Der Rundumblick auf die Geschichte

 

Es galt als Dinosaurier der Massenunterhaltung, als Beginn der Kulturindustrie und der Kinematisierung des Blicks. Nie gänzlich tot gewesen, feiert das Panorama seit einigen Jahren eine bemerkenswerte Renaissance. Vor allem sind es Zeitreisen in die Vergangenheit, die ein Massenpublikum anziehen. Woher rührt das enorme Interesse an diesem „History Surround-System“?

 

Auf und Ab der Panoramen

Von Dolf Sternberger zum Inbegriff des 19. Jahrhunderts erhoben, hat das Panorama in den letzten 20 Jahren Forschungskonjunktur. Seit 1992 befasst sich das International Panorama Council in jährlichen Konferenzen mit historischen und zeitgenössischen Formen von Panoramabildern. Einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland wurde 1993 das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle präsentiert. Nur wenige der monumentalen Stadtansichten, Landschaftsbilder und historische Schlachtenszenerien aus dem „langen 19. Jahrhundert“ sind heute noch erhalten. Film und Fotografie sorgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts für das (vorläufige) Ende dieses visuellen Massenmediums. Mangelndes Besucherinteresse und sinkende Renditen führten häufig zu Abbau und Entsorgung. Neue Medien steigerten den transitorischen Illusionseffekt und sprachen den Betrachter intensiver an als die an das Präsentationsgebäude gebundenen, hermetischen Wahrnehmungs- und Erlebnisräume der Rundbilder. Doch neuerdings finden die historischen Panoramen wieder ihr Massenpublikum: Nach dem nicht unumstrittenen Umzug des Innsbrucker Riesenrundgemäldes aus der historischen Rotunde in einen musealen Neubau am Bergisel besuchten im Eröffnungsjahr 2011 in nur fünf Monaten bereits 100 000 BesucherInnen das „Tirol Panorama“.1

Panorama und Propaganda

Im 19. Jahrhundert waren die Rundbilder ein visuelles Medium im Übergangsfeld von Kunst, Bildungsvermittlung, Spektakel und – durch das beliebte Sujet der Schlachtendarstellungen – Geschichtspropaganda. Seine Wiederbelebung begann zunächst in autoritären Gesellschaftssystemen, z. B. in Ägypten, im Irak, in Nordkorea, Russland oder in China, wo seit dem Jahr 2000 zehn neue Panoramabilder2 zu historischen Schlachten der 1940er und 1950er Jahre entstanden sind. In diesen Ländern fungiert es als Medium der Verherrlichung staatspolitisch und nationalhistorisch bedeutsamer Schlachten und zur Förderung nationaler Einheit. Anfang 2009 wurde auch in Istanbul auf Initiative von Recep Tayyip Erdogan ein neues Riesenrundbild eröffnet. Mit großem Bombast setzt es auf 2300 m² die Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 ins Bild. Als ein weiterer Baustein in der Geschichtspolitik der AKP legitimiert es das Selbstverständnis der Türkei als muslimischer Staat. Dutzende von Bussen mit Schulklassen fahren dort täglich zur patriotisch aufgeladenen Geschichtsstunde vor.3

Gegenbewegung zur Bilderflut

Mit staatspolitischer Propaganda und sozialistischem Realismus haben Yadegar Asisis in Deutschland präsentierte Panoramabilder nichts zu tun. 5 Millionen Menschen haben die illusionären Bildräume seit 2005 besucht. In den ehemaligen Gasometern in Dresden und Leipzig und in temporär errichteten Rotunden inszeniert Asisi mit seinen „Panometern“ Immersionserlebnisse in neuen Dimensionen – Reisen durch Naturräume (Mount Everest, Amazonien) und durch die Zeit (Rom 312; Dresden – Mythos der barocken Residenzstadt; Pergamon; Die Mauer – und seit August 2012, Leipzig 1813). Überraschung, Staunen, Bewunderung für die technische Perfektion der Täuschung und das ästhetische Spannungsverhältnis zwischen Inszenierung und Wirklichkeit ziehen BesucherInnen heute wie damals an. Gleichzeitig unterscheiden sich mediale Wahrnehmungen der Betrachter des 21. Jahrhunderts zweifellos von den Sehgewohnheiten der BesucherInnen des 19. Jahrhunderts. War es damals die Faszination am mobil gewordenen Blick, scheinen die Panometer eher eine Gegenbewegung zur Bilderflut zu sein: Heute ist es wohl eine verweilende Schaulust am statischen Bild, erzeugt freilich mit modernsten digitalen Medien.

Sammelbehälter „der“ Geschichte?

Als eine Art historisches „Wimmelbild“ ist Geschichte vor allem im alltagsgeschichtlichen Zugriff inszeniert. Die immense Fülle detailreicher Szenerien, u.a. durch Fotoshootings mit Reenactmentgruppen ins Bild projiziert, wird durch die Begrenzung auf einen bestimmten Ort und auf einen historischen Zeitraum bzw. ein historisches Ereignis zusammengehalten. Man kann immer wieder Neues entdecken, ohne dabei die Illusion des Überblicks zu verlieren. Asisi selbst betont, dass seine Panoramabilder künstlerische Interpretationen von Geschichte sind: Bereits die Raumkonstruktion produziert Bedeutung, der Standpunkt des Betrachters wird vom Künstler festgelegt. Gleichzeitig stellt er aber auch fest, dass die Besucher an die Wahrhaftigkeit der Inszenierungen glauben4. Trotz der Polyperspektive des Panoramas also endlich sehen, „wie es eigentlich gewesen ist“? Offenbar wird das vorgetäuschte Authentizitätsversprechen gerne angenommen, korreliert es doch mit der objektivistischen Vorstellung von einer Geschichte.

Erkenntnislücke

Die Geschichtsdidaktik hat sich mit dem Panorama in historischer Perspektive nur wenig, mit dem neuen Boom bislang gar nicht befasst. Ob der den BesucherInnen gerade unterstellte objektive bzw. naive Blick auf die Geschichte nur eine Mutmaßung der Autorin ist, wäre eine lohnende Forschungsaufgabe. Und im Geschichtsunterricht sind die Panoramabilder bereits außerschulische Lernorte, die es unterrichtspragmatisch zu erschließen gilt. Panoramabilder werden hier künftig in die Kategorie „Geschichtsbilder“ mit aufzunehmen sein. Schließlich eröffnen sich auch auf dem Sektor der Geschichtskultur interessante Fragestellungen. Sind doch die Panometer nicht nur ein neues Element der Eventisierung von Geschichte. Sie sind neue Erinnerungsorte, die nicht nur auf Deutschland beschränkt bleiben werden. Für 2015 ist jedenfalls schon ein Panoramabild in Frankreich geplant: „Rouen in der Epoche Jeanne d’Arcs“.

 

 

Literatur
  • Koller, Gabriele (Hrsg.): The Panorama in the Old World and the New, Amberg 2010.
  • Oettermann, Stefan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, New York 1997.
  • Plenen, Marie-Louise: Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Basel u.a. 1993.

Externe Links

Abbildungsnachweis
http://www.zeno.org/Ansichtskarten/M/Leipzig,+Sachsen/Panorama?hl=panorama+leipzig (gemeinfrei).

Empfohlene Zitierweise
Bühl-Gramer, Charlotte: Der Rundumblick auf die Geschichte. In: Public History Weekly 1 (2013) 1, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-135.

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Inklusion und Geschichtswettbewerb – Barrierefreier Geschichtswettbewerb?

 

Am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten nehmen durchschnittlich 5000 SchülerInnen teil. Die Zahl der Beiträge aus Real-, Haupt- oder Förderschulen ist jedoch seit Jahren fallend. Der Geschichtswettbewerb richtet sich aber an alle SchülerInnen. Am Beispiel eines aktuellen Beitrags aus einer Förderschule soll auf wichtige Stolpersteine hingewiesen werden, die die Teilnahme von SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten erschweren und Maßnahmen vorgeschlagen werden, die einen barrierefreien Zugang zum Geschichtswettbewerb ermöglichen.

 

Gibt es ein Textproblem?

„Wir Haben uns in 2 Gruppen geteilt und jede der 2 Gruppen hat jeweils verschiedene Geschichten und Aufgaben bekommen. Es hat sehr viel Spaß gemacht. Jeder von uns hat gut mitgemacht. Wir haben die Geschichte vom Brettener Hundle gelesen. Es war sehr spannend zu zuhören wieso es die Geschichte vom Brettener Hundle gab. Deshalb haben wir uns entschieden des Thema zu nehmen vom Brettener Hundle.“1

Der Schüler der 9. Klasse einer Förderschule für Kinder und Jugendliche mit Lernproblemen und Entwicklungsverzögerungen beschreibt im Arbeitsbericht die Phase der Themenfindung für den Geschichtswettbewerb 2012/13 „Vertraute Fremde. Nachbarn in der Geschichte“. Exemplarisch werden hier einige Spezifika deutlich, die die Teilnahme am Geschichtswettbewerb erschweren: Der kurze Text zeugt von einer großen Mühe des Schülers beim Formulieren der inhaltlichen Aussagen und deren korrektem Niederschreiben. Der Geschichtswettbewerb ist aber stark auf Lesen, Schreiben und Schriftlichkeit insgesamt ausgerichtet. In diesem Fall können die SchülerInnen keinen inhaltlich strukturierten, den Arbeitsprozess elaboriert reflektierenden Arbeitsbericht abgeben. Vielmehr sind an der Chronologie des Projektablaufs orientierte, von mehreren SchülerInnen additiv verfasste und den eigenen Entscheidungs- und Erkenntnisprozess andenkende Textabschnitte eine zu würdigende Leistung. Das „Textproblem“ des Geschichtswettbewerbs zeigt sich auch auf anderen Ebenen: Das in den jeweiligen Wettbewerb einführende Magazin „spurensuchen“2, ist nicht auf die Bedürfnisse dieser Schülergruppe ausgerichtet. Sie haben Schwierigkeiten, die dort formulierte Aufgabenstellung zu verstehen („Wurden Nachbarn diskriminiert, gemieden oder besonders geachtet, und warum?“). Auch die dort aufgeführten Beispiele zum Thema Nachbarschaft sind für sie allein schwerlich zu bewältigen und deshalb auch nicht anregend. Hier würden schon einige Seiten in „Leichter Sprache“ mit für die Schülergruppe naheliegenden und verstehbaren Beispielen weiterhelfen3.

Eigener Preis?

Wir haben „die Stadtmauer nach gebaut und haben einen Kampf um das Essen als Theater nachgespielt. Dabei haben wir die Engel-Teufelsmusik gehört.“
Die Schwierigkeiten im Textumgang bedeuten auch, dass das Wettbewerbsthema sinnlich und handlungsorientiert erarbeitet werden muss. Theaterpädagogische Elemente und musikalische Einstimmung auf Belagerer (Teufelsmusik) und Belagerte (Engelsmusik) eröffnen hier einen Zugang zur Alterität des vergangenen Geschehens. Das widerspricht aber der dem Wettbewerb zugrunde liegenden Leitidee des forschenden historischen Lernens, die auf Wissenschaftspropädeutik und Kognition ausgerichtet ist und als Endprodukt eine an wissenschaftlichen Standards orientierte Hausarbeit vorsieht. Letzteres ist gerade dieser Schülergruppe nicht angemessen. Ihre Projektprodukte als Wettbewerbsbeiträge wie Fotobücher mit kleineren Textbeiträgen, Ausstellungsplakate oder wie hier das Drehbuch und der Film eines von der Schülergruppe gestalteten Stadtrundgangs sind zwar im Wettbewerb möglich, werden aber zu wenig gewürdigt. Hier könnte ein eigener reservierter Wettbewerbspreis für eine solche Schülergruppe die Inklusion in den Wettbewerb steigern.

Frageboxen

Gleichzeitig müsste das Prinzip des forschenden historischen Lernens begrifflich modifiziert werden. Im ersten Zitat wird deutlich, dass die Schülergruppe aus zwei Vorschlägen ein Thema ausgewählt hat. Die Vorstellung, dass die SchülerInnen das Thema allein entwickeln, ist hier illusorisch (und gelingt auch bei anderen Schülergruppen nur bedingt). Hinzu kommt, dass gerade FörderschülerInnen nicht immer durchgängig Geschichtsunterricht hatten, bei dem historische Kompetenzen angebahnt wurden. Oftmals ist Geschichte in der Förderschule ein weniger wichtiges Fach. So müssen bei einer angestrebten Wettbewerbsteilnahme viele Grundlagen geschaffen werden, bevor der Forschergeist erwacht. Dieser zeigt sich dann bspw. in einer vollen Fragebox, wobei die darin befindlichen Fragen zeigen, dass Quellen kritisch durchdacht („Wer ist der Zeuge, der die Geschichte der Belagerung geschrieben hat?“) und Ereignisse befragt werden („Hat der Bürgermeister beim Ausfall der Brettener während der Belagerung mitgekämpft?“). Die Schülergruppe konnte einen Experten interviewen und dabei feststellen, dass nicht alle Fragen an die Vergangenheit geklärt werden können. Diese Ergebnisse zeigen, dass forschendes historisches Lernen grundsätzlich möglich ist, wenn auch mit Einschränkungen.

Begleitete Selbständigkeit

Auch die dem forschenden historischen Lernen implizite Selbstständigkeit ist hier zu modifizieren: TutorInnen, die historische Kompetenzen anbahnen und historische Projekte für die SchülerInnen mit Förderbedarf methodisch angemessen anbahnen können, sind für eine Teilnahme am Wettbewerb unumgänglich. Spezielle Tutorenworkshops durch die Körber-Stiftung könnten hier mehr Lehrkräfte motivieren, ebenso ein Tutorenpreis, der für diesen Kreis an LehrerInnen reserviert bleibt.

Gegen die Elitentendenz

Gerade weil die derzeit viel beschworene und diskutierte Inklusion kein Schlagwort bleiben soll, darf sich die Elitentendenz des Geschichtswettbewerbs nicht weiter verfestigen. Vielmehr sollten Anstrengungen unternommen werden, die in letzten Wettbewerb geringe Zahl an Beiträgen aus Förderschulen (vier von 1314) zu steigern.

 

Literatur

  • Alavi, Bettina / Terfloth, Karin: Historisches Lernen im inklusiven Unterricht. In: Klauß, Theo / Terfloth, Karin (Hrsg.): Gemeinsam besser lernen! Inklusive Schulentwicklung, Heidelberg 2013. S. 185-207.
  • Borries, Bodo von: „Forschendes historisches Lernen“ ist mehr als „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“. Rückblick und Ausblick. In: Heuer, Christian / Pflüger, Christine (Hrsg.): Geschichte und ihre Didaktik – Ein weites Feld … Unterricht, Wissenschaft, Alltagswelt. Gerhard Schneider zum 65. Geburtstag, Schwalbach/Ts. 2009. S. 130-148.
  • Nellen, Jörg: Kompetenzen historischen Denkens am Beispiel erfolgreicher Beiträge zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten aus Hauptschule, Realschule und Gesamtschule. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 110-130.

Externe Links

Abbildungsnachweis
© Thomas Platow, http://www.koerber-stiftung.de/bildung/geschichtswettbewerb/thema-nachbarn/themenideen-im-internet.html.

Empfohlene Zitierweise
Alavi, Bettina: Inklusion und Geschichtswettbewerb – Barrierefreier Geschichtswettbewerb? In: Public History Weekly 1 (2013) 1, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-129.

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Zeitverkauf

 

Geschichte wird gemessen, gezählt, gedeutet, erzählt. So verpackt, dient sie sehr unterschiedlichen Zwecken: zur Orientierung der Zeitgenossen in ihrer Gegenwart, für den Druck in Hochglanzmagazinen, als fein abgewogene Ware. Mal gibt es zu viel von ihr, mal zu wenig, zuweilen ist sie veraltet, dann wieder aufregend neu. Lesen Sie, wie sich die Geschichtsdidaktik in diesem Geschäft mit vielen Konkurrenten schlägt.

 

Konkurrenzen

Eines der wesentlichen Versprechen der Geschichtsdidaktik an die Geschichtslernenden ist die Orientierung in der Gegenwart durch Zeiterfahrung. Das Angebot ist freilich nicht konkurrenzlos. So hatte ich kürzlich ein ganz eigenes Zeiterlebnis in jenem Organ, das hierzulande zumindest einer geschmacklich gebildeten Intelligenz beim Denken die Richtung weist, dem Zeit-Magazin. Dort bewarb die Firma Rolex ihre exquisiten Armbanduhren, die an den Gelenken von „testimonials“ wie Martin Luther King, Sophia Loren oder Roger Federer prangten. Die rhetorische Frage „Warum diese Uhr?“ wurde so beantwortet: „Sie war Zeitzeugin. Sie war dabei, als Worte gesprochen wurden, die ganze Nationen bewegten. Als Menschen über sich selbst hinauswuchsen.“ Dann in Fettdruck: „Sie zählt nicht nur die Zeit. Sie erzählt Zeitgeschichte.“ Ich dachte mir: Welch freisinniger Umgang mit Begriffen und Werten meiner Disziplin! Als Geschichtsdidaktiker fühlte ich mich herausgefordert.

Manchester, zum Beispiel

Das Heft las ich auf dem Rückflug von einem Besuch des englischen Manchester, was nicht ohne Wirkung auf meine Gedankengänge blieb. Schließlich ist Großbritannien ein Land von großem historischem Bewusstsein (während zugleich der Geschichtsunterricht mindestens so im Argen liegt wie in Deutschland, weshalb man ihn auf der Insel schon in der Mittelstufe abwählen darf). Während meines Aufenthalts war ich in einer Image-Broschüre der Stadt zwischen tausend Empfehlungen für stilvolles Essen, beglückendes Shopping oder erfolgreiches Investment auf einen ehrgeizigen Abriss zum, wie es in den angelsächsischen Ländern heißt, local heritage gestoßen. Tatsächlich häufen sich ja in Manchester menschheitsgeschichtliche Highlights in erstaunlicher Zahl: Hier lag der Abgangsbahnhof der ersten regelmäßig verkehrenden Personen-Eisenbahn der Welt, der namengebende Ursprung des entfesselten Kapitalismus, der Ort des Zusammentreffens von Karl Marx mit Friedrich Engels (dadurch wohl die Wiege des Marxismus), die Heimat des female suffrage in Person der Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst, die Wirkungsstätte des Computer-Pioniers Alan Turing (der im Zweiten Weltkrieg den deutschen Enigma-Code für den britischen Geheimdienst knackte), später eine Keimzelle für das in guter multiethnischer Nachbarschaft gelebte diversity-Konzept sowie ein erster Sonnenplatz der ihr Versteck verlassenden gay scene. Zu den Schattenseiten des Erbes rechneten die Autoren die miserablen Zustände in den Baumwollspinnereien (die Engels zu seiner „Lage der arbeitenden Klasse“ veranlassten), jene von der Kavallerie niedergemähte Protestkundgebung von 1819 („Peterloo-Massaker“, mit elf Todesopfern), die schweren Rassenunruhen der 1970er Jahre, das größte Bombenattentat in Friedenszeiten auf englischem Boden (mit welchem die IRA 1996 die halbe Innenstadt in Schutt und Asche legte). Die Konklusion der historischen Erzählung lautete demnach grob: In dieser ehrwürdigen Stadt wurde zwar der Manchester-Liberalismus erfunden und mit ihm die infame Idee des „serious wealth“, aber eben auch eine kritische Gegenerzählung durch die Arbeiter – und überhaupt alle möglichen Befreiungsbewegungen.

People love places with a scandalous past

Erleben lässt sich dieses Narrativ der Aussöhnung, wenn man auf einem Spaziergang entlang der schmalen Kanäle Manchesters sieht, wie sich in den zahllosen aufgelassenen Fabriken und Lagerhäusern – für deren Abriss nach dem Ende der industriellen Hochzeit schlicht das Geld fehlte – aktuell eine erstarkte Bürgerschaft zwischen gusseisernen Hallenkonstruktionen, Resten ausgedienter Maschinenparks, unverputzten Backsteinmauern behaglich einrichtet. Dieses Prinzip der Konservierung nach dem Typ „Vergangenheit schlägt Funktion“ begegnet uns genauso im Berliner Scheunenviertel, wo junge Menschen Cocktails unter der sehr alten Ankündigung einer Armenspeisung trinken, oder in Paris, wo im vormals jüdisch geprägten Marais das liebevoll gepflegte Ladenschild einer koscheren Bäckerei nunmehr die Eingangstür einer Designer-Boutique ziert. Die Entscheidung, in solch erinnerungssattem Bezirk zu wohnen, auszugehen, einzukaufen, heißt dann zwar immer, sich anhand des historischen Zitats, des spielerischen Symbols, des ironischen Simulacrums in die besondere Geschichte des Ortes einzuschreiben. Oder wie mir ein flinker Makler einmal frohgemut verkündete: People love places with a scandalous past. Aber derart postmodernes Geschichtsbewusstsein ruft auch aus: Die Gegenwart ist gerade keine bloße Weiterentwicklung des Gewesenen, sondern dessen souveräne Inspiration und zuweilen sein Gegenentwurf.

Der angebissene Apfel

Ja, wir lieben diese Sorte marktgängig konfektionierter Geschichte heute sehr und daher wird sie uns, gut kapitalistisch, käuflich. Das mag den behaupteten Zeitzeugenstatus sogar von etwas derart Seelenlosem und, nebenbei, rührend Altmodischem wie einer Armbanduhr begründen. Indessen weiß die Geschichtsdidaktik, dass die Zählung der Zeit so wenig als rational kalkulierendes Geschäft gelingt wie ihre erzählende Deutung und Interpretation. Die Wahrnehmung des Vergehens ist vielmehr selbst ein Zeitphänomen. Und deswegen kennt die Orientierung der Lebenswelt durch Geschichte – das heißt wörtlich: die Weisung des Weges nach Osten, Richtung Sonnenaufgang, nach Jerusalem, ins Paradies – nur Schlangenlinien. Alan Turing jedenfalls wählte 1954 noch den Freitod, nachdem ihn sein Staat durch ein medizinisches Programm zur Bekämpfung der Homosexualität psychisch zerstört hatte. Dazu verzehrte er einen vergifteten Apfel (die Umrisse der angebissenen Frucht dienten später womöglich als Vorbild des Apple-Logos). Im Jahr 2012 jedoch, zu seinem hundertsten Geburtstag, machte der olympische Fackellauf mit Zielort London Station an dem mittlerweile ihm zu Ehren in Manchester errichteten „Memorial“. Ob Turing jemals eine Rolex besaß, ist unwahrscheinlich; aber der von viel jubelndem Volk begleitete Stabtausch der Erinnerung ist auch so gut bezeugt. Public History eben.

 

Literatur

  • Michele Barricelli: Gegenwart und Erinnerung in der großen Stadt. Ein Bericht über symbolisches Geschichtsbewusstsein in Prozessen des urbanen Wandels („Gentrification“). In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 1/2013.
  • Carla van Boxtel/Stephan Klein/Ellen Snoep (Hrsg.): Heritage Education. Challenges in Dealing With the Past. Amsterdam 2011.
  • Mike Seidensticker: Werbung mit Geschichte. Ästhetik und Rhetorik des Historischen. Köln u.a. 1995.

Externe Links

Abbildungsnachweis

© Michele Barricelli, Royal Mills in Manchester: Apartments for Sale.

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Scheinpluralismus. Oder: Wie ich mir einen Schulbuchbeitrag bastle

 

Das Herzstück deutscher Bildungspolitik ist der Pluralismus. Für das Fach Geschichte gibt es deshalb nicht ein Schulbuch, sondern 41.1 Ideale Voraussetzung für geschichtsdidaktische Prinzipien wie Multiperspektivität – sollte man meinen. Doch weit gefehlt: bei näherem Hinsehen entpuppt sich diese Vielfalt als Scheinpluralismus.

 

Kuba-Krise oder Cuba Libre?

Es werden in den Büchern nicht nur die immer gleichen Bild- und Textquellen benutzt, sondern die Autorentexte folgen zumeist ein und demselben Narrativ, das im Grunde als „Meistererzählung“ charakterisiert werden kann. Die 60er Jahre feiern fröhliche Urständ. Ich will das an einem Beispiel zur Kuba-Krise erläutern. Bei einer Durchsicht der entsprechenden Schulbücher für beide Sekundarstufen des Landes Nordrhein-Westfalen sieht man, dass das Thema „Kuba-Krise“ üblicherweise in das Kapitel zum „Kalten Krieg“ eingegliedert wird und auf einer Schulbuchdoppelseite einen wenig komplexen Autorentext bietet, der die Kuba-Krise als Höhe- und Wendepunkt des Kalten Krieges verständlich macht. Die Auswahl der schriftlichen Quellen lässt sich fast ausschließlich auf die Fernsehansprache Kennedys und den Schriftwechsel zwischen Chruschtschow und Kennedy eingrenzen. Weiterhin befinden sich in fast allen Schulbüchern eine Karikatur mit Chruschtschow und Kennedy und eine Karte, welche die Reichweite der sowjetischen Raketen auf Kuba zeigt. In neueren Werken hat der Aspekt der Geschichtskultur über den Spielfilm „Thirteen Days“ (USA, 2000) Eingang in die Schulbuchkapitel gefunden.

Kennedys Heldenverehrung

Was machen die SchulbuchautorInnen aus diesen Zutaten? Sie verzichten auf die Vorgeschichte der sowjetischen Raketenstationierung und erzählen, wie Kennedy die Welt rettete. Kein Wort über den kubanischen Diktator Batista und seine Unterstützung durch die USA. Kein Wort über die kubanische Revolution und den folgenden Wirtschaftsboykott der Insel durch die USA. Keine Erwähnung der von der CIA gedeckten Invasion der Insel durch Exilkubaner in der Schweinebucht im Jahr 1961. Und – schlimmer noch – kein Wort über die bereits seit 1959 beginnende Stationierung von amerikanischen Atomraketen in Italien und in der Türkei, die Moskau locker erreichen konnten. Die Sowjetunion wird so zum unprovozierten Eindringling in den Vorgarten der USA, den Präsident Kennedy in einem wahren Heldenstück verteidigt und gleich die Demokratie und die westliche Welt mitrettet. Man muss die Politik von Fidel Castro – der übrigens in den Texten auch meistens nicht vorkommt – und des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow nicht bejubeln. Aber man kann versuchen, deren Intentionen und Handlungsoptionen zu verstehen. Stattdessen liefern die Bücher das Kalte-Krieg-Narrativ von den guten Amerikanern und den bösen Sowjets.

Quelle – passend gemacht

Die Quellen werden dazu passend gemacht: Kennedy siegt nach Punkten. Die Karikatur von Chruschtschow und Kennedy wird ausschließlich nach einem SPIEGEL-Artikel vom 7. November 1962 mit der Bildunterschrift „Einverstanden, Herr Präsident, wir wollen verhandeln …“, zitiert.2 Die Karikatur ist aber bereits am 29. Oktober 1962 in der englischen Tageszeitung Daily Mail erschienen, und zwar ohne Bildunterschrift.3 Chruschtschow hatte am 28. Oktober die amerikanischen Bedingungen zum Raketenabzug aus Kuba akzeptiert. Darauf nimmt die Karikatur Bezug, indem der Autor vielleicht sagen will, dass trotz des scheinbaren Endes der Kuba-Krise die nukleare Bedrohung andauern werde und die Möglichkeit der Vernichtung der Menschheit keineswegs ausgeschlossen sei.4 Die Bildunterschrift des SPIEGEL wird aber in den meisten Schulbüchern als „Originaluntertitel“ bezeichnet – weil das so gut zum Text über die Dramatik der Kuba-Krise passt! Das Ringen der beiden Kontrahenten auf der Karikatur wird in die „Thirteen Days“ (14.-28.10.1962) zurückverlegt. Hier findet nicht historische Rekonstruktion statt, sondern erinnerungskulturelle Remediation.

Wir wollen hören, was wir wissen

Bleibt die Frage: Warum ist das so? Oft wird behauptet, Schulbücher werden aus Schulbüchern abgeschrieben, die eine Geschichte wird perpetuiert. Das mag sein. Mir scheint aber eher, dass die Autorentexte ein geschichtspolitisch und erinnerungskulturell erwünschtes Narrativ produzieren, das von Politik, Gesellschaft und Verlagen getragen wird. Wahrscheinlich ist es genau diese Konstellation, der es bei Geschichte auf Genauigkeit und wissenschaftliche Redlichkeit nicht wirklich ankommt. Wir wissen ja schon aus dem Museum, dass sich die BesucherInnen gerne das bestätigen lassen, was sie ohnehin schon wissen. Das dürfte bei Schulbüchern nicht ganz anders sein.

 

 

Literatur
  • Greiner, Bernd: Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg. München 2010.
  • Frankel, Max: High Noon in the Cold War. Kennedy, Khrushchev, and the Cuban Missile Crisis.
    New York 2004.
  • Kaufmann, Günter: Neue Bücher - alte Fehler. Zur Bildpräsentation in Schulgeschichtsbüchern.
    In: GWU 51 (2000), S. 68-87.
  • Schnakenberg, Ulrich: Die Karikatur im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012.

Abbildungsnachweis

(c) L. G. Illingworth, Daily Mail v. 29. Oktober 1962, keine Bildunterschrift.

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Der ideale Herrscher: zwei Anforderungsprofile

In der Geschichte des kaiserlichen China finden sich wiederholt Überlegungen zur Rolle des Kaisers und die an ihn zu stellenden Anforderungen.

In seinem politischen Testament hatte der 649 n. Chr. verstorbene Tang-Kaiser Taizong ein Anforderungsprofil für einen idealen Herrscher entwickelt, das neben den Charaktereigenschaften auch die notwendigen Fähigkeiten und Aufgaben umfasste:

1. die Persönlichkeit des Herrschers; 2. die Einbeziehung von Verwandten; 3. die Suche nach den Würdigsten; 4. die sorgfältige Auswahl der Beamten; 5. das Zulassen von mahnenden Worten; 6. die Distanzierung zu Schmeichlern; 7. das Vermeiden von Ausschweifungen; 8. die Wertschätzung von Bescheidenheit; 9. die Ausgewogenheit von Belohnungen und Strafen; 10. die Förderung der Landwirtschaft; 11. die Wachsamkeit in militärischen Angelegenheiten; 12. die Würdigung des Lernens.[1]

In die Form von neun Geboten goss der Philosoph Zhu Xi 朱熹 (1130-1200) die grundlegendsten Voraussetzungen für eine gelungene Herrschaft. Dabei spielten die meisten der schon im politischen Testament des Taizong genannten Punkte eine Rolle. Zhu Xi ging insofern weiter, als er auch die möglichen beziehungsweise die zu erwartenden Wirkungen der Einhaltung dieser Gebote hinzufügte:

  1. Gründliches Lernen, um den Charakter richtig zu bilden.
  2. Der Kaiser soll sich persönlich vervollkommnen, um die Familie in Ordnung zu halten.
  3. Der Kaiser soll Schmeichler und Günstlinge fernhalten, um treue und ehrliche Leute in der Nähe zu haben.
  4. Der Kaiser soll parteiische Neigungen unterdrücken, um die Gerechtigkeit hochzuhalten
  5. Der Kaiser soll Sinn und Vernunft leuchten lassen, um den Aberglauben zu beseitigen.
  6. Der Kaiser soll Erzieher auserwählen, um den Thronfolger zu leiten.
  7. Der Kaiser soll mit Sorgfalt Träger einer höchsten Verantwortung erwählen, um eine oberste Reichsleitung sichtbar erkennen zu lassen
  8. Entfaltung der obersten Staatsgrundsätze, um die Volksmoral zu heben.
  9. Sparsamkeit im persönlichen Aufwand zwecks Stärkung des Reichsvermögens.[2]

Die fähigsten Kaiser wussten um die Bürde des Amtes. Im Dezember 1717, nach über einem halben Jahrhundert auf dem Thron, meinte der Kangxi 康熙-Kaiser (1654-1722, reg. 1662-1722):

Die Pflichten des Kaisers [...] sind furchtbar schwer und er kann ihnen nicht ausweichen … Wenn ein Beamter dienen will, dient er, und wenn er nicht mehr will, hört er auf … Dagegen findet der Monarch in seinem arbeitsreichen Leben keine Ruhe.[3]

  1. Thomas O. Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte (München 2008) 42. Wie Höllmann hinzufügt, entsprach Taizong nur sehr bedingt diesem Anforderungsprofil.
  2. Zhu Xi (1130-1200): Aus den neun Geboten für den Kaiser. In: Europa und die Kaiser von China (Berlin 1985) 88-91.
  3. Zitiert nach John King Fairbank: Geschichte des modernen China 1800-1985 (München 1989) 33.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/741

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Verwissenschaftlichung, Ordnung und „Engineering“ des Sozialen – Eine Sammelrezension von David Kuchenbuch

Als Lutz Raphael 1996 in „Geschichte und Gesellschaft“ einen Aufsatz zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ veröffentlichte[1], ging er wohl nicht davon aus, dass er damit das Stichwort für einen kleinen Forschungsboom liefern würde: Die verstärkten Interferenzen von Wissenschaft und Politik, allgemein … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5074

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Die Nuntien Rocci und Grimaldi

Im Rahmen des großen Editionsprojekts der Nuntiaturberichte aus Deutschland ist ein neuer Band erschienen. Es handelt sich um den 5. Band der 4. Abteilung, der die Phase vom September 1631 bis Ende Mai 1633 abdeckt. Neben den Berichten des Nuntius Ciriaco Rocci sind auch diejenigen Girolamo Grimaldis dokumentiert, der ab 1632 wie Rocci ebenfalls in Wien, allerdings als außerordentlicher Nuntius tätig war.

Deutlich über 200 Aktenstücke dokumentieren damit eine Zeit, in der sich der große machtpolitische Umbruch im Gefolge des schwedischen Kriegs vollzog. Es ist nichts Neues, aber trotzdem immer wieder ein heilsames Korrektiv, wenn man sich klarmachen muß, daß aus der Perspektive des Hl. Stuhls ein völliger Sieg der kaiserlichen Waffen alles andere als erwünscht war. Denn das Verhältnis zwischen der Kurie und den Habsburgern war angespannt genug, um gelassene bis verhalten erfreute Reaktionen auf die militärischen Rückschläge der kaiserlich-katholischen Seite im Reich hervorzurufen. Immerhin kam der Vorwurf konfessioneller Indifferenz oder mangelnder konfessioneller Solidarität schon damals auf, und die Kurie mühte sich, ihn zu entkräften, indem sie Grimaldi als Sondernuntius entsandt. Er sollte sich um eine Vermittlung zwischen den Habsburgern und dem mit Schweden verbündeten Frankreich bemühen.

Die Haupt- und Staatsaktionen dieser Monate spielen naturgemäß eine große Rolle; so sind Wallenstein, aber auch andere Militärs in den Berichten sehr präsent. Darüber hinaus schlägt sich aber auch eine Fülle von weiteren Themen in den Korrespondenzen nieder wie Personal-, Rang- und Zeremoniellfragen sowie Finanzielles. Der politische Blick der Nuntien richtet sich dabei nicht nur auf die Geschehnisse im Reich, sondern ebenso auf die anderen Mächte und nicht zuletzt auf die politischen Konstellationen in Italien. Insofern helfen die Nuntiaturberichte ein weiteres Mal, einen allzu sehr auf die Szenerie des Reichs fixierten Blick zu weiten.

Am Ende ein unvermeidlicher, aber notwendiger Hinweis: Wer einen solchen umfänglichen Band in der Hand hat, ist einerseits beeindruckt und freut sich auf die Entdeckungen, die in dieser Edition zu machen sein werden. Andererseits steht die Frage im Raum, warum es zum gedruckten Band nicht auch eine online-Fassung gibt. Man wird ja nicht mehr diskutieren müssen, welch großartige Möglichkeiten und auch Vorteile eine elektronische Edition heutzutage bietet. Vielleicht tut sich ja schon etwas beim noch ausstehenden Folgeband, der dann die Lücke zum schon vorliegenden Band 7 (1634-1635) schließen wird.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/290

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James II in meiner Dissertation

Nachdem ich all die Konferenzen nun gut überstanden habe, zahlreiche neue Eindrücke und Ideen mitgenommen habe und die Chance hatte, meine Arbeit zu diskutieren, sitze ich seit ein paar Wochen wieder regelmäßig in der Bibliothek und beiße mich durch mein erstes Kapitel der Dissertation.

Dazu muss man wissen, dass ich von allen Kapiteln bereits eine grobe Struktur geschrieben habe und also weiß wie die Dissertation am Ende aussehen wird, welche Argumente ich an welcher Stelle bringen werde und wie alles ineinandergreift. Und jetzt geht es eben an das tatsächliche Schreiben. Wer mir auf Twitter folgt, hat vielleicht meinen freudigen Tweet vor kurzem gesehen, dass das allererste Unterkapitel meines ersten Kapitels nun fertig sei – komplett mit allen Fußnoten, Inhalten und ausformulierten Sätzen. Da gehe ich vor der Überarbeitung nicht mehr dran! Das zweite Unterkapitel habe ich inzwischen auch fertiggestellt. Und ich hoffe, das gesamte erste Kapitel dann diese Woche zu beenden.

Was ist nun dieses erste Kapitel? Nicht die Einleitung, die schreibt man ja meistens zum Schluss, sondern in meinem Fall das Fallbeispiel, in dem ich mich am besten auskenne: die Absetzung von James II. in der Glorious Revolution.

Mit diesem Thema beschäftige ich mich seit mindestens drei Jahren immer wieder recht intensiv und auch auf den drei Konferenzen diesen Juli haben sich zwei meiner Vorträge mit Aspekten davon beschäftigt.

In den nächsten drei Artikeln, werde ich hier kurz vorstellen, 1. was die Glorious Revolution eigentlich war, 2. warum aktuell soviel über verschiedene Aspekte diskutiert wird und 3. was meine Einschätzung zu den Vorgängen ist.

Quelle: http://csarti.net/2013/09/james-ii-in-meiner-dissertation/

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Archiverschließung und -verwaltung mit standardkonformer Software

Maßgeblich für die Ausführungen zu den Standards ISDIAH, ISAAR, ISDF und ISAD in diesem Papier sind jeweils die englischsprachigen Ausgaben, die auf der Website des ICA verfügbar sind: http://www.ica.org/10206/standards/standards-list.html.

Gliederung:

0. Einleitung.

1. Erschließung.

1.1. Beschreibung des Archivs als Collection Holding Institution (ISDIAH/EAG).

1.2. Beschreibung von Bestandsbildnern (ISAAR-CPF/EAC-CPF).

1.3. Beschreibung von Funktionen (ISDF).

1.4. Beschreibung von Archivgut (ISAD-G und EAD).

1.5. Visualisierung von Beziehungsgemeinschaften mittels Digitalisaten, METS.

1.6. Beschreibung von semantischen Beziehungsgemeinschaften (CIDOC CRM).

2. Beständeverwaltung / Magazin.

3. Nutzungsverwaltung.

4. Anhang: Die Stufenverzeichnung nach ISAD(G).

0. Einleitung

Fragt man danach, was eine Archivsoftware heute zu leisten imstande sein soll, so könnte man in einem Brainstorming zu einem folgenden ersten Ergebnis kommen:

  • Standardgemäßes Erstellen und Verwalten von Authority Records (Thesauri?) für CPFs, Funktionen, Events, Orte (ISAAR, ISDF (ISAF?), EAC, …)
  • Standardgemäße Beschreibung von Archivgut (ISAD(G), EAD)
  • Standardkonforme Verwaltung digitaler Daten inklusive administrativer Metadaten (PREMIS), Verknüpfung zu digitalem Archiv möglich (DIMAG)
  • Integration von Digitalisaten in Erschließung und Findmittel, inkl. standardisierter Beschreibung (METS)
  • Relationale Erschließung durch standardisierte Beschreibung von Beziehungen und Entitäten (CIDOC CRM)
  • Nutzergesteuerte dynamische Generierung von Gliederungen und virtuellen Beständen auf der Grundlage von Thesauri o.ä.
  • Exportierbarkeit in EAD-XML und EAC-XML, Profilauswahl DDB, APEx, LoC sowie beschränkt frei konfigurierbar.
  • Ausdruck von Findmitteln nach ISDIAH-, ISAAR-, ISDF- und ISAD-Vorlagen sowie frei konfigurierbar
  • Erzeugung von onlinefähigen Findmitteln in Form von selbständigen HTML-Präsentationen  ohne Benötigung von Server-Komponenten oder Web-Diensten für ihre Nutzung

Sofort wird deutlich, dass Archivarbeit zu einer Arbeit mit internationalem Anspruch an die Standardisierung geworden ist, dass Metadatenformate zu „identity“ und „integrity“ eine zentrale Rolle spielen und dass die Nutzerorientierung der Archive zusammen mit den neuen technischen Möglichkeiten ein neues Verständnis von Erschließung und ihren Zielen geweckt hat. Daraus lassen sich Anforderungen ableiten, die eine markttaugliche Archivsoftware heute standardmäßig erfüllen sollte. Sie sind nicht unbedingt neu, sollen aber im Folgenden noch einmal zusammengefasst werden und dabei insbesondere Bezug auf die Bedürfnisse des Universitätsarchivs Bayreuth nehmen. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Erschließung, die Bereiche der Beständeverwaltung, des Magazins und der Nutzungsverwaltung wird nur gestreift, wenngleich dem Autor bewusst ist, dass gerade die Unversehrtheit und Authentizität von Archivgut im Verlauf seiner Verwahrung hohe technische Standards zu beachten zwingt, insbesondere wo es sich um digitale Archivalien handelt. Diese Standards sind aber weitgehend unstrittig und die Ansprüche an ihre technische Umsetzung variieren bei den Archivaren wohl deutlich weniger als im Bereich der Erschließung.

1. Erschließung

1.1. Beschreibung des Archivs als Collection Holding Institution (ISDIAH/EAG)

Für die Beschreibung von Institutionen, die archivalische Bestände und / oder Sammlungen verwahren, hat der Internationale Archivrat (ICA) den Standard ISDIAH entwickelt. Ihm soll der für die Onlinedarstellung geeignete XML-basierte Standard EAG (Encodes Archival Guide) entsprechen.

Der Standard ISDIAH ermöglicht den Beginn der Stufenerschließung auf der Ebene des Archivs als erster Verzeichnungsstufe. Um von dort auf die nächst tiefere Stufe zu kommen, benötigt die Beschreibung entsprechende Schnittstellenbereiche. Im Abschnitt Control Area ermöglicht ISDIAH sowohl eine Kurzbeschreibung der einzelnen Archivbestände als auch eine Verknüpfung zu Normdateien, die Aktenbildner beschreiben und im Standardformat ISAAR vorliegen. Entsprechende Verknüpfungspunkte benötigt EAG zu EAC-Dateien. In bislang testweise eingesetzten EAG-Profilen in Deutschland liefert beispielsweise der Tag <repositorguides> die Verknüpfung zu Beständeübersichten.[1] Damit verhält sich EAG ebenso konsequent wie die Standards EAC und EAD, die kaum Überschneidungen mit Beschreibung anderer Erschließungsentitäten zulassen. Sie unterscheiden sich dadurch sowohl von ISDIAH als auch von ISAAR und ISAD. Letztere erlauben stets die Verknüpfung durch integrierte Kurzfassungen der Beschreibung. So erlaubt ISDIAH in seinem Kapitel 6, Kurzbeschreibungen von Bestandsbildnern und deren Überlieferung, die sich im Archiv befinden. Von hier aus ist der Link zu den ausführlichen ISAAR- und ISAD- Beschreibungen der Bestandsbildner und Bestände zu setzen. Diese Form der ineinander verflochtenen Beschreibungen beinhaltet zwar regelmäßig ein Stück Redundanz, ist aber zugleich nutzerfreundlich, weil dadurch exzerpierte Konzentrate von Information bereitgestellt werden.[2]

Das EAG-Profil des Bundesarchivs vom Februar 2009, das auf seiner Website veröffentlicht ist (http://www.bundesarchiv.de/imperia/md/content/archivportald/090209_eag_profile_en.pdf), scheint mit ISDIAH weitgehend übereinzustimmen. Nicht zu finden waren im Beschreibungsbereich der ISDIAH-Abschnitt 5.3.2 Geographical and cultural context, 5.3.3 Mandates/Sources of authority, 5.3.5 Records management and collecting policies, 5.3.7 Archival and other holdings, 5.3.8 Finding aids, guides and publications. Im Bereich “Dienstleistungen” fehlt 5.5.3 Public Areas. Ferner fehlen einige Punkte im Kontrollbereich, vor allem 5.6.3 Rules and/or conventions used.

Ob die Abbildung aller ISDIAH-Abschnitte in EAG nötig ist, mag man differenziert sehen. Auf die Beschreibung der Public Areas (5.5.3) mag man wohl leicht verzichten können.

Eine Archivsoftware sollte gleichermaßen ISDIAH und EAG bedienen können. Wenn ein Archiv seine eigene Beschreibung als gleichsam oberste Erschließungsstufe ansehen möchte, so wird es dafür einen Erschließungsstandard anwenden, der angemessen ausführliche Informationen aufnehmen kann. Das vorliegende EAG-Profil ist dafür noch zu eng. Zweckmäßig erscheint es, im deutschen Archivwesen derzeit das EAG-Profil des Bundesarchivs zwar zugrunde zu legen, es aber flexibler zu gestalten, indem beispielsweise mehr Freitextfelder vorgesehen werden. Die angebotenen Crosswalks sind teilweise nicht wirklich kompatibel. So referenziert der bei Arnold angebotene ISDIAH-EAG-Crosswalk für Nr. 5.4.3 Accessibility von ISDIAH, wo geographische und Informationen zur Anreise zum Archiv und keineswegs nur Angaben über Barrierefreiheit einzutragen sind, lediglich auf <desc><buildinginfo><handicapped>.[3] Wo Angaben zur Anreisegeographie eingetragen werden können, ist nicht ersichtlich.

Die hier bestehenden Unklarheiten sollten insbesondere bei den zuständigen Stellen des Archivportals D (DDB) und des Projekts APEx vorgebracht werden. Erst wenn Klarheit über die künftige Ausrichtung eines EAG-Profils besteht, sollten Veränderungen bzw. Erstimplementierungen in der Software vorgenommen werden.

ISDIAH: http://www.ica.org/?lid=10198

1.2. Beschreibung von Bestandsbildnern (ISAAR-CPF/EAC-CPF)

Die Beschreibung mittels ISAAR-CPF / EAC-CPF bezieht sich in erster Linie auf Bestandsbildner (creator). Die Entwicklungen und Metadatenmodelle, die in unterschiedlichen internationalen Portalprojekten zur Anwendung kommen, verwenden zur Bezeichnung des Beschreibungsobjekts inzwischen lieber den Begriff des agent. Dabei spielt es mitunter explizit keine Rolle mehr, ob das Beschreibungsobjekt als Bestandsbildner oder sonstiger Akteur auftritt, der in irgendeiner Beziehung zur Entstehung, zum Inhalt oder zur Gestaltung von Archivbeständen und Sammlungen steht. Unter dieser Voraussetzung kommt der Beschreibung von Funktionen im Rahmen einer Akteursbeschreibung gesteigerte Bedeutung zu.

Metadatenmodelle zeigen Beziehungen zwischen Archiven, Bestandsbildnern und anderen Akteuren, Funktionen und Beständen auf. Demzufolge sind neben diesen vier Entitäten deren Beziehungen zueinander ein wesentliches Objekt der Erschließung. Die Darstellung von Erschließungsergebnissen dient der Visualisierung solcher Beziehungsgemeinschaften, wobei die Entitäten die Eckpunkte sind, die eine flexible Visualisierung durch die jeweilige Konzentration auf die eine oder die andere Entität ermöglichen. Die Folge ist, dass Archivbestände keine absolute Tektonik besitzen. Bisher wurden Tektoniken im Hinblick auf eine Ausrichtung auf jeweils eine einzige Entität fixiert. Archive waren entweder nach Bestandsbildnern gegliedert oder nach Funktionen, wobei letztere Fälle in der Realität zumeist nur Überreste des Pertinenzprinzips waren.

Die Zuweisung von mit Archivgut in Beziehung stehenden Akteuren ist von einer Tektonik jedoch zunächst völlig unabhängig. Bei der Erschließung von Archivgut sind solche Informationen Attribute, die den Beschreibungen hinzugefügt werden müssen. Um im Weiteren Beziehungsgemeinschaften anderer Art flexibel darstellen zu können, dürfte sich die Anwendung des Prinzips der Vererbung von Information von der höheren zur niedrigeren Verzeichnungsstufe nicht länger anwenden lassen. Denn auf höherer Stufe angebrachte Information fixiert die Strukturen, die unterhalb geschaffen werden. Das aber macht Erschließungsvisualisierung inflexibel. Es ist daher eine Anforderung an Archivsoftware, alle für eine Verzeichnungsstufe zutreffende Erschließungsinformation unmittelbar bei der Verzeichnungseinheit vorzuhalten, auch wenn dadurch scheinbar Redundanz entsteht.

Zusätzlich zur Information über Akteure bedarf die Erschließung der Information über die wahrgenommenen Funktionen. Es genügt dafür nicht, den einzelnen Akteuren bei deren Beschreibung Funktionen attributiert zu haben. Bei der Verzeichnung von Archivgut sind die einzelnen Funktionen beim Namen zu nennen, die sich in den Verzeichnungseinheiten spiegeln. Geht man auch hier so vor, dass die Information über die Funktionen nicht nach dem Vererbungsprinzip, sondern jeweils unmittelbar bei den Verzeichnungseinheiten vermerkt werden, ermöglicht man eine strukturierte Visualisierung des Archivbestands nicht nur nach den institutionellen, sondern alternativ auch nach den funktionalen Provenienzen.

Für eine Archivsoftware bedeutet das, dass eine feste Tektonik keine so wichtige Rolle mehr spielt. Zwar werden auch künftig viele Archivare das Tektonikmodell für die Erschließung nutzen. Eine Software, die das als einzige Erschließungstechnik zulässt, entspricht den Anforderungen der modernen Archivwissenschaft jedoch nicht. Flexible Erschließung von Beziehungsgemeinschaften könnte beispielsweise mit Thesauri arbeiten, die mit Normdatensätzen verknüpft sind. So müsste es einen Thesaurus für Akteure geben, die nach ISAAR-CPF / EAC-CPF beschrieben werden, und einen Thesaurus für Funktionen, die nach ISDF beschrieben werden. Die Beschreibung des Archivguts nach ISAD / EAD stünde weiterhin im Mittelpunkt der Software. Die Gliederung der Bestände sollte durch Hierarchisierungen innerhalb der Thesauri erfolgen, die durch die Attributierung eines Thesauruseintrags an die Verzeichnungseinheit übertragen würde. Die Tektonik ergäbe sich, indem die Software bei einer Findmittelgenerierung auf die Hierarchieinformation der attributierten Thesauruseinträge zugreift und die Verzeichnungseinheiten darauf gründend tektonisch sortiert. Der klassische Tektonikbaum wäre während der Verzeichnung nicht mehr nötig. Seine eigentlich Funktion, Strukturen zu fixieren, wäre noch dort anzuwenden, wo solche im Einzelfall vom Archivar festgesetzt werden, beispielsweise in der Abbildung von Serien.

Grundsätzlich ist es wünschenswert, alle Felder in einer Erschließungssoftware, in die deskriptive Metadaten eingetragen werden, mit einem jeweils passenden EAC- bzw. EAD-Tag zu versehen. Für Exporte wäre dann zu definieren, ob ein vorgehaltenes Fremd- oder Portalprofil (z.B. für das Archivportal Europa) angewandt oder ob ein Vollexport (oder manuell eingeschränkter Export) nach einem softwarespezifischen oder beispielsweise nach einem an der vollständigen EAD Tag Library orientierten Profil ausgegeben werden soll. Auf diese Weise wäre sichergestellt, dass die komplette Verzeichnung standardgerecht erfolgt und in einem standardgerechten Export abgebildet werden kann.

ISAAR-CPF: http://www.ica.org/10203/standards/isaar-cpf-international-standard-archival-authority-record-for-corporate-bodies-persons-and-families-2nd-edition.html

1.3. Beschreibung von Funktionen (ISDF)

Für die Beschreibung von Funktion existiert noch kein XML-basierter Standard. Ein „EAC-F“ steht noch aus. Wie institutionelle Provenienzen im CPF-Thesaurus gemäß ISAAR-CPF oder EAC-CPF beschrieben werden sollen, so könnte analog dazu die Beschreibung von Funktionen im Funktionenthesaurus erfolgen. Die Feldaufteilung entspräche den Vorgaben des ISDF. Sobald es einmal einen Standard EAC-F geben wird, kann den Feldern mittels Crosswalk der jeweils zugehörige EAC-Tag hinterlegt werden.

ISDF: http://www.ica.org/10208/standards/isdf-international-standard-for-describing-functions.html

1.4. Beschreibung von Archivgut (ISAD-G und EAD)

Die meisten auf dem Markt erhältlichen Erschließungsprogramme sind weitgehend ISAD(G)-konform und bieten ein EAD-Exportmodul an. Nähere Ausführungen zur Anwendung von Verzeichnungsstufen finden sich im Anhang „Die Stufenverzeichnung nach ISAD(G)“. EAD-XML ist als Austauschformat mehr als nur ein Exportformat zur Präsentation von Erschließungsdaten in Portalen. Vielmehr ist es geeignet, kollaborative Erschließungsprojekte zu begünstigen, Inhalte zu exportieren, andernorts weiterzubearbeiten, wieder zu importieren und mit zusätzlichen Daten, die an einem dritten Ort dazu erhoben wurden, zu vervollständigen: kollaborative Erschließung am virtuellen Bestand. Insofern soll das EAD-Profil eher weit ausgreifen als auf wenige Felder beschränkt sein. Für das Universitätsarchiv Bayreuth soll das heißen, dass es sich bis zur Veröffentlichung des revidierten EAD-Schemas durch die Library of Congress am Profil des Bundesarchivs orientiert, das von diesem auf seinen Websites bereitgestellt ist. Zugleich soll eine Archivsoftware Tool bereitstellen, die einen flexiblen Umgang mit diesem Profil erlaubt, wie z.B. Matching mit Portalprofilen, freie Auswahl von zu exportierenden Daten, um Exportfiles zu beliebig unterschiedlichen Zwecken zu nutzen. Der Softwareanbieter muss in der Lage sein, hier nötigenfalls unkomplizierten technischen Support im Rahmen seines Lizenzvertrags zu leisten. Grundsätzlich sollen Exporte, Importe und Konfigurationen vom Bearbeiter über eine Menüsteuerung am Arbeitsplatz erfolgen. Das originale Findbuch soll der EAD-XML-File sein, der zusammen mit einer Ausgenerierung in eine HTML-Präsentation publiziert wird.

EAD: http://www.bundesarchiv.de/imperia/md/content/archivportald/090407_ead_profil_findbuch_de.pdf

ISAD(G): http://www.ica.org/10207/standards/isadg-general-international-standard-archival-description-second-edition.html

1.5. Visualisierung von Beziehungsgemeinschaften mittels Digitalisaten, METS

Erschließung, die es sich zum Ziel setzt, die Mehrschichtigkeit von Kontexten, ihre (chronologische) De- und erneute Rekontextualisierung aufzuzeigen, muss, um nicht in der Theorie verhaftet zu sein, mit Digitalisaten arbeiten, die es auch erlauben, Beziehungsgemeinschaften in einer Weise zu rekonstruieren, der die Ordnung des analogen Archivguts nicht entspricht. Es muss möglich sein, beispielsweise Akten sichtbar zu machen, die als in dieser Struktur nicht oder nicht mehr real existieren. Durch eine flexible Aneinanderreihung von Images, die zusammen als Akte vom verzeichnenden Archivar definiert wird, ist diese Visualisierung möglich. Der Archivar würde diese neu entstandene Einheit mittels einer METS-konformen Beschreibung als Einheit kennzeichnen und sie seiner (EAD-konformen) Beschreibung hinzugesellen.

Eine Archivsoftware muss die Fähigkeit besitzen, zu jeder Magazineinheit (!) ein Korpus von dazugehörigen Digitalisaten zu verwalten. Die Verknüpfung von Digitalisaten zu METS-Einheiten und mit EAD-Beschreibungen muss stets so weit nachvollziehbar sein, dass die administrativen Metadaten der Images jederzeit genauestens treffsicher zu den Lagerorten der analogen Originalvorlagen führen. Die originalen Einzelteile einer virtuellen Verzeichnungseinheit, die aus 150 quer durch das Magazin verstreuten Blättern bestünde, müssten mittels der mit der Beschreibung verknüpften METS-Datei und der den Digitalisaten inhärenten Metadaten jederzeit treffsicher auffindbar sein.

1.6. Beschreibung von semantischen Beziehungsgemeinschaften (CIDOC CRM)

Bei dieser Form der Erschließung werden Beziehungen zwischen Archivgut, Funktionen und Akteuren beschrieben. Die Arten der Beziehungen werden im Vorfeld standardisiert und in einem Thesaurus niedergelegt. Dadurch werden bei der Recherche Hierarchien durch den Nutzer frei definierbar. Er steuert die dynamische Generierung von Gliederungen und virtuellen Beständen auf der Grundlage von Thesauri nach seinen Recherchezielen.

Ein möglicher Standard, von dem man ausgehen könnte, zeigt sich in dem im Museumswesen entwickelten CIDOC Conceptual Reference Model. Es „ist eine formalisierte Ontologie, mit der unterschiedlich strukturierte Informationen aus dem Bereich des Kulturellen Erbes integriert, vermittelt und ausgetauscht werden können. Das CRM ist der Kulminationspunkt eines über 10 Jahre währenden Prozesses der Standardisierung kultureller Informationen innerhalb des Internationalen Ausschusses für Dokumentation (CIDOC) des Internationalen Museumsrates (ICOM, International Council Of Museums).“[1] Er besteht im Wesentlichen aus einem System von Klassen und einem System von Eigenschaften. Die Klassen sind die zu beschreibenden Entitäten, die Eigenschaften drücken die Art der Beziehung der Entitäten zueinander aus.

Eine Erschließung in Anlehnung an CIDOC CRM in Kombination mit den übrigen in diesem Papier genannten Standards bedeutet, die Konversionsmöglichkeiten der Produkte auf der Basis der herkömmlichen Standards zu erproben und Wege zur Optimierung der Ausgangsdaten zu finden. Beispielsweise lassen sich EAD-XML-Files in CIDOC CRM prinzipiell konvertieren, wenngleich sie die Möglichkeiten von CIDOC CRM nicht ausschöpfen.

2. Beständeverwaltung / Magazin

Eine moderne Archivsoftware soll eine klassische Magazinverwaltung ebenso beinhalten wie eine Schnittstelle zur Verwaltung eines digitalen Archivs unter Beachtung der dafür geltenden Standards. Besonders wünschenswert ist die Beachtung der für die Nutzerarchive relevanten archivübergreifenden Projekte, da digitale Archivierung eher selten von Archiven in Eigenregie ausßerhalb von Verbundstrukturen durchgeführt wird. Für Süddeutschland ist hier sicher das Projekt DIMAG zu berücksichtigen. Die Nutzung des OAIS-Referenzmodells für digitale Archivierung sollte dennoch nicht ausschließlich durch Schnittstellen zu solchen Projekten quasi ausgelagert werden, sondern nach Möglichkeit auch in einer Komponente in die Software integriert sein, etwa zur standardgerechten Archivierung digitaler Fotos, Dateien, E-Mails etc, die – anders als Datenbanken – bereits kurzfristig ins Archiv gelangen können.

3. Nutzungsverwaltung

Hierher gehört die Unterstützung der Speicherung der Nutzungen von Archivalien durch konkrete Nutzer, ihre Forschungsthemen etc., ferner u.a. die Generierung von Ausleihzetteln für das Magazin und den Nutzerakt. Den Anforderungen einiger Bundesländern entgegenkommend wäre die Führung einer elektronischen Benützerakte in der Archivsoftware ein künftig zu erwägendes Desiderat. Zur Nutzungsverwaltung gehören auch die erforderlichen Tools zur Protokollierung von Aushebung und Reponierung von Archivgut.

4. Anhang: Die Stufenverzeichnung nach ISAD(G)

 

 

Die Stufenverzeichnung nach ISAD(G)

Leitfaden für die Implementierung von Verzeichnungsstufen in die Erschließungssoftware des Archivs der Universität Bayreuth

 

Auf dem XIV. Internationalen Archivkongress in Sevilla wurde im Jahr 2000 die zweite, überarbeitete und den Anforderungen der archivischen Praxis angepasste Auflage der ISAD(G) veröffentlicht. Sie liegt in einer deutschen Übersetzung von Rainer Brüning, Werner Heegewaldt und Nils Brübach als 23. Band der „Veröffentlichungen der Archivschule Marburg“ vor. Als Autor firmiert das „Komitee für Verzeichnungsstandards“ des Internationalen Archivrats (ICA-CDS). ISAD(G) soll zwar primär als Verzeichnungsstandard fungieren, der ggf. vorhandene nationale Standards ergänzt und modifiziert, zum zweiten wurde in seiner zweiten Auflage verstärkt betont, dass ISAD(G) zugleich Instrument zum internationalen Austausch von Verzeichnungsinformation sein kann. Hier findet sich die Verknüpfbarkeit zum Austauschstandard EAD, der mittels vorhandener Crosswalks vorgenommen werden kann.

 

Der Aufbau einer Erschließungssoftware orientiert sich meist an den ISAD(G). Das Aufbauprinzip dieser Richtlinien ist ein Stufenmodell. Das bedeutet in der Hauptsache, dass Erschließungsinformation, die bereits auf höherer Ebene erfasst wird, auf den nachgeordneten Ebenen nicht mehr wiederholt wird. Auf diese Weise unterscheidet sich die archivische Erschließung fundamental von der bibliothekarischen Katalogisierung. Die Stufenverzeichnung ist ein Versuch, der „Vereinzelung von Archivguteinheiten entgegenzuwirken, indem diejenigen Informationen, die mehrere Verzeichnungseinheiten gleichzeitig betrifft, auf einer höheren Stufe erfasst, aber mit den Elementen verknüpft und gemeinsam ausgetauscht wird.“[i] Der Gefahr der Individualisierung der Einzelstücke soll damit begegnet werden. Verbunden mit diesem Verzeichnungsprinzip ist ein Bestandsbildungsprinzip, das die Kohärenzen innerhalb eines Bestandskorpus zu bewahren bestrebt ist. Der Verzeichnungsstandard ISAD(G) setzt somit ein hierarchisches Informationsgeflecht zwischen Archivalieneinheiten, Archivaliengruppen und Teilbeständen voraus, um sinnvoll angewandt zu werden. Auf diese Weise ergänzen sich das Prinzip der Bestandsbildung auf der Grundlage der Entstehungsstellen und das Prinzip der integrativen Verzeichnung hierarchisch aufeinander aufbauender Informationsebenen (Stufenverzeichnung), dem Prinzip der ISAD(G). Gleich vorweggeschickt sei, dass das Stufenmodell zwar ein Ausgangspunkt, aber für eine realitätsbezogene Erschließung mit heutigen technischen Möglichkeiten nicht mehr ausreichend ist. Die Vielfalt von Kontexten, die Erschließung abzubilden in der Lage ist, lässt die Einschränkung auf eine einzige Struktur und Kontexteinbettung, wie sie ISAD(G) verlangt, heute als realitätsfern oder den bei seiner Entwicklung noch nicht vorhandenen erweiterten Möglichkeiten der Informationstechnologie geschuldet begreifen. Gleichwohl ist ISAD(G) nach wie vor ein geeigneter Einstieg und eine wichtige Grundlage für die archivische Erschließung, zumal der Standard ja nicht auf das Stufenmodell und den Vererbungsgrundsatz beschränkt ist.

 

Das Stufenmodell, das die Bezeichnung der einzelnen Ebenen im Begriff der „Verzeichnungsstufe“ differenziert, lässt sich mit den „Kompositionsstufen“ der Erschließungslehre von Johannes Papritz in Beziehung bringen. Dabei besteht jede Kompositionsstufe aus Einheiten von verknüpften Elementen (Kompositionen), deren jedes für sich in einer voneinander verschiedenen Entstehungsstufe (Entwurf, Ausfertigung usw.) existieren kann. Diese Einheiten oder Kompositionen bieten die Grundlage für die Verzeichnungsstufe. Eine Zusammenstellung von Schriftstücken kann ceteris paribus als Akt bezeichnet werden, der auf der Verzeichnungsstufe der Akte beschrieben wird. Bilden mehrere Akte eine Serie, wird die Serie auf der Verzeichnungsstufe der Serie/Aktengruppe beschrieben, wobei die Erschließungsinformationen, die für alle diese Akte zutreffen, auf der Verzeichnungsstufe der Serie hinterlegt werden. Auf der Verzeichnungsstufe Akte finden sich dann nur die Informationen, die den einzelnen Akt der Serie vom anderen unterscheiden. Das Stufenmodell der ISAD(G) ist somit ein hierarchisches Modell der Beschreibung von Einheiten ohne informative Redundanz. Das Beschreibungsmodell wird auf diese Weise sehr komplex, je höher die oberste Verzeichnungsstufe angesetzt wird. Der Bedarf an Verzeichnungsstufen dürfte mit den folgenden weitestgehend abgedeckt sein:

 

  1. Bestandsgruppe
  2. Bestand/Fonds
  3. Teilbestand/Subfonds
  4. Serie/Aktengruppe
  5. Akt/File
  6. Vorgang/Subfile/Item (intellektuell unteilbare kleinste Einheit)
  7. Einzelstück/Dokument/Piece (physisch nicht weiter unterteilbare Einzelstück).

 

Diese Verzeichnungsstufen bezeichnen die Position der Verzeichnungseinheit im Bestandsaufbau. Sie bedürfen der Erläuterung.[ii]

 

  1. Bestandsgruppe:
    Die Bestandsgruppe ist ein fakultatives Element in der Tektonik eines Archivs, das nicht durchgängig für alle Bestände existieren muss. Bei der Erschließung werden die gemeinsamen Merkmale beschrieben. Die Bildung von Bestandsgruppen soll für den äußeren Betrachter nachvollziehbar, transparent und einsichtig sein. Es empfiehlt sich, die Bestandsgruppe auch als Verzeichnungsstufe zu verstehen.

 

  1. Bestand:
    Der Bestand ist das zentrale Strukturierungselement des Archivgutes eines Archivs. Ein Bestand umfasst idealerweise eine zusammengehörende Gruppe von Archivgut meist von einem Schriftgutbildner. Er ist auf der ersten (bzw. zweiten, falls Bestandsgruppen vorhanden) Gliederungsstufe unter der umfassenden Tektonik eines Archivs angesiedelt. Ein Bestand, der nur Archivgut unter Wahrung der Entstehungszusammenhänge umfasst, wird als Fonds bezeichnet. – Auf die einheitliche Herkunft legt die Definition in den ISAD(G) noch größeren Wert. Bestand und Fonds werden hier grundsätzlich gleichgesetzt: „Alle Unterlagen, unabhängig von Form und Trägermaterial, die auf organische Weise bei einer Person, Familie oder Körperschaft im Rahmen ihrer Tätigkeit und Funktion erwachsen und / oder von ihr zusammengestellt bzw. genutzt worden sind.“

 

  1. Teilbestand:
    „Untergliederung eines Bestands, die den verwaltungsmäßigen Aufbau der Provenienzstelle widerspiegelt, oder, wenn dies nicht möglich ist, nach geographischen, chronologischen, funktionalen oder ähnlichen Kriterien erfolgt. Wenn die Provenienzstelle eine komplexe hierarchische Struktur aufweist, so hat jeder Teilbestand wiederum so viele Untergliederungen, wie notwendig sind, um die Stufen der hierarchischen Struktur der betreffenden Organisationseinheit deutlich zu machen.“ – Die Teilbestände finden sich im Aufbau eines Findbuchs demnach in der Gliederung. Jeder Gliederungspunkt bildet einen Teilbestand ab. Die Abbildung der Teilbestände erfolgt demnach nicht in der Titelliste.

 

  1. Serie:
    Dabei handelt es sich um „Unterlagen, die nach einem Schriftgutverwaltungssystem geordnet oder als Einheit aufbewahrt werden, weil sie aus derselben Sammlung, demselben Entstehungsprozess oder derselben Tätigkeit erwachsen sind, eine besondere Form aufweisen oder weil sie in besonderer Beziehung zueinander stehen aufgrund ihrer Entstehung, ihres Empfangs oder ihrer Nutzung. Eine Serie kann als Aktenserie aufgefasst werden.“ Menne-Haritz legt Wert darauf, dass es innerhalb einer Serie unter den Serienelementen keine inneren Anhaltspunkte zu einer Systematisierung gibt. Als äußere Kriterien nennt sie exemplarisch die alphabetische, numerische oder chronologische Sortierung, zum Beispiel auch nach Korrespondenzpartnern. Die physischen Einschnitte werden durch Lagerungs- und Kompositionstechnik bedingt. Man kann daraus folgern, dass Serienelemente keine eigenen Titel haben können, sondern dieser immer dem Serientitel entsprechen muss und durch einen Enthältvermerk bei Bedarf näher spezifiziert werden kann. Die Erfüllung dieser Mindestvoraussetzung muss auch bei der Bildung von Serien und Aktengruppen beachtet werden, wenn sie erst im Archiv geschieht. Diese Folgerung sollte zur Sicherheit der einheitlichen Handhabe in die Erschließungsrichtlinien einfließen. Subserien sind Serien, die von einem Serienelement abhängen. Für sie gilt grundsätzlich das Gleiche wie für die Serie. Der spezifizierende Enthältvermerk des subserienbegründenden Serienelements ist im Sinne der „Scope and Content“-Definition der ISAD(G) der Titel der nachgeordneten Subserienelemente.

 

  1. Akt/File:
    Der Akt (Plural Akte) bzw. identisch die Akte (Plural Akten) wird in den ISAD(G) definiert als „organisierte Einheit von Schriftstücken, die entweder von der Provenienzstelle für den laufenden Gebrauch oder im Prozess der archivischen Ordnung aufgrund ihres Bezuges zum selben Gegenstand, zur selben Tätigkeit oder zum selben Vorgang zusammengestellt wurde. Eine Akte ist gewöhnlich Teil einer Serie.“ Hier weichen die deutsche Erschließungstradition und das deutsche Aktenverständnis in zwei Punkten deutlich von der Definition ab. Zum einen lassen sich Akten und Vorgänge aktenkundlich unterscheiden. Zwar kann ein Vorgang mit einem Akt identisch sein. In sehr vielen Fällen setzt sich ein Akt aber aus einer Anzahl von Vorgängen zusammen, so dass eine Trennung in zwei Verzeichnungsstufen anzuraten ist.[iii] Zum anderen ist ein Akt durchaus nicht gewöhnlich Teil einer Serie. Das mag je nach Registraturbildner unterschiedlich oft der Fall sein, kann aber nicht als Proprium eines Akts formuliert werden. Für die Findbucherstellung bedeutet das, dass Serien und Akten jederzeit auf gleicher hierarchischer Ebene stehen können. File ist zugleich als Generalbezeichnung für Archivalieneinheit zu verstehen. So können auch Einheiten anderer Archivaliengattungen (z.B. Urkunden, Fotos usw.) in den allermeisten Fällen dieser Verzeichnungsstufe zuzuordnen sein, falls sie nicht als Einzelstücke im Sinne von Nr. 7 aufzunehmen sind.

 

  1. Vorgang/Subfile/Item:
    Der Vorgang ist die intellektuell kleinste unteilbare Einheit von Archivschriftgut und ist immer Teil solcher Akten, die nicht selbst intellektuell kleinste unteilbare Einheit sind. Dabei handelt es sich um einen jeweils einzelnen, meist kooperativen „Entscheidungsprozess mit schriftlicher interner Steuerung und genau definiertem Beginn und Abschluss im Rahmen des Geschäftsgangs. Der Begriff bezeichnet ebenso die in seinem Verlauf entstandenen und gemeinsam abgelegten Aufzeichnungen als unterste, sachlich nicht mehr teilbare Schriftgutgemeinschaft. Es gibt keine Standardformen eines Vorgangs.“ Das Ergebnis eines Vorgangs kann z.B. ein ausgehendes Schreiben, ein Bescheid, ein Rechtstitel wie eine Urkunde oder auch eine Rechtsvorschrift sein. Der Vorgang spielt als Verzeichnungsstufe nur dann eine Rolle, wenn er nicht auf Grund seines Umfangs als Akte formiert ist. Die Verzeichnungsstufe Vorgang erstreckt sich auf Einzelvorgänge in einem Betreffssammelakt. Eine Serie von Betreffssammelakten (Betreffsserie) kann in der Beschreibung der Serienelemente ebenfalls auf die Verzeichnungsstufe der Vorgänge weiter heruntergebrochen werden. Betreffssammelakten und Betreffsserien bezeichnen durch ihren Titel die beinhaltenden Vorgänge mit einem übergreifenden, oft verallgemeinernden Titel.[iv] Bei solchen Serien kann die Spezifikation der Serienelemente mitunter recht umfangreich oder sehr inhaltlich sehr unterschiedlich ausfallen. Hier empfiehlt es sich, die nächsttiefere Verzeichnungsstufe des Vorgangs zu nutzen. Die intellektuell kleinste unteilbare Einheit kann auch aus einem einzigen Blatt bestehen, wie es z.B. bei Urkunden häufig der Fall ist.

 

  1. Einzelstück/Document/Piece
    Gemeint ist die kleinste unteilbare physische Einheit, also das Blatt. Diese Verzeichnungsstufe spielt in der archivischen Erschließung eine untergeordnete Rolle, weil das Beschreibungsergebnis nicht in sachlichem Zusammenhang mit den Beschreibungen der übrigen Verzeichnungsstufen steht. Diese Stufe kann dann eine Rolle spielen, wenn Dokumente einer exakten Formalbeschreibung unterworfen werden sollen, z.B. zur Vorbereitung einer Edition. Einzelstücke können als solche Subelemente von Akten und Vorgängen sein. Hinsichtlich Einzelstücken, die zugleich intellektuell kleinste unteilbare Einheiten sind, s. Nr. 6. Von Bedeutung kann diese Verzeichnungsstufe bei der Erschließung von Unterlagen als Gattungsbestände sein. Die Erschließung von Karten und Plänen z.B. kann ganz bewusst ohne primäre Berücksichtigung von intellektuellen Zusammenhängen erfolgen. Beispielsweise können Pläne, die in Akten inseriert sind, mit einer eigenen Kartensignatur und einer Formalbeschreibung durch ein Kartenfindbuch auf der Verzeichnungsstufe des Einzelstücks gesondert erschlossen werden, ohne dem Akt entnommen zu werden.

 

Zwischen den Verzeichnungsstufen bestehen Abhängigkeiten. Dabei sind nach dem Stufenmodell folgende Fälle möglich, nach postkustodialistischer Ansicht sind alle Ebenen frei mit den anderen in jeder hierarchischen Abfolge zulässig:

 

Verzeichnungsstufe Subordinierbare Verzeichnungsstufen
Bestandsgruppe - Bestand
Bestand - Teilbestand- Serie- Akte

- Einzelstück

Teilbestand - Teilbestand- Serie- Akte

- Einzelstück

Serie / Bandfolge - Serie- Akte- Einzelstück
Akte/Archivalieneinheit - Vorgang- Einzelstück
Vorgang - Einzelstück
Einzelstück

Verzeichnungsstufen und mögliche Abhängigkeiten

 

In der modernen Archivwissenschaft wird teilweise die Ansicht vertreten, dass bei der Erschließung vielschichtiger Beziehungsgemeinschaften die Eindeutigkeit der Zuordnung von Archivalien zu je genau einem Bestand hinfällig werde. Damit einher geht der Verlust der Verbindlichkeit eindeutiger Abgrenzungen von Archivalien, da sich Beziehungsgemeinschaften nicht auf jeweils den gleichen Umfang eines Archivale beziehen müssen. Das wiederum bedingt die Aufhebung eines verpflichtenden Stufenmodells und der hierarchischen Vererbung von Information. Die große Errungenschaft von ISAD(G), mehrfach zutreffende Information nur einmal auf der jeweils höchsten zutreffenden Verzeichnungsstufe bringen zu müssen, erweist sich hier als Hindernis, das aufzulösen ist. Für eine moderne Erschließungssoftware bedeutet das, dass der Bearbeiter zwischen einer automatischen Vererbung festgesetzter Informationen auf die hierarchisch nachfolgenden Verzeichnungsstufen und dem Ausschluss dieser Vererbung wählen können sollte. Diese Anforderung wird für Softwareanpassungen allerdings nur dann relevant, wenn der Softwareentwickler bereits vorher die Kontextinformationsvererbung automatisiert hat, damit z.B. auch sachthematische Inventare aus der Findmitteldatenbank ohne Informationsverluste generiert und exportiert werden konnten. Eine moderne Archivsoftware muss es dem Bearbeiter möglich machen, Verzeichnungsstufen in beliebige Komposition zu bringen, z.B. einem Akt einen Bestand nachzuordnen. Gleichwohl müssen Warnhinweise eingebaut sein, die ungeübte Nutzer vor falschen Kombinationen zurückhalten.

Jede Verzeichnungsstufe hat ihr Profil, das die Verzeichnungselemente beinhaltet, die es auf der jeweiligen Stufe zu beschreiben gilt. In einer Erschließungssoftware kommt das einer Feldmaske für jede Verzeichnungsstufe gleich, die sich gestaltet, sobald der Bearbeiter die Verzeichnungsstufe für das zu beschreibende Objekt oder die Objektgemeinschaft ausgewählt hat. Diese Auswahl kann auf unterschiedliche Weise erfolgen.

Das Verzeichnungsprofil wird durch die Verzeichnungsstufe aus der Abgrenzung zu den jeweils anderen hierarchischen Ebenen in der Tektonik des Archivs in seine Form gebracht. Zum anderen wird das Verzeichnungsprofil durch die Anforderungen bestimmt, die an eine angemessene Beschreibung der einzelnen Archivaliengattungen zu stellen sind. Würden alle Felder, die sich im Hinblick auf Letzteres zusammenstellen lassen, unter Beachtung der zutreffenden Verzeichnungsstufe zu einem einzigen Verzeichnungsprofil zusammengeführt, ergäbe sich ein verwirrendes und unübersichtliches Verzeichnungsformular bzw. –maske. Es ist also nötig, bei der Programmierung eines Erschließungsclients darauf zu achten, dass gegebenenfalls mehrere Verzeichnungsmasken für die gleiche Verzeichnungsstufe zur Verfügung stehen.

[i] Zitate, wenn nicht anders angegeben, aus: ISAD(G) – Internationale Grundsätze für die archivische Verzeichnung, 2., überarb. Aufl., übersetzt und neu bearbeitet von Rainer Brüning, Werner Heegewaldt, Nils Brübach, Marburg, 2002.

[ii] Begriffsdefinitionen siehe: Angelika Menne-Haritz: Schlüsselbegriffe der Archivterminologie, Nachdruck der 3., durchges. Aufl., Marburg, 2006.

[iii] Die Version 1.3 der Archivsoftware MidosaXML hat diese Unterscheidung zwischen Akte und Vorgang in das Auswahlmenü der Verzeichnungsstufen übernommen und somit für den Bearbeiter klar visualisiert.

[iv] Beispiel: „Angelegenheiten ausländischer Arbeitskräfte“, Vorgänge: „Umgang mit deutschen Frauen“, „Einsatz in der mecklenburgischen Landwirtschaft“, „Heimat- und Urlaubsfahrten“ usw.

[1] Zitiert aus der deutschen Übersetzung des CIDOC CRM: http://cidoc-crm.gnm.de/wiki/index.php?title=Hauptseite&oldid=2337.

 

[1] So in der Software MIDEX.

[2] Kerstin Arnold schreibt im EAG-Anwenderleitfaden für eine Referenzanwendung für ein Archivportal Deutschland in diesem Sinne, dass beispielsweise die Abbildung der Archivtektonik in einem Verbundfindmittel „durch eine EAD-Beständeübersicht geschieht und Informationen nicht redundant gepflegt werden sollen“ (Das EAG-Proifl in MIDEX – Beschreibung und Anwenderleitfaden, bearb. v. Kerstin Arnold, Berlin, Februar 2009 (im Folgenden zitiert: Arnold, EAG-Profil), S. 8).

[3] Arnold, EAG-Profil, S. 75.

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/794

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Digitale Geschichtswissenschaft

AG Digitale Geschichtswissenschaft

Heute fand in Braunschweig eine vielbeachtete Tagung der AG Digitale Geschichtswissenschaft im Deutschen Historikerverband statt - und ich bin nach einer Stunde enttäuscht gegangen. Vielleicht war das ein Fehler, aber das Interessante der ersten Stunde waren ohnehin nicht die "analogen" Elemente der Tagung, sondern die digitalen, sprich die Twitterkommentare (#digigw2103). Auf der Rückfahrt habe ich nicht nur weiter bei Twitter reingesehen, sondern auch überlegt, was mich so irritiert hat. Ich möchte das hier kurz zusammen fassen:

Zunächst und zuallererst hat mich die Tatsache verstört, als sei das Digitale noch immer etwas Neues. Vor 15 Jahren hätte ich das noch verstanden, aber nicht mehr heute. Wir sind längst alle in einer digitalen (ich habe hier mal von der dialogen Welt geschrieben) Welt angekommen, ob uns das nun passt oder nicht. Einige tun allerdings immer noch so, als gelte das nur in eingeschränktem Maße für sie. So konstruieren sie sich weiter eine analoge Welt. Dass die Bücher, auf die sich so gern bezogen wird, längst nur noch in Teilen analog sind, wird dabei gern vergessen. Von der Emailkorrespondenz, vom Nachschlagen in Wikipedia oder bei HSozKult ganz zu schweigen.

[...]

Quelle: http://digireg.twoday.net/stories/465680376/

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