Nur Samstag Nacht: “Saturday Night Fever” 1977, ein spätmoderner Entwicklungsroman

„Spiegel“-Titel vom 16.10.1978

Den Spielfilm „Saturday Night Fever“ umgab nicht nur hierzulande lange ein hartnäckiges Missverständnis. Er feiere, so hieß es, eine glitzernde Scheinwelt, in der narzisstische Mitmacher konsumierten statt kritisierten. Er repräsentiere den neukonservativen Wertehimmel der „Lord-Extra-Generation angepaßter Jungen und Mädchen“.1 Andere sahen eher Resignation und Flucht vor bedrückenden Gegenwartsproblemen. 1978, auf dem Höhepunkt der so genannten Disco-Welle, waren sich westdeutsche Beobachter aber darin einig, das massenhafte Tanzen zu elektronisch reproduzierter Musik als Anpassung und Entpolitisierung der jungen Generation deuten zu dürfen.2

Auch nachdem die Welle und die mit ihr verbundene Kulturkritik abgeflaut waren, blieb „Saturday Night Fever“ als belangloses „Sozialaufsteigerfilmchen“ gespeichert.3 Poststrukturalistisch gewendet lässt sich der Streifen als Auftakt zu einer Reihe international erfolgreicher Tanzfilme wie „Fame“ (1980), „Flashdance“ (1983) oder „Footlose“ (1984) verstehen, die in den neoliberalen 1980er-Jahren dem Publikum ein unternehmerisches Verhältnis zum eigenen Körper nahebrachten.4

So eindeutig liegen die Dinge jedoch nicht. Zwar ist Arbeit am Selbst in „Saturday Night Fever“ ein zentrales Motiv. Es wird aber im Rahmen eines Entwicklungsnarrativs auf mehrdeutige Weise inszeniert. Die folgende Wiederbesichtigung versucht keine abschließende Einordnung. Da die Zeit um 1980 zunehmend in den zeithistorischen Horizont rückt, soll der Beitrag dazu anregen, sich mit diesem ikonischen Kulturprodukt erst einmal näher zu beschäftige

„Saturday Night Fever“ ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die mit Elementen einer Sozialreportage durchsetzt ist. Die Tanzszenen sind realistischer Teil der Handlung.5 Das Drehbuch orientierte sich an einer – größtenteils fingierten – Reportage des Journalisten Nik Cohn, die 1976 unter dem Titel „Tribal Rites of the New Saturday Night“ erschienen war und von einem Tanzlokal in Bay Ridge im New Yorker Stadtteil Brooklyn erzählte.6 Dass Cohn von den „Stammesriten“ der Discogänger sprach, exotisierte deren Lebenswelt7 – was als neuer, anthropologisch verfremdeter Blick auf die eigene Kultur verstanden werden kann, genauso aber als langlebiges Stereotyp des primitiven süditalienischen Migranten.

Die von John Travolta dargestellte Hauptfigur Tony Manero ist 19 Jahre alt, arbeitet als Verkäufer in einem Farbengeschäft, ist beliebt bei seinem Chef und den Kunden. Bei seinen arbeitslosen Eltern trifft er dagegen nur auf Vorwürfe und Unverständnis. Sie bevorzugen seinen älteren Bruder, der Priester werden soll. Nach Feierabend ist Tony Anführer einer Jungsclique und Star der lokalen Diskothek. Zwar wird er glaubwürdig als bezaubernder Tänzer in Szene gesetzt; abseits der Tanzfläche erscheint sein Verhalten nach den Maßstäben einer progressiven Entwicklungspsychologie aber als problematisch. Das szenische Psychogramm zeigt Tony und seine Peers als halbstarken Männerbund, der seine familiäre und gesellschaftliche Unterlegenheit mit aggressivem Verhalten gegen Frauen, rivalisierende ethnische Gangs und Homosexuelle kompensiert.

Eine Alternative lernt Tony in Gestalt von Stephanie Mangano kennen, die auch aus Brooklyn kommt, aber in Manhattan nach Besserem strebt. Bis Tony ihr auf diesem Weg folgen kann, muss er durch tiefe Krisen gehen: unversöhnlichen Familienstreit, einen Vergewaltigungsversuch, den Tod eines Freundes. Zudem wird ihm und Stephanie bei einem Tanzwettbewerb als Lokalmatadoren der erste Preis zugesprochen, obwohl ein Latinopaar besser war – dies erlebt Tony als Verrat an dem, was ihm heilig ist: dem Tanzen. Durch diese existenziellen Erfahrungen geläutert, lässt er am Ende die Diskothek und das perspektivlose Leben in Brooklyn hinter sich, um aus sich etwas zu machen. Wiederkehrende Einstellungen auf Brücken und rollende Stadtbahnen visualisieren das romantische Motiv der Reise als Lebenspassage, der Identitätsfindung in der Konfrontation mit der Welt.8

In der Bundesrepublik Deutschland lief „Saturday Night Fever“ am 13. April 1978 unter dem Titel „Nur Samstag Nacht“ an. 1,16 Millionen Mal wurde bis zum Ende des Jahres in westdeutschen Kinos Eintritt für diesen Film bezahlt – das machte ihn zum Kassenschlager der Saison (in der DDR wurde der Film nicht gezeigt).9 Rekordverdächtig waren auch die Verkaufszahlen des zugehörigen Soundtrackalbums, das in erster Linie das englische Brüdertrio The Bee Gees mit der typischen Falsettstimme von Barry Gibb bestritt. Dieser Erfolg verdankte sich nicht zuletzt dem neuartigen Einsatz von Crossmarketing, bei dem sich die Werbung für Tonträger (Singles und LP) und Kinofilm wechselseitig Aufmerksamkeit zuspielten. Dass der Soundtrack nicht auf die Filmhandlung zugeschnitten war, erschien dabei nebensächlich. Einige zentrale Tracks stammten aus anderen Zusammenhängen, und keiner der Beteiligten arbeitete auf einen Disco-Sound hin. Dennoch funktionierte die eingängige Mischung aus tanzbaren, funkig angehauchten Stücken, Balladen und dramatischen Einsprengseln wie einer discofizierten Variante des ersten Satzes aus Ludwig van Beethovens Fünfter Symphonie.10

Anders als manche westdeutsche Kritiker meinten, steht die Diskothek in „Saturday Night Fever“ keineswegs für Leistung, Zielstrebigkeit und Aufstiegsorientierung im bürgerlichen Sinn. Tony ist, wie seine Freunde sagen, der „King“. Aus der Fülle seiner Macht heraus kann er die eine Frau zurückweisen und mit der anderen gönnerhaft eine Runde tanzen. Als Herrscher seiner Clique regelt er, wann Speed eingeschmissen wird und wer als nächster die Autorückbank belegen darf. Diese Duodezsouveränität steht jedoch an einem Abgrund der Planlosigkeit. „Ich scheiß auf die Zukunft“, antwortet Tony seinem Chef, als dieser ihm den erbetenen Vorschuss abschlägt und ihn zu Vorausschau und Sparsamkeit anhält (im Original: „Fuck the future“, 05:07). Die Lebenswege der Älteren, das macht der Film deutlich, führen nur in Sackgassen – aber auch das Tanzen ist kein Zukunftsmodell (45:05). Dabei ist Tony durchaus jemand, „der lernt, der sich bildet, sein Pensum verrichtet“, wie es in Freddy Quinns Anti-Gammler-Song „Wir“ von 1966 hieß.

Wenn es ums Tanzen geht, arbeitet Tony mit Ernst und Lust, ist ehrgeizig und kompetitiv, hat eigenen Stil. Eingestreut in Boy-meets-girl-Händel gewinnt ein autodidaktisches Subjekt an Kontur, das seine Begabung im Training entfaltet hat. Tonys Selbstgestaltung orientiert sich dabei nicht an einem schulischen Wissenskanon, sondern nutzt das Bildungsangebot der Massenmedien. So erfahren wir, dass er Tanzfiguren im Fernsehen gesehen und diese selbstständig variiert hat (51:55).

Weitere Impulse kommen von den neuen Helden des 1970er-Jahre-Kinos. In Tonys Zimmer hängen Poster von Silvester Stallone als Rocky Balboa und Al Pacino als moralischer Cop Frank Serpico. Die italoamerikanischen Underdogfiguren verbinden Härte und Geschmeidigkeit ebenso wie Bruce Lee, die Ikone der Asian Martial Arts, dessen Kampfposen Tony vor dem Spiegel nachahmt. In dieser vielfach zitierten Szene fallen zudem weiblich besetzte Praktiken der Selbstpflege ins Auge. Tony, der zunächst nur einen schwarzen Slip trägt, fönt und kämmt sich, legt Schmuck an, kleidet sich in schimmerndes Rosa (06:25 – 07:35). Der selbstbewusste Zugriff auf unterschiedliche kulturelle Register zeigt sich auch in den von Lester Wilson choreographierten Tanzszenen, insbesondere in einem Solo auf halber Strecke des Films (59:20 – 1:01:34).

Für diesen Auftritt gilt die Aussage eines zeitgenössischen Ratgebers, Disco schöpfe die Vielfalt des „dance heritage“ aus.11 Neben Elementen der Ballett- und Jazzdance-Tradition enthält der Film unter anderem Anleihen bei der russischen Folklore, Armwellen (wie sie zeitgleich beim so genannten Breakdance zu finden sind) und pantomimische Kommentare zur Körperarbeit (Hemd zuknöpfen, Schweiß abwischen). Was im Leben nicht gelingt – dem Disparaten eine Ordnung zu geben –, funktioniert hier mit Leichtigkeit. Aber dieses Können, so die Botschaft, hat noch keine sinnvolle Richtung gefunden.

Die Diskothek repräsentiert eine letztlich unproduktive Sphäre der Selbstverschwendung, die Tony in der Tretmühle einer kapitalistischen Verliererexistenz gefangen hält. Seine Wandlung vollzieht sich erst, als er sich von der Welt der Diskothek abwendet, und zwar nach dem Sieg im erwähnten Tanzwettbewerb, bei dem zu Tonys maßloser Enttäuschung das Leistungsprinzip hinter den falsch verstandenen Zusammenhalt der Peergroup und der ethnischen Solidarität zurücktreten musste. Sein Zorn gegen die Unaufrichtigkeit seiner Fans weitet sich zu der Einsicht, das bedrückte Leben in den unteren Zonen der Gesellschaft korrumpiere die zwischenmenschlichen Beziehungen.

Zugleich schreibt der Film dem Weg nach oben nur begrenzt utopischen Charakter zu. Die Aufsteigerin Stephanie fällt durch angestrengte Distinktionsmanöver und bornierte Bildungsbeflissenheit auf. Die Kosten ihrer Aufwärtsmobilität sind Überforderung, Einsamkeit sowie die Abhängigkeit von einem älteren Kreativarbeiter, der sie ausnutzt und bevormundet. Zu Tonys Vorbild kann sie werden, weil sie entschlossen nach dem eigenen Lebensplan sucht und Risiken dabei nicht scheut. Am Ende des Films ist völlig offen, ob Tony die neue Situation bewältigen wird, auch ob er seine Körperbildung in einen Lebensunterhalt wird ummünzen können. Die erste Etappe ist erreicht, weil er Grenzen überwunden hat; weil er es zugelassen hat, ein anderer zu werden und sich selbst dadurch näher zu kommen.

In der Zeitgeschichtsschreibung erscheinen popkulturelle Phänomene allzu häufig nur als Symptome sozioökonomischer und politischer Großwetterlagen. Ein Beispiel ist die Annahme, Punk habe die Hoffnungslosigkeit einer krisengeschüttelten Jugend „nach dem Boom“ zum Ausdruck gebracht. Solche Verkürzungen verzichten darauf, ästhetische Praxis als „erstrangige Sinnressource in der Massendemokratie“ ernst zu nehmen.12 Damit bringen sie sich um Einsichten – etwa in Techniken der Selbstführung, die Michel Foucault als zentrales Handlungsfeld moderner Gesellschaften herausgearbeitet hat.13

Im Fall von „Saturday Night Fever“ geht es nicht darum, ein deutlich konturiertes subversives Potenzial aufzudecken, das der Film in der Breite vermutlich nicht entfaltet hat. Aber unter dem kulturkritischen Deutungsballast kommt ein plurales Angebot möglicher Selbstverhältnisse zum Vorschein, das neue Perspektiven auf vermeintlich bekannte Prozesse eröffnen kann. Dazu müssten allerdings die konkreten Handlungskontexte historischer Disco-Akteure der 1970er- und 1980er-Jahre untersucht werden.14

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(Hier wird der erste Teil eines Artikels wiedergegeben. Der vollständige Text ist erschienen in der Zeitschrift Zeithistorische Forschungen. Zitierhinweis: Alexa Geisthövel, Ein spätmoderner Entwicklungsroman: „Saturday Night Fever“/„Nur Samstag Nacht“ (1977), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013), H. 1,
URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geisthoevel-1-2013)

 

  1. Horst F. Neißer/Werner Mezger/Günter Verdin, Jugend in Trance? Diskotheken in Deutschland, Heidelberg 1979, S. 76.
  2. Alexa Geisthövel, Anpassung: Disco und Jugendbeobachtung in Westdeutschland, 1975–1981, erscheint 2013 in: Pascal Eitler/Jens Elberfeld (Hg.), Zeitgeschichte des Selbst. Die „Disco-Welle“ zwischen 1975 und 1979 (in der Bundesrepublik eher 1978/79) machte die zuvor subkulturelle Tanz- und Ausgehpraxis des „partying“ mehrheitsfähig, begleitet von der Etablierung des Disco-Genres in der Musik- und Filmindustrie.
  3. Dagegen Michael Heim, Saturday Night Fever: Der Messias tanzt bügelfrei, 4.11.2007, URL: http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/659/der_messias_tanzt_buegelfrei.html (dort auch zahlreiche Abbildungen).
  4. Sherril Dodds, Dance on the Screen. Genres and Media from Hollywood to Experimental Art, Basingstoke 2001, S. 37.
  5. Dorothee Ott, Shall we dance and sing? Zeitgenössische Musical- und Tanzfilme, Konstanz 2008, S. 79.
  6. Nik Cohn, Tribal Rites of the New Saturday Night, in: New York, 7.6.1976.
  7. Stelios Christodoulou, ‚A straight heterosexual film‘: Masculinity, Sexuality, and Ethnicity in Saturday Night Fever, in: Networking Knowledge. Journal of the MeCCSA Postgraduate Network 4 (2011) H. 1, URL: http://ojs.meccsa.org.uk/index.php/netknow/article/view/60, hier S. 7, S. 19f.
  8. Joseph Kupfer, „Stayin’ Alife“: Moral Growth and Personal Narrative in Saturday Night Fever, in: Journal of Popular Film and Television 34 (2007), S. 170-178.
  9. http://www.hdg.de/film/class125_id1000680.html (siehe dort auch das deutsche Filmplakat).
  10. Richard Buskin, Classic Tracks: The Bee Gees Stayin’ Alive, August 2005, URL: http://www.soundonsound.com/sos/aug05/articles/classictracks.htm.
  11. Jack Villari/Kathleen Sims Villari, (The Official Guide To) Disco Dance Steps, Secaucus 1978, S. 61.
  12. Kaspar Maase, Der Banause und das Projekt schönen Lebens. Überlegungen zu Bedeutung und Qualitäten alltäglicher ästhetischer Erfahrung, in: Kulturation. Online-Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 1/2004, URL: http://www.kulturation.de/ki_1_text.php?id=25, Abschnitt II.
  13. Vgl. dazu Maren Möhring, Die Regierung der Körper. „Gouvernementalität“ und „Techniken des Selbst“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 284-290.
  14. Hinweise geben, auf unterschiedliche Weise, Anleitungen, Ratgeber und spärliche autobiographische Zeugnisse: Lernt tanzen wie John Travolta, in: Bravo, 22.6.1978; Kitty Hanson, Disco Fieber. Alles über die Disco-Welle, München 1979; Peter Cornelsen, John Travolta. Mit Tanzkurs, Film- und Diskographie, Bergisch Gladbach 1978; Thomas Hermanns, Für immer d.i.s.c.o., München 2009. Zu den USA vgl. neuerdings Alice Echols, Hot Stuff. Disco and the Remaking of American Culture, New York 2010.

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/709

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Workshop: Orden in der Krise. Möglichkeiten und Grenzen religiöser Lebenswelten in der Vormoderne

Krisen haben Konjunktur. Die Einordnung unserer Gegenwart als Zeit der Krise(n) scheint allgegenwärtig. Auch die Geschichtswissenschaft wendet sich – vielfach anknüpfend an Debatten der Sozial- und Kulturwissenschaften – vermehrt der Krise zu. Krise ist als eine prä-katastrophale, höchst kontingente, existenziell bedrohliche Situation zu verstehen, die Akteuren zwar Handlungsoptionen offen lässt, zugleich jedoch so einschneidend wirkt, dass sie das Fortdauern von eingeübten Routinen und Praktiken in Frage stellt. Sie erzeugt Kommunikations-, Handlungs- und Entscheidungsdruck. Angesichts einer diagnostizierten Krise erscheint das „Nichts tun“ als undenkbar, als [...]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/4948

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Die Ausgrenzung Jugendlicher maghrebinischer Herkunft im urbanen Raum Frankreichs – Von Von Nadja Boufeljah

Die Entstehung sozialer Ungleichheit durch die Urbanisierung ist exemplarisch beobachtbar, wenn die Geographie und Sozialstruktur der Großstädte Frankreichs im 21. Jahrhundert betrachtet wird. Seit den Jugendrevolten in den Großstädten Frankreichs im November 2005 rückt deshalb auch die soziale Benachteiligung der … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5240

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Web2.0 und Lokalgeschichte | z.B. die facebook-Gruppe „Du kommst aus Bergisch Gladbach, wenn…“

Das Blog Historisch denken | Geschichte machen geht in die Sommerpause und wünscht erholsame Ferien!

Fotoalbum der facebook-Gruppe „Du kommst aus Bergisch Gladbach, wenn…“

 

Die Dynamik von Kommunikation im Web2.0 und beispielsweise der Erfolg einer facebook-Gruppe sind kaum vorhersehbar. Hier soll (exemplarisch) die vor einem Jahr gegründete und „vor Ort“ seither außerordentlich nachgefragte facebook-Gruppe „Du kommst aus Bergisch Gladbach, wenn…“  vorgestellt werden. Bergisch Gladbach ist eine betreffs städtebaulicher Reize eher mittelprivilegierte Großstadt (auf Platz 70 der 76 deutschen Großstädte) im Schatten der Metropole Köln. Gemessen an etwa 109 000 Einwohner/innen sind die bislang über 8 000 Mitglieder der facebook-Gruppe auffällig viele; bemerkenswert ist zudem die rege Beteiligung. Es werden u.a. zahlreiche alte Fotos (teils aus Familienalben, teils aus Publikationen) sowie auch Schriftstücke oder Kuriositäten hochgeladen und oft umfassend kommentiert. Die vergangene Woche (Mo., 1. Juli, bis So., 7. Juli) weist über 120 neue Posts mit insgesamt ca. 2700 Kommentaren (sic! richtige Kommentare, nicht nur likes) auf; von den Posts behandeln etwa 70 tatsächlich lokalgeschichtliche Inhalte (in den übrigen geht es um aktuelle Themen, aber auch um Ärztetipps, vegetarische Restaurants oder Kindergartenflohmärkte). Dabei wurden zugleich etwa 60 historische Fotografien oder Ansichten von Gebäuden hochgeladen. Ein kurzer Blick auf facebook zeigt, dass es ähnliche und auch ähnlich erfolgreiche Gruppen in vielen anderen Städten und Kommunen gibt.

Abgesehen davon, dass private Zuträger von Fotos oder anderen Quellen aus Privatbesitz das „Gedächtnis der Stadt“ digital bereichern, bilden sich in den Posts und Kommentaren interessante Hinweise auf offenbar verbreitete lokalgeschichtliche Identifikations- und Orientierungsbedürfnisse ab. Diese reichen von Informationsaustausch: „puuuhh soweit ich weiß war die Wilhelmstr. die heutige Johann-Wilhelm-Lindlar-Str. *grübel* die Straße vom Löwen Richtung Paas war die Marienstrasse …“ über Banalitäten: „Zu genau der Zeit hatte man auch gerade einem bekannten Frittenbudenbesitzer die Bude zugemacht weil ein Kunde ein Rattengebiss in seinem Schaschlik gefunden hatte …“ bis hin zu Verklärungen: „Toll. So sieht die heutige Jugend mal wie schön Gladbach früher war.“ (alle Kommentare: Post vom Freitag, 6. Juli, 18:16, zum Foto: Bergischer Löwe). Posts mit über 100 Kommentaren sind keine Seltenheit; der facebook-Diskurs bietet somit umfangreiches Material für die Untersuchung lokal- und regionalgeschichtlicher Erinnerungskulturen.

In den Diskussionen über Geschichtslernen mit digitalen Medien ist bereits darauf hingewiesen worden, dass im Netz besondere, neuartige Zugänge erstens zur Hinwendung zu Geschichts- und Erinnerungskulturen und zweitens zur Regional- und Lokalgeschichte eröffnet werden.[1] Unter den Beiträgern der facebook-Gruppe finden sich zwar offenbar nur wenige Jugendliche resp. Schüler/innen. Dennoch werden viele Jugendliche in der Rolle stiller Beobachter gelegentlich mit lokalgeschichtlichen Posts und Fotos in Kontakt kommen. Für den Geschichtsunterricht eignen sich lokalgeschichtliche facebook-Seiten möglicherweise als Einstieg zur Beschäftigung mit lokalgeschichtlichen Themen oder (anspruchsvoller) um anhand der Posts und Kommentare die Argumentationen und Funktionsweisen lokalgeschichtlicher Erinnerungskultur zu dekonstruieren.

[1] S. hierzu Beispielsweise die Blogposts von Daniel Bernsen zur Regionalgeschichte oder zum Mobile Learning, sowie die Übersicht der Potenziale digitaler Medien für das Geschichtslernen.

empfohlene Zitierweise    Pallaske, Christoph (2013): Web2.0 und Lokalgeschichte | z.B. die facebook-Gruppe „Du kommst aus Bergisch Gladbach, wenn…“ In: Historisch denken | Geschichte machen | Blog von Christoph Pallaske, vom 8.7..2013. Abrufbar unter URL: http://historischdenken.hypotheses.org/1923, vom [Datum des Abrufs].

Quelle: http://historischdenken.hypotheses.org/1923

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Weitere Materialien zur Geschichte der Türnummer

Wird sich ja zeigen, wann mal das Forschungsdesiderat Türnummer eine umfassende Bearbeitung erfährt. Hier zwei Beobachtungen aus der Brünner Zeitung:

So konnte man bei Herrn Hanke, Bibliothekskustos der Olmützer Lyzeumsbibliothek, 1782 die gesammelten Werke Sonnenfels erstehen, zu bestellen in seiner Wohnung zu Brünn in der obern Mainzergasse in Hofdemlischen Hause Nro 140. im ersten Stock Nro. II. (BZ, Nr.101, 18.12.1782, Beilage, S. 329f). Ein Jahr später, als man den ersten Band abholen konnte, fehlte allerdings die Türnummer: Hanke, als erster Custos auf der k.k. Olmützer Lycaeums Bibliothek, wohnet in der obern Menzer oder sogenannten alten Postgasse in Hofdemlischen Haus Nro 140. im ersten Stock. (BZ Nr.25, 26.3.1783, Beilage, S. 84).

Brünner Zeitung Der kayßerlich königlichen Privilegirten Mährischen Lehenbanck, 1782, 1783.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/444865754/

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durchsichten: Transnationale Geschichte des Föderalismus im langen 19. Jahrhundert: Transfers und Netzwerke

http://fns.unifr.ch/histoire-transnationale-federalisme/de Das Projekt an der Universität Fribourg untersucht die Geschichte des Föderalismus im 19. Jahrhundert aus der Analyseperspektive der transnationalen Geschichte. Zwei Ausgangsbeobachtungen liegen dieser Konzeption zu Grunde: Zum einen ist zu beobachten, dass föderales Ordnungsdenken im 19. Jahrhundert transnational zirkulierte, in unterschiedlichen Gesellschaften angeeignet und als Modus politischer Problematisierung weiter entwickelt wurde. Zum anderen […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/07/4574/

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Denis Diderot, Wettbewerbe und Hirnforschung

Géricault-Pferderennen„Das Genie eines einzelnen bringt die Künste zum Aufblühen; der allgemeine Geschmack vervollkommnet die Künstler. Warum hatten die Alten so große Maler und so große Bildhauer? Weil damals Belohnung und Ehrungen die Talente weckten …Man sollte unter uns die gleichen Wettkämpfe veranstalten, sollte die Hoffnung auf die gleichen Ehrungen und Belohnungen erwecken: dann würden wir bald sehen, wie die schönen Künste schnell auf ihre Vollendung zustreben“, Denis Diderot, franz. Schriftsteller und Kunstkritiker, 1763 [1].

1748 wurde die Ecole royale des élèves protégés gegründet, auf der ausschließlich durch Wettbewerbe zugelassene Maler und Bildhauer ihre Ausbildung perfektionieren konnten. Die Académie de France in Rom (gegründet 1664) war ebenfalls ein Ort, an den nur Gewinner eines Wettbewerbs gelangen konnten. Je zwei Maler, Bildhauer und Architekten durften drei, später vier Jahre während eines Stipendiums in Rom verbringen. Was als Kunst gelten durfte war im Klassizismus festgelegt und folgte Regeln. Diese Regeln zu erlernen war das Ziel des künstlerischen Ausbildungsprogramms, das an Zeichenschulen und Akademien stattfand und zu dessen Teil auch Wettbewerbe gehörten.

Was ist dran, an der Forderung Diderots nach mehr Wettbewerben, um die Künste zu vervollkommnen? Fortschritt durch Wettbewerb. Ist das so? Wir glauben zumindest, dass es so ist. Glauben, dass der technologische Fortschritt nur möglich ist, indem wir Konkurrenzdruck erzeugen. Auf diese Weise wird ja bereits Darwin interpretiert. Die Sieger gewinnen und die Verlierer verlieren. Wir schaffen damit eine Zweiklassengesellschaft. Wer verliert, ist selbst schuld. Er hätte ja mehr lernen und sich mehr ins Zeug legen können.

Schauen wir mal in den Sport. Ein Marathonläufer wird eher keinen 100-Meter-Lauf gewinnen und umgekehrt. Ein Eisschnellläufer ist nur auf dem Eis richtig gut, aber nicht auf einem anderen Untergrund. Man kann feststellen, dass Wettbewerbe Spezialistentum fördern. „Wettbewerb erzeugt stromlinienförmige Angepasstheit, nicht aber Komplexität und Beziehungsfähigkeit. Auch nicht im Gehirn“, so Gerald Hüther [2]. Das, was es bereits gibt, erfährt durch Wettbewerb eine weitere Spezialisierung. Aber wodurch ist die eigentliche Anlage, die erst später spezialisiert wird, entstanden? Das ist doch eine Frage, die wichtig zu beantworten wäre, wie Hüther feststellt.

Wieviel Ressourcen und Potential verschleudern wir, indem wir Menschen zu Verlierern machen? Wir machen Sie dazu. Aber sind sie es wirklich? Was passiert mit dem nicht ausgeschöpften Potential? Der Energie und den Ideen eines zum Verlierer gestempelten? Und schließlich dem Potential, das jenseits einer Spezialisierung und der Befolgung von Regeln vorhanden gewesen wäre?

Auch Diderot muss das bemerkt haben. Im Jahr 1776 schreibt er: „Die Regeln haben aus der Kunst eine Routine gemacht, und ich weiß nicht, ob sie nicht eher schädlich als nützlich gewesen sind. Verstehen wir uns richtig: sie haben dem gewöhnlichen Menschen genützt, aber dem Mann von Genie geschadet.“ [3]

Diese Aussage zeigt, dass Diderot das Potential wohl erahnt hat, dass in den Genies steckte, das aber durch die zu seiner Zeit herrschende Kunstauffassung gedeckelt wurde und nur im Rahmen dieser zur Geltung kommen durfte.

 

Literatur:

[1] Denis Diderot: Aus dem Salon von 1763, in: Schriften zur Kunst. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Peter Bexte, Berlin 2005, S. 41

[2] Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten. Ein  neurobiologischer Mutmacher, Frankfurt 2011, S. 81

[3] Denis Diderot: Verstreute Gedanken über Malerei, Skulptur, Architektur und Poesie als eine Art Fortsetzung der „Salons“, 1776, in: Schriften zur Kunst. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Peter Bexte, Berlin 2005, S. 245

Marianne Roland Michel: Die französische Zeichnung im 18. Jahrhundert, München 1987

Quelle: http://games.hypotheses.org/1122

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Neues DSchG in NRW auf der Zielgeraden, Streichung vom Tisch? und weiter…

In der Plenarsitzung des Nordrheinwestfälischen Landtages wird kommenden Donnerstag, den 11.7.2013, die Novellierung des Denkmalschutzgesetzes NRW in Zweiter Lesung behandelt. Hier die Tagesordung Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass das Gesetz verabschiedet wird, da es von der Regierungsmehrheit von SPD und Grünen getragen wird. Die zweite Lesung ist also noch der letzte formale Akt und dann hat NRW ein neues Denkmalschutzgesetz, mit dessen Umsetzung sich die zuständigen Verwaltungsbehörden und Fachämter auseinandersetzen müssen. Die Beschlussempfehlung und der Bericht mit der nun “endgültigen” Fassung des DSchG NRW ist auf Seiten des Landtages einzusehen. Hier zu finden. Den Gesetzentwurf der ersten Lesung finden Sie hier.

Der Vollständigkeit halber hier noch mal der Änderungsantrag zu der Gesetzesnovelle von SPD und Grünen, der im Ausschuss angenommen wurde. Die Änderungsanträge der CDU und der Piraten wurden nicht angenommen. Die FDP-Fraktion hat erst gar keinen eingebracht. Sie macht aber deutlich, dass sie von der Einführung des Schatzregals nichts hält.

Die Debatte zu der Novellierung des DSchG NRW wurde fast vollständig von der Empörung über die geplanten Mittelkürzungen/ Streichungen überlagert. Das Medienecho war enorm und die von der DGUF (Deutsche Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte) eingebrachte Petition wurde ganze 27005 mal unterschrieben. Die dguf hat dazu einen Pressespiegel zusammengestellt. Es wurden sogar Stimmen laut, die von “Denkmalpflege als Wahlkampfthema” unkten. Klar. Weil die Sozen in NRW die Mittel kürzen und die Konservativen sich der allgemeinen Empörung anschließen. Das ist kein Wahlkampf, sondern politischer Alltag. Der Wahlkampf kommt im August und September auf uns zu und Archäologie und Denkmalpflege spielen da garantiert keine Rolle und das ist auch gut so.

Kulturgüterschutz hat nämlich nichts, aber auch gar nichts im Wahlkampf zu suchen. Kulturgüterschutz ist von allgemeinen Interesse und eine Ideologisierung durch Parteien schadet allen Beteiligten. Der richtige Weg ist eine kluge und nachhaltige Lobby-Arbeit, welche die Notwendigkeit und den Nutzen von Archäologie und Baudenkmalpflege für die Allgemeinheit verdeutlicht. Eine Petition und Rabatz in der Presse ist keine vorausschauende Lobby-Arbeit, sondern politische Notwehr. Dass eine Landesregierung mit den Gedanken spielt, eine sowieso schon geringe Direktförderung ganz zu streichen, oder wie kürzlich im Land Brandenburg eine Enquete-Kommission die Denkmalämter abschaffen möchte, zeigt, dass diese Lobby (noch?) nicht effektiv arbeitet.

Es ist die Aufgabe aller archäologischen Gesellschaften, sich für eine gesellschaftliche Verankerung von Archäologie und Denkmalpflege einzusetzen. Es ist wichtig sich stark zu machen gegen Kürzungen, gegen Ämter-, Lehrstuhl-, und Museumsschließungen, für gute Denkmalschutzgesetzte und für fachlich besetzte Untere Denkmalschutzbehörden.

Weitere Links zur Gesetzesnovellierung des DSchG NRW

Einen Überblick über der Beratungstand findet man auf der Seite des Landtages. Hier ist auch das Video der ersten Lesung zu sehen.

Die Öffentliche Expertenanhörung zu diesem Gesetzentwurf fand am 6.6.2013 statt. Das Protokoll dieser öffentlichen Anhörung finden Sie hier.

Pressemeldung der SPD-Fraktion zur Expertenanhörungvom 6.6.2013.

Die gemeinsame Pressemitteilung der Regierungsparteien zum Änderungsantrag finden Sie hier.

Zur Archäologie und ihre Rolle in der Öffentlichkeit und den Sozialen Medien hat Reiner Schreg kürzlich einen Gastbeitrag im Blog des Journal of Community Archaeology and Heritage geschrieben.

Mittelkürzungen in der Denkmalpflege

Ich habe noch ein paar Pressemeldungen dazu zusammengestellt, die vornehmlich von politischer Seite kommen und wenig Beachtung fanden. Pressemeldungen von Parteien werden oft genug einfach ignoriert, um sich selbst nicht dem Vorwurf der Parteilichkeit auszusetzen. Deswegen hier offizielle politische Statements aus allen Lagern.

Pressemeldung der Grünen-Landtagsfraktion NRW mit aktuellen Zahlen

Interview mit dem kulturpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion Burkhard Müller-Ullrich im NRW-Landtag bei Deutschlandradio

Kritik der CDU Landtagsfraktion an den Mittelkürzungen via siwiarchiv.de

Resolution des Stadtrats der Stadt Laasphe  gegen die Mittelstreichungen via siwiarchiv.de

Beschluss der Landeskonferenz der Jusos NRW für eine Weiterförderung der Bau- und Bodendenkmalpflege in NRW. Beschluss und Begründung aus Antragbuch/ Pressemeldung der Jusos Duisburg (Antragsteller).

Pressemeldung der Nordrhein-Westfälischen Landtages zur Überreichung der Petition gegen die Streichungen der Denkmalpflegemittel durch Funktionäre der DGUF (Deutsche Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte) Die dazugehörige DGUF-Pressemitteilung hier.

Quelle: http://minuseinsebene.hypotheses.org/630

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Wieder massive Polizeieinsätze

Wie jeden Samstag haben sich in Istanbul am vergangenen frühen Abend wieder tausende von Menschen zu Demonstrationen zusammengefunden. Die Polizei reagiert mit massivem Trägen- Pfeffergas- und Wasserwerfereinsätzen, die auch nach der Nacht nicht beendet sind.

Doch zunächst ein paar Worte zu den letzten zwei Wochen, die unter dem Eindruck verschiedener Ereignisse standen, in deren Zuge bemerkenswerte Bündnisse sichtbar wurden.

Am 28.6. hatte in der kurdischen Region Lice bei Diyarbakır eine Demonstration gegen den Neubau einer Polizeistation stattgefunden, die just nach dem im Friedensplan vorgesehenen Abzug der PKK aus jenem Gebiet gebaut werden sollte. Die Sicherheitskräfte schossen in die Menge, verletzten 9 Menschen und erschossen den 18jährigen Medeni Yıldırım. Die Nachricht verbreitete sich rasch über alternative Medien und noch am gleichen Abend wurde in den Parkforen zu Solidaritätsdemonstrationen mobilisiert. Tags darauf fanden in Istanbul, Ankara und andern Städten in Erinnerung an das Opfer große Kundgebungen der Çapulcu statt. Dass sich die Protestbewegung hier mit kurdischen Interessen solidarisiert, ist keineswegs selbstverständlich. Insbesondere nationalistische Kreise und Fahnenträger sehen die kurdischen Autonomiebestrebungen als Gefährdung nationaler Einheit, und die Politik der CHP, welche mit der aktuellen Bewegung sympathisiert, hat in den letzten Jahren – oft im Schulterschluss mit der ultranationalen MHP – jeden Versuch zu einer Befriedung des Konflikts blockiert. Wenn im Zuge der Solikundgebungen also der Slogan “Her yer Taksim – her yer direniş” zu “Her Yer Lice – her Yer Direniş” ["Lice ist überall, Widerstand ist überall"] umgewandelt wird, so zeigt sich ein weiteres Mal die integrative Kraft der neuen Bewegung, welche heterogene Perspektiven politisch bündelt.

Widerstand Lice Widerstand Gezi - Wir wollen keine Polizeistation, wir wollen Frieden.  Q: http://haber.sol.org.tr/devlet-ve-siyaset/kesk-lice-icin-yurudu-haberi-75534

Widerstand Lice Widerstand Gezi – Wir wollen keine Polizeistation, wir wollen Frieden. Demonstration in Istanbul 29.6.2013. Q: http://haber.sol.org.tr/devlet-ve-siyaset/kesk-lice-icin-yurudu-haberi-75534

Dass das Thema für die verschiedenen Gruppen nicht einfach ist, zeigen teils hitzige Debatten in den Foren, in denen viele Anwesende aber auf die Notwendigkeit der Vielstimmigkeit, des Zuhörens und des Dialogs verweisen. Betont wird dabei immer wieder die symbolische Kraft, dass auf dem Taksim türkische Flaggen und kurdische Flaggen nebeneinander stehen konnten.

Am jenem Wochenende Ende Juni fand zudem die große Abschlussdemonstration der Istanbuler CSD-Woche unter dem Thema “direniş”/”Widerstand” statt. Die LGBT-Bewegung war von Beginn an im Gezi Park mit dabei, und so war die Pride-Woche am 23.6. mit einem Marsch der Transsexuellen eröffnet worden, deren Plakat das linke Bewegungs-Motto “Ekmek, Adalet, Özgürlük için” – “Für Brot, Gerechtigkeit, Freiheit” und mit der Gasmake ein zentrales Symbol der Bewegung aufgreift:

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Die Zeile ist auch bekannt aus dem Revolutionslied “Haydi barikata!” – “Auf die Barrikaden!” des Musikkollektivs bandista, die statt für die GeziPark-Bewegung ein neues Lied zu schreiben, mit den Çapulcu musizierend auf den Straßen unterwegs ist. http://tayfabandista.org/ [Album: de te fabula narratur, haydi barikata!]

Der abschießenden CSD-Demo am 30.6. schlossen sich in breiter Solidarität Tausende von Çapulcu an.

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Auch hier wird im gemeinsamen Ruf zehntausender Demonstrant/innen der Zusammenschluss betont: “Kurtuluş yok tek başına, ya hep beraber ya hiç birimiz” -  “Alleine gibt es keine Befreiung, entweder wir alle oder keiner.”

Anfang dieser Woche, am 2.Juli, fanden zum 20jährigen Jahrestag des Massakers von Sivas im ganzen Land große Demonstrationen statt – die Bewegung diesmal explizit mit den Aleviten verbindend. 1993 hatte eine islamistisch aufgehetzte Menge das Hotel Madimak in Sivas Brand gesetzt, in dem anlässlich eines alevitischen Kulturfestes Künstler/innen und Intellektuelle untergebracht waren. Der rasende Mob verweigerte den Menschen die Flucht aus dem Hotel, die Polizei griff nicht ein, 37 Menschen kamen im Feuer ums Leben. Die Täter sind untergetaucht, einige davon in Deutschland, und bis heute nicht bestraft worden. Ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung vor 5 Jahren beschreibt die Hintergründe: http://www.sueddeutsche.de/politik/-jahrestag-des-massakers-von-sivas-eingebrannt-in-die-erinnerung-1.179909. Der hier genannte Sultan Selim I., der für die Alevitenverfolgungen im Osmanischen Reich zeichnete, ist übrigens von Erdoğan als Namensgeber für die geplante dritte Brücke über den Bosporus ausgewählt worden – es gibt alevitische Stimmen, die diese Namensgebung für symptomatisch halten.

Die heutigen Demonstrationen bildeten zunächst den Abschluss einer kurzfristig einberufenen feministischen Aktionswoche gegen sexuelle Belästigungen und Gewalt – ausgelöst durch den Bericht von Eylem Karadağ, die am 26.6. in Ankara, Dikmen im Zuge ihrer Festnahme belästigt und mit Vergewaltigung bedroht worden – wie viele andere Frauen auch.

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Der Aufruf sich nicht einschüchtern zu lassen und gegen das von Polizei, Regierung und Presse geschürte sexistische Klima anzugehen, fand seine Form u.a. in einer Aktion gegen die Tageszeitung Takvim. Die als Reaktion auf ihre Verleumdungskampagne gegen den von der Polizei erschossenen Ethem Sarısülük bereits mit einer 3-Affen-Demonstrationen bedachte Tageszeitung, war am 30.6. wieder in den Fokus geraten: Über dem Foto einer von ihrem Freund zusammengeschlagenen auf dem Boden liegenden jungen Frau war in fetter roter Schrift der Titel “Nakavt” [Knockout] zu lesen. Umgehend und spontan fanden sich Demonstrant/innen zusammen, welche im Gegenzug zu einem Knockout der Zeitung aufriefen:

http://www.demokrathaber.net/images/haberler/

In den Ring!

http://www.gazeteciler.com/gundem/kadinlardan-takvime-nakavt-protestosu-68015h.html

Takvim – Knockout!

Just am Tag dieser Gegendemonstration hatte Takvim den Fall des von der Polizei am Berliner Alexanderplatz erschossenen nackten Mannes aufgegriffen, um die deutsche Kritik an den massiven Polizeieinsätzen in der Türkei zu konterkarieren. Auf der Titelseite fand sich am 1.7. eine Fotomontage, in der Angela Merkel mit gestrecktem Arm und Hakenkreuz unter dem Titel “Heil Merkel” zu sehen war – ich war sprachlos, als ich das sah. Zu lesen ist das nicht alleine vor dem Hintergrund der Kritik Merkels gegen die Polizeieinsätze Anfang Juni, sondern auch vor der Folie des Faschismus-Vorwurfs durch die Çapulcu an Erdoğans AKP-Regierung – eine krude Retourkutsche:

http://www.internethaber.com/gazete-mansetleri/takvim-gazetesi.html

Titelbatt Takvim 1.7.2013

Die heutige Frauenkundgebung ging über in die samstägliche Großdemo im an Taksim und Istiklal Caddesi. Nachdem ein Gericht nun die Bebauungspläne für den Gezi Park sowie den Umbau des Taksim verworfen hat, sind die Çapulcu mit ihrer wöchentlichen Samstagsdemo angetreten, den Park, der lt. dem Istanbuler Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu angeblich am heutigen Sonntag wieder ‘dem Volk’ übergeben werden soll, wieder in Besitz zu nehmen. Mutlu hat die heutige Demonstration im Vorfeld als verboten erklärt – und den Çapulcu das von der türkischen Verfassung garantierte Grundrecht auf unangemeldete Versammlungen und Demonstrationen abgesprochen. Nachdem in den letzten zwei Wochen statt Gaseinsätzen breite Verhaftungswellen und Repressionen gegen Ärzte, Anwälte, Social Media-Nutzer/innen und Presse durch das Land gehen, gibt es seit gestern abend wieder massive Gas- und Wasserwerfereinsätze in der Istiklal Caddesi, betroffen sind auch die Seitenstraßen und die umliegenden Viertel, etwa die Gegend um Pera, Balık Pazarı (Fischmarkt) und Nevizade (der berühmten Gasse mit den Meyhane/Lokalen hinter der Çiçek/Blumen-Passage). Nachdem es in letzter Zeit wenige Bilder in den deutschen Medien gab, berichten nun auch wieder Tagesschau und ZDF.

In den türkischen Social Media und alternativen Nachrichten-Plattformen wird berichtet, dass neben der Polizei und Zivilpolizei auch bewaffnete AKP-Anhänger an den Angriffen auf die Demonstrant/innen beteiligt sind. Während die Polizei die Menschen z.B. in Çihangir gen Italienisches Krankenhaus treibe, sollen sich den fliehenden Menschen mit Knüppeln bewaffnete Jugendlichen entgegengestellt haben. Zudem kursieren zwei Handyvideos, auf denen in Elmadağ, der Hotelgegend um den Taksim, mit Säbeln bewaffnete Männer zu beobachten sind, wie sie Menschen angreifen, eine Frau mit Säbel schlagen und in den Rücken treten – ohne dass die Polizei eingreift.

Q: Ulusal Haber, http://www.ulusalportal.com/haber/gundem/14115-06070302.html

Q: http://haber.sol.org.tr/devlet-ve-siyaset/basbakanin-satirli-kahramanindan-kadinlara-tekme-haberi-75914

Die Straßen ersticken wieder in Gas, nach den derzeitigen Zahlen wurden in Istanbul seit gestern abend mindestens 59 Menschen festgenommen. Makbule Cengiz, Mitarbeiterin von Halk TV, berichtet von systematischen Übergriffen auf Journalist/innen, unter den bisher ungezählten Verletzten befinden sich neben ihr mindestens 8 Kolleg/innen.

In Eskişehir und Izmir gab es von den dortigen Parkforen aus spontane Protestdemonstrationen gegen die als faschistisch gebrandmarkten Übergriffe in Istanbul.

Die Auseinandersetzungen gehen auch nach Sonnenaufgang weiter.

Die Çapulcu wehren sich mit ihren Waffen: nicht nur gab es wieder Topf- und Pfannen-Lärmdemos von den Fenstern, sondern auch so:

verbreitet via Twitter 6./7.7.2013

BREAKING: Protester attacking Police in return for the teargas attacks!
verbreitet via Twitter 6./7.7.2013

Und hier noch ein englisch untertiteltes Solidaritätsvideo von AtomFilm in Adana vom 12.6.2013, das eben von Halk TV ausgestrahlt wurde:

Diren (Kısa Film) / Resist (Short Film) veröffentlicht von atom filmtürkiye am 12.6.2013

Quelle: http://mediares.hypotheses.org/197

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SdK 59: Sylvia Kühne über Biometrie

Biometrische Techniken zur Identifizierung von Personen sind im Alltag angekommen. Waren sie lange Zeit nur bei Strafverfolgungsbehörden in Gebrauch, verwenden mittlerweile Arbeitgeber Fingerabdrücke für Zugangskontrollen, ermöglicht Biometrie das Zahlen im Supermarkt und sorgt die Abgabe eines Fingerabdrucks mancherorts dafür, dass Kinder in Schulen ein Mittagessen bekommen. Die Kriminologin und Soziologin Sylvia Kühne untersucht Biometrie als “soft surveillance” und fragt danach, wie Akzeptanz für die Techniken hergestellt wird.

Linkliste: Biometrie als „soft surveillance“. Die Akzeptanz von Fingerabdrücken im AlltagInstitut für Kriminologische Sozialforschung (IKS), Fingerabdruck von Wolfgang Schäuble, Biometrie (Wikipedia), Surveillance Studies

Quelle: https://stimmen.univie.ac.at/podcast/sdk59

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