpg
  13. http://www.cotidianul.ro//upload/images/original/ponta-afis-slogan.fjte7chyq4.jpg
  14. http://portalsm.ro/2014/11/biserica-ortodoxa-il-sustine-pe-victor-ponta/ und http://www.hotnews.ro/stiri-politic-18526239-video-predica-biserica-din-moftinu-mic-satu-mare-fim-uniti-votam-presedinte-ortodox-victor-ponta-caci-poate-uneasca-ajute-ducem-viata-noastra-calea-desavarsirii.htm
  15. http://www.digi24.ro/Stiri/Digi24/Actualitate/Social/Biserica+si+politica+Predica+pentru+un+presedinte+ortodox
  16. http://www.b365.ro/alegeri-prezidentiale-2014-dragnea-preotii-care-il-sustin-pe-ponta-apara-credinta-ortodoxa_218937.html
  17. http://www.youtube.com/watch?v=gJ-04WSUG-s
  18. http://www.youtube.com/watch?v=emEfmi6HQfc

Quelle: http://ostblog.hypotheses.org/318

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Mit den Greifen über Schweden

Malmö Aviation auf dem Flughafen von Umeå Foto: CC-BY Michael Meichsner

Malmö Aviation auf dem Flughafen von Umeå
Foto: CC-BY Michael Meichsner

Gullydeckel der Kommune Malmö im Museum Malmöhus slott Foto: CC BY Michael Meichsner

Gullydeckel der Kommune Malmö im Museum Malmöhus slottFoto: CC-BY Michael Meichsner

 

Auf meinem letzten Inlandsflug in Schweden war der pommersche Greif ein Begleiter, den ich nicht unbedingt erwartet hatte. Die schwedische Fluggesellschaft Malmö Aviation trägt den gekrönten pommerschen Greifen in ihrem Firmenlogo und auch die Bordzeitung des Unternehmens trägt den kurzen Titel Grip, also Greif.

Bei genauerer Betrachtung ist der Greif in und um Malmö ein ständiger Begleiter: Er wird von weiteren Firmen genutzt, die ihren Sitz in Schonen haben bzw. hatten: Die Lundenser Studentenverbindung Malmö Nation nutzt ihn als Symbol und benennt ihre Studentenzeitung auch nach dem Greifen. Die Suche schweift von der Luft zum Boden – auch die Gullydeckel in Malmö zeigen den Greifen.

Der Anfang dieser Darstellungsbegeisterung ist in der Wappenverleihung Eriks von Pommern an Malmö 1437 zu suchen. In dem erhaltenen Privileg heißt es, die Gemeinde Malmö solle für immer die beschriebenen Wappen und Kleinodien auf ihrem Siegel und Schild führen. Folgend wurde das Wappen näher beschrieben: auf weißem Feld ein roter Greifenkopf mit rotem Hals und roten Ohren mit einer goldenen Krone auf dem Haupt sowie auf dem Helm ebenso ein rotes Greifenhaupt mit einer goldenen Krone sowie einem Busch weißer und roter Straußenfedern. Zur genaueren Beschreibung findet sich auf dem Wappenprivileg eine Zeichnung dieses Wappens.

 

Wappenbrief Malmös vom 23.04.1437, Stadtarchiv Malmö Foto: CC BY-SA Sven Rosborn

Wappenbrief Malmös vom 23.04.1437, Stadtarchiv Malmö
Foto: CC-BY-SA Sven Rosborn

Nach einer kurzen Recherche zeigt sich, dass das Malmöer Wappen heute das einzige offizielle Kommunalwappen in Schweden ist, das den Greifen zeigt und somit auf die Zeit des ersten Unionskönigs der Kalmarer Union zurückgeht. Auf der Ebene der schwedischen Regionen findet sich noch das Wappen Schonens, das ebenso den Greifen zeigt. Dieses geht jedoch auf spätere Entwicklungen zurück, als Schonen nach 1658 an Schweden fiel und kein eigenes Wappen hatte. Zur Repräsentation der neugewonnenen Landschaft auf dem Begräbnis Karls X. Gustav 1660 wurde kurzerhand ein neues geschaffen, wobei man sich an dem Wappen Malmös orientierte. In Dänemark findet sich kein einziges Kommunalwappen, welches auf die Herrschaft des Greifen Erich von Pommern zurückzuführen ist.

Die Privilegierung Malmös steht in Zusammenhang mit einer Konzentration des Königs aus dem Greifengeschlecht auf die Öresundregion. Seit März 1413 stärkte Erik von Pommern diese Region in wirtschaftlicher, militärischer und politischer Hinsicht. Er gründete die Stadt Landskrona, befestigte die östliche Seite des Öresunds mit der Festung Krogen und verlagerte die Stadt Helsingör. Darüberhinausgehend erwarb er Kopenhagen für das dänische Königtum. In Malmö verlieh er dem Rat weitere Privilegien und sorgte für die Befestigung der Stadt.

Die visuelle Anbindung Malmös an das Herrscherhaus der Greifen ist in Spannungen innerhalb der Kalmarer Union zu suchen. Erik von Pommern entstammte dem Geschlecht der pommerschen Herzöge aus der Seitenlinie der Herzöge von Pommern-Stolp und erhielt zunächst den typischen Namen Bogislaw. Durch dynastische Zufälle und die energische Politik seiner Ziehmutter Margrete I. von Dänemark avancierte der junge Pommer zum Thronfolger in Dänemark, Schweden und Norwegen als Erik VII., Erik XII. und Erik III. Ab 1397 war er Regent der Kalmarer Union, die diese drei Königreiche zusammenfasste. Nach dem Tod Margaretes I. 1412 war Erik Alleinregent, wobei er die Interessen der verschiedenen Reichsräte stets in seine Politik mit einkalkulieren musste. Solange der Interessenausgleich funktionierte waren keine größeren Spannungen innerhalb der Union festzustellen. Dies wandelte sich jedoch in den 1430er Jahren. In Schweden brach 1434 ein Aufstand aus, der sich zunächst gegen eine Erhöhung von Abgaben richtete. Diesem Aufstand schlossen sich schwedische Hochadlige an, wobei nun v.a. die zentralistische Regierungsweise Eriks mit der Bevorzugung nichtschwedischer Adliger für schwedische Reichsgüter und dessen Thronfolgepläne für die drei nordischen Königreiche im Mittelpunkt standen. Zunehmend vehementer versuchte der König eine pommersche Thronfolge für die Unionsreiche durchzusetzen. Ins Auge fasste er dabei seinen Cousin Bogislaw IX., der auch im oben erwähnten Wappenbrief Malmös als Thronfolger genannt ist. Angesichts dieser Politik einer Bevorzugung pommerscher Verwandter des Königs – Bogislav wurde mit bedeutenden Burgen und Besitzungen in Dänemark bedacht – brach auch Unmut im dänischen Reichsrat aus.

Auch wenn 1436 ein Ausgleich zwischen Erik und dem schwedischen Reichsrat erzielt werden konnte, waren die Probleme, die Erik mit dem Adel seiner Reiche hatte, nicht vollständig ausgeräumt. Auch in Dänemark wuchs 1438 die Unzufriedenheit mit Eriks zentralistischem Regierungsstil und seinen Plänen, die Greifen als Erben der Unionskönigswürde zu installieren. Der Konflikt zwischen den Mitgliedern der Reichsräte und Erik von Pommern kulminierte schließlich 1439 in der aufeinander folgenden Absetzung Eriks  als König in Dänemark und Schweden. Die Norweger schlossen sich dieser Entscheidung später an – die Union zwischen den Reichen sollte aber fortbestehen. Die Wappenverleihung an Malmö ist in diesem Kontext als Versuch des Königs zu verstehen, in einer schwierigen Zeit Verbündete in einer der wichtigsten Handelsstädte der Öresundregion zu gewinnen.

Um den Konflikten in seinen Reichen zu entgehen und um eine zentrale Position im Ostseeraum einzunehmen, zog sich Erik 1438 nach Gotland zurück. Von dort aus versuchte er bis 1449 weiterhin Einfluss auf die Entwicklungen innerhalb der Kalmarer Union zu nehmen. Gotland war auch schon vorher ein sicherer Hafen für Erik. Das Privileg für Malmö wurde1437 so auch auf der Visborg abgefasst – seit dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts eine der bedeutendsten Burganlagen des Ostseeraums. Seinen Lebensabend verbrachte Erik schließlich wieder als Herzog von Pommern-Stolp, er starb 1459 in Rügenwalde/Darłowo.

An die Zeit des Unionskönigs aus dem Greifengeschlecht erinnern also noch heute der Greif im Stadtwappen Malmös oder die Fluggesellschaft Malmö Aviation. Auch wenn Erik von Pommern seine Königswürde am Ende verlor, ist es noch möglich mit dem König  über Schweden und die Ostsee zu reisen…

Malmö Aviation über Schweden Fotos: CC BY Michael Meichsner

Malmö Aviation über Schweden
Fotos: CC BY Michael Meichsner

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/2715

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#wbgavie | Ein Blog als Weg zum Buch. Erfahrungen aus zwei Jahren “de rebus sinicis”

Die folgenden Zeilen sind die ausformulierte Fassung der Notizen für meinen Vortrag beim Workshop “Bloggen in Geschichtswissenschaft und Archivwensen” (Wien, 10.11.2014).

Sowohl Name als auch URL meines Blogs weisen in groben Zügen auf die thematische Ausrichtung hin. “de rebus sinicis” – also “von chinesischen Dingen” – ist unter Historikern quasi selbsterklärend. Mit wenhua 文化 (wenhua.hypotheses.org), dem modernen chinesischen Begriff für “Kultur”, soll auf die bewusst breite thematische Ausrichtung des Blogs hingewiesen werden.[1] Der zeitliche Schwerpunkt liegt dabei auf dem spätkaiserlichen China, womit in diesem Zusammenhang die Zeit vom 17. bis ins 20. Jahrhundert gemeint ist.

Auch für die Entwickung des Blogs, das die Arbeit am Buchprojekt einer einführenden Darstellung der Kulturgeschichte des spätkaiserlichen China begleitet, können die beiden Zeichen des chinesischen Begriffs für “Kultur” herhalten – gab es doch  bisher etwas Text (wen 文) und viel Wandel (hua 化).

Bei der Suche nach einer Strategie zur kontinuierlichen Arbeit am im November 2012 eröffneten Blog erschien mir bald die Veröffentlichung kleinerer “Serien” zweckmäßig. Die folgende Auflistung gibt neben der Zahl der Folgen/Teile der einzelnen Serien auch einen Eindruck von den bisherigen thematischen Schwerpunkten des Blogs

Ein Blick auf die Beschlagwortung der Artikel verrät ebenfalls die thematischen Schwerpunkte:

Während die Intentionen hinter dem Buchprojekt mit den Begriffen “Einführung”, “Grundlagen”, “Handbuch”, “Leitfaden”,  “Orientierung” benannt werden können, standen hinter der Eröffnung des Blogs folgende Motive: “Öffentlichkeit”, “Sichtbarkeit”, “Interaktion”, “Diskussion”, “Themensetzung”.

Die Zwischenbilanz von Buchprojekt und Blog sieht wie folgt aus.

Umfang. Buchprojekt: ca. 110.000 Wörter (Rohfassung einiger Abschnitte, ansonsten derzeit eher noch mehr eine Sammlung von Notizen). – Blog: 102 Beiträge zwischen dem 27.11.2012 und dem 5.11.2014.

Frequenz. Während die Arbeit am Buchprojekt eher unregelmäßig vor sich geht, gibt es für den Blog seit 2.1.2013 einen Beitrag pro Woche, der in der Regel am Mittwoch veröffentlicht wird.

Während bei der Reihenfolge und thematischen Gewichtung der Blog-Beiträge eher der “Zufall” Regie führt, zeichnet sich bei der Arbeit am Buch doch eine – für jede Einführung unbedingt erforderliche – klare Struktur ab.

Die Möglichkeiten, die ein Blog bei der Begleitung eines Buchprojekts bietet, sind vielfältig. Die Präsentation von Online-Ressourcen (Stichwort: “Kulturgeschichte Chinas im Netz”) ist ebenso naheliegend, wie Einblicken in die eigene Sammlung von “China-Fotos”. Bei der Veröffentlichung von “Fundstücken” kann es allerdings schon einmal passieren, dass man sich hart am Rande zum “Insider-Gag” bewegt (etwa: “Was ein Pinguin mit der Umschrift des Chinesischen zu tun hat …”) – was aus meiner Sicht allerdings für den Genuss beim Schreiben des Artikels spricht. Und schließlich kann man sich durch das Bloggen auch “Stichwörter” liefern. Die Arbeit am Buchprojekt wird insofern angeregt, wenn man feststellt, dass zu bestimmten Punkten noch eingehendere  Recherchen nötig sind oder dass die Notizen zu einzelnen Aspekten noch ziemlich unausgegoren sind.

Das Blog ist – wenn überhaupt – nur sehr bedingt brauchbar, um den Stoff zu systematisieren, ebenso sei es keinesfalls als “öffentliches” Notizbuch verstanden. Der Aufwand, den man für das Blog treiben will/kann/muss, orientiert sich einerseits am eigenen Zeitbudget, andererseits doch an der Gratwanderung zwischen zu kurzen (und damit wenig informativen) Beiträgen und zu langen Beiträgen, die der Aufmerksamkeit der Leser nicht unbedingt zuträglich sind. Ein letzter Punkt, der im Zusammenhang mit den Grenzen des Bloggens erwähnt sei, ist die Herausforderung, die Beiträge allgemein verständlich zu verfassen, damit sie auch ohne sinologisches Vorwissen gelesen werden können: “Fachchinesisch” sollte also unbedingt vermieden werden!

  1. Vgl. dazu den Beitrag “Annäherungen an den Kulturbegriff im Chinesischen”
  2. Sowohl bei “Serien” als auch bei “Schlagwörtern” geben die Zahlenangaben den Stand vom 5.11.2014 wieder. Das Schlagwort “Kalligraphie” wurde für den Vortrag nicht berücksichtigt, da es ohnehin durch die “Vier Schätze des Studierzimmers” bei den “Serien” repräsentiert ist.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/1483

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Das Neunte Gebot (Dommann-Style)

Zum zwanzigjährigen Jubiläum der Zeitschrift Historische Anthropologie hat Monika Dommann zehn Gebote formuliert; manche davon sind sehr sinnvolle und nachvollziehbare Verbote, etwa: Du sollst den Begriff Kultur nicht mehr verwenden. oder: Auch der Präfix Post ist strikt verboten. Dasselbe gilt für Trans.

Besonders charmant finde ich das neunte Gebot:

Wer die Ehre hatte, dass sein Buch von einem Kollegen rezensiert wurde, muss dieses Privileg der Forschungsgemeinschaft zurückgeben, indem sie ein Buch bespricht, das heillos veraltet, d. h. mindestens zwanzig Jahre alt ist. Dies ist eine Maßnahme wider die Verschüttung vergangenen historischen Wissens.

Dommann, Monika: Zehn Gebote zum zwanzigsten Geburtstag, in: Historische Anthropologie 20.2012/2, S.232-234, hier 234.
DOI: 10.7788/ha.2012.20.2.232 (Paywall)

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022371380/

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Wohin mit den Gefühlen? Vergangenheit und Zukunft des Emotional Turn in den Geschichtswissenschaften – Von Benno Gammerl und Bettina Hitzer (Teil 2)

Im ersten Teil stellten Gammerl und Hitzer die wissenschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Anfänge des Emotional Turn vor. Anschließend zeigten sie, wie sich der Emotional Turn auf ambivalente Weise zwischen emanzipativen und problematischen Ansprüchen und Effekten bewegte. Besonders deutlich machten sie dies … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/7302

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29. Histofloxikon, Vierte Lieferung

Eine Sammlung historischer Floskeln ließe sich – wie es einem Lexikon gebührt – entweder alphabetisch ordnen oder aber nach TunnelThemengruppen sortieren. Wählte man die letztere Variante, könnte man sich die Frage stellen, mit welchen Emotionen das Vergangene jeweils belegt wird. Ist es der Sehnsuchtsort des goldenen Zeitalters, die stolze Ahnengalerie vergangener Großtaten, das Schandmal auf der nicht mehr gar so weißen Weste der eigenen Identität oder gar das mit Angst und Schrecken besetzte Gestern? Es ist wohl nicht nur ein Spezifikum der deutschen Sprache, dass sich in diesem Zusammenhang einige sprachliche Formeln finden, die ein eher düsteres Bild von der Vergangenheit zeichnen.Drei Beispiele aus diesem Segment sollen im Folgenden Erwähnung finden. Weitere, weder alphabetisch noch sonstwie sortierte Einträge aus dem Lexikon historischer Floskeln finden sich hier, hier und hier.

Von der Vergangenheit eingeholt werden

Der Gemeinplatz, man könnte von der Vergangenheit eingeholt werden, ließe sich wahlweise auch ersetzen durch die Rede von den „Schatten der Vergangenheit“, die einen heimsuchen. Kriminalgeschichten leben nicht selten davon, dass irgendeine olle Kamelle aus dem Keller des Gewesenen hervorgeholt wird, um dem gegenwärtig so glücklich und erfolgreich Lebenden, aber in der Vergangenheit irgendwie bösartig Gewesenen mal zu zeigen, was eine historische Harke ist. Dahinter steckt wohl die Hoffnung, dass es doch so etwas wie historische Gerechtigkeit geben könnte.

Aber keine Sorge, weder gibt es historische Gerechtigkeit noch werden wir von der Vergangenheit eingeholt. Ob man will oder nicht, all das findet gegenwärtig statt (was auch immer da stattfindet). Man muss nicht warten, bis die mehr oder weniger untoten Sünden eines früheren Lebens wieder aus den Gräbern steigen, um die noch Lebenden vor Gericht zu ziehen. Man muss höchstens warten, bis eine Gegenwart bereit ist, sich auf andere Art und Weise mit einer Vergangenheit zu beschäftigen oder überhaupt erst eine Vergangenheit zu entdecken, von der sie bis dato noch gar nicht wusste (oder nicht wissen wollte), dass es sie gibt. Die Vergangenheit holt uns dabei nicht ein, denn die Vergangenheit selbst tut überhaupt nichts. Wir Gegenwärtigen holen uns höchstens eine andere Vergangenheit heran – und das kann für manche Beteiligte allemal unangenehm werden.

Die Vergangenheit begraben

Von der Vergangenheit begraben zu werden, wäre dann wohl eher das Gegenteil zur Vergangenheit, die einen einholt: Ein Gestern, das einfach nicht vergehen will und das man endlich loszuwerden wünscht. Sollte ja, nach dem oben Gesagten, besser funktionieren. Denn wenn man sich eine Vergangenheit heranholen kann, dann ließe sie sich möglicherweise auch wieder abstoßen – oder eben gleich begraben. Aber gar so einfach ist es nicht, weder mit dem Abstoßen noch mit dem Begraben. Hier offenbart sich vielmehr der reziproke Charakter temporaler Relationen, oder zu deutsch: Die Zeitmuster, in denen wir leben, werden nicht ausschließlich und willkürlich von der Gegenwart bestimmt, sondern sind ebenso durch Prägungen und Voraussetzungen besetzt, die schon in der Vergangenheit getroffen wurden. Das Spiel zwischen den Zeiten findet statt von allen Seiten. Das wird besonders auffällig beim Verlust von Vergangenheiten. Überlieferungen, die zerstört, nicht weitergetragen, vergessen oder – weit häufiger – erst gar nicht zeitresistent festgehalten wurden, können entweder ihren Status als Vergangenheit verlieren oder für eine Gegenwart nie zur Vergangenheit geworden sein. Sie existieren für eine Gegenwart schlicht nicht, können daher auch nicht begraben werden und schon gar nicht irgendetwas oder irgendjemand einholen.

Aber dasjenige Wenige, das es in den Überlieferungsstrom geschafft hat, also die Schneeflocke auf der Spitze des Eisbergs, aus der wir dann unsere ‚Geschichte‘ zu fabrizieren pflegen, lässt sich kaum zu Grabe tragen. Sie mag in einen Dämmerzustand verfallen, phasenweise unbedeutend werden, unbeachtet bleiben oder andere Formen des Aufmerksamkeitsdefizits erleiden. Aber verschwinden wird sie nicht. Von sich aus können ad acta gelegte Vergangenheiten zwar nicht aktiv werden, aber man hüte sich vor den Bestrebungen einer Gegenwart, neue Zeitbeziehungen zu etablieren – denn man weiß nie, was sie in den Kellern finden und sich eigensinnig aneignen wird.

Ende der Geschichte

Es ist wahr, Geschichten können enden. Aber die Geschichte kann es nicht. Verwendet man beide Substantive in der Singularform – das Ende der Geschichte –, dann haben wir es tatsächlich mit einer blanken Unsinnsaussage zu tun. Nicht nur scheint mir immer weniger klar zu sein, was die Gesamtheit derjenigen Vorgänge sein soll, die wir mit dem Wort ‚Geschichte‘ zu belegen pflegen, auch weiß ich nicht, wie man Veränderung stoppen will. Ein Nicht-Wandel ist – nach allem was wir über den Menschen und die ihn umgebende Welt wissen – nicht möglich. Wenn man daher vom ‚Ende der Geschichte‘ spricht, ist das eher Ausweis der Arroganz oder der Fantasielosigkeit der Jetztlebenden, die sich nicht vorstellen wollen/können, dass nach ihnen tatsächlich noch etwas grundsätzlich anderes kommen mag. Dabei dürfte das Gegenteil nur mit erheblichen Schwierigkeiten zu belegen sein: Wieso sollte ausgerechnet der aktuelle Zustand festgefroren werden und durch nichts mehr ersetzt werden? Transformationen zu blockieren erfordert einen deutlich höheren Energieaufwand als sie auszuführen.

Zugleich kann man immer wieder feststellen, dass bestimmte Phänomene verschwinden, Entwicklungen aufhören, Traditionen abbrechen und aus ‚der Geschichte‘ verschwinden. Wenn das aber geschieht, dann handelt es sich in nicht wenigen Fällen darum, dass ein historischer Vorgang seinen Aggregatzustand verändert, also nicht vollständig verschwindet, sondern so gravierend transformiert wird, dass die Geschichte anders erzählt werden muss. Wenn also Geschichten enden – oder wir sogar ‚die Geschichte‘ enden lassen wollen –, dann weniger, weil irgendeine übergeordnete transzendente Einrichtung den entsprechenden Faden durchschneidet, sondern weil wir die Erzählung dieser Geschichte enden lassen.


Einsortiert unter:Geschichtskultur, Geschichtspolitik, Geschichtstheorie Tagged: das Ende der Geschichte, die Vergangenheit begraben, Floskel, Gemeinplatz, Von der Vergangenheit eingeholt werden

Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2014/11/19/29-histofloxikon-vierte-lieferung/

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Reminder: Einsendeschluss für den ersten DARIAH-DE DH-Award

Am 01.12.2014 ist der Einsendeschluss für den DARIAH-DE DH-Award. Ausgeschrieben werden Preise im Gesamtwert von 1.800 Euro. Die offizielle Preisverleihung ist für den Digital Humanities Summit vom 03. bis 04. März 2015 in Berlin geplant.

DH-Award-Slide

Im Rahmen des Awards werden innovative Beiträge und Forschungsvorhaben von Studierenden und NachwuchswissenschaftlerInnen der Geistes- und Kulturwissenschaften, der Informatik und den Informationswissenschaften, die mit digitalen Ressourcen und/oder digitalen Methoden arbeiten, ausgezeichnet.

Hierunter fallen z.B. wissenschaftlichen Einzel- oder Gruppen (Abschluss-) projekte, Softwareprojekte, Tools, Studien oder (Infrastruktur-)Konzepte.

Einzureichen sind: Online-Bewerbung z.Hd. Frau Dr. Heike Neuroth unter dh-award at de.dariah.eu mit

  1. Kurzem Anschreiben inkl. Motivation
  2. Darstellung/Abstract des/der Abschlussarbeit,(Abschluss-)projekts, Softwareprojektes, Tools, Studie oder (Infrastruktur-)Konzepts samt Einordnung in den DH-Kontext (1-2 Seiten)

und

  1. Kurzen Lebenslauf (2 Seiten max.)
  2. Ein digitales Exemplar des/der Abschlussarbeit, (Abschluss-)projekts, Softwareprojekts, Tools, Studie oder (Infrastruktur-)Konzepts

Wir freuen uns über spannende Wettbewerbsbeiträge. Alle weiteren Informationen finden Sie unter https://de.dariah.eu/dh-award-programm.Bei Fragen wenden Sie sich gerne an: dh-award(at)de.dariah.eu

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4290

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Kein Wunder nirgendwo – die genetische Herausforderung der Geschichte

Unter dem Titel „Die DNA der Geschichte“ hat der Heidelberger Historiker Jörg Feuchter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. November 2014 einen Appell zur epistemologischen Reflexion historischer Genforschung seitens der Mediävistik  lanciert.[1] Obgleich ich mich diesem Aufruf grundsätzlich anschließen möchte, will ich diese Zustimmung mit deutlich kritischeren Akzenten gerade in Richtung meiner eigenen Disziplin versehen.

 

Wellcome Library, London, Ms 49, fol. 37 v (Lizenz: CC BY 4.0)

Wellcome Library, London, Ms 49, fol. 37 v (Lizenz: CC BY 4.0) 

„Wo waren die Mikroben vor Pasteur?”, so fragte 1999 der französische Soziologe Bruno Latour, um sogleich in apodiktischer Schärfe selbst zu antworten: „Sie existierten nicht, bevor er daherkam“.[2] Auf den ersten Blick provokant, folgt dieses Postulat letztlich einer ebenso simplen wie stringenten Forschungslogik: Für Latour und seine ANT gelten nur jene Entitäten als (historische) Akteure, die im Handeln anderer „einen Unterschied“ machen. Gewiss, Milch wurde bereits im Mittelalter sauer. Die Mikroorganismen der Milchsäuregärung aber stiegen erst zu historischen Mächten auf, nachdem sie im Mikroskop Pasteurs Gestalt angenommen hatten. Seit diesem Moment setzten sie sich in den Köpfen der Menschen fest, wurden zu begehrten Ansprech- und Verhandlungspartnern, avancierten schließlich zu Auslösern einer Hygienebewegung und Initiatoren einer Biopolitik, wie es sie allein auf der Grundlage ‚mittelalterlich’ saurer Milch kaum je gegeben hätte.

‚Wo waren die Gene vor Mendel und Avery?’, so möchte ich im Fahrwasser dieser Überlegungen fragen und meine Antwort gleicht notgedrungen jener Latours: ‚Sie existierten nicht!’ Gewiss registrierte man Unterschiede in Geschlecht, Hautfarbe und Körperbau, ignorierten die Menschen des Mittelalters keineswegs die phänotypische Fremdheit ihres Gegen­übers. Auch Migrationsströme, Erbfolgen und selbst Krankheitsdispositionen entgingen ihnen nicht, die DNA blieb gleichwohl hartnäckig außerhalb ihres Denk- und Handlungshorizonts. Die ‚Gene’ – zumal jene „95 Prozent (…), die nicht kodiert sind“ – müssen dem Mediävisten daher als anachronistischer Fremdkörper ‚seiner’ Geschichtsforschung gelten. Insofern die Kategorie der ‚Kultur’ als konventionelles Produkt mensch­licher Diskurse und Sinnstiftungen betrachtet wird, führt von der DNA aus kein Weg zum „Gegenstand der Geschichtswissenschaft“, der „kulturelle[n] Entwicklung der letzten zwei- bis dreitausend Jahre.“ Ebensowenig sind Nukleotidsequenzen „stets unmittelbar mit Fragen der Identität verknüpft“, sofern diese nicht als faktisch stabile ‚Rassezugehörigkeit’, sondern als soziales Interaktionsprodukt betrachtet wird.

Hat die ‚genetic history’ ihren Geltungsanspruch innerhalb der Geschichtswissenschaft damit gänzlich verwirkt? Wohl kaum! Im Sinne des von Peter von Moos begrüßten ‚heuristischen Anachronismus’[3] hat sie längst eine Diskursarena etabliert, die unserer Disziplin umfangreiche neue Frage­stellungen zuführt. So anachronistisch der Faktor DNA erscheinen mag, so wenig darf er ferner als ahistorisch qualifiziert werden. Die Entwicklung menschlichen Erbgutes ist integraler Bestandteil des historischen Prozesses und als solcher allemal der Erforschung wert. Allerdings liefert die Molekularbiologie kaum verlässliche Fakten. Sie produziert zu­nächst einmal nichts als Rohdaten, die einer sorgfältigen Deutung und Einordnung in historische Narrative bedürfen. Zu Recht mahnt Jörg Feuchter eine „epi­ste­mologische Reflexion“ über den Gebrauch dieses Datenmaterials an.

Naturwissenschaftliche Versuche beruhen ebenso wie das Gedankenexperiment des Geisteswissenschaftlers auf Prämissen und Schlussfolgerungen, die methodisch hinterfragt und ggf. revidiert werden können. Insofern verwundert es, wenn Feuchter die „erstaunlichen Resultate“ der Studie von Michael E. Weale et al.[4] hervorhebt, in der nichts weniger behauptet werde, alsdass die angelsächsische Immigration nach England im 5. bis 7. Jahrhundert mit einem fast kompletten Austausch der männlichen Bevölkerung auf der Insel“ verbunden gewesen sei. Ein Triumph der Genforschung über die Geschichtswissenschaft? Nur knapp sei darauf verwiesen, in welchem Maße sich der Diskussionsstand seit Annahme des Papers im Januar 2002 verschoben hat[5]: Ein Oxforder Forscherteam reklamierte bereits im Folgejahr einen Teil des vermeintlich ‚angelsächsischen’ Erbgutes als Relikt der dänischen Invasionsbewegung des 10. Jahrhunderts[6], während rezente Rechenmodelle den angelsächsischen Einwandereranteil auf eine Quote von 10-20% absenken. Jenseits des reinen Zahlenspiels stellt sich die Frage, ob durch die Fokussierung auf genetische Merkmale nicht die unter Archäologien verpönte Formel ‘Topf gleich Volk’ durch das neue Mantra ‘Gen gleich Volk’ ersetzt wird. Gerade Migration lässt sich nicht auf Reinraumbedingungen reduzieren oder unter die ceteris-paribus-Klausel stellen. Moderne Waliser sind keine ‚Britonen’, heutige Friesen keine Angelsachsen, der genetische Austausch zwischen Kontinent und Insel nicht auf ein singuläres Ereignis zurückzuführen. Mithin müssen sich alle Bemühungen, aus den genetischen Daten Rückschlüsse auf die Sozialstruktur der Inselbevölkerung zu ziehen, gar einen Genozid oder ein System der ‚racial apartheid’[7] zu postulieren, der Vetomacht schriftlicher und archäologischer Quellen stellen.

Vor dem Hintergrund einer fluiden Deutungsmatrix erstaunt der Anspruch des neuen MPI-Direktors Russell Gray, mit naturwissenschaftlicher Präzision nunmehr die „Mechanismen der Staats- und Religionsbildung“ rekonstruieren zu wollen. Gray erklärt die Regelhaftigkeit der Geschichte zu einer allein „empirischen Frage“, zweifellos lösbar auf ausreichender Datenbasis: „There are no wonders“[8]. Der Versuch, den Gang der Geschichte einem überzeitlich gültigen Schematismus aus Zyklen, Stadien und Entwicklungsintervallen zu unterwerfen, ist keineswegs neu, mit der Marx’schen Geschichtsmechanik sei nur sein prominentester Vertreter benannt. Prophetisches Prognosepotential besitzt sie ebensowenig wie ihre aktuellen – in diesem Punkt wesentlich bescheideneren – sozialwissenschaftlichen Pendants. Dies spricht keineswegs generell gegen eine Komplexitätsreduktion durch Modellbildung, warnt freilich vor übertriebenen Erwartungen: Von der historischen Genetik aus den Götzen objektiver Geschichtsgesetze erneut herauf zu beschwören, hieße mithin, sich von der Kontingenz und Multiperspektivität der Geschichte zu verabschieden.

Die von Jörg Feuchter vermerkte Reaffirmierung „für obsolet gehaltener Forschungsstände“ erweist sich nicht nur an diesem Punkt als riskantes Unternehmen.[9] Mit Blick auf die Trias von ‚race, class and gender’ lassen sich derzeit besorgniserregende Tendenzen beobachten, alle drei Kategorien aus dem Status kultureller Konstruiertheit (abermals) auf die Ebene objektiver historischer Wirkfaktoren zu überführen. Nein, an diesem Punkt soll den Biowissenschaften keinesfalls ein Rückfall in ein Denken rassisch-genetischer ‚Kulturträgerschaft’ unterstellt werden. Der Fehler liegt zumeist auf Seiten jener Historiker, die den methodischen Grundlagen des eigenen Faches nicht mehr vertrauen und unüberlegt der vermeintlichen Faktizität naturwissenschaftlicher Evidenzen huldigen. Wenn Feuchter – womöglich zutreffend – konstatiert, dass „DNA im heutigen Bewusstsein mehr und mehr als primärer Identitätsträger“ Anerkennung findet, so sollte dieser Befund zu einem kollektiven Aufschrei aller historischen Kulturwissenschaften führen. Der vom Verfasser des FAZ-Beitrages angemahnte „kritische Dialog“ muss mit dem Selbstbewusstsein einer empirisch arbeitenden und methodisch fundierten Fachdisziplin gesucht werden. Nicht nur gegenüber den „historisch arbeitenden Genetikern“, sondern vor allem innerhalb der Historikerzunft selbst. Die genetische Herausforderung betrifft in erster Linie das Selbstverständnis unseres eigenen Faches.

[1] Jörg Feuchter, Die DNA der Geschichte, in: FAZ Nr. 257, Mi. 5. Nov. 2014, S. N4. Dem Artikel entnommene und mit „“ gekennzeichnete Zitate sind nicht mehr separat ausgewiesen.

[2] Bruno Latour, Wo waren die Mikroben vor Pasteur?, in: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 175.

[3] Peter von Moos, Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, hrsg. von Dems. (Norm und Struktur 23), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 1–42, S. 2.

[4] Michael E. Weale/Deborah A. Weiss/Rolf F. Jager/Neil Bradman/Mark G. Thomas: Y chromosome evidence for Anglo-Saxon mass migration, in: Molecular Biology and Evolution 19,7 (2002), S. 1008-1021.

[5] Siehe dazu Erik Grigg: Genetics and the Anglo-Saxon Invasion, unter: https://www.academia.edu/2607635/Genetics_and_the_Anglo-Saxon_Invasion; Heinrich Härke: Die Entstehung der Angelsachsen, in: Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer (Hrsg.): Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft. Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 77), Berlin/Boston 2012, S. 429-458; Robert Hedges: Anglo-Saxon Migration and the molecular evidence. In: Helena Hamerow/D David A. Hinton/Sally Crawford (Hrsg.): The Oxford Handbook of Anglo-Saxon Archaeology, Oxford 2011, 79-90.

[6] Cristian Capelli/Nicola Redhead/Julia K. Abernethy/Fiona Gratrix/James F. Wilson/Torolf Moen/Tor Hervig/Martin Richards/Michael P.H. Stumpf/Peter A. Underhill/Paul Bradshaw/Alom Shaha/Mark G. Thomas/Neal Bradman/David B. Goldstein: A Y chromosome census of the British Isles, in: Current Biology 13 (2003), S. 979-984.

[7] Mark G.Thomas/Michael P.M. Stumpf/Heinrich Härke: Evidence for an apartheid-like social structure in early Anglo-Saxon England, in: Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 273/1601 (2006), S. 2651-2657.

[8] Virginia Morell: Feature: ‘No miracles’, in: Science 345/6203 (2014), S. 1443-1445, unter; http://www.sciencemag.org/content/345/6203/1443.full.pdf

[9] Zu Recht verweist der Autor hier warnend auf den markanten Fall des Biologen Pierre Zalloua, der die Religionsgemeinschaften des Libanon auf ideologische Weise ethisch interpretiert. Dahinter ist jedoch ein Grundsatzproblem zu erkennen: Genetische Bevölkerungsanalysen basieren auf einer überschaubarer Zahl von Axiomen und Parametern, die oftmals ‚fachfremd’ der Geschichtsforschung entnommen werden. Sie reduzieren damit historische Komplexität, ohne die epistemologischen Grundlagen ausreichend zu reflektieren und sich so gegen zirkuläre Schlussfolgerungen abzusichern. Hier wäre in der Tat die Expertise von Historikern dringend gefragt.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4734

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