Comic-haftes bei Andy Warhol

„Die Pop-Künstler machten Bilder, die jeder, der den Broadway runterlief, in Sekundenschnelle erkennen konnte — Comics, Campingtische, Herrenhosen, Prominente, Duschvorhänge, Kühlschränke, Colaflaschen —, all die tollen modernen Dinge, die der Abstrakte Expressionismus so beharrlich zu ignorieren suchte.“1

Dass Comics immer wieder von der Pop-Art aufgegriffen wurden, ist kein Geheimnis. Auch Andy Warhol (1929—1987) hat wiederholt auf Motive aus diesem Medium zurückgegriffen. Doch inwiefern ist ein Einfluss der Comicbildsprache in frühen, buchgrafischen Werken des Künstlers spürbar?

Die Beschäftigung mit Andy Warhol als Autor und Gestalter von Büchern ist bisher sehr spärlich: Der Kunsthistoriker Rainer Crone betrachtet dieses Tätigkeitsfeld Warhols im Kontext von dessen Frühwerk2 und die amerikanische Kunst- und Literaturwissenschaftlerin Reva Wolf hat sich wiederholt mit Warhols Verhältnis zur Literatur auseinandergesetzt.3 Eine erste intensive Auseinandersetzung mit der Rolle von Büchern in Warhols Œuvre erfolgte allerdings erst im Zuge der Ausstellung Reading Andy Warhol, die 2013/2014 im Museum Brandhorst zu sehen war.4 Die Ausstellung zeigte, dass Warhol gerade in seinem Frühwerk, aber auch späterhin immer wieder als Gestalter von Buchumschlägen und Illustrator von Kinderbüchern, sowie als Autor eigener Buchprojekte tätig war.5 Für letztere sind im Besonderen die sogenannten Promotional Books zu nennen, die Warhol zwischen 1952 und 1960 in kleiner Auflage als Geschenke für Freunde und Kunden drucken ließ.

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Quelle: http://comics.hypotheses.org/183

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Comic-haftes bei Keith Haring

Noch bis zum 30. August zeigt die Kunsthalle der HypoVereinsbank in München Keith Haring — Gegen den Strich. Mit dieser umfangreichen Ausstellung wird in Deutschland erstmals der Künstler Haring im Kontext seines politischen Gedankens thematisiert. Die von Dieter Buchhart kuratierte Schau war bereits in Paris (2013) und San Francisco (2014/15) zu sehen und gastiert nun in München.1 Anhand von einigen in diesem Rahmen ausgestellten Werken werde ich an dieser Stelle herausarbeiten, inwiefern in der Bildsprache von Haring Comic-Elemente zu finden sind.

Keith Harings (1958—1990) Vater führte seinen Sohn bereits in dessen Kindheit in Kutztown an das Zeichnen von Cartoons heran, indem er gemeinsam mit ihm dieser Beschäftigung am Küchentisch nachging.2 Als Jugendlicher widmete er sich weiterhin dieser Tätigkeit und ersann eigene Comic-Figuren.3 Von den Werken Pierre Alechinskys, eines Künstlers der CoBrA-Gruppe, dessen oftmals Panel-artige Strukturen umfassende Gemälde Haring 1976 in Pittsburgh gesehen hatte, zeigte er sich ebenso beeindruckt wie von einem Besuch in Disneyland im darauffolgenden Jahr.4



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Quelle: http://comics.hypotheses.org/153

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Mittelalterliche Sprechblasen

Für das Ausdrucksmittel der Sprechblase finden sich Vorläufer in mittelalterlichen Handschriften.

Die Sprechblase und ihre vielfältigen Varianten sind ein zentrales Merkmal und Gestaltungselement der Kunstform Comic.1 Vorläufer für diesen Modus Text in bildliche Darstellungen einzubinden finden sich schon in früheren Epochen. So beispielsweise gezeichnete oder gemalte Spruchbänder, die von Figuren auf Illustrationen in mittelalterlichen Codices gehalten werden und deren Worte wiedergeben. Über diese und andere Formen der ‚Speech Bubbles‘ in mittelalterlichen Handschriften hat der Leidener Kulturwissenschaftler Dr. Erik Kwakkel einen kompakten und aufschlussreichen Beitrag auf seinem Blog medievalbooks verfasst.

Weblink zum Artikel Medieval Speech Bubbles (zuletzt besucht am 30.07.

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Quelle: http://comics.hypotheses.org/129

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Definitionssache II: Illustration, Bildgeschichte und Comic

Wie bereits in Definitionssache I angesprochen, definiert sich der Comic im wesentlichen durch seine Verknüpfung von Bild und Text. Mit diesem Merkmal steht er als Kunstform jedoch nicht alleine da: Auch die Illustration arbeitet mit derselben Kombination.
Wo die Unterschiede liegen und welche weiteren Begrifflichkeiten eine Rolle spielen, darum geht es in diesem Beitrag.

Betrachtet man beispielsweise Illustrationen in mittelalterlichen Codices, die Münchener Bilderbogen oder Werke von Gustave Doré, so hat man es stets mit einem asymmetrischen Verhältnis von Bild zu Text zu tun:1 Die Illustrationen verfolgen das Ziel der Verbildlichung eines Textes und sind somit von diesem abhängig — vor allem, wenn es sich um einen bereits vorhandenen, älteren Text handelt. Damit wird diesen Werken in keinster Weise ihr Kunstcharakter abgesprochen — schließlich ist jede Illustration eine eigenständige Interpretation der Textvorlage —, das Verhältnis ist jedoch ein klares: Der Text kann ohne das Bild bestehen, das Bild hingegen verliert, wenn es isoliert wird, einen Großteil seines Zusammenhangs und ist in diesem Sinne gerade noch verständlich, wenn der Text bekannt ist (wie es beispielsweise bei Märchen gemeinhin der Fall ist).

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Moritz von Schwind: Der gestiefelte Kater, 1850. Aus: Klaus Günzel: Die deutschen Romantiker, Zürich 1995. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons.

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Quelle: http://comics.hypotheses.org/82

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»Volkskultur« und »Popkultur« oder: das Vergnügen an Widersetzlichkeit

Zu den Genres der Popkultur gehört der Comic, einer der erfolgreichsten ist Asterix. Die Ironie, mit der die Verhältnisse geschildert werden, ist ebenso ein Kennzeichen der Popkultur wie die Anspielungen auf aktuelle politische Themen oder die Zitate aus dem bildungsbürgerlichen Kanon. In seiner Bildsprache repräsentiert Asterix aber auch eine idealtypische Volkskultur, wie sie in den Geschichtswissenschaften der 1980er Jahre aufgekommen ist und Feste, Vergnügungen und Revolten der sprichwörtlichen kleinen Leute zum Thema historischer Forschung gemacht hat: auf der einen Seite die findigen gallischen Anarchisten in einer überschaubaren, von Magie und Widersetzlichkeit geprägten Welt, auf der anderen das zwar überlegene, aber immer wieder scheiternde Imperium Romanum mit seinen modernen Errungenschaften, den Straßen, Institutionen der Verwaltung und des Militärs, rational und machtorientiert.

Die berühmte, auf das »kleine gallische Dorf« im »besetzten Gallien« gerichtete Lupe verspricht einen mikrohistorischen Zugang. Asterix, so könnte man pointieren, setzt in einem popkulturellen Genre das Konzept der Volkskultur um: eine populäre Gegenwelt gegen die Zumutungen der Moderne im Gewand vormoderner Widersetzlichkeit gegen Disziplinierungsversuche der Obrigkeiten. Die Frage ist: Wer zitiert wen, der Comic die Historiographie oder die Historiographie den Comic?

Popkultur hat den Weg nicht nur in die gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften, sondern auch in die Geschichtswissenschaft gefunden. Unter dem Titel »Pop History. Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären« fand im November 2011 am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam eine Konferenz statt, auf der über Phänomene von Jugend- und Musikkulturen im Hinblick auf ihren Ertrag als neuer Gegenstand oder neues Konzept der Zeitgeschichte diskutiert wurde.1 Was mich daran fasziniert, ist nicht so sehr das Ritual, mit dem ein Forschungsfeld als neu deklariert und abgesteckt, als vielmehr der Enthusiasmus, mit dem über Jeans in der DDR, die Beatles-Auftritte in Hamburg oder die Bravo-Sozialisation mehrerer Generationen Jugendlicher nachgedacht wird.2 Dieser Enthusiasmus erinnert mich an die Faszination, mit der in den 1980er Jahren unter dem Begriff »Volkskultur« über die Subversion des Biertrinkens, den Karneval als Zeit begrenzter Rebellion oder die antikapitalistische Attitüde des Holzdiebstahls geforscht wurde.3

Damit ist der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen angesprochen: die Parallelen in der Konstituierung zweier historiographischer Forschungsfelder, eine inzwischen 30 Jahre alte Volkskultur und eine neuerdings für die Zeitgeschichte diskutierte Popkultur. Für beide spielen Genuss, Unterhaltung und Vergnügen eine Rolle, beide interpretieren Alltagspraktiken vor allem als Subversion und Widersetzlichkeit. Um nicht missverstanden zu werden: Ich mag den Enthusiasmus und ich teile ihn. Darüber hinaus halte ich die Debatten für ertragreich und viele der diskutierten Ansätze für interessant und weiterführend – sowohl die damaligen unter Volkskultur zusammengefassten, als auch die neueren Überlegungen zu Pop History und Popkultur.

Die Begriffe »Volkskultur« und »Popkultur« benennen zunächst einmal ein ähnliche  Themenfeld, nämlich die Welt des Populären. Während sich die Forschungen zur Volkskultur zwar nicht ausschließlich mit der Frühen Neuzeit befassten, ihre wesentlichen Konzepte aber mit Blick auf diese entwickelten, beziehen sich Forschungen zur Popkultur in erster Linie auf das späte 20. Jahrhundert. Das Populäre wird in beiden Fällen nicht einfach als gesellschaftlicher Teilbereich verstanden, vielmehr wird es selbst zu einem analytischen Kriterium gemacht, mit dem die Gesellschaft, wenn nicht als Ganzes, so doch aus einer neuen Perspektive heraus betrachtet wird (oder werden soll). In diesem Sinne lassen sich Popkultur und Volkskultur als Konzepte bezeichnen.

Was ist der Sinn eines solchen Vergleichs zweier Forschungsfelder? Gehen die Ähnlichkeiten über Forschungskonjunkturen oder Moden hinaus? Vielleicht nicht, aber man kann sich diese Moden für eine methodische oder disziplinäre Selbstvergewisserung zunutze machen. Angeregt worden sind meine Überlegungen, abgesehen von meiner eigenen Freude an popkultureller Subversion, von Raphael Samuel, der die Trennung zwischen Geschichte als Wissenschaft und Geschichte als populäre Vorstellung kritisiert hat.4

In seiner Untersuchung Theatres of Memory hat er die gegenseitige Durchdringung von Formen des Wissens über Geschichte untersucht. Mieke Bal hat sich mit den Schwierigkeiten des interdisziplinären Arbeitens auseinandergesetzt und vorgeschlagen, die Instrumentarien der Analyse statt als feste, in den jeweiligen Disziplinen aus unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und divergierenden Traditionen resultierende Definitionen als reisende Konzepte zu verstehen. Konzepte seien flexibler und ließen sich, so Bal, wie Gummibänder in verschiedene Disziplinen – oder Denkstile – hineinziehen.5

In Anlehnung an die travelling concepts werde ich im Folgenden Aspekte der jeweiligen methodischen und konzeptionellen Ansätze der Volks- und Popkultur gegeneinander lesen. Zunächst werde ich die beiden Konzepte vorstellen und in einem zweiten Schritt einige Gemeinsamkeiten diskutieren, um abschließend über Möglichkeiten einer wechselseitigen Nutzung nachzudenken. Zum einen ergeben sich daraus, so die Idee, neue Perspektiven auf die jeweiligen Gegenstände der Untersuchungen, zum anderen aber ermöglicht dieses Vorgehen eine Reflektion über die Produktion von Geschichte selbst: Es führt Gegenstände und Konzepte als relational, sich gegenseitig bedingend vor. Entsprechend ist das Ziel nicht eine endgültige Definition eines Konzepts »Popkultur« oder ein Plädoyer für die Erneuerung des Volkskulturkonzepts, sondern ein Gedankenspiel, aus dem sich Synergieeffekte ergeben können.

Zwei Beobachtungen werden dabei in einer assoziativen Weise vorgestellt: 1. Das Volkskulturkonzept entstand in den Zeiten des Pop. Es kann deshalb als ein Beispiel für die Interdependenzen zwischen alltagspraktischen und wissenschaftlichen Denkstilen gesehen werden. 2. Die Interdependenzen zwischen Konzept und Gegenstand hängen mit der Struktur der Popkultur selbst zusammen. Popkultur zitiert nicht nur aus jedwedem Genre und Denkstil oder Code.6 Sie produziert auch ihre eigene Analyse gleich mit. Damit hebt sie sowohl die Grenzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen auf, als auch die zwischen Gegenstand und Forschung. Dies ist, so die These, ein für die Geschichtswissenschaften hilfreiches Angebot, über die Beziehungen zwischen Ereignis, Geschichte und Geschichtswissenschaft oder historische Deutungsweisen in unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten nachzudenken.

I.  Die Phänomene

Volkskultur und Popkultur beziehen sich auf historische Zeiten, die sich in ganz zentralen Aspekten unterscheiden: in den Kommunikationsweisen und technischen Möglichkeiten, ökonomischen Strukturen, Lebensstandards und Wissenssystemen. Bei der Beschäftigung mit frühneuzeitlicher Volkskultur gilt es, die langen Kommunikationswege zu beachten, die einen geringeren Vergesellschaftungsgrad bedeuteten, geringere Verflechtung und geringere Integration. Daraus ergaben sich Spielräume für lokale Welten, deren Potenz und Eigenlogik die Grundlage für die Deutung als Gegenwelten darstellen. Popkultur hingegen beruht auf globalen Konsummöglichkeiten und der Technisierung des Alltags, auf schneller Kommunikation, die Jugend als distinkten Lebensstil überhaupt erst ermöglicht und die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche vorantreibt. In dieser Hinsicht erscheint Popkultur eher als Subkultur, denn als Gegenwelt, das heißt, eher als Affirmation vorherrschender Bedingungen, denn als deren radikale und grundsätzliche Ablehnung, auch wenn Normen und Regeln infrage gestellt werden.7

In den 1980er Jahren erschienen Buchtitel wie Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags8 oder Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt.9 Diese Titel propagierten einen neuen Ansatz für die Geschichtsschreibung. Schwerpunkt der Forschun- gen war die Frühe Neuzeit mit Ausflügen ins 19. und 20. Jahrhundert. Der Begriff »Volkskultur« ist eine Übersetzung von culture populaire und popular culture und bezieht sich auf das viel kritisierte Werk von Robert Muchembled Culture populaire et culture des élites dans la France moderne von 1978 sowie auf Peter Burkes im selben Jahr erschienene Popular Cul-ture in Early Modern Europe.10 Beide Studien argumentieren, es habe bis ins 18. Jahrhundert hinein eine eigenständige, aus dem Mittelalter überlieferte Kultur des gemeinen Volks gegeben, die unabhängig von der herrschenden Elitenkultur existiert habe. Bislang sei die historische Forschung vom Konzept des gesunkenen Kulturguts ausgegangen, das die breiteren Schichten vereinfacht und verballhornt hätten; nunmehr sei stattdessen anzunehmen, dass die ursprüngliche Volkskultur in mehreren Schüben elitenkultureller Interventionen von der Reformation bis zur Aufklärung überformt worden sei.

Unter dem Konzept »Volkskultur« wurde eine akteurszentrierte Geschichtsschreibung aus der Perspektive der kleinen Leute verstanden, die die vorherrschenden makrohistorischen Kategorien wie Reformation, Aufklärung, Verstaatlichung in Frage stellte. Kultur wurde als Erfahrung und Praxissystem definiert, das nach Norbert Schindler »sowohl selbständige Lebensformen ausbildet, soziale Beziehungen knüpft und erfährt, als auch sozialen und materiellen Lebenserfahrungen Ausdruck verleiht«.11 Es ging um das Sichtbarmachen »eines Gegenhorizonts im Prozeß des gesellschaftlichen Wandels«.12 Volkskultur war demnach gleichzeitig Gegenstand und Konzept.

Die Perspektive wurde in Auseinandersetzung mit der Ethnologie und einer zur Europä- ischen Ethnologie gewandelten Volkskunde entwickelt.13 Mit Blick auf ethnologische Studien wurde die Fremdheit von Gesellschaften für die historische Forschung als Erkenntnis leitender Ansatz eingeführt.14 Damit verschob sich – und dies war eine Intention – die geschichtswissenschaftliche Leitperspektive: Nicht mehr die Wege in die Moderne, also der Wandel hin zum Bekannten, standen im Vordergrund, sondern das Unbekannte, Fremde sollte erforscht werden.

Zentrale Gegenstände der Forschungen waren Feste und Vergnügungen, aber auch kriminalisierte Praktiken wie beispielsweise Holzdiebstahl und Revolten.15 In deren Analyse sah man Möglichkeiten, an Werte und Funktionsweisen der wenig fassbaren, wenig schriftlichen Volkskultur heranzukommen. Einen zentralen Bezugspunkt stellten die Studien Primitive Rebels von 1959 und Bandits von 1969 dar, in denen Eric Hobsbawm Räuberfiguren und -erzählungen weltweit im Hinblick auf ihre soziale Sprengkraft interpretiert hat.16 Obwohl als romantisch und unhistorisch kritisiert, haben sie eine ganze Reihe Forschungen zu Randständigkeit, Protest und sozialer Mobilität ausgelöst und dabei die Vorstellung von einem sich kaum wandelnden und immobilen frühneuzeitlichen Bauerntum ins Wanken gebracht.17

Exzessives Essen, Trinken und Feiern wurden als Praktiken einer Ökonomie der Verschwendung untersucht, die angesichts des Lebens am Existenzminimum durchaus einen rationalen, nämlich sozialen Sinn hatte, so beispielsweise Hans Medick.18 Darüber hinaus ist das Festhalten an Trinkgebräuchen und Festen als Widersetzlichkeit gegen obrigkeitliche Disziplinierungsambitionen verstanden worden.19  Insbesondere der Karneval galt als eine zeitlich begrenzte Ironisierung und Umkehrung der Machtverhältnisse – entweder als Katharsis erfahrener Unterdrückung oder als ritualisierte Drohung, um der Macht der Herrschenden etwas entgegenzusetzen.20  Die Studien haben den Blick auf die Reziprozität der Beziehungen zwischen Herrschaft und Untertanen gelenkt und neue Erkenntnisse über die Funktionsweisen von Macht ermöglicht.21

Selbstverständlich sind Forschungen mit Blick auf eine Volkskultur immer wieder und auch heftig kritisiert worden, so die dichotome Gegenüberstellung einer Volks- und Elitenkultur und die Romantisierung von Widersetzlichkeit. Für den deutschsprachigen Kontext ist darüber hinaus auf die Doppeldeutigkeit des Begriffs »Volk« hingewiesen worden, das gleichzeitig Nicht-Eliten und eine als essenziell gedachte Entität, eine ethnisch geschlossene Gruppe meinen kann.22 In Zurückweisung der Kritik wurde auf den handlungsorientierten Kulturbegriff verwiesen, der von einer wechselseitigen Beziehung zwischen Volk und Elite ausgehe und daher Essenzialismus vermeide.

Der Begriff »Popkultur« umspannt ein semantisches Feld von Pop Art bis populärer Kultur. Entsprechend vielfältig sind die Definitionen. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive versteht man unter Pop eine bunte und laute, der Warenwelt entlehnte Ästhetik, die den Alltag in die Kunst holt, also Symbole und Zitate aus alltagsweltlichen Bereichen nutzt. Pop ist im Englischen eine lautmalerische Bezeichnung für das Ploppen oder Knallen und hat daher eine doppelte Konnotation, die Verkürzung von »populär« und den Verweis auf eine alltägliche ästhetische Erfahrung. Die doppelte Konnotation aufgreifend haben die Zeithis- toriker Árpád von Klimó und Jürgen Danyel vor kurzem die Erfahrungen mit Beatles und Jeans als »ein lautes ›pop‹« akzentuiert.23 Mit Popkultur wird nicht nur Alltagsästhetik in die Kunst geholt, sondern auch eine ästhetische Dimension in den Alltag.

Popmusik bezeichnet eine eigene Stilrichtung kommerzieller Unterhaltungsmusik und wird gleichzeitig, vor allem in den 1960er und 1970er Jahren, als Überbegriff für Rock ’n’ Roll, Rock und Punk benutzt, um die bekanntesten Richtungen zu nennen.24 Sie wird sowohl mit ausgefeilten Vermarktungsstrategien als auch mit ungebrochen rebellischem Mythos assoziiert. Diese popkulturelle Uneindeutigkeit zeigt wohl kaum etwas deutlicher als die Auf- merksamkeit, die 2012 der 50ste Jahrestag des ersten Auftritts der Rolling Stones erfuhr. In jedem überregionalen Medium konnte man längere Ausführungen über Auftritt, Gruppe und Musik lesen, hören und sehen.

In kulturwissenschaftlicher Hinsicht wird Pop als eine Form der Kommunikation inter- pretiert, die mit Codes aus unterschiedlichen Bereichen und Genres arbeitet und so deren Grenzen überschreitet. Diese Grenzüberschreitungen werden sowohl als Affirmation einer kommerzialisierten Welt als auch als Subversion gegen hegemoniale Werte gedeutet.25 Systemtheoretisch ist die Präsenz populärer Kulturen funktional definiert worden: als eine Kompensation für das Spannungsverhältnis zwischen Systemlogiken und individuellen Befindlichkeiten oder als Repräsentationsmodus einer globalen Mediengesellschaft, nämlich als ein Modus von Semantiken, die überall verstanden werden.26

Die Frage, was unter Popkultur zu verstehen ist, beschäftigt seit einiger Zeit auch die Geschichtswissenschaft. Zentraler Interpretationsrahmen ist der Aufstieg der Massenkultur und die Entwicklung einer Konsumgesellschaft. Als Voraussetzung gelten die Ausdehnung der freien Zeit und die Verbesserung des Lebensstandards. Diese Entwicklungen werden auch als Demokratisierung oder als Zunahme der Möglichkeiten zur Partizipation gefasst, also als eine Nivellierung sozialer Differenzen hin zu einer Mittelschichtsgesellschaft mit neuen Distinktionspraktiken und neuen Werten. Relevant ist in dieser Perspektive eine Zeitspanne zwischen 1850 und 1970.27

Vertreter und Vertreterinnen der Pop History freilich verstehen Popkultur nicht oder nicht nur als Ende einer langen Entwicklung, sondern (auch) als eine eigene Epoche, die eine Zeitspanne von Mitte der 1950er bis zum Ende der 1970er oder auch der 1980er Jahre umfasse.28  Voraussetzung für die Spezifik der Zeitspanne ist ebenfalls die Zunahme von Freizeit und Verbesserung des Lebensstandards, aber die Pop History sieht eine entscheidende Zäsur mit dem Ende der Mangelgesellschaft der direkten Nachkriegszeit gegeben. Kennzeichen der dann entstehenden Popkultur sei eine massenhafte Verbreitung audiovisueller Medien, was nicht nur eine Kommerzialisierung des Alltags bedeutet habe, sondern auch eine Kultur der Individualisierung, das heißt eine Pluralisierung und Liberalisierung der Lebensstile.

Dafür stehe beispielsweise der Kassettenrekorder, den eine große Zahl Jugendlicher und junger Erwachsener erworben habe, um an einem frei gewählten Ort die eigene Musikrichtung hören zu können. Diese Praktiken hätten Individualisierung, Kommerzialisierung und Gruppenbildung ermöglicht. In dieser Perspektive wird Pop als neue Generationenerfahrung betrachtet, die zur Ausprägung von Jugendkulturen beitrug. Kennzeichen sind neue Seh- und Hörgewohnheiten, neue individualisierte und entformalisierte Tanzstile, ein lässiger Habitus und entsprechende Kleidung, Drogenexperimente, ein liberaler(er) Umgang mit Sexualität sowie die Medien einer globalen Unterhaltungskultur, beispielsweise Comics und Musikfestivals. Die Jahre der Popkultur zwischen 1950 und 1970 werden als kulturelle Sat- telzeit angesehen, als Übergang zu einer postmodernen Konsum- und Individualkultur.29

Weiterführende Überlegungen hat der Kulturanthropologe Kaspar Maase in die Debatte geworfen. Er sieht in der Antizipation von Konsumgütern und Unterhaltungsmedien die Suche nach einer nichtprofessionellen Ästhetik, die Inanspruchnahme eines Rechts auf Ver- gnügen und Genuss. Die jugendkulturellen Praktiken interpretiert er als Demokratisierung von Ästhetik und gleichermaßen als Verweigerung einer hegemonialen Disziplinierungs- und Leistungsethik.30

Fasst man die Gemeinsamkeiten dieser aus unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen argumentierenden Ansätze zusammen, so kann man festhalten: Einerseits werden die Praktiken der Popkultur unter Rückgriff auf Forschungen zu Jugend- und Subkulturen als Infragestellung herrschender Normen und Werte interpretiert. Andererseits gilt die Zeit- spanne der 1950er bis 1970er Jahre als Sattelzeit, in der ein grundlegender Wertewandel stattgefunden habe. In diesem Sinne wäre Popkultur dann eine Affirmation dieser sich neu durchsetzenden Werte. Popkultur wird mithin als Politik und Vergnügen oder Bruch mit und Affirmation von herrschenden Normen gedeutet.

Wie Volkskultur ist auch Popkultur gleichzeitig Gegenstand und Konzept. Darüber hin- aus hat der Gegenstand aber auch seine eigenen Deutungen verfasst. Die Ambivalenzen der Popkultur werden nicht nur in heutigen wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern wurden auch in der popkulturellen Welt selbst auf hohem intellektuellen, oftmals akademischem Niveau diskutiert. Akteur/innen und Analytiker/innen hängen eng zusammen, sind kaum zu trennen. Dies hat Detlef Siegfrieds Studie über Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur gezeigt. Siegfried hat die mit soziologischen und politologischen Interpretamenten gespickten Flugblätter, Bücher, Musikmagazine, Schüler- und Studentenzeitungen zur Grundlage seiner Untersuchung gemacht. Sie stellen Gegenstand der Analyse dar und liefern Ansätze für die eigene Forschung: »Von der kulturindustriellen Manipulation zur Autonomie des Subjekts« reflektiert gleichermaßen die »Bewertung« eines »Teil[s] der linken Szene« wie auch die Analyse ihrer Codes.31

So verwundert es nicht, dass unklar ist, ob Pop als Quellenbegriff erforscht oder als Ana- lysekategorie in die Zeitgeschichte eingeführt werden soll. Dies hat offenbar nicht nur mit dem Abstecken eines neuen Felds zu tun, sondern auch mit Pop selbst als einer Kommunikationsweise über Genregrenzen hinweg. Die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Annette Geiger versteht daher unter Pop eine Blickdimension, die soziale Praktiken als sich gegen- seitig zitierende und ironisierende Codes liest.32

II.  Ähnlichkeiten

Unter geschichtswissenschaftlicher Perspektive weisen die Konzepte Pop- und Volkskultur eine Reihe von Ähnlichkeiten auf. Der im Birmingham Center for Contemporary Cultural Studies entwickelte Kulturbegriff hat beide Richtungen beeinflusst, die Erforschung der populären Praktiken frühneuzeitlicher Unterschichten ebenso wie die der englischen Arbeiterjugendlichen nach 1945. Kultur wird als ein Ensemble von Zeichen, Symbolen und kommunikativen, also deutbaren Praktiken zur Sinnstiftung analysiert. Daraus resultiert ein akteurszentriertes und auf Handlungsweisen orientiertes Vorgehen. Beide Konzepte erheben das Populäre nicht nur einfach zu einem Gegenstand unter anderen, sondern verstehen es als zentral für die Funktionsweisen von Gesellschaften. Dies tun sie, indem sie Vergnügen und Genuss zum Forschungsgegenstand machen und dessen eigene Werte und Logik auf- zeigen. Dies tun sie auch, indem sie von einem erweiterten Politikbegriff ausgehen, das heißt, Alltagspraktiken als Infragestellung existierender Machtverhältnisse interpretieren.

Die Ähnlichkeit der Konzepte kann in mancher Hinsicht auf einen ähnlichen zeithistorischen Bezug zurückgeführt werden. Die Fortschrittskritik der 1960er bis 1980er Jahre sowie die damaligen Auseinandersetzungen um neue Politikformen sind in die zeitgenössische Popkultur ebenso eingegangen wie in das historiographische Konzept der Volkskultur. Beide Konzepte stellen implizit oder explizit zentrale Kriterien der Moderne in Frage: Politik als spezifischer Teilbereich, Emanzipation durch Aufklärung, Integration in Staat und Gesell- schaft. Aufklärung, Politisierung, Rationalisierung, Institutionalisierung gelten mehr oder minder explizit als Zumutung und Vereinnahmung, zumindest als Verlust. Man kann es so formulieren: Volkskultur und Popkultur kreisen die Moderne von hinten und vorne ein. Volkskultur konzeptionalisiert eine frühneuzeitliche Welt des Eigensinns und des Genusses vor der Moderne, Popkultur eine postmoderne Welt des Konsums und Genusses nach der Moderne. Moderne steht weniger für einen Zeitraum, als vielmehr für Herrschaft, Elite, Überformung, Disziplinierung.

III.  Möglichkeiten

In der Verschränkung des Blicks auf historische Zeiten liegen meines Erachtens die Möglichkeiten gegenseitiger Nutzung der Konzepte. Dies möchte ich anhand zweier Beispiele verdeutlichen. Das erste Beispiel: Vor einigen Jahren hat Wolfgang Seidenspinner den für Jugendkulturen nach 1945 angewandten Stilbegriff für seine Forschungen zu Räubern im 17. und 18. Jahrhundert genutzt.33  Als Stil analysiert er ihre Sprache und Kleidung sowie den daraus resultierenden Gruppenbildungsprozess. Auch seien in Räuberbanden überdurchschnittlich viele unverheiratete junge Männer vertreten. Man könnte also, um den heutigen Sprachgebrauch bzw. die popkulturelle Jugendforschung zu zitieren, von einer Jugendgang oder Jugendkultur sprechen.

Denkt man die Interpretation als Stil noch weiter im Sinne des Pop, so wären Räuber und Vaganten nicht Gruppen mit eigenen, von der »normalen« Gesellschaft abgegrenzten Codes, sondern ihre Sprache und ihre Praktiken könnten als Codes über Stile und Helden analysiert werden. Die Codes konnten affirmativ die Sprache der Repression aufgreifen oder subversiv ein eigenes System erschaffen. Sie waren aber auch unterhal- tend wie in den zeitgenössischen Räubergeschichten mit heldenhaften und romantischen Erzählmotiven.34 Eine durch die Beschäftigung mit Popkultur geprägte Blickweise würde die Kritik an Beschreibungen von Volk und Elite als geschlossene Entitäten aufgreifen, aber diesen nicht einfach die Annahme einer eindeutigen Relationalität von Volks- und Elitenkulturen entgegensetzen.

Um dies an einem Beispiel zu zeigen, sei kurz auf einen Kupferstich von 1802, die »Original Abbildung des Schinder Hanes, Anführer einer Räuberbande von 250 Mann«, eingegangen. Unter dem Abbild befindet sich die »Form der Sicherheitskarte die er Armen und Reisenden ertheilt«. Die Geheimschrift der Karte wird folgendermaßen entschlüsselt »d. i. auf teutsch[:] Vorzeiger dieses pasirt und repasirt mit sichern gelait bis über die (…) Grenze. Vom Quartir aus d. 27. Mart. 1802 S. Hanes« Die Sicherheitskarte wurde vom Räuberhaupt- mann ausgestellt, sprich der Person oder der Gruppe, die die Gegend kontrollierte. Das Zeichen ihrer Ausstellung signalisiert eine Ethik, die zwischen denjenigen, die nicht Opfer eines räuberischen Überfalls werden sollten, nämlich »Armen« und »Reisenden«, und denjenigen unterschied, die potentielle Opfer waren – ebenfalls Reisende, so muss man annehmen. Dass die Karte überhaupt ausgestellt wurde, rekurrierte einerseits natürlich auf den seit Jahrhunderten existierenden Mythos von Robin Hood, der den Reichen nahm, um den Armen zu geben, andererseits auf die Konstruktion von Gefahr und Bedrohung.

Geht man davon aus, dass die Armutsökonomie der Unterschichten um 1800 kriminalisierte Praktiken des Bettelns, Betrügens etc. einschloss, so überschritt das Räubern zwar eine Grenze der Gefährdung (sich und anderer), verwies aber auch auf mehr oder minder akzeptierte Praktiken. Auf diesen Zusammenhang spielt die Sicherheitskarte für Arme und Reisende an, auf die Logik einer wirtschaftenden Räuberbande: Am meisten zu holen ist bei den »Reichen«, Risiko und Ertrag stehen in einem einigermaßen vertretbaren Verhältnis. Darüber hinaus benötigte eine Räuberbande ein loyales Umfeld, das Unterschlupf bot, gegebenenfalls vor der Sicherheitspolizei warnte. Die Sicherheitskarte, unterschrieben vom »Räuberhauptmann«, bedeutete genau diese Mischung aus Gewalt, Gefährdung und Macht. »S. Hanes« bemühte die Sprache eines romantischen Robin Hood-Mythos, um das Ansehen des »Räuberhauptmanns« zu steigern, bediente den Code einer Gemeinsamkeit suggerieren- den Ethik, aber auch den der Gefährdung und Macht – unabhängig davon, ob dahinter der Schinderhannes oder ein Räubermythos stand.

Vagieren und Rauben waren Praktiken. Die Akteure wechselten zwischen Bereichen, Tätigkeiten, Fremd- und Selbstdeutungen – zwischen Herumziehen und Sesshaftigkeit, Fremdheit und Vertrautheit, Rauben, Betteln und Schaustellerei. Dies kann weder ein Ansatz zeigen, der davon ausgeht, dass sozialökonomische Lagen Entitäten konstituieren, noch ein Ansatz, der Räuber, Vaganten oder Bettelnde als durch sprachliche Zuschreibungen konstruiert sieht. Ein Sozialsystem oder gar eine Gruppe verfügt nicht nur über Symbole und Symbole konstruieren nicht einfach Gruppen. Sie gehören jeweils verschiedenen und sich wandelnden Codes an, die als aufeinander bezogen, aber auch als aneinander vorbeigehend analysiert werden können. Seidenspinner will mit seinem »Stil« weg von der Vorstellung einer positiv oder negativ bewerteten »Gegenkultur« – Stilbildung bleibt, auch wenn sie der Abgrenzung dient, Teil der Gesellschaft.

Seine Überlegungen spiegeln auf der konzeptuellen Ebene das popkulturelle Dilemma zwischen Gegenkultur und Affirmation. Eher assoziativ und implizit ermöglicht die anachronistische Assoziation »Jugendgang« es, die Komplexität der Funktionsweisen von frühneuzeitlichen Gesellschaften zu erhellen oder zu betonen. Obwohl (oder gerade weil) die die Kritik an der Übertragung von »modernen Analysebegriffen« auf frühneuzeitliche Forschungsgegenstände zum methodischen Repertoire der damaligen Volkskulturforschung gehörte – was in Verbindung mit der Annäherung an die Ethnologie zum Umkehrschluss führen konnte, man beobachte in den außereuropäischen Gesellschaften die europäische Vormoderne – liegt gerade in der Übertragung »moderner Komplexität« auf frühneuzeitliche Gegenstände einiges an Reflexion und Erkenntnisgewinn.

Das zweite Beispiel: 1970 erschien ein Sammelband Die hedonistische Linke, in dem in Auseinandersetzung mit der sogenannten »orthodoxen Linken« das Vergnügen als Teil revolutionärer Praxis analysiert wird – und zwar mit Bezug auf wissenschaftliche Theorien.35 In dem von einer Studierendengruppe um den späteren Soziologieprofessor Wolfgang Eßbach verfassten Beitrag heißt es: »Beatmusik, Tanz und Drogen-Konsum werden nicht als unpolitische Verhaltensweisen einfach verworfen, sondern sie sind als Momente des einen Alltags unverzichtbarer Bestandteil einer politischen Praxis, in der die Trennung zwischen politischer und privater Zeit aufgehoben werden soll.«36

Treten wir also einen Moment zurück und betrachten das Zitat als überlieferte Rede einer uns fremden Gruppe. Welche Codes werden hier zitiert, welche Zusammenhänge zu anderen hergestellt? Es geht offenbar um Vergnügen, es geht auch um illegale Praktiken des Vergnügens. Dem Vergnügen wird – wie den Räubermethoden des »S. Hanes« – Macht zugesprochen, in diesem Fall politische Macht. Hintergrund ist eine politische Ökonomie (sic!) akademischer Provenienz. Formuliert wird ein Anspruch auf Deutungsmacht und auf die Umwälzung der Gesellschaft. Es geht darüber hinaus um Konkurrenz in diesem Deutungsprozess, richtete sich doch die »hedonistische« Linke gegen die »orthodoxe«. Der Text verspricht – ganz zeitgemäß – Rausch und Lust und assoziiert diese expressive Körperlichkeit mit Revolte. (Was bedeutet es, wenn genau eine solche auf Körperlichkeit setzende Revolte intellektuell diskutiert wird?) Formuliert wird auch ein Anspruch auf die ganze Person; die Aufhebung der Trennung zwischen politischer und privater Zeit läuft auf den Verlust eines von Revolte und Politik freien Raums hinaus, in dem Drogen einfach Drogen, Tanz einfach Tanz gewesen wären.

Man könnte also Forschungen über Widersetzlichkeit, Feste und Vergnügungen als Teil des zeitgenössischen Diskurses über Hedonismus lesen, als Beitrag zu einer Neukonzeption basisdemokratischer Politik-, Protest- und Lebenskultur – als popkulturelles Phänomen, ein Blick, der so manche Faszination an karnevalesken Praktiken in einen (vielleicht nicht immer angestrebten) politischen Kontext stellen würde. Im Sinne der Zeitgebundenheit des historischen Forschens wäre dieser Befund allerdings nicht überraschend, zumindest nicht, solange er aus einer wissenschaftlichen Perspektive auf zeithistorische Phänomene hervorgegangen ist. Eine popkulturelle Perspektive würde dagegen wie das Flugblatt des 18. Jahrhunderts oder wie Seidenspinner mit seiner Perspektivverschiebung die Genregrenzen überschreiten und die Ästhetik des Zitierens nutzen. Man kann also nach dem Zusammenhang von Wissenschaftlichkeit und Körperlichkeit als Teil einer Robin-Hood-Romantik fragen – nach der ästhetischen Bedeutung wissenschaftlicher Formulierungen und rauschhafter Erfahrungen.

So wie die Vorstellung von sich gegenseitig zitierenden und die Grenzen zwischen verschiedenen Bereichen überschreitende und Gruppen bildende Codes für frühneuzeitliche Forschungen weiterführend sein kann, so kann die für die Volkskulturforschung zur Frühen Neuzeit nutzbar gemachte Fremdheit die Blickdimension für die Untersuchungen zur Popkultur schärfen und in ihrer Perspektive zuspitzen. Man könnte also die akademischen Selbstanalysen als Teil der Popkultur und nicht schon als ihre Interpretation lesen. Statt von einer selbstverständlichen Nachvollziehbarkeit bekannter Worte auszugehen, wären die Texte als (fremde) Codes zu betrachten. Die Diskurse über Alltag, Hedonismus und Politik stellten nicht nur theoretische und praktische Herausforderungen dar, die in wissenschaft- lich fundierten Texten und habituellen Gesten »gelöst« worden wären, sondern wären auch Zeichen, deren Bedeutung erst zu entschlüsseln ist.

Pop- und Volkskultur verbindet ein Zusammenhang von Vergnügen und Widersetzlichkeit, aber auch der Sinn für Zeichen und Codes. Popkulturelle Zitierweise und volkskulturelle Fremdheit schärfen den Blick für die Relationalität von Erkenntnis, von Wissenschaft und Gegenstand. Wissenschaft analysiert nicht nur einen vorhandenen Gegenstand, sie schafft ihn sich erst durch ihre Kategorienbildung. Darauf haben neulich Rüdiger Graf und Kim Christian Priemel in einem Beitrag zur »Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften« aufmerksam gemacht.37 Wünschenswert wären daher Darstellungsweisen, die diese Relationalitäten, die Schichtungen, Überlagerungen und Verschiebungen von Codes im Hinblick auf den Gegenstand und auf seine wissenschaftliche Deutung historisieren und reflektieren. Das Spiel mit historischen Zeiten bereitet nicht nur das Vergnügen intellektueller Widersetzlichkeit gegen die historiographische Norm der Chronologie (gegen Setzun- gen der westlichen Moderne), sondern stellt auch Hierarchien der Relevanz von Epochen, Kulturen (und Fächern) infrage.

Wenn man Geschichtswissenschaft daher als eine Kunst betrachtet, über Dinge nachzu- denken, die man nicht selbst erfahren oder anschauen kann, so könnte man diese Kunst möglicherweise nutzen, um Distanz herzustellen und über etwas nachzudenken, das scheinar bekannte Phänomene beschreibt und vertraute Sprachen benutzt. Die Frage, ob in dem popkulturellen Genre Asterix historiographische Konzepte zitiert werden oder ob die Volkskulturforschung alltagskulturell akzeptierte Ideale aufgreift, wäre dann überflüssig.

Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift WerkstattGeschichte, die vom Verein für Kritische Geschichtsschreibung e.V. herausgegeben wird und im Essener Klartext-Verlag erscheint.

Zitation: Dietling Hüchtker: “Volkskultur” und “Popkultur” oder: Das Vergnügen an Widersetzlichkeit, in: WerkstattGeschichte 65 (2013), S. 67–78. Online: pophistory.hypotheses.org/***.

Die Asterix-Abbildungen entnehmen wir dem 35. Asterix-Heft “Asterix bei den Pikten” mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Die Asterix-Comics erscheinen als Softcover im Egmont Ehapa Media Verlag und gebunden in der Egmont Comic Collection.

  1. Pop Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären. Wissenschaftliche Konferenz des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) in Verbindung mit dem Arbeitskreis Popgeschichte, 3.–5.11.2011, Berlin (letzter Zugriff: 2.11.2014); Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek, Tagungsbericht: Pop History. Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären. 3.11.2011–5.11.2011, Berlin, in: H-Soz-Kult, 31.1.2012 (letzter Zugriff: 5.12.2014); siehe auch Bodo Mrozek, Popgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia – Zeitgeschichte, 6.5.2010 (letzter Zugriff: 5.11.2014).
  2. Siehe B. Árpád von Klimó/Jürgen Danyel (Hg.), Zeitgeschichte-online. Thema: Pop in Ost und West. Populäre Kultur zwischen Ästhetik und Politik, April 2006 (letzter Zugriff: 5.11.2014).
  3. Alf Lüdtke, Protest – oder: Die Faszination des Spektakulären. Zur Analyse der alltäglichen Widersetzlichkeit, in: Heinrich Volkmann/Jürgen Bergmann (Hg.), Sozialer Protest, Opladen 1984, 325–341; Manfred Gailus, Rauchen in den Straßen und anderer Unfug. Kleine Straßenkonflikte (Polizeivergehen) in Berlin 1830–1850, in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Berlin-Forschungen III, Berlin 1988, S. 11–42; Josef Moser, »Furcht bewahrt das Holz«. Holzdiebstahl und sozialer Konflikt in der ländlichen Gesellschaft 1800–1850 an westfälischen Beispielen, in: Heinz Reif (Hg.), Räuber, Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1984, S. 43–99; Emmanuel LeRoy Ladurie, Karneval in Romans. Eine Revolte und ihr blutiges Ende 1579–1580, Stuttgart 1982; Ulrike Gleixner, Die »Ordnung des Saufens« und »das Sündliche erkennen«. Pfingst- und Hütebiere als gemeindliche Rechtskultur und Gegenstand pietistischer Mission (Altmark 17. und 18. Jahrhundert), in: Jan Peters (Hg.), Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften, Göttingen 1995, S. 13–53; Werner K. Blessing, Fest und Vergnügen der »kleinen Leute«. Wandlungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen/Norbert Schindler (Hg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1987, S. 352–379.
  4. Raphael Samuel, Theatres of Memory, I: Past and Present in Contemporary Culture, London/New York 1994, S. 8.
  5. Mieke Bal, Traveling Concepts in the A Rough Guide, Toronto/Buffalo/London 2002, S. 321.
  6. Annette Geiger, Pop als Ästhetik? Zum Angriff auf die Gattungsgrenzen in Kunst und Populärkultur, in: Klimó/Danyel (Hg.), Zeitgeschichte-online,  (letzter Zugriff: 11.2014).
  7. Unter »Subkulturen« werden zumeist Teilkulturen verstanden, während »Gegenwelt« eher eine geschlossene Anti-These zur Gesellschaft.
  8. Van Dülmen/Schindler, Volkskultur.
  9. Natalie Zemon Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt am Main 1987.
  10. Robert Muchembled, Culture populaire et culture des élites dans la France modern (XVe-XVIIIe), Paris 1978; Peter Burke, Popular Culture in Early Modern Europe, London 1978.
  11. Van Dülmen, Vorbemerkung, in: /Schindler (Hg.), Volkskultur, S. 7–11, hier S. 8.
  12. Wolfgang Kaschuba, Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Zur Geschichte eines Begriffs und seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit, Frankfurt/New York 1988, S. 50.
  13. Siehe für den deutschsprachigen Zusammenhang die Publikationen der interdisziplinären Arbeitsgruppe um Hans Medick, Alf Lüdtke, David Sabean a. am damaligen Max-Planck- Institut für Geschichte in Göttingen, z. B. Robert M. Berdahl u. a., Klassen und Kulturen. Sozial- anthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1982; Hans Medick/David Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984.
  14. Ein in dieser Hinsicht programmatischer Beitrag war Hans Medick, »Missionare im Ruderboot?« Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt/New York 1989, S. 48–84.
  15. Neben den schon Genannten Nobert Schindler, Widerspenstige Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1992; Arlette Farge/Jacques Revel, Logik des Aufruhrs. Die Kinderdeportationen in Paris 1750, Frankfurt am Main 1989.
  16. Eric Hobsbawm, Primitive Studies in Archaic Forms of Social Movement in the 19th and 20th Centuries, Manchester 1959 (dt. Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Neuwied am Rhein 1962); ders., Bandits, London 1969 (dt. Die Banditen, Frankfurt am Main 1972).
  17. Siehe die kritische Rezension zur Neuauflage Dirk Schümer, Eric Hobsbawm, Die Banditen – Räuber als Sozialrebellen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2007, S. L 29; siehe auch Carsten Küther, Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 1987.
  18. Hans Medick, Plebejische Kultur, plebejische Öffentlichkeit, plebejische Ökonomie. Über Erfahrungen und Verhaltensweisen Besitzarmer und Besitzloser in der Übergangsphase zum Kapitalismus, in: Berdahl a., Klassen, S. 157–204.
  19. Siehe B. Gleixner, Die »Ordnung des Saufens«.
  20. Siehe B. Schindler, Widerspenstige Leute, S. 121–174.
  21. Auch meine eigenen Arbeiten waren, wie viele andere, von solchen Studien inspiriert, B. Dietlind Hüchtker, »Elende Mütter« und »liederliche Weibspersonen«. Geschlechterverhältnisse und Armenpolitik in Berlin (1770–1850), Münster 1999.
  22. Carola Lipp, Schwierigkeiten mit der Volkskultur, in: Ruth-Elisabeth Mohrmann (Hg.), Städtische Volkskultur im Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 49–65; siehe auch Kaschuba, Volkskultur, S. 15–50.
  23. Árpád von Klimó/Jürgen Danyel, Popkultur und Zeitgeschichte, in: Zeitgeschichte-Online (letzter Zugriff 5.11.2014).
  24. Siehe ganz knapp bei Mrozek, Popgeschichte, 2.
  25. Geiger, Pop; Detlef Siegfried, Time Is on My Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2008, S. 689–691.
  26. Christian Huck/Carsten Zorn, Das Populäre der Gesellschaft. Zur Einleitung, in: dies., Das Populäre der Gesellschaft, Wiesbaden 2007, S. 7–41, bes. S. 9 u. 21.
  27. Siehe B. Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1870, Frankfurt am Main 1997.
  28. Mrozek, Popgeschichte.
  29. Verwiesen sei auf Sven Reichardt, Authentizität und Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt am Main 2014, der die Spannung zwischen Individualisierung und Demokratisierung zwar beschreibt, aber wenig nach ihrer Bedeutung fragt.
  30. Kaspar Maase, Das Recht auf Gewöhnlichkeit. Über populäre Kultur, Tübingen 2011, S. 297–318.
  31. Siegfried, »Time Is on My Side«, 662 f.
  32. Geiger, Pop.
  33. Wolfgang Seidenspinner, Mythos Erkundungen in der Subkultur der Jauner, Münster 1998, S. 27.
  34. Holger Bainat, Räuber im Über die printmediale Aufbereitung von Kriminalität im 18. Jahrhundert, in: Rebekka Habermas/Gerd Schwerhoff (Hg.), Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte, Frankfurt/New York 2009, S. 339–366.
  35. Diethart Kerbs (Hg.), Die hedonistische Linke. Beiträge zur Subkultur-Debatte, [Neuwied/Berlin 1970].
  36. Wolfgang Eßbach a., Yippies und Provos. Anarchistische Momente in der hedonistischen Linken, in: Kerbs (Hg.), Die hedonistische Linke, S. 82–109, hier S. 97.
  37. Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 479–508, bes. S. 481 f. u. 508.

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1778

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Antonioni und die Geschichte der Fotografie: Eine Ausstellung in Wien

Michelangelo Antonionis Film Blow Up gilt als Dokument einer Epoche. Er begründete den Weltruhm des deutschen Models Veruschka von Lehndorff, dem Herbie Hancock seinen Hammond-Groover im Soundtrack widmete, und spricht wie nur wenige andere Filme die Bildsprache der “Swingng Sixties”: Sex, Musik, Drogen, Design und Gegenkultur. Eine atmosphärische Momentaufnahme vom London des Jahres 1966, der “aufregendsten Stadt der Welt”, wie im selben Jahr das amerikanische Magazin Time jubelte. Dass Antonioni sein Porträt der Swinging Sixties weniger als impressionistische Erzählung erfunden als vielmehr sorgfältig recherchiert hatte, enthüllt nun eine Ausstellung, die noch bis Mitte August 2014 in der Wiener Albertina zu sehen ist.

David Hemmings in Blow Up (Regie: Michelangelo Antonioni), 1966. film still. Foto: Arthur Evans, Privatsammlung Wien, Courtesy: Neue Visionen Filmverleih GmbH (Albertina/Wien)

Vordergründig ist Blow Up ein Krimi, und entsprechend dramatisch inszeniert ihn das Museum. Beim Betreten umfängt den Besucher Dunkelheit. Eine eigens in das gold- und stuckverzierte Palais hineingebaute Blackbox (Ausstellungs-Design Walter Kirpicsenko) macht den Film begehbar: Standbilder leuchten aus Dioramen, in überdimensionale Filmstreifen hineinmontierte Ausschnitte teilen den Film thematisch auf. Den Anfang macht die Schlüsselszene im Park: Der von David Hemmings gespielte Protagonist hat ein Liebespaar fotografiert, meint aber beim Entwickeln der Negative im unscharfen Bildhintergrund einen Pistolenschützen zu entdecken. Als er die Fotos immer weiter vergrößert, erscheint eine Leiche, doch die Fotografie bietet keine Eindeutigkeit: Die Figur löst sich zu Pixeln auf.

Don McCullin: Thomas’ blow-ups aus dem Park – Courtesy Philippe Garner © Neue Visionen Filmverleih GmbH/Turner Entertainment Co. – A Warner Bros Entertainment Company. All rights reserved. (Albertina/Wien)

Kapitelweise erkundet die Ausstellung nicht nur Antonionis Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie, sondern auch realhistorische Hintergründe und ästhetische Vorbilder des Filmes. Erstmals zu sehen sind die Fragebögen, die der Regisseur an Londoner Fotografen verschickt hatte. Darin erkundigte er sich nach deren Lebensgewohnheiten: Ob sie bei der Arbeit tränken, mit ihren Models schliefen, sich von Pop- und Op-Art beeinflussen ließen, ihre Autos selbst führen oder Chauffeure beschäftigten. Marotten wie der Rolls-Royce des Protagonisten waren nicht der Fantasie des Regisseurs entsprungen, sondern bei dem Londoner Fotografen Terence Donovan abgeschaut.

Bildsprache von Comics und Film Noir: Das Kino thematisiert die Popkultur

David Bailey photographing Moyra Swan, 1965
© Terry O´Neill – Courtesy Philippe Garner (Albertina)

Gemeinsam mit seinen Kollegen David Bailey und Brian Duffy bildete der Lebemann damals die berüchtigte “Black Trinity”, ein Trio, das die Modefotografie dynamisierte. Statt mit Großbildkamera und Stativ im Studio zu arbeiten, nahmen die drei Fotografen ihre Models mit der handlichen Kleinbildkamera Nikon F auf, die auch in Antonionis Film die eigentliche Hauptrolle spielt. Den Hintergrund bildeten alltägliche Straßenszenen und ungewöhnliche Settings. Mal hängten die Foto-Pioniere ihre weiblichen Models an Fallschirme, mal inszenierten sie Dressmen mit Schusswaffen in erzählerischen Bildsequenzen, die vom Film Noir oder vom Comic inspiriert waren. Antonioni zeigte diese Fotos in Blow Up – und holte deren Bildsprache damit zurück ins Medium Film.

Das ikonische Shooting mit Veruschka hatte er sich ebenfalls von David Bailey abgeguckt. Ein Jahr zuvor hatte dessen Kollege Terry O’Neill seine Arbeitsweise in einer Serie porträtiert, die sich Antonioni zum Vorbild nahm. Um das Medium Fotografie in seinen unterschiedlichen Varianten zu zeigen, wechselte er in Blow Up radikal Setting und Genre: Eben noch erotisierender Mode-Macho, versucht sich sein Protagonist im nächsten Moment im seriösen Genre der Sozialreportage unter Fabrikarbeitern und Obdachlosen.

Die Ausstellung zeigt, wie akribisch Antonioni auch hier arbeitete: Die Bilder, die der fiktive Fotograf im Film seinem Agenten vorlegt, hatte der Regisseur eigens bei dem Reportage-Fotografen Don McCullin in Auftrag gegeben. Die Fotos porträtieren das bettelarme East End der sechziger Jahre und setzen damit einen Kontrapunkt zum hedonistischen Lebensstil der Londoner in-crowd.

Hier weiterlesen (zuerst erschienen in DIE ZEIT Nº 26/2014)

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1556

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Reisefreiheit für die Fantasie: Eine Ausstellung über den DDR-Comic “Mosaik”

Die Kobolde Dig, Dag und Digedag brachten Generationen von DDR-Bürgern zum Lachen – und gingen dabei manchmal an die Grenzen des Erlaubten. Eine Ausstellung in der Berliner Dependance des Bonner Hauses der Geschichte widmet sich den knollennasigen Helden des DDR-Comics Mosaik.

Die Legionäre staunten nicht schlecht. Eben haben sie die Stadtmauern Roms noch gegen Angreifer gesichert, da tauchen am antiken Himmel seltsame Vögel auf: An adlerförmigen Fallschirmen segeln abtrünnige Kämpfer des verräterischen Julius Gallus auf die Verteidiger nieder. Die fliegenden Römer, die ihren fantasievollen Angriff auf den Seiten des DDR-Comics Mosaik starteten, ärgerten nicht nur die Verteidiger Roms, sondern auch die Zensoren. Anstoß erregte die Form der Fallschirme: Der römische Adler erinnere zu sehr an das Wappentier der verfeindeten Bundesrepublik.

Wie mit Feder und Retuschier-Pinsel die gezeichneten Fallschirme kurzerhand entpolitisiert wurden, lässt sich anhand von Skizzen nachvollziehen, die in der gerade eröffneten Ausstellung „Dig, Dag und Digedag“ zu sehen sind. Die Episode gilt als Treppenwitz der DDR-Zensur. In der Geschichte der wohl populärsten Helden der Republik ist sie eher eine Ausnahme. Die zeitreisenden Knollennasenkobolde wichen nicht nur äußerlich stark von der sozialistischen Heldennorm ab. Sie waren auch weitgehend ideologiefrei, wenngleich sie gelegentlich aneckten.

Dass es sie überhaupt geben durfte, ist erstaunlich. Comics galten einst als Schmutz und Schund. In Ost wie West verbrannten Jugendschützer und Bildungskonservative die Hefte demonstrativ auf Scheiterhaufen. Galten Comics im Westen als Ursache von Jugendkriminalität und Verrohung, so sah man sie in der DDR als „Gift des Amerikanismus“ vor dem die sozialistische deutsche Jugend bewahrt werden musste. Heute füllt der „Schund“ von einst Museumsvitrinen. Eben erst zog eine Ausstellung im Berliner Tiergarten-Museum eine kritische Bilanz des im DDR-Comic vermittelten Geschichtsbildes, nun widmet sich die Berliner Dependance des Bonner Hauses der Geschichte in der Alten Schmiede der Kulturbrauerei mit 320 Original-Zeichnungen, Dokumenten, unveröffentlichten und zensierten Entwürfen den Digedags.

Das erste “Mosaik”-Heft erschien im Dezember 1955
© Tessloff-Verlag, Nürnberg

Erfunden hatte sie 1955 der Zeichner Hannes Hegen. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der 1925 geborene Sudetendeutsche Johannes Hegenbarth. Der gelernte Glasmaler hatte ein Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig abgebrochen, als er Anfang der Fünfziger begann, Karikaturen im Dienste der DDR-Propaganda zu zeichnen. Sein erfolgreichstes Projekt, die Mosaik-Hefte im FDJ-eigenen Verlag Junge Welt waren dagegen erstaunlich unpolitisch. Die drei Kobolde Dig, Dag und Digedag reisten darin durch ferne Welten und vergangene Epochen. Sie begleiteten den mittelalterlichen Ritter Runkel von Rübenstein auf Schatzsuche, trafen Piraten in der Südsee, waren in London und Paris und sogar im verfeindeten Amerika – und boten damit wenigstens der Fantasie ein Stück Reisefreiheit. Statt Comics waren allerdings „sozialistische Bildgeschichten“ gewünscht und so wichen die anfänglichen Sprechblasen bald Bildunterschriften, die mitunter gereimt daherkamen.

Das “Mosaik”-Team, 1962 (von vorn): Lona Rietschel, Horst Boche, Edith und Johannes Hegenbarth, Egon Reitzel, Manfred Kiedorf, Gisela Zimmermann, Lothar Dräger.
© Privatarchiv Lona Rietschel

Die Ausstellung zeichnet die Produktion der Hefte vom getippten Storyboard über erste Konturen bis zum Endprodukt nach. Die Bleistiftskizzen fertigte Hegenbarth meist selbst an. Doch es werden auch seine künstlerischen Partner gewürdigt, wie die spätere Ehefrau Edith Szafranski oder der österreichische Hintergrundzeichner Egon Reitzl. Charakteristisch waren die oft doppelseitigen Wimmelbilder von Gisela Zimmermann. Eine interaktive Computeranimation illustriert Vorstufen des Vierfarbdruckes, den die auf Noten spezialisierte Leipziger Traditionsdruckerei C.G. Röder besorgte. Wie erzürnte Briefe an die Abteilung Literatur und Buchwesen belegen, ärgerten die „greulichen Zeichnungen“ immer wieder die Verteidiger der Hochkultur.

Kleine Abweichungen entgingen den Zensoren, etwa eine Zeichnung des Berliner Stadtschlosses, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon längst gesprengt worden war. Ob man allerdings in eine Geschichte zur Entdeckung der Kartoffel einen kritischen Subtext zur Lebensmittelrationierung hineinlesen kann, möchte man bezweifeln – hier schießen die Ausstellungsmacher interpretatorisch etwas über das Ziel hinaus. Ebenso zweifelhaft dürfte die als Frage formulierte Wegbereiter-These sein, die suggeriert, die international erfolgreichen Asterix-Comics seien eine Nachahmung der ostdeutschen Digedags gewesen, die schon einige Jahre vor den Galliern mit Römern rauften.

Trotz Rekordauflagen von bis zu 660.000 Exemplaren pro Heft blieb die Reihe nicht nur in Zeiten von Papierknappheit Bückware. Oft waren gute Beziehungen zum Kioskverkäufer nötig. Die rare erste Nummer gilt heute als die Blaue Mauritius der DDR-Comicsammler. In Audio-Interviews berichten Fans, wie sie lernten, Papier zu restaurieren und handgefertigte Kopien in Umlauf brachten, um Lieferengpässe auszugleichen.

Das plötzliche Verschwinden der Digedags nach 223 Episoden hatte keine politischen Gründe. Nach Streitigkeiten über die personelle Ausstattung und die Zahl der Ausgaben brach Hegenbarth mit dem Verlag. Ab 1975 trieben in den Mosaik-Heften die bis heute existierenden Abrafaxe ihren Schabernack. Obwohl er sich selbst bei westlichen Vorlagen bedient hatte, strengte Hegenbarth einen Urheberrechtsprozess gegen den Verlag an, der mit einem Vergleich endete. Der Zeichner arbeitete frei weiter. Die erste Wechselausstellung im neuen Museum zum Alltag in der DDR ist daher als späte Würdigung des Zeichners zu verstehen. Sie beruht auf dem Vorlass Hegenbarths, einer Schenkung von 35 000 Objekten, die nun für die Forschung und den internationalen Leihverkehr archivalisch aufbereitet werden.

Zwar bricht die Ausstellung mit dem Klischee, der Alltag der DDR sei gänzlich ideologisch durchherrscht gewesen, doch will sie auch keine Ostalgie aufkommen lassen. Sie bietet dennoch nur das halbe Bild. Zur Geschichte des DDR-Comics gehört auch die Heftserie Atze, die von Ideologie und Propaganda nur so durchtränkt war. Dies dokumentiert die weniger aufwendig gestaltete, aber ideologiekritische Ausstellung „Atze und Mosaik“ des Literaturwissenschaftlers Thomas Kramer, die man bis zum 22. Juni im Kunstmuseum Dieselkraftwerk in Cottbus sehen konnte. Nicht alle Wege in die Comicgeschichte der DDR führen nach Rom.

“Dig, Dad, Digedag” – DDR-Comic Mosaik
Ausstellung im Museum Kulturbrauerei,
Knaackstr. 97, Berlin Prenzlauer Berg,
noch bis 3. August 2014,
Di-So 10-18,
Do 10-20 Uhr.
Eintritt frei.

 


(Dieser Text erschien zuerst im Feuilleton des Tagesspiegels vom 24. April 2014.)

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1518

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