Die Bibliothek der frühen Neuzeit als Raum der Ideen – Kurzbericht zum Sommerkurs an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel

Bibelsaal

Im Bibelsaal der Herzog-August-Bibliothek.
Foto: Christina Holzwarth

Die Bibliothek als „Raum der Ideen“ stand im Mittelpunkt des diesjährigen Sommerkurses der Herzog-August-Bibliothek in  Wolfenbüttel. Im Bibelsaal der Herzog-August-Bibliothek, umgeben von Büchern, hatten in diesem Jahr insgesamt elf  Stipendiaten die Möglichkeit, die Bibliothek als Gegenstand gelehrter Auseinandersetzung in den Blick zu nehmen und gleichzeitig  zwei Wochen lang in der berühmten Herzog-August-Bibliothek zu forschen.

Unter der Leitung von Prof. Dr. Wolfgang Adam (Universität Osnabrück, Leiter des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen  Neuzeit), dem Prof. Dr. Giulia Cantarutti (Università di Bologna) charismatisch assistierte, kam eine ebenso interdisziplinäre wie  internationale Gruppe zusammen, die, trotz oder gerade aufgrund der fach- und themenbedingt sehr unterschiedlichen Art und  Weise, sich dem Forschungsgegenstand „Bibliothek“ zu nähern, vom ersten Tag an rege miteinander zu diskutieren begann.

Von Seiten der Herzog-August-Bibliothek wurde der Kurs in erster Linie von Dr. Volker Bauer begleitet, der nicht nur sein Wissen  über die Herzog-August-Bibliothek zur Verfügung stellte, sondern auch die Perspektive des Historikers in den Kurs miteinbrachte.

Das dynamische Element der Bibliothek

 Zu Beginn des Kurses galt es zunächst, sich mit der aktuellen Forschung zur Bibliothek der Frühen Neuzeit vertraut zu machen. Im einführenden Vortrag von Herrn Prof. Adam wurde hierzu vor allem auf das „dynamische Element“ einer Bibliothek hingewiesen (vgl. William Sherman, A living library), welches die Erforschung einer Bibliothek im Rahmen einer Ideengeschichte ermöglicht – sei es in Bezug auf Fragen nach der Genese einer Bibliothek, dem Einfluss verschiedener Kontroversen (etwa konfessionellen Spannungen) und der eventuell daraus resultierenden Eliminierung und mitunter auch der Vernichtung von Büchern aus Bibliotheken; oder der Bibliothek als Repräsentationsraum und ihrer Bedeutung zur Legitimation von Herrschaft. Dass sich „bewusstes Vergessen“, wahrnehmbar im Phänomen der Lethe, oder aber „gemachte Erinnerung“ sich nicht nur im Inhalt von Büchern niederschlagen können, sondern auch die Bibliothek als Ganzes beeinflussen, gehörte zu den aus der Beobachtung zum „autarken Eigenleben“ der Bibliothek und zu den voces librorum gewonnenen Erkenntnissen des ersten Tages.

Gruppenbild

Die Gruppe der Stipendiaten mit Kursleiter Prof. Dr. Wolfgang Adam vor der Herzog-August-Bibliothek.
Foto: Christel Annemieke Canton-Romein

Zwei erste Beispiele für Büchersammlungen und daraus zu gewinnende Erkenntnisse wurden am darauffolgenden Tag von der Wolfenbütteler Forscherin Dr. Gabriele Ball (Die Büchersammlung der Gräfin Anna Sophia von Schwarzburg-Rudolstadt als Spiegel eines fürstlichen Netzwerks) und der Stuttgarter Stipendiatin Dr. Carola Fey (zu den Büchern in der Kunstkammer der Herzöge von Württemberg) vorgestellt.

Die imaginierte Bibliothek

Dass sich auch aus der Beschreibung nicht realer, sondern literarisch idealisierter Bibliotheken bedeutsame Erkenntnisse zu diesen Institutionen, ihren Benutzern und der Bedeutung der Bibliotheken für die Benutzer ableiten lassen, wurde im Vortrag von PD Dr. Dirk Werle (Leipzig/HU Berlin) deutlich. Anhand des ‚Catalogus Catalogorum perpetuo durabilis‘ Johann Fischarts (1590), der die zeitgenössische Diskussion um eine Handhabung der copia librorum aufgreift und insgesamt 526 allesamt erfundene, ironische bis bissige Buchtitel umfasst, erklärte Dirk Werle die Bedeutung rein fiktionaler Bibliotheken für die frühneuzeitliche Klassifikation der Gelehrsamkeit.

Bibliotheksgeschichte einmal anders

Überlegungen für einen neuen Zugang zu Bibliotheken anhand kulturwissenschaftlicher Perspektiven, die im Zuge des in der Forschung häufig vernachlässigten Kulturtransfers Einblicke in sonst verborgene Zusammenhänge liefern, standen im Zentrum des Vortrags von Prof. Dr. Cantarutti, der die zweite Kurswoche imposant eröffnete. Anhand der Netzwerkbildung und der Kulturverflechtung in der Frühen Neuzeit wurde deutlich, dass die „intellektuelle Evolution“ eines Autors nicht in dessen nationalsprachigen Texten zu suchen ist, sondern dass sich das Profil eines frühneuzeitlichen Gelehrten in der Summa seiner literarischen Produktion äußert. Für ihre adäquate Erfassung liefert eine fundierte Quellenkunde (Bibliothekskataloge, Nachlassverzeichnisse, Briefwechsel etc.) das unabdingbare Fundament.

Die von Prof. Dr. Helga Meise (Université de Reims) vorgestellte Untersuchung der Bibliotheken von fünf Darmstädter Fürstinnen eröffnete wichtige Aspekte im Hinblick auf Handlungsräume, Bücherbesitz sowie Benutzungskontexte durch die adligen Besitzerinnen. Die Nachlassinventare ihrer Privatbibliotheken zeigen die Bücher dabei teils als Medien der Repräsentation, teils als Lese- und Schreibobjekte für den eigenen Gebrauchs, an denen ein Wandel der Lektürepraktiken ablesbar wird, der wichtige Erkenntnisse hinsichtlich des Selbstverständnisses der fürstlichen Rezipientinnen birgt.

Der Besuch beim Projekt zur Erforschung der „Fruchtbringenden Gesellschaft“

Gerahmt wurde das hochinteressante, umfängliche und überaus anregende Programm rund um die Bibliotheken der Frühen Neuzeit als Raum der Ideen durch den Besuch beim Projekt zur Erforschung der „Fruchtbringenden Gesellschaft“. Diese Organisation hatte als ständeübergreifende Akademie des 17. Jahrhunderts vielfältige sprachliche, literarische und (bildungs-)politische Intentionen, welche für die Geistesgeschichte der Frühen Neuzeit ein umfängliches sowie bedeutendes Potential bieten. Das an der Herzog August Bibliothek angesiedelte Forschungs- und Editionsprojekt widmet sich der Erschließung der innerhalb der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ gewechselten Briefe, mit denen erstmals kulturgeschichtlich relevante Einblicke in das Innenleben dieser Organisation offengelegt werden.

Die Bibliothek als Raum der Ideen

Gruppenaktivitäten

Gemeinsames Kochen in der Küche des Anna-Vorwerk-Hauses.
Foto: Christina Holzwarth

Zum Schluss des Kurses widmete sich die Gruppe der gemeinsamen Lektüre von Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘ und der lateinischen Version seines Schülers Jakob Locher, der ‚Stultifera Navis‘, von denen die Herzog-August Bibliothek gleich mehrere Ausgaben besitzt. Für den Sommerkurs wurden diese Ausgaben in den Bibelsaal gebracht und den Stipendiaten die einmalige Gelegenheit geboten, den Brantschen „Büchernarren“ an den originalen Drucken mit ihren Marginalien, Holzschnitten und Benutzerspuren zu besprechen.

Dass die Vorträge der Experten zusammen mit der Vorstellung und Diskussion der eigenen Projekte der Stipendiaten nur die erste Hälfte des Tages füllten, erwies sich als großer Vorteil, denn so hatte man Gelegenheit, nicht nur über die Bibliothek als solche nachzudenken, sondern auch in einer an Beständen gerade des 16. und 17. Jahrhunderts besonders reichen Bibliothek zu forschen. Dank der freundlichen und hilfsbereiten Unterstützung von den Bibliothekaren und dem Aufsichtspersonal der Herzog-August-Bibliothek, gelang es so, vielfach neue Erkenntnisse auch für die eigenen Projekte zu gewinnen.

Da die Bibliothek in Wolfenbüttel nicht nur über ein gut strukturiertes Gastwesen verfügt, sondern den Gästen und Stipendiaten mit gemeinsamen Kaffeenachmittagen, der Möglichkeit zum gemeinsamen Kochen in der Gemeinschaftsküche des Anna-Vorwerk-Hauses und den zahlreichen Zufallsbegegnungen mit anderen Forschenden in der nahegelegenen Wolfenbütteler Innenstadt auch regelmäßigen Kontakt ermöglicht, bot sich oft die Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen und sich über neue Ideen auszutauschen. Die Bibliothek als „Raum der Ideen“ war somit nicht nur Forschungsgegenstand des Sommerkurses, sondern wurde in der Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek für die Stipendiaten auch als solch ein Raum erfahrbar.

Julia Frick (Universität Freiburg) & Christina Holzwarth (Universität Leipzig)

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4760

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Kein Wunder nirgendwo – die genetische Herausforderung der Geschichte

Unter dem Titel „Die DNA der Geschichte“ hat der Heidelberger Historiker Jörg Feuchter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. November 2014 einen Appell zur epistemologischen Reflexion historischer Genforschung seitens der Mediävistik  lanciert.[1] Obgleich ich mich diesem Aufruf grundsätzlich anschließen möchte, will ich diese Zustimmung mit deutlich kritischeren Akzenten gerade in Richtung meiner eigenen Disziplin versehen.

 

Wellcome Library, London, Ms 49, fol. 37 v (Lizenz: CC BY 4.0)

Wellcome Library, London, Ms 49, fol. 37 v (Lizenz: CC BY 4.0) 

„Wo waren die Mikroben vor Pasteur?”, so fragte 1999 der französische Soziologe Bruno Latour, um sogleich in apodiktischer Schärfe selbst zu antworten: „Sie existierten nicht, bevor er daherkam“.[2] Auf den ersten Blick provokant, folgt dieses Postulat letztlich einer ebenso simplen wie stringenten Forschungslogik: Für Latour und seine ANT gelten nur jene Entitäten als (historische) Akteure, die im Handeln anderer „einen Unterschied“ machen. Gewiss, Milch wurde bereits im Mittelalter sauer. Die Mikroorganismen der Milchsäuregärung aber stiegen erst zu historischen Mächten auf, nachdem sie im Mikroskop Pasteurs Gestalt angenommen hatten. Seit diesem Moment setzten sie sich in den Köpfen der Menschen fest, wurden zu begehrten Ansprech- und Verhandlungspartnern, avancierten schließlich zu Auslösern einer Hygienebewegung und Initiatoren einer Biopolitik, wie es sie allein auf der Grundlage ‚mittelalterlich’ saurer Milch kaum je gegeben hätte.

‚Wo waren die Gene vor Mendel und Avery?’, so möchte ich im Fahrwasser dieser Überlegungen fragen und meine Antwort gleicht notgedrungen jener Latours: ‚Sie existierten nicht!’ Gewiss registrierte man Unterschiede in Geschlecht, Hautfarbe und Körperbau, ignorierten die Menschen des Mittelalters keineswegs die phänotypische Fremdheit ihres Gegen­übers. Auch Migrationsströme, Erbfolgen und selbst Krankheitsdispositionen entgingen ihnen nicht, die DNA blieb gleichwohl hartnäckig außerhalb ihres Denk- und Handlungshorizonts. Die ‚Gene’ – zumal jene „95 Prozent (…), die nicht kodiert sind“ – müssen dem Mediävisten daher als anachronistischer Fremdkörper ‚seiner’ Geschichtsforschung gelten. Insofern die Kategorie der ‚Kultur’ als konventionelles Produkt mensch­licher Diskurse und Sinnstiftungen betrachtet wird, führt von der DNA aus kein Weg zum „Gegenstand der Geschichtswissenschaft“, der „kulturelle[n] Entwicklung der letzten zwei- bis dreitausend Jahre.“ Ebensowenig sind Nukleotidsequenzen „stets unmittelbar mit Fragen der Identität verknüpft“, sofern diese nicht als faktisch stabile ‚Rassezugehörigkeit’, sondern als soziales Interaktionsprodukt betrachtet wird.

Hat die ‚genetic history’ ihren Geltungsanspruch innerhalb der Geschichtswissenschaft damit gänzlich verwirkt? Wohl kaum! Im Sinne des von Peter von Moos begrüßten ‚heuristischen Anachronismus’[3] hat sie längst eine Diskursarena etabliert, die unserer Disziplin umfangreiche neue Frage­stellungen zuführt. So anachronistisch der Faktor DNA erscheinen mag, so wenig darf er ferner als ahistorisch qualifiziert werden. Die Entwicklung menschlichen Erbgutes ist integraler Bestandteil des historischen Prozesses und als solcher allemal der Erforschung wert. Allerdings liefert die Molekularbiologie kaum verlässliche Fakten. Sie produziert zu­nächst einmal nichts als Rohdaten, die einer sorgfältigen Deutung und Einordnung in historische Narrative bedürfen. Zu Recht mahnt Jörg Feuchter eine „epi­ste­mologische Reflexion“ über den Gebrauch dieses Datenmaterials an.

Naturwissenschaftliche Versuche beruhen ebenso wie das Gedankenexperiment des Geisteswissenschaftlers auf Prämissen und Schlussfolgerungen, die methodisch hinterfragt und ggf. revidiert werden können. Insofern verwundert es, wenn Feuchter die „erstaunlichen Resultate“ der Studie von Michael E. Weale et al.[4] hervorhebt, in der nichts weniger behauptet werde, alsdass die angelsächsische Immigration nach England im 5. bis 7. Jahrhundert mit einem fast kompletten Austausch der männlichen Bevölkerung auf der Insel“ verbunden gewesen sei. Ein Triumph der Genforschung über die Geschichtswissenschaft? Nur knapp sei darauf verwiesen, in welchem Maße sich der Diskussionsstand seit Annahme des Papers im Januar 2002 verschoben hat[5]: Ein Oxforder Forscherteam reklamierte bereits im Folgejahr einen Teil des vermeintlich ‚angelsächsischen’ Erbgutes als Relikt der dänischen Invasionsbewegung des 10. Jahrhunderts[6], während rezente Rechenmodelle den angelsächsischen Einwandereranteil auf eine Quote von 10-20% absenken. Jenseits des reinen Zahlenspiels stellt sich die Frage, ob durch die Fokussierung auf genetische Merkmale nicht die unter Archäologien verpönte Formel ‘Topf gleich Volk’ durch das neue Mantra ‘Gen gleich Volk’ ersetzt wird. Gerade Migration lässt sich nicht auf Reinraumbedingungen reduzieren oder unter die ceteris-paribus-Klausel stellen. Moderne Waliser sind keine ‚Britonen’, heutige Friesen keine Angelsachsen, der genetische Austausch zwischen Kontinent und Insel nicht auf ein singuläres Ereignis zurückzuführen. Mithin müssen sich alle Bemühungen, aus den genetischen Daten Rückschlüsse auf die Sozialstruktur der Inselbevölkerung zu ziehen, gar einen Genozid oder ein System der ‚racial apartheid’[7] zu postulieren, der Vetomacht schriftlicher und archäologischer Quellen stellen.

Vor dem Hintergrund einer fluiden Deutungsmatrix erstaunt der Anspruch des neuen MPI-Direktors Russell Gray, mit naturwissenschaftlicher Präzision nunmehr die „Mechanismen der Staats- und Religionsbildung“ rekonstruieren zu wollen. Gray erklärt die Regelhaftigkeit der Geschichte zu einer allein „empirischen Frage“, zweifellos lösbar auf ausreichender Datenbasis: „There are no wonders“[8]. Der Versuch, den Gang der Geschichte einem überzeitlich gültigen Schematismus aus Zyklen, Stadien und Entwicklungsintervallen zu unterwerfen, ist keineswegs neu, mit der Marx’schen Geschichtsmechanik sei nur sein prominentester Vertreter benannt. Prophetisches Prognosepotential besitzt sie ebensowenig wie ihre aktuellen – in diesem Punkt wesentlich bescheideneren – sozialwissenschaftlichen Pendants. Dies spricht keineswegs generell gegen eine Komplexitätsreduktion durch Modellbildung, warnt freilich vor übertriebenen Erwartungen: Von der historischen Genetik aus den Götzen objektiver Geschichtsgesetze erneut herauf zu beschwören, hieße mithin, sich von der Kontingenz und Multiperspektivität der Geschichte zu verabschieden.

Die von Jörg Feuchter vermerkte Reaffirmierung „für obsolet gehaltener Forschungsstände“ erweist sich nicht nur an diesem Punkt als riskantes Unternehmen.[9] Mit Blick auf die Trias von ‚race, class and gender’ lassen sich derzeit besorgniserregende Tendenzen beobachten, alle drei Kategorien aus dem Status kultureller Konstruiertheit (abermals) auf die Ebene objektiver historischer Wirkfaktoren zu überführen. Nein, an diesem Punkt soll den Biowissenschaften keinesfalls ein Rückfall in ein Denken rassisch-genetischer ‚Kulturträgerschaft’ unterstellt werden. Der Fehler liegt zumeist auf Seiten jener Historiker, die den methodischen Grundlagen des eigenen Faches nicht mehr vertrauen und unüberlegt der vermeintlichen Faktizität naturwissenschaftlicher Evidenzen huldigen. Wenn Feuchter – womöglich zutreffend – konstatiert, dass „DNA im heutigen Bewusstsein mehr und mehr als primärer Identitätsträger“ Anerkennung findet, so sollte dieser Befund zu einem kollektiven Aufschrei aller historischen Kulturwissenschaften führen. Der vom Verfasser des FAZ-Beitrages angemahnte „kritische Dialog“ muss mit dem Selbstbewusstsein einer empirisch arbeitenden und methodisch fundierten Fachdisziplin gesucht werden. Nicht nur gegenüber den „historisch arbeitenden Genetikern“, sondern vor allem innerhalb der Historikerzunft selbst. Die genetische Herausforderung betrifft in erster Linie das Selbstverständnis unseres eigenen Faches.

[1] Jörg Feuchter, Die DNA der Geschichte, in: FAZ Nr. 257, Mi. 5. Nov. 2014, S. N4. Dem Artikel entnommene und mit „“ gekennzeichnete Zitate sind nicht mehr separat ausgewiesen.

[2] Bruno Latour, Wo waren die Mikroben vor Pasteur?, in: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 175.

[3] Peter von Moos, Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, hrsg. von Dems. (Norm und Struktur 23), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 1–42, S. 2.

[4] Michael E. Weale/Deborah A. Weiss/Rolf F. Jager/Neil Bradman/Mark G. Thomas: Y chromosome evidence for Anglo-Saxon mass migration, in: Molecular Biology and Evolution 19,7 (2002), S. 1008-1021.

[5] Siehe dazu Erik Grigg: Genetics and the Anglo-Saxon Invasion, unter: https://www.academia.edu/2607635/Genetics_and_the_Anglo-Saxon_Invasion; Heinrich Härke: Die Entstehung der Angelsachsen, in: Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer (Hrsg.): Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft. Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 77), Berlin/Boston 2012, S. 429-458; Robert Hedges: Anglo-Saxon Migration and the molecular evidence. In: Helena Hamerow/D David A. Hinton/Sally Crawford (Hrsg.): The Oxford Handbook of Anglo-Saxon Archaeology, Oxford 2011, 79-90.

[6] Cristian Capelli/Nicola Redhead/Julia K. Abernethy/Fiona Gratrix/James F. Wilson/Torolf Moen/Tor Hervig/Martin Richards/Michael P.H. Stumpf/Peter A. Underhill/Paul Bradshaw/Alom Shaha/Mark G. Thomas/Neal Bradman/David B. Goldstein: A Y chromosome census of the British Isles, in: Current Biology 13 (2003), S. 979-984.

[7] Mark G.Thomas/Michael P.M. Stumpf/Heinrich Härke: Evidence for an apartheid-like social structure in early Anglo-Saxon England, in: Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 273/1601 (2006), S. 2651-2657.

[8] Virginia Morell: Feature: ‘No miracles’, in: Science 345/6203 (2014), S. 1443-1445, unter; http://www.sciencemag.org/content/345/6203/1443.full.pdf

[9] Zu Recht verweist der Autor hier warnend auf den markanten Fall des Biologen Pierre Zalloua, der die Religionsgemeinschaften des Libanon auf ideologische Weise ethisch interpretiert. Dahinter ist jedoch ein Grundsatzproblem zu erkennen: Genetische Bevölkerungsanalysen basieren auf einer überschaubarer Zahl von Axiomen und Parametern, die oftmals ‚fachfremd’ der Geschichtsforschung entnommen werden. Sie reduzieren damit historische Komplexität, ohne die epistemologischen Grundlagen ausreichend zu reflektieren und sich so gegen zirkuläre Schlussfolgerungen abzusichern. Hier wäre in der Tat die Expertise von Historikern dringend gefragt.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4734

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Ein nicht identifiziertes Gesellschaftszeichen auf dem Grabstein des Konrad von Kraig (gest. 1398/1399) in St. Veit an der Glan, Kärnten

Im Auftrag von Prof. Dr. Werner Paravicini (Kiel) und in Anknüpfung an einen ähnlichen Post veröffentlichen wir hier gerne folgende Anfrage in unserer Rubrik “Die digitale Kaffeepause”. Sie dient explizit der Klärung offener Fragen mit Hilfe interessierten Fachpublikums, wie es oft auch die analoge Konferenzkaffeepause auszeichnet. Wer Ähnliches hier vorstellen möchte, wende sich vertrauensvoll an die Blogbetreiber.

Grabstein Konrad von Kraig

Grabstein des Konrad von Kraig in St. Veit am Glarn, Gesamtansicht (Foto: Friedrich Wilhelm Leitner, Klagenfurt)

Auf dem Grabstein des dem Herrenstand angehörenden Konrad von Kraig hängt vom Helm herab eine Kette an deren Ende ein kreisrundes Abzeichen befestig ist [s. Gesamt- und Detailansicht].1 Alle Versuche, dieses Abzeichen zu identifizieren, sind bislang fehlgeschlagen. Leider ist es unvollständig erhalten. Das Zentrum scheint eine Rose auszufüllen, über die ein Vogel (Rabe, Falke?) gelegt ist. Der kreisrunde, breite Rand ist mit einem einzigen Wort belegt, das mit “… em” endet. Es handelt sich also um eine klassische Devise, zusammengesetzt aus Bild und Wort. Keinesfalls handelt es sich um ein Wappen, etwa das seiner ersten oder zweiten Frau. Konrad von Kraig, 1357/1358, 1377 und möglicherweise öfter auf Preußenfahrt, stand 1355 in mailändischem Sold,  trat in österreichische Dienste, wurde gegen Venedig eingesetzt, war Hauptmann in Kärnten, dann auch in Krain. Er diente aber zugleich dem König Wenzel von Böhmen als Hofmeister und begegnet oft als relator in dessenUrkunden. In Wenzels Auftrag verhandelte er die Heirat Annas von Böhmen mit Richard II. von England und hielt sich deshalb in den Jahren 1381-1382 des öfteren in England auf, wobei nicht ausgeschlossen ist, daß er schon früher dorthin gekommen war (1356/1361).

Das Gesellschafts- oder Ordenzeichen könnte ihm also verliehen worden sein:

  • vom Deutschen Orden, denn er saß dort am Ehrentisch.
    ….
  • von einem Herzog von Österreich, Albert III. oder Leopold III.
  • von Wenzel von Böhmen.
  • vom einem König von England, vermutlich Richard II., aber auch Eduard III. käme in Frage, oder ein Mitglied der königlichen Familie, oder englischer Hochadel.

    Devise im Detail

    Detailansicht der Devise (Foto: Friedrich Wilhelm Leitner, Klagenfurt)

  • von einem Mitglied des Hauses Rosenberg in Böhmen (der heraldischen Rose wegen).
  • Es könnte sich aber auch um eine eigene, Kraigsche Kreation handeln.
  • Oder um einen ganz anderen Zusammenhang.

Diese Devise paßt nicht zu den Zeichen, die vom Deutschen Orden oder von den genannten Fürsten und Herren bekannt sind.

Wer kennt das Zeichen, wer kann es einordnen?

Mit Dank im Voraus für Rückmeldungen über die Kommentarfunktion.

Werner Paravicini

  1. Vgl. Leitner, Friedrich Wilhelm, Die Herren von Kraig. Eine genealogische Skizze zu den Erbtruchsessen in Kärnten, in : Archiv für Diplomatik 46 (2000), S. 225-275, hier  S. 245 u. S. 268, Abb. 1 = Die Inschriften des Bundeslandes Kärnten. Teil 2: Die Inschriften des Politischen Bezirkes St. Veit an der Glan, bearb. v. Friedrich Wilhelm Leitner [Die Deutschen Inschriften, 65 = Wiener Reihe 2/2], Wien 2008, S. 62, n° 71 und Abb. 61

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4551

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“Eine schöne Nebenbeschäftigung”? Perspektiven einer altertumskundlich-mediävistischen Wissenschaftsgeschichte 2.0

Nach der kürzlichen Veröffentlichung eines kleinen E-Books zur “Wissenschaftsgeschichte im digitalen Zeitalter” (https://verlag-ripperger-kremers.de/fluechtigkeit-der-information) möchte ich – aus meiner Perspektive als literaturwissenschaftlicher Mediävist – an dieser Stelle einige Aspekte der Publikation perspektivieren und damit zur weiterführenden Diskussion einladen. Meine Überlegungen verstehe ich als Positionsbestimmung in einer disziplinübergreifenden Wissenschaftslandschaft und als Versuch einer konstruktiven Zusammenführung aktueller Diskussionspotenziale zwischen historisch arbeitenden Disziplinen und den Digital Humanities. Hingewiesen sei nicht zuletzt auch auf weitere Bände der neuen Reihe “Transformationen von Wissen und Wissenschaft im digitalen Zeitalter” (https://verlag-ripperger-kremers.de/ebook-reihe/transformationen-des-wissens).

Es ist eine Klage, die sich durch Jahrzehnte zurückverfolgen lässt: der zunehmende Orientierungsverlust der Geisteswissenschaften hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgabe – Orientierungslosigkeit als “Signum der Gegenwartsphilosophie” (K. W. Zeidler). Verschiedene Gründe werden ins Feld geführt: wachsende Dominanz diffus so bezeichneter ‘Kulturwissenschaften’, vermeintlicher Verfall wissenschaftlicher Werte und Traditionen angesichts von digital turn und open access… Man ist bisweilen erstaunt, wie mühelos kausallogische Zusammenhänge konstruiert werden. Interessanter erscheint die implizite Prämisse, diese Geisteswissenschaften könnten überhaupt eine Orientierungsleistung erbringen. Es geht dann nicht allein um Fragen der Methode, sondern um Zwecke und Ziele, unter denen solche Wissenschaften sich konstituieren. Fragen also, die sich als ungemein stimulierend erweisen können, doch zugleich einer Vielzahl an Meinungen Tür und Tor öffnen, die immer noch regelmäßig im erklärten Niedergang ‘der’ Geisteswissenschaften gipfeln.

Man kann diesen Fragenkomplex als Aufgabe der Fach-Philosophen von sich weisen. Oder sich der vermeintlich unverfänglichen Pflege etablierter Fronten von ‘Theorie’ und ‘Praxis’ widmen, wie sie sich im digitalen Zeitalter wieder verschärft zu haben scheinen. Eine solche Haltung muss aber zumindest in zweifacher Hinsicht verwundern. Zum ersten sind diese Fragen, wie gesagt, bereits seit Jahren, teils Jahrzehnten gestellt, sodass weder Geisteswissenschaften noch Wissenschaftsverlage heute, 2014, unvermittelt vor eine unerwartete Herausforderung gestellt sind, wie manche Diskussion indes suggeriert.[1] Zum zweiten ist die Reflexion von Bedingungen, unter denen Forschung und Theoriebildung sich vollziehen, doch seit jeher Voraussetzung einer fortwährenden Teilhabe an Wissenschaft. Anders gesagt: Die Geisteswissenschaften sind in ihrem Wesen reflexiv und damit gleichsam angewiesen auf Krisen, die dieses Bewusstsein gegenüber dogmatischer Erstarrung schärfen.

Desinteresse und Pessimismus angesichts sich vollziehender Transformationsprozesse mögen auch darauf beruhen, dass der Terminus ‘Wissenschaftsgeschichte’ im 20. Jahrhundert vielfältige Positionen befördert hat, die in ihren Relationen oft schwerlich überschaubar sind. Dahinter steht auch ein generelles terminologisches Problem, angesichts einer Vielzahl so genannter Schlüsselbegriffe, die in Fach- wie Alltagssprache in diversen Varianten verwendet und damit nicht selten zur assoziativen Auslegungsfrage werden. Wenn in den letzten Jahren Tendenzen einer verstärkten Wiederaufnahme und Weiterentwicklung begriffshistoriographischer Fragestellungen zu verzeichnen ist,[2] so sollte man dies zum Anlass nehmen, die Debatte auf breiterer Front wieder zu etablieren.

Das umrissene Desiderat betrifft auch die interdisziplinären Fachbereiche der Germanischen Altertumskunde und Mediävistik, denen die Geschichte des 20. Jahrhunderts eine besondere Aufgabe gestellt hat.[3] Das Erfordernis einer wissenschaftsgeschichtlichen Reflexion präsentiert sich weiterhin als Herausforderung, zumal mit Fokus auf Entwicklungen der Nachkriegsjahrzehnte;[4] gerade die 1980er Jahre kristallisieren sich als Zeitraum eines beschleunigten Orientierungswandels heraus.[5] So sollte man auch in altertumskundlich-mediävistischen Disziplinen (ich ziehe hier bewusst keine scharfen Grenzen) den Versuch wagen, Wissenschaftsgeschichte nicht allein als Geschichte der Wissenschaften im Mittelalter zu verfolgen, sondern sie als jüngere und – Stichwort: digital – jüngste Geschichte einzelner Disziplinen fruchtbar zu machen, zwischen Positionen zu vermitteln.

Damit ist die Frage der Perspektive gestellt, gibt ‘Wissenschaftsgeschichte’ doch kein verbindliches, gleichsam abzuarbeitendes Methodenspektrum an die Hand. Hier ist eine intensivierte Diskussion gefordert. So hat, um einen Ansatzpunkt zu nennen, Otto Gerhard Oexle in den letzten zwei Jahrzehnten das Konzept der ‘Problemgeschichte(n)’ in der Mediävistik befördert, im Sinne einer Orientierung an transdisziplinär zu bearbeitenden Fragestellungen.[6] Über Disziplingrenzen hinaus sind seine Vorschläge bisher aber – soweit ich sehe – allenfalls punktuell rezipiert worden. Zugleich wird daran beispielhaft deutlich, dass die historisch-systematische Hinterfragung disziplinärer Potenziale für ein Bewähren dieses zunehmend verkündeten, aber immer noch vagen Forschungsprinzips ‘Transdisziplinarität’ – in dem an erster Stelle zu lösende Probleme das Verbindende sein sollen – unerlässlich ist. Doch müssen solche ‘Probleme’ als wissenschaftliche (Re-)Konstruktionen in ihrer Geltung begründet sein.

Es kann der Wissenschaftshistoriographie ja nicht einfach um den Nachvollzug einer linear abstrahierten Genese von Wissen und Wissenschaft, eine “Autobiographie der eigenen Vernunft” (J. Mittelstraß) gehen, die dogmatisch am Status quo einer Disziplin orientiert wäre. Es geht um den Nachvollzug von Argumentationen, die darauf gründen, zweckmäßig und zielorientiert zu sein. Erst in der aktualisierenden Verhandlung solcher Argumentationsstrukturen kann Wissen konstituiert und somit relevant werden. Aber wo beginnt und wo endet Argumentation? Es sind ja dynamische Prozesse angesprochen, bei deren Erfassung vielfach mit den Begriffen ‘Innovation’ und ‘Tradition’ operiert wird, einerseits also Potenziale zur Diskussion stehen, andererseits die Unhintergehbarkeit von Wirkungsgeschichten mitgedacht ist. Der Hermeneutik sind beide Begriffe inhärent. Doch ist die Forderung nach hermeneutischer Reflexion vielfach Gemeinplatz geworden: Hermeneutik muss als reproblematisierendes Diskussionsfeld einzelner Disziplinen wieder kultiviert werden![7]

Die Digital Humanities versprechen einen Ausweg aus dem skizzierten Dilemma, erheben sie doch selbstbewusst den Anspruch, eine zukunftsträchtige Form der Geisteswissenschaften zu etablieren.[8] Aber was ist damit gemeint? Wenn regelhaft ‘überprüfbare Antworten’ zum Ziel erklärt werden, so rückt die bekannte Frage der praktischen Relevanz der Geisteswissenschaften in den Fokus, in Orientierung an den so genannten exakten Wissenschaften. Wie verhält sich dieser Anspruch der ‘Exaktheit’ zur angedeuteten philosophischen Dimension der Aufgabe? Ein ‘Antwortenkönnen’ funktioniert in den Geisteswissenschaften ja allein im kulturellen Kontext, setzt dort also weiterhin eine hermeneutische Kompetenz voraus, die sich nicht in Ja/Nein-Entscheidungen erschöpft  – ‘Wissen’ ist dort eben doch noch etwas anderes als in den Naturwissenschaften.[9] Die Leistungsfähigkeit digitaler Werkzeuge liegt aber in Prozessen, die nach eben diesem binären Prinzip automatisiert sind. Einen praktischen Nutzen von Suchfunktionen und Datenbanken wird andererseits niemand in Frage stellen wollen, der diese Leistungsfähigkeit erfahren hat. Doch ist mit der Selektion und Strukturierung abstrakter Daten zu Informationen nicht automatisch ein ‘Wissen’ generiert, um dessen zukunftsträchtige Bewahrung und Aktualisierung es in der Wissenschaft doch gehen soll. Es wird deutlich, dass künftig stärker der Dialog aller Beteiligten zu suchen ist, um etablierte Fronten zu entspannen. Es steht zu hoffen, dass zunehmende – und zunehmend ernst genommene – Blog-Diskussionen dazu ihren Beitrag leisten werden.

In der vorgestellten Publikation konkretisiere ich die vorausgehenden Überlegungen am Beispiel des “Reallexikons der Germanischen Altertumskunde” sowie der vor einigen Jahren daraus hervorgegangenen “Germanischen Altertumskunde Online”.[10] In diesem rund 50.000 Druckseiten umfassenden Großprojekt finden Archäologie, Geschichtswissenschaft, Philologie und Religionswissenschaft zusammen; die Frage der kulturwissenschaftlichen Inter- und Transdisziplinarität ist umso dringlicher gestellt. Waren unlängst aber noch voluminöse Registerbände vonnöten, um Fragestellungen auf einer Metaebene zu verknüpfen, so erscheint die Kombination leistungsfähiger Datenbanken und Suchfunktionen mit digitalen Darstellungsmöglichkeiten (die über bloße Listen ja längst hinausführen) als künftige Option, Problemstellungen der Wissensgenerierung und ‑tradierung visuell zu ‘materialisieren’ – und an einer solchen Darstellung neue Fragen zu entwickeln.

Wo ansetzen? Im Nachvollzug disziplinärer und überdisziplinärer Entwicklungsprozesse treten als Kristallisationspunkte von Diskursen Begriffe hervor, die weiterhin zum konstruktiven Ausgangspunkt einer Untersuchung von ‘Problemen’ gereichen könnten. Es ginge aber nicht darum, weiterhin in enzyklopädischer Weise unter ausgewählten Lemmata disziplinäre Positionen zu versammeln. Es ginge darum, über die Leistungsfähigkeit digitaler Werkzeuge semantische Netze zu generieren, deren Strukturen nach Wirkungszusammenhängen fragen lassen. Die Plausibilität gesetzter ‘Probleme’ wäre dann nicht zuletzt zu bemessen an deren Potenzial, neue ‘Probleme’ zu erschließen; Wissenschaft verwirklicht sich im fortdauernden Prozess. Einer strikten Hierarchie von Fragestellungen und Thesen (und damit schließlich von Disziplinen) wären Netze potenzieller Problemrelationen entgegengestellt, die schließlich auch ‘Unerwartetes’[11] hervorbringen könnten – und damit nicht nur jene curiositas stimulieren, sondern auch der Forderung nach Transdisziplinarität Rechnung tragen würden.

Die Möglichkeiten des digitalen Mediums stehen zu ‘traditioneller’ Wissenschaft somit keinesfalls konträr. Es ist aber an der Zeit, “daß die Theoretiker ihre Überheblichkeit und die Praktiker ihre Ignoranz ablegen”,[12] um programmatischen Bekenntnissen aktive Zusammenarbeit folgen zu lassen. “Das freundliche Ende der Geisteswissenschaften”, das Hans Ulrich Gumbrecht unlängst in der F.A.Z. proklamierte – Geisteswissenschaften als schöne Nebenbeschäftigung (amenity) –,[13] sehe ich noch nicht eingeläutet. Solange indes Bescheidenheit[14] den (‘traditionellen’) geisteswissenschaftlichen Betrieb bestimmt, wird man Gumbrechts Formulierung von einem “Über-Leben auf Gnade und an der intellektuellen Peripherie” zustimmen müssen. Gefordert ist keine neue Form der Geisteswissenschaften. Gefordert ist ein neues Selbstbewusstsein ihrer Vertreterinnen und Vertreter, die sich der Reflexionsform und der Orientierungsfunktion ihrer Tätigkeit – über Fachgrenzen hinaus – wieder bewusst werden und unter den Bedingungen und Möglichkeiten des frühen 21. Jahrhunderts stellen.

Jan Alexander van Nahl 2014: Die Flüchtigkeit der Information. Wissenschaftsgeschichte im digitalen Zeitalter. (Transformationen von Wissen und Wissenschaft im digitalen Zeitalter 3.) Ripperger & Kremers, Berlin.



[1] Vgl. van Nahl, Jan Alexander 2014: Odyssee 2.0? Wege und Irrwege digitaler Publikationen in den Geisteswissenschaften. In: Ulrich Seelbach (Hg.), Zwischen Skylla und Charybdis? Forschung, Wissenschaftsverlage und Web 2.0, S. 129–136. Bern.

[2] Vgl. Eggers, Michael/Matthias Rothe (Hg.) 2009: Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften. Wetzlar.

[3] Vgl. Zernack, Julia 2005: Kontinuität als Problem der Wissenschaftsgeschichte. Otto Höfler und das Münchner Institut für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde. In: Klaus Böldl/Miriam Kauko (Hg.), Kontinuität in der Kritik. Zum 50jährigen Bestehen des Münchener Nordistikinstituts. Historische und aktuelle Perspektiven der Skandinavistik, S. 47–72. Freiburg.

[4] Vgl. meine exemplarischen Bemerkungen zu “Walter Baetke” in: Germanischen Altertumskunde Online 01/2014 (s.u.). Abrufbar unter: http://www.degruyter.com/view/GAO/GAO_32 [20.10.2014].

[5] Vgl. van Nahl, Jan Alexander 2013: Verwehter Traum? Ältere Skandinavistik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Hartmut Bleumer et al. (Hg.), Turn, Turn, Turn? – Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende?, S. 139–142. Siegen.

[6] Vgl. u.a. Oexle, Otto Gerhard 2007: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne. In: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, S. 11–116. Göttingen.

[7] Vgl. auch meine Diskussion zu “Veröffentlichungsformen der Zukunft” mit Christian Schwaderer und Jan Keupp unter http://mittelalter.hypotheses.org/3893 [20.10.2014].

[8] Vgl. Thaller, Manfred 2011: Digitale Geisteswissenschaften. Abrufbar unter: http://www.cceh.uni-koeln.de/Dokumente/BroschuereWeb.pdf [20.10.2014]. Es seien an dieser Stelle die Vertreterinnen und Vertreter der Mediävistik daran erinnert, dass Manfred Thaller bereits seit den späten 1970er Jahren (!) zu grundlegenden Fragen einer digitalen Geschichtswissenschaft arbeitet.

[9] Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg 2004: Wozu Wissenschaftsgeschichte? In: Rudolf Seising/Menso Folkerts/Ulf Hashagen (Hg.), Form, Zahl, Ordnung. Studien zur Wissenschafts- und Technikgeschichte, S. 51–62. Stuttgart.

[10] http://www.degruyter.com/view/db/gao [20.10.2014].

[11] Rheinberger, Hans-Jörg 2007: Man weiß nicht genau, was man nicht weiß. Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen. In: Neuer Zürcher Zeitung 05.05.2007. Abrufbar unter: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articleELG88-1.354487 [20.10.2014].

[12] Peckhaus, Volker 1999: Chancen kontextueller Disziplingeschichtsschreibung in der Mathematik. In: Volker Peckhaus/Christian Thiel (Hg.), Disziplinen im Kontext. Perspektiven der Disziplingeschichtsschreibung, S. 77–95. (Erlanger Beiträge zur Wissenschaftsforschung.) München, hier: S. 92.

[13] Gumbrecht, Hans Ulrich 2013: Ein freundliches Ende der Geisteswissenschaften? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Digital/Pausen 04.10.2013 Abrufbar unter: http://blogs.faz.net/digital/2013/10/04/freundliches-ende-geisteswissenschaften-379 [20.10.2014].

[14] Vgl. Heidbrink, Ludger/Harald Welzer (Hg.) 2007: Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften. München.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4170

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Ausstellungsbesprechung: “Ludwig der Bayer. Wir sind Kaiser!” (Bayerische Landesausstellung 2014, Regensburg)

Das offizielle Plakat der Bayerischen Landesausstellung 2014 (Quelle: HDBG)

Das offizielle Plakat der Bayerischen Landesausstellung 2014 (Quelle: Haus der Bayerischen Geschicht, fortan: HDBG)

Die Schlagzeile der BILD-Zeitung anlässlich der Wahl Benedikts XVI. 2006 war wohl eher gesamtdeutsch gemeint. Die Bayerische Landesausstellung 2014 lässt kaum einen Zweifel: Wenn ‚wir‘ im 14. Jahrhundert Kaiser waren, dann dürfen sich Nicht-Bayern davon kaum angesprochen fühlen. Und ob die Titelwahl durchgehend als ironische Bezugnahme auf die Schlagzeile von 2006 einzustufen ist, wie etwa die gleichnamige Sendung des ORF, bleibt zweifelhaft. Doch es wäre falsch, die Irritation über den Titel nicht zurückzustellen, denn eine bemerkenswerte historische Ausstellung wird einem in Regensburg zweifellos geboten. Sie ist in mancher Hinsicht ein Kontrastprogramm zu den Staufer- oder Wittelsbacher-Ausstellungen etwa im Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museum. Insofern bietet das federführende Haus der Bayerischen Geschichte eine willkommene Abwechslung zu monumentalen Vorhaben der letzten Jahre. Die folgende Besprechung will sich einzig mit der Ausstellungsgestaltung und Konzeption beschäftigen, nicht aber mit dem Katalog samt zugehörigem Aufsatzteil1 oder dem separat erschienen wissenschaftlichen Begleitband2.

Innovative Gestaltung

Auf drei Standorte verteilt sich die Landesausstellung: die Minoritenkirche, St. Ulrich am Dom und den Domkreuzgang. Der erste Standort widmet sich ganz dem bajuwarischen Heroen auf dem Kaiserthron, in St. Ulrich erwartet den Besucher eine unorthodoxe Filmvorführung zur Geschichte des Regensburger Doms, der Kreuzgang ist selbst mittelalterliches Exponat.

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Die Anordnung der Ausstellungsebenen in der Minoritenkirche von Regensburg im Modell (Quelle: HDBG)

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Die Schlacht von Mühldorf als bewegtes Schattenspiel (Quelle: HDBG)

Doch auch das Ausstellungsdesign vermittelt eine Botschaft. Besonders deutlich wird dies in der Minoritenkirche: Auf fünf ansteigenden, in rot gehaltenen Ebenen folgt der Besucher dem als Aufstieg dargestellten Lebensweg Ludwigs vom kleinen Herzogssohn zum gebannten Ketzer und Kaiser. Ausdrücklich wird von den Ausstellungsmachern der Vergleich zum Computerspiel gezogen, immer sind Gegner benannt, die der Wittelsbacher am Ende eines Levels bezwungen hat. Dies mag für seinen Bruder und Friedrich den Schönen noch angehen, für diverse Päpste und den Gegenkönig Karl von Mähren geht das Konzept wohl nicht mehr auf. Statt einer abschließenden Station zum Nachleben werden auf jedem Level sogenannte Spiegelmodule installiert, verspiegelte Quader, die die Rezeption der jeweiligen Herrschaftsphase Ludwigs in den Augen der Nachwelt in fast postkartengroßen Reproduktionen zeigen. Einzelne inhaltliche Aspekte werden nicht nur mit Originalen und Reproduktionen, sondern auch mit cleveren Inszenierungen visualisiert: So zeigt nicht nur ein Wall von Lanzen und Hellebarden die Schlacht bei Mühldorf an, sondern ein an die Wand geworfenes Schattenspiel von Modellrittern bringt Bewegung in die Szenerie; und das Ganze wirkt keineswegs  so albern, wie es klingen mag. Wirklich gelungen ist die Inszenierung der Heiltumsweisung, die Ludwig 1330 in Regensburg vornehmen ließ. In innen verspiegelten Guckkästen werden Bilder der Reichsinsignien eingeblendet, wie in einem Diorama des 19. Jahrhunderts, zugleich kann der Betrachter über Kopfhörer eine beeindruckende Vertonung des unter Karl IV. für die Ostensiones geschaffenen Lanzenoffiziums hören. Auch das Schaffen der ludovicianischen Kanzlei mit ihren besonders eindrucksvollen Miniaturen innerhalb der Initialen wird geschickt und anschaulich präsentiert. Trotz gelegentlicher Bedenken bezüglich der Kongruenz von Form und Inhalt: Ästhetisch ist dieser Aufbau zweifellos mutig und in den Augen des Rezensenten insgesamt gelungen; auch wenn die Minoritenkirche bis auf die rekonstruierten Glasfenster nur eine Kulisse ist, so ist es doch eine ansprechende.

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Auf dem roten Teppich nach Rom. Der Aufstieg Ludwigs des Bayern, ein wenig glatter als in der historischen Realität. Blick von der untersten Ausstellungsebene in der Minoritenkirche von Regensburg (Quelle: HDBG)

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Ab in die Donau mit dem päpstlichen Boten! Christoph Süß illustriert episkopales Krisenmanagement in Interdiktsfragen (Quelle: HDBG)

Durch die Verfremdung des ansteigenden Fußbodens ergeben sich jedenfalls bemerkenswerte Perspektiven, denen man das geschulte Auge der Ausstellungsdesigner anmerkt. Nur beim Entwurf des Ausstellungslogos und der Plakate wird es eine Spur zu psychedelisch, aber das ist natürlich Geschmacksache.
Bei der zweiten Station der Ausstellung in St. Ulrich beim Dom wechselt der Protagonist: Sie besteht vor allem aus einem ca. 20-minütigen Film mit 3D-Effekten, bei denen Christoph Süß, der BR-Moderator und Kabarettist, in einer Monty-Python-artigen Collage Informationen zu Regensburg und seinem Dom präsentiert. Mit klarer dialektaler Grundierung und landestypischem Hintersinn moderiert und schauspielert Süß – teilweise in drei Rollen zugleich zu sehen – die Ereignisse der Jahre 1300 bis 1350, unterstützt von wirklich beeindruckenden 3D-Simulationen. Der Rezensent hat sich köstlich amüsiert, wenn auch die Hälfte der Gags ausgereicht hätte, um die Unterschiede zu pathosgeladenem ZDF-Geschichtsfernsehen à la „Die Deutschen“ zu markieren. Tatsächlich wurde gelegentlich die Grenze zum Klamauk hart gestreift, wenn nicht überschritten: Ein Faktum, das beim tendenziell älteren Publikum eher weniger gut ankam. Fraglich auch, wie viel ein fachlich nicht vorgebildeter Besucher inhaltlich mitnehmen konnte, wurde er doch nicht nur mit Informationen, sondern auch Kabaretteinlagen im Minutentakt bombardiert.
Die dritte Station war der Domkreuzgang, seit kurzem erst für Besucher erschlossen und in seiner Dichte an Kunstwerken höchst beeindruckend. Nicht immer war es für die Ausstellungsmacher hier einfach, den Bogen bis in die Zeit Ludwigs des Bayern zurückzuschlagen. Doch durch eine konzise Auswahl weniger Grabsteine und anderer Kunstwerke, die angemessen kontextualisiert wurden, konnte auch die letzte Station der Ausstellung überzeugen. Über alle drei Stationen verteilt fanden sich ansprechende Installationen der Museumspädagogen: Auf einer Waage ließen sich im Kreuzgang Sünden und Bußakte gegeneinander aufrechnen und gaben so einen anschaulichen Einblick in die Heilsökonomie. Moderne Steinmetzwerkzeuge illustrierten die Arbeitschritte vom rohen Fels zur geglätten Oberfläche in der Ulrichskirche. Der in Ausstellungen fast schon obligatorische Topfhelm zum Aufsetzen für Besucher macht das Sichtfeld eines Ritters in der Schlacht von Gammelsdorf sinnlich erfahrbar; am Abguss des Wachsiegels kann man riechen und es auch berühren. Das ist alles sehr gelungen, aber ohne Bauchschmerzen ist der Rezensent nicht durch die Ausstellung gegangen, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

 

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1913 noch der Held von Gammelsdorf. Was aber ist Ludwig IV. im Jahr 2014? (Quelle: HDBG)

„Hingegen breitet sich der Ruhm des erlauchten Herrn Herzog Ludwigs ins Unermessliche aus…“ (Die Chronik Kaiser Ludwigs IV., Kap. 7)

Die Bayerische Landesausstellung will unterhalten, und sie will eine Geschichte erzählen. Die Unterhaltung gelingt, aber das angebotene Narrativ ist stellenweise bedenklich: Der Aufstieg Ludwigs aus angeblich kleinen Verhältnissen zum „Helden von Gammelsdorf“, dann zum römisch-deutschen König, dann zum Kaiser gegen den Papst bis hin zu seinem Tod, „unbesiegt“, wie uns die Begleittexte wissen lassen. Hier droht einerseits die Playstation-Metaphorik, andererseits eine überwunden geglaubte heroisierende und herrscherzentrierte Landesgeschichtsschreibung das Ruder an sich zu reißen. Große Männer machen bayrische Geschichte und schreiten siegreich von Level zu Level. Dazu passt die Absenz von Quellenkritik im Umgang mit den Ludwig positiv darstellenden Zitaten; dem fachlich nicht beschlagenen Besucher präsentieren sich diese Auszüge v.a. aus der Chronik Ludwigs IV. als historische Fakten.

Ausgerechnet in Bayern: Ein Mangel an Originalen

Auf den ersten Blick ist es entspannend, dass die Landesausstellung ihre Besucher nicht mit 500 Exponaten erschlägt, wie andere Veranstaltungen dieser Art. Insbesondere die Stauferausstellung in Mannheim 2010 war so reich an Originalen, dass selbst der interessierte Fachbesucher irgendwann innerlich abschaltete. Insofern versprach der Regensburger Ansatz eine Konzentration auf das Wesentliche. Mit Verwunderung stellt der Besucher dann aber fest, dass er sehr, sehr häufig – Urkunden ausgenommen – vor Reproduktionen, Gipsabgüssen und anderen Repliken der Originale steht. Im Extremfall erhöht sich also der Pulsschlag, meint man aus der Ferne die Kurfürstenfiguren vom Mainzer Kaufhaus zu entdecken – und zwar alle – und stürmt voller Begeisterung auf sie zu. Auf dem Weg schleicht sich schon die Frage ins Gehirn: Wie können diese schweren Sandsteinblöcke so locker im Raum drapiert werden? Aus der Nähe ist dann die etwas ernüchternde Antwort: Abgüsse aus Kunststoff, datiert auf 1980. Nun kann man Repliken im Einzelfall akzeptieren, wenn die Originale kaum transportabel sind wie die genannten Mainzer Kurfürstenfiguren oder mutmaßlich besonders empfindlich wie die Koblenzer Handschrift über „Kaiser Heinrichs Romfahrt“. Unbefriedigend ist es, wenn Originale aus Münchener Beständen, wie etwa die Madonna aus dem dortigen Anger-Kloster oder das Stifterrelief aus der Lorenzkapelle im Alten Hof zu München nur als Abgüsse vorhanden sind. Es ist die Häufung an Repliken, die hier irritiert: Niemand kann erwarten, dass die Reichsinsignien der Schatzkammer der Wiener Hofburg entleihbar sind. Aber so sehr auf innovatives Ausstellungsdesign zu setzen, darf nicht den vielfach zu bemerkenden Verzicht auf die Faszination des Originals bedeuten. Am dritten Ausstellungsort, dem Domkreuzgang, wird eindrucksvoll deutlich, was in der Minoritenkirche zu kurz kommt.

Eine Landesausstellung zwischen Inszenierung und Identitätsbildung

Ludwig der Bayer hat endlich seine erste, nur ihm gewidmete große Ausstellung bekommen. In Sachen Ausstellungsdesign ist sie bemerkenswert innovativ, vom technischen Niveau der Präsentation sicher die eindrucksvollste Mittelalterausstellung der letzten Jahre, die den neuen Standard definiert. Sie zeigt, dass Multimedia mehr ist als Schwenkfahrten über 3D-Animationen historischer Gebäude, und sie hat den Mut, etwa in dem Film mit Christoph Süß die Erwartungen bierernster Geschichtsvermittlung zu unterlaufen (man sollte allerdings den Humor von Monty Python mögen). Gelegentlich lassen die Ausstellungsmacher die Zügel in dieser Hinsicht etwas locker, und wenn beim Bild der Nürnberger Heiltumsweisung die dargestellten Kleriker wie animierte Comicfiguren Augenbrauen lüpfen, blinzeln, runde Münder machen – dann fühlt man sich wie bei Herrn Müller-Lüdenscheid in der Badewanne. Doch macht nur der keine Fehler, der nichts wagt: Diese Monita sind verzeihlich, denn die Verantwortlichen haben sich wirklich auf ihr Publikum einzustellen versucht; diese in verschiedenster Hinsicht besucherfreundliche Konzeption ist nicht genug zu loben. Bedauerlich ist die Entscheidung, sich vielfach mit Repliken statt Originalen zufriedenzugeben; in dieser Hinsicht mögen künftige Ausstellungen dem Regensburger Vorbild bitte nicht folgen. Erst recht nicht gilt dies für die bedenkliche und keineswegs avantgardistische Heroisierungstendenz des Kaisers aus dem Hause Wittelsbach. In ihrem Bemühen um Stärkung regionaler Identitäten ist die Landesausstellung in Regensburg der Stuttgarter Stauferausstellung von 1977 näher als manch andere Veranstaltung der letzten Jahre: Eine Präsentation kritischer Wissenschaft, gar die Dekonstruktion von Mythen kommt zu kurz. Den päpstlichen Spottnamen Bavarus zum Ehrentitel umzudeuten ist kein Vorgehen des 14., erstaunlicherweise aber des 21. Jahrhunderts. Insofern ist die historische Figur Ludwig IV. noch lange nicht auserzählt, und sein Infarkttod auf der Jagd 1347, eine gewisse Konstante der bayerischen Geschichte, wohl kein Game over, sondern ein Beginn von vorn, ein zweites, drittes, viertes Leben nicht nur als Held von Gammelsdorf. Wenn man im Titel der Landeausstellung aber einen wirklich mutigen Gegenpunkt zum Papa emeritus aus Regensburg hätte setzen mögen: Wir sind Ketzer. Obwohl auch das nicht mehr gilt, denn am Ende der Ausstellung informiert ein Schreiben von Kardinal Wetter an einen besorgten Heimatverein, dass die Exkommunizierung Ludwigs mit dessen Tod erloschen sei. Das mag tröstlich für manch modernen Beobachter sein, dem Wittelsbacher hat es nicht mehr geholfen.

  1. Wolf, Peter u.a. (Hgg.), Ludwig der Bayer. Wir sind Kaiser! Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2014, Regensburg, Minoritenkirche – St. Ulrich am Dom – Domkreuzgang, 16. Mai bis 2. November 2014, Regensburg 2014
  2. Seibert, Hubertus (Hg.), Ludwig der Bayer (1314-1347): Reich und Herrschaft im Wandel, Regensburg 2014

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4497

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Big Data History


Der Blick zurück — als ich promovierte

Als ich Ende der 90er Jahre des letzten Jahrtausends meine Promotion zur Grundherrschaft eines Klosters in Mittelhessen begann, stand am Anfang die systematische Untersuchung der Überlieferung. Alle für den untersuchten Zeitraum relevanten Urkunden habe ich mindestens einmal gelesen und den Inhalt auf Relevanz für meine Arbeit untersucht. Zu dieser Zeit waren digitalisierte Volltexte und Quellen noch die Ausnahme. Heute, gut 15 Jahre später, stehen Historiker vor einer anderen Situation. Sie haben Zugriff auf eine immer weiter wachsende Anzahl an Volltexten und digitalen Quellen, Metadaten usw.

Bei der Digitalisierung lag der Fokus zu Beginn noch auf der Imagedigitalisierung mit entsprechenden Metadaten. Selbst die MGH stellten ihre digitalisierten Buchseiten zunächst als Scans im Netz bereit, ohne direkten Zugriff auf die Volltexte zu bieten. Auch die Regesta Imperii, die von 2001 bis 2006 im Rahmen eines DFG-Projekts digitalisiert wurden, standen vor der Frage, wie die Texte im Netz dargeboten werden sollten1. Ich selbst war damals Mitarbeiter in diesem Projekt und wir entschieden uns für eine Volltextdarstellung, die dem Buch möglichst nahe kommen sollte. Vor allem aber war eine Volltextdarstellung über HTML wesentlich leichter zu implementieren als die Präsentation von Scans mit dahinter verstecktem Volltext, wie sie zeitweise von den MGH angeboten wurde.

 

Neue Rezeptionsmöglichkeiten und der Ausgleich buchtechnischer Nachteile

Der DFG-Antrag hob u.a. hervor, dass mit dem Digitalisierungsvorhaben zum einen buchtechnische Nachteile ausgeglichen und zum anderen neue Rezeptionsmöglichkeiten erschlossen werden sollten. Dabei bezog sich der Hinweis auf buchtechnische Nachteile beispielsweise auf die Abteilungen 7 (Ludwig der Bayer) und 13 (Friedrich III.), die im Unterschied zu den “regulären” Regesta Imperii-Bänden nicht die komplette Überlieferung, sondern jeweils mit einem Heft den Quellenbestand eines Archivs oder einer Archivlandschaft enthalten. Dies führt dazu, dass man für die Recherche eines bestimmten Zeitraumes parallel alle bisher publizierten Hefte durchsehen muss, was offensichtlich großen Arbeitsaufwand mit sich bringt. Heute sind solche Recherchen mit einer Suchanfrage im Regestenmodul wesentlich leichter möglich. Auch die Bereitstellung einer Volltextsuche über die Regesta Imperii hat sicherlich den einen oder anderen Historiker auf Spuren gebracht, die er mit der alleinigen Analyse der gedruckten Bände möglicherweise nicht entdeckt hätte.

 

Nutzerverhalten und Nutzerperspektive

Im Rahmen eines Vortrages auf der “Digital Diplomatics 2013″ im November letzten Jahres in Paris stellten meine Kollege Torsten Schrade und ich u.a. einige Analysen zum Nutzerverhalten des Regestenmodules der Regesta Imperii Online vor.

10er-Schritte

Anzahl der Treffer im Regestenmodul der Regesta Imperii Online (Quelle: Digitale Akademie, Mainz — www.digitale-akademie.de).

Datengrundlage waren die anonymisierten Daten von Suchanfragen aus dem Zeitraum von November 2012 bis Ende Oktober 2013. Bei jeder Suchanfrage wurde auch die Anzahl der erzielten Treffer mitgeloggt. Die Abbildung zeigt nun in einem Tortendiagramm wieviele der ca. 101.000  Nutzeranfragen im Regestenmodul 0 bis 10 Treffer, wieviele 11 bis 20, 21-30 usw. bis zu mehr als 100 Treffer erzielt haben. Es zeigt sich unter anderem, dass sich die Nutzer des Regestenmodules von ihren Ergebnissen her grob in drei Gruppen einteilen lassen. Die erste Gruppe nutzt die Expertensuche des Regestenmoduls optimal aus und bekommt in der Regel auf eine Anfrage zwischen 1 und 10 Regesten zurückgemeldet. Diese können dann am Bildschirm gelesen, gedruckt oder sonst weiter verarbeitet werden. Eine zweite Nutzergruppe bekommt zwischen 10 und 100 Treffern. Die dritte Gruppe erhält auf ihre Anfrage 100 oder mehr Treffer.

Erhält man bei der Regestensuche 1 bis 10 Treffer ist das Ergebnis mit vertretbarem Aufwand lesbar und zu überprüfen. Bei über 10 bis 100 Treffern würde ich vermuten, dass diese Nutzer versucht sein könnten, ihre Suchkriterien zu verschärfen und damit ein besseres (in diesem Fall auch kleineres) Ergebnis zu erhalten. Die dritte Gruppe erhält 100 oder mehr Treffer, deren Auswertung am Bildschirm äußerst mühselig ist.

Zu der letzten Gruppe gehören oft auch Nutzer, die mit einen einzigen Suchbegriff ohne weitere einschränkende Angaben sehr viele Treffer zurückgeliefert bekommen. Diese Gruppe hat aus meiner Sicht den “Google-Anspruch” bei minialem Input in die Suchmaske optimale Ergebnisse zu erhalten. Selbstverständlich kann man hier einwenden, dass Nutzer eines Quellenportals zumindest rudimentäre inhaltliche Kenntnis des untersuchten Gegenstandes, hier also der Regesta Imperii, mitbringen sollten.

Was mich bei den Ergebnissen aber erstaunte, war die Nutzungsform der Regestensuche. Die meisten Nutzer wussten genau, was sie suchten. Sie wählten die Bandansicht, riefen einen Band auf und suchten sich das gewünschte Regest. Sie nutzten die Onlineregesten in der gleichen Weise wie einen gedruckten Regestenband — nur kamen sie schneller ans Ziel. Den neuen Rezeptionsmöglichkeiten, wie einst im DFG-Antrag formuliert, entsprach dies aber sicherlich nicht.

Bei der Diskussion im Kollegenkreis über die Ergebnisse war der Hinweis auf die mangelnde inhaltliche Kompetenz der Nutzer ein häufiger Reflex. Zunächst reagierte ich ebenso und machte die fehlende Kenntnis über die Regesta Imperii für die hohen Treffermengen verantwortlich. Dann aber fiel mir auf, dass die Nutzer mit “Google-Anspruch” mit ihren hohen Treffermengen vielleicht einfach eine neue Nutzungsform unseres Online-Materials formulieren.

Bisher folgt auf die Suche nach “Heinrich”, welcher der meistgesuchte Begriff in den RI ist, die Anzeige:2

Sie suchten nach ‘Heinrich’
Ihre Suche erzielte 17101 Treffer, ausgewählt wurden die 1000 relevantesten Regesten.
Sie sehen die Treffer 1 bis 20. Zur Verfeinerung Ihres Ergebnisses modifizieren Sie Ihre Suchabfrage.

Man könnte die Suchmöglichkeiten vielleicht dahingehend ergänzen, dass dem Nutzer bei der Suche nach ‘Heinrich’ folgendes angeboten wird:

Sie suchten nach ‘Heinrich’
Sie haben 17.101 Treffer. Möchten Sie für die Einschränkung der Treffermenge eine Visualisierung der Trefferliste in chronologischer oder geographischer Form oder die Anzeige der Treffer pro Abteilung der Regesta Imperii ?

Mit neuen Visualisierungsmethoden und einem transparenten Drill-Down3 könnten neue Blicke auf bereits vorhandenes digitales Material möglich werden.

 

Die kritische Masse

In den letzten Jahren haben die als digitale Volltexte zur Verfügung stehenden Quellen stark zugenommen. Neben den Regesta Imperii werden im Akademienprogramm4 immer mehr Projekte digitalisiert und im Netz bereitgestellt. Bei Neuanträgen im Akademienprogramm muss ein Abschnitt zur Bereitstellung der Forschungsergebnisse im Internet enthalten sein. Diese Bemühungen für eine breite Digitalisierung von Forschungsmaterialien haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass wir langsam eine “kritische Masse” überschritten haben5. Und hier würde ich wieder zum “Google-Anspruch” aus dem letzten Absatz zurückkehren. Könnte es nicht neue Forschungsperspektiven aufzeigen, wenn wir große Datensammlungen gemeinsam untersuchen, sehr große Ergebnismengen erhalten und aus den anschließenden Visualisierungen oder mit anschließendem Drill-Down neuen Phänomenen oder Fragestellungen auf die Spur kommen, die wir aus analoger Perspektive nicht wahrgenommen haben ?

 

Visualisierung als Weg zu neuen Erkenntnissen

In meinem Beitrag zu Digitalen Perspektiven mediävistischer Quellenrecherche habe ich verschiedene Suchmasken von Online-Quellenportalen untersucht. Dabei konnte ich zeigen, dass die Suchmasken in der Regel optimale Möglichkeiten für die Einschränkung der Treffermenge auf eine zu handhabende Größe bieten. Dem gegenüber werden bei der Trefferanzeige kaum Möglichkeiten zur Weiterverarbeitung oder Visualisierung von großen Ergebnismengen geboten. Gerade hier liegt aber aus meiner Sicht eine große Chance für die Geschichteswissenschaften: die Untersuchung großer Quellenbestände im Sinne einer Big Data History, mit der Zusammenhänge aufgezeigt werden können, die im “analogen” Zeitalter nicht möglich waren.

Fazit

Momentan stehen wir noch an der Schwelle zu Big Data History. Es ist aber nur noch eine Frage der Zeit, bis gemeinsame Schnittstellen projektübergreifende Quellenanalyse möglich machen, die Ergebnisse visualisiert und weiterverarbeitet werden können und damit neue Blicke auf das Quellenmaterial möglich werden. Die Analyse großer Datenmengen bringt für den Historiker aber auch Herausforderungen mit sich. Bei großen Datenmengen stellt sich die Frage nach Fehlerabschätzungen, neuen Analysemethoden und theoretischen Ansätzen. Andererseits verspricht die Digitale Perspektive auf eine Big Data History interessante neue Blicke auf unser Quellenmaterial.

PDF-Download: Big_Data_History

  1. Zur Entwicklung des frühen Digitalisierungsprojekts vgl. Kuczera, Andreas: Die Regesta Imperii Online (2007) – In: Historisches Forum Bd. 10 (2007). Zum aktuellen Stand vgl. Weller, Tobias: Die Regesta Imperii Online (2014) – In: Rheinische Vierteljahrsblätter Bd. 78 (2014) S. 234-241; Würz, Simone: Mittelalterliche Quellen im Internet: Aspekte der Digitalisierung und Vernetzung der Regesta Imperii Online (2011) – In: Archive im Web – Erfahrungen, Herausforderungen, Visionen S. 162-171
  2. Vgl. http://www.regesta-imperii.de/regesten/suche.html abgerufen am 10.10.2014.
  3. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Drill-Down&oldid=117104292
  4. Zum Akademienprogramm vgl. http://www.akademienunion.de/forschung/
  5. Ein Hinweis, dass wir die “kritische Masse” überschritten haben, war der Erfolg von http://codingdavinci.de/

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3962

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Ferdinand Güterbock – Mediävist und Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica

Der Beitrag entstand im Rahmen der 2013/14 bei den MGH vorgenommenen Teilerschließung der Akten des „Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde“, vgl. den Bericht unter: http://mittelalter.hypotheses.org/4036. Zu danken habe ich dem Leiter des MGH-Archivs, Prof. Dr. Mentzel-Reuters für die Möglichkeit, die Archivalien auch nach Abschluss des Projekts benutzen zu können.

 

Biographisches

 

Ferdinand Güterbock[1] wurde 1872 als Sohn des Historien- und Orientmalers Leopold Güterbock und einer ebenfalls als Malerin tätigen Mutter in Berlin geboren. Er entstammte einer alteingesessenen jüdischen Familie, ein Vetter war der Königsberger Rechtshistoriker Carl Eduard Güterbock.[2] Auch zu dem Orientalisten Bruno Güterbock, der mit der Schweizer Schriftstellerin Grethe Auer verheiratet war, bestanden verwandtschaftliche Beziehungen. Ursprünglich im kaufmännischen Bereich und im Bankgewerbe tätig, führten Teile der Familie ein Leben als Rentiers wie etwa der Vater von Bruno Güterbock, der mit seinen Brüdern das Bankgeschäft der Eltern aufgegeben hatte.[3] Ferdinand Güterbock heiratete eine Verwandte von Grethe Auer, nämlich Mina Güterbock-Auer. Die Familien Güterbock und Auer waren beide mit dem Schweizer Ort Engelberg verbunden, die Eltern von Ferdinand Güterbock verbrachten dort seit den 1860er Jahren ihre Sommerfrische.[4]

Ferdinand Güterbock promovierte bei Paul Scheffer-Boichorst 1895 über den Frieden von Montebello.[5] Die enge Verbundenheit zu seinem Lehrer geht aus dem Lebensabriss vor, den Güterbock als Mitherausgeber der Schriften Scheffer-Boichorsts verfasste.[6] Güterbocks bevorzugte Forschungsgebiete waren Friedrich Barbarossa, die Geschichte Italiens besonders der Stauferzeit sowie später die Geschichte der Schweiz. Die Archivlandschaft Italiens erschloss Güterbock sich durch regelmäßige Reisen.[7]

Güterbock lebte als Privatgelehrter, ohne jemals ein universitäres Lehramt zu erreichen.[8] Diese Existenz beruhte auf dem Vermögen seiner Familie, das ihm wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglichte. In seiner auch mit Kunstsammlungen ausgestatteten Villa in Berlin-Steglitz führte er einen gastlichen Haushalt, der einen beliebten Treffpunkt für Historiker darstellte. Güterbock suchte dabei auch den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern.[9] Heute kaum noch bekannt und aufgrund der Exklusion infolge des ‘Dritten Reichs’ in der Wissenschaftsgeschichte marginalisiert, war Güterbock offensichtlich gut vernetzt und auch ohne akademisches Amt voll anerkannt. Mit dem Wissenschaftsorganisator und späteren Vorsitzenden der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica, Paul Fridolin Kehr verband ihn Freundschaft[10] wie auch mit den Monumentisten Erich Caspar und Robert Holtzmann.[11] Für den Historiker Karl Hampe und seine Familie stellte Güterbock eine von deren engsten Vertrauenspersonen dar.[12]

Ob seine Gelehrtenexistenz mit den auch nach 1918/19 durchaus fortbestehenden Beeinträchtigungen, als Jude eine akademische Karriere erreichen zu können, zusammenhing, mag dahingestellt bleiben.[13] Dass Güterbock, der sich offensichtlich wie so viele jüdische Intellektuelle und Gelehrte voll mit dem Kaiserreich identifizieren konnte,[14] antisemitischen Anwürfen ausgesetzt war, belegt seine wissenschaftliche Kontroverse mit dem Schüler Hampes, Karl Schambach, über Heinrich den Löwen.[15]

Güterbock emigrierte 1937 in die Schweiz,[16] wo er sich in Weggis niederließ und kurz vor seinem Tod auch eingebürgert wurde.[17] In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte er sich besonders mit der Geschichte der Benediktinerabtei Engelberg, in der er – mitten in der Arbeit an einer Studie über die Gründung des Klosters – 1944 infolge einer Embolie oder Herzattacke verstarb.[18]

 

Güterbock und die Monumenta Germaniae Historica

 

Bereits seit Mitte der 1890er Jahre stellte Güterbock den Ertrag seiner Archivreisen nach Italien wohl auch den Monumenta etwa in Form der Erstellung von Kollationen zur Verfügung.[19] Erstmals offizielle Verbindungen lassen sich nach der Jahrhundertwende feststellen. Oswald Holder-Egger als gewählter, aber nicht ernannter Vorsitzender der Zentraldirektion und Leiter der Abteilungen Scriptores und Epistolae stattete im Jahresbericht für 1905 Güterbock seine Dankesschuld für die Untersuchung einer Abschrift der von ihm selbst bearbeiteten Chronik des Salimbene de Adam aus dem 16. Jahrhundert ab.[20] Güterbock wurde außerdem Mitarbeiter des „Neuen Archivs“ und trug darin kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine Fehde mit Johannes Haller aus, in der sich sowohl Harry Bresslau, als auch die Redaktion – Michael Tangl, Karl Zeumer und sein Mitarbeiter Richard Salomon – auf seine Seite stellten.[21] Güterbock übernahm immer wieder kleinere Aufgaben im Rahmen der Monumenta, so zum Beispiel die Vergleichung von Handschriften der Schrift „De ruina civitatis Terdonae“ im Rahmen einer Italienreise.[22] 1925 wurden ihm die „Historia Frederici I“ von Otto Morena sowie die Faventiner Chronik des Magister Tolosanus übertragen.[23] Die Bearbeitung von Quellen italienischer Schriftsteller aus der Stauferzeit durch Güterbock hatte bereits Holder-Egger beabsichtigt: Nach einer handschriftlichen Aufzeichnung bot dieser dem jüdischen Gelehrten nicht nur die Werke von Morena und Tolosanus an, sondern plante auch die Aufnahme von „De ruina civitatis Terdonae“ ins Editionsprogramm. Da die Ausgaben italienischer Schriftsteller nach dem Tod Holder-Eggers zurückgestellt worden waren, regte Güterbock ihre Wiederaufnahme selbst an.[24] Für die Arbeit an der Morena-Edition unternahm er 1926 eine Archivreise nach Mailand, Modena und Faenza.[25] Die Morena-Edition konnte bereits 1930 erscheinen.[26] Zu Tätigkeiten im Rahmen der Faventiner Chronik finden sich keine weiteren Hinweise.[27] Güterbock verfügte aber offensichtlich über ein gewisses Interesse, sich langfristig aktiv oder aber theoretisch in das Editionsprogramm der Monumenta einzubringen. 1931 legte er der Zentraldirektion ein Gutachten über die Scriptores-Abteilung vor, in dem er verschiedene Ideen zur Verbesserung der auf Holder-Egger und Bresslau zurückgehenden Editionsmethoden, aber auch der Druckgestaltung entwickelte.[28]

Die Aufnahme Güterbocks in die Zentraldirektion wurde unter der Ägide Paul Fridolin Kehrs erwogen. Anlässlich der Jahressitzung 1931 erörterte man die Frage der Zuwahl von neuen Mitgliedern ausführlich, wobei verschiedene Kandidaten zur Debatte standen. Der der Zentraldirektion bekanntermaßen grundsätzlich nicht unbedingt positiv gegenüberstehende Kehr schlug „nach dem Bedürfnis der Arbeiten“ der Monumenta Güterbock, der „viel gearbeitet“ habe und Ernst Perels, von dem „sachlich etwas […] zu erwarten“ sei, vor: „Beide könnten erwünscht oder doch tragbar erscheinen.“ Auch Karl Hampe sprach sich „entschieden für Güterbock“ sowie Perels aus, ein Votum, dem sich Wilhelm Levison anschloss. Ernst Heymann stimmte ebenfalls für Perels, für den nur Oswald Redlich „sich nicht recht erwärmen“ konnte, „obwohl er ein trefflicher Editor sei.“ Letztlich stellte jedoch nur Hampe einen offiziellen Antrag auf Zuwahl, und zwar von Erich Caspar. Nach Wiederaufnahme der Diskussion in der Nachmittagssitzung beantragten einzelne Zentraldirektoren die Zuwahl verschiedener Kandidaten: Levison die von Perels, Güterbock und Percy Ernst Schramm, Adolf Hofmeister die von Bernhard Schmeidler und Edmund Ernst Stengel sowie Hampe zusätzlich zu Caspar die von Robert Holtzmann. Kehr empfahl daraufhin, obwohl er selbst sich nochmals für Perels und Güterbock aussprach, „angesichts gewisser Schwierigkeiten, und da 3 Mitglieder der ZD. fehlen, wohl besser diesmal von Zuwahlen überhaupt abzusehen.“ Formell abgestimmt wurde schließlich nur über die Aufnahme von Caspar in die Zentraldirektion, wonach Levison, da die Abstimmung negativ ausfiel, seinen Antrag auf Zuwahl von Perels und Güterbock zurückzog. Eine Erweiterung der Zentraldirektion kam somit nicht zustande.[29] Eine erneute Diskussion zwei Jahre später und damit bereits nach der ‘Machtergreifung’ wurde nun von Kehr abgeschmettert. Weder die Zuwahl des von ihm später als seinen Nachfolger befürworteten Karl August Eckhardt, die Heymann vorgeschlagen hatte, noch die von Güterbock oder Perels waren Kehr jetzt genehm. Die Meinung Heymanns, man brauche einen ‘jüngeren Mann’, teilte Kehr nicht, er sah darin eine Bedrohung seiner Autorität als Vorsitzender.[30]

In den Akten der 1935 in ein „Reichsinstitut für Ältere Deutsche Geschichtskunde“ umgewandelten Monumenta taucht der Name Güterbocks nur noch am Rande auf, inwieweit nach der nationalsozialistischen ‘Machtergreifung’ noch persönliche Kontakte fortbestanden, lässt sich daraus nicht erschließen.[31] Güterbocks Arbeiten wurden allerdings im Reichsinstitut weiterhin wahrgenommen (und auch rezensiert). 1937 bat der damalige Leiter des Reichsinstituts, Wilhelm Engel, den Direktor des Departementalarchivs von Vesoul, Jacques Dropet, um Photographien von Siegeln aus Vesoul, die Güterbock in einem Aufsatz besprochen hatte.[32] Im Jahr 1938 leitete die Landesbibliothek Hannover einen Brief Güterbocks mit der Bitte um Bearbeitung an das Reichsinstitut weiter. Güterbock benötigte Photographien eines Briefes von Notar Burchard aus dem Jahr 1161, die Handschrift war gerade an das Reichsinstitut aus Hannover verliehen worden.[33] 1942 riet Präsident Edmund Ernst Stengel dem Archivar und Byzantinisten Werner Ohnsorge, in einem Aufsatz über die Byzanzpolitik Friedrich Barbarossas für das „Deutsche Archiv“[34], „im Text lieber keine Namen aus der neueren Forschung über den Prozeß Heinrichs des Löwen zu nennen“ und in den Anmerkungen „entweder nur die letzte Arbeit G a n a h l s [sic] mit Hinweis auf das dort gegebene Schrifttum oder aber neben ihr auch die übrigen wichtigsten neueren Arbeiten“ zu verzeichnen. Im letzteren Falle könne er auch auf Güterbock verweisen, dem „in vieler Beziehung“ zwar nicht zu folgen sei, der aber „das Problem unbedingt sehr stark“ gefördert habe.[35] Ohnsorge war an einer „leisen Hervorhebung“ u.a. der Arbeit von Güterbock, dem er inhaltlich nicht zustimmte, „gelegen“.[36] Planungen zwischen dem Präsidenten Theodor Mayer und Martin Lintzel bezüglich möglicher Beiträger zur Festschrift für Robert Holtzmann Ende 1942 schlossen Güterbock – neben Richard Koebner und Wilhelm Levison! – aufgrund des „Arierparagraphen aus“.[37]

 

Ferdinand Güterbock und Benito Mussolini

 

In politischer Hinsicht bemerkenswert ist Güterbocks Sympathie für Benito Mussolini, der Güterbock in zwei Audienzen 1923 und 1924 als ersten Deutschen überhaupt empfing.[38] Güterbock legte 1923 aus der Perspektive des wissenschaftlich ausgewiesenen, lebenslangen Quellenforschers in Italien und damit auch Kenners der zeitpolitischen Umstände eine Studie über die Entstehung des Faschismus vor. Er begründete dieses Werk mit der singulären Neuheit von Mussolini und seiner Bewegung, die eine reizvolle Aufgabe für jeden Historiker darstellen müsse.[39]

Güterbock nimmt in dem knapp 130-seitigen Werk, das auf der Auswertung italienischer Zeitungen beruht, zwar vordergründig eine objektive Position ein, das von Mussolini auf ihn ausgehende Faszinosum wird aber deutlich erkennbar. Die Charakterisierung als ‘Tatmensch’, ‘Führernatur’ und ‘Realpolitiker’ hebt auf die Singularität des ‘Duce’ ab, explizit nennt Güterbock „eine ausgesprochene Persönlichkeit, deren Bekanntschaft zu machen wohl der Mühe lohnt.“[40] Die von Güterbock vorgenommenen Zuschreibungen sind ohne weiteres im Kontext des Führer-Diskurses der Weimarer Zeit zu verorten.[41] Die Ehrlichkeit von Mussolinis Absichten sieht er für gegeben an, und auch die so wahrgenommene Entwicklung ‘vom Sozialismus zum Chauvinismus’ beurteilt er als logische Folge eines aufrechten Charakters.[42] Obwohl Güterbock in der gesamten Darstellung zwar den Ton des objektiven historiographischen Berichterstatters beibehält,[43] liefert er indirekte Stellungnahmen und am Schluss einen Ausblick, der seine eigene Haltung zu erkennen gibt.

Es ist offensichtlich gerade die Verbindung nationaler und sozialer Ideen, die Güterbocks Beifall findet und seine für das nationale Bürgertum so typische Furcht vor dem Sozialismus bedient: Mussolini habe die Sozialisten gezwungen, „von dem Plan einer Terrorisierung des Bürgertums Abschied zu nehmen.“[44] Sein Sozialismus sei der einer praktischen Anwendung durchaus berechtigter sozialer Ideen und nicht Ausdruck blinden Parteidoktrinarismus’.[45] Die grundsätzliche Zuschreibung eines weltfremden Utopismus an sozialistisch und kommunistische Gesellschaftsentwürfe wird in der Formulierung, dass jedoch Mussolini „gerade aus Liebe zum Proletariat praktisch durchführbare Vorschläge mache und keinen Utopien nachjage“[46], deutlich. Affirmativ erscheint Güterbocks Bemerkung, dass nach Mussolini „das Klasseninteresse des Proletariats dem Interesse der Nation unterzuordnen sei.“[47] Bei allem Verständnis für berechtigte soziale Forderungen, so offensichtlich auch Güterbock: Das Wohl des Volksganzen, der Nation, steht höher. Güterbocks Charakterisierung von Mussolinis „jugendfrische[...][m]“ Nationalismus lässt unschwer Sympathien für die darin von ihm perzipierten Elemente dieses Nationalgedankens fassen, „der dem Vaterlande die natürlichen Grenzen geben, der möglichst allen Volksgenossen in Europa die nationale Einigung bringen und sie zu einer ‘friedlichen Expansion im Mittelmeer und in der Welt’ führen“ wolle. Inhärent sei ihm zugleich die „Bekämpfung der krankhaften Keime des Staatsorganismus wie der Volksseele, durch eine Demokratisierung und Modernisierung der Verfassung, durch eine gesunde Sozialgesetzgebung, eine freiheitliche Wirtschafts- und eine strenge Finanzpolitik“ um das Land „innerlich [zu] regenerieren und mit neuen Kräften [zu] erfüllen […].“[48]

Auch die Elemente zeitgenössischer Parlamentarismuskritik scheinen auf, wenngleich Güterbock hier wiederum nicht direkt Stellung bezieht. Er vermerkt, dass Mussolini „hitzig […] gegen die Schwäche des liberalen Staates und gegen die Energielosigkeit der bisher herrschenden demokratischen Partei“ polemisiert habe.[49] Noch deutlicher spricht er an anderer Stelle von Mussolinis Eintreten gegen „das demokratisch-sozialistische Dogma der Vergötterung der Majorität, das dem gesunden Menschenverstand oft widerstreite“ und gegen „das demokratische System einer Nivellierung des Lebens und einer Züchtung des Mittelmaßes.“[50] Ein identifikatorisches Potenzial besitzen ganz offensichtlich Elemente der faschistischen Ideologie, die sich als Eintreten für die Interessen aller sozialen Klassen interpretieren lassen. So weist Güterbock den Vorwurf italienischer Sozialisten an den Faschismus als Interessenvertreter der „Kapitalisten, […] Industriellen und Großgrundbesitzer“ zurück. Obwohl „Angehörige der Industrie und der Landwirtschaft aus Besorgnis vor der bolschewistisch-sozialistischen Gefahr die Fascisten durch Zuwendung von Geld, Waffen und Automobilen unterstützt“ hätten und „heute hinter dem Unternehmen Mussolini stehen“ würden, könne man Mussolini nicht die Begünstigung „wirtschaftlicher Sonderinteressen“ vorwerfen und ihn „am allerwenigsten ein Diener kapitalistischer Interessen“ nennen. Güterbock bekräftigt vielmehr den in seinen Augen vorrangig idealistischen Charakter der Bewegung, „die in verschiedenen Gegenden verschiedene Bevölkerungsklassen […] ergriffen hat, die jedem etwas bieten und die alle Berufsstände in gleicher Weise umspannen möchte.“[51] Den Begriff der ‘Volksgemeinschaft’, der seit den 1860er Jahren für verschiedenste politische Richtungen feststellbar ist und von radikalnationalistischen wie völkischen Kreisen infolge des Ersten Weltkriegs zum verschiedene Minderheiten ausschließenden Konzept der rassischen Gemeinschaft umgedeutet wurde[52], verwendet Güterbock nicht.

Apologetisch klingen Güterbocks Bemerkungen zu möglichen Kritikpunkten aus bürgerlich-liberaler Sicht wie etwa zum Thema Antisemitismus, dem er eine Relevanz innerhalb der faschistischen Bewegung abspricht. So gebe es zwar Anklänge bei Mussolini selbst und einzelnen Vertretern des Faschismus, aber andererseits habe der ‘Duce’  den Antisemitismus 1921 öffentlich verworfen und auch im Parteiprogramm sei er nie ‘bemerkbar’ hervorgetreten.[53] Einen ähnlichen Tonfall schlägt er in Bezug auf den Einsatz von Gewalt als politisches Mittel durch den Faschismus an. Der „manchmal […] übermäßig rohe[...] Charakter“ des Faschismus gehe auf das Konto von „Verbrechernaturen“, Mussolini selbst hingegen erlaubte nach Güterbock Gewalt nur als „Abwehrmaßnahme[...]“.[54]  An anderer Stelle nennt er Gewalttaten „vorübergehende Rückfälle in Kinderkrankheiten“ oder ein „nur ein vorübergehend anzuwendendes Mittel im Kampf gegen antinationale Strömungen“.[55] Allerdings erklärt Güterbock mit der Begründung, Druck erzeuge Gegendruck, die zukünftige Aufgabe terroristischer Methoden zur Schicksalsfrage: Mussolini müsse sein Werk auf die Grundlage einer freiheitlichen Ordnung stellen.[56]

Die Bemerkungen zur Situation in Italien nach dem Staatsstreich zielen auf als positiv beurteilte Maßnahmen in verschiedenen Bereichen und spiegeln damit unverkennbar politische Urteile des Kommentators wider. In der Wirtschaftspolitik etwa diagnostiziert Güterbock das Überwiegen liberaler Prinzipien bei kleinstmöglichen staatlichen Eingriffen im Interesse der Produktionssteigerung.[57] Die beabsichtigte „Eindämmung der parlamentarischen Tätigkeit und eine Reform des parlamentarischen Wahlrechtes“ begründet Güterbock explizit mit Machtsicherung aber auch der angeblichen erzieherischen Absicht Mussolinis, „die […] Abgeordneten zu umsichtigeren Vertretern der italienischen Nation zu erheben“, eine Formulierung, aus der das parlamentarismuskritische Topos des ‘Parteiegoismus’ hervorgeht.[58] Die Metapher des Arztes, „der auch vor chirurgischen Eingriffen und scharfen Kuren nicht zurückschreckt“ zielt auf den so perzipierten Reformcharakter des Faschismus, „der in den lange verschlossenen dumpfen Bürokratenstuben rücksichtslos die Fenster“ aufreiße und „frische Zugluft eindringen“ lasse.[59]

Eine Parallelisierung zum Deutschland Anfang der 20er Jahre nimmt Güterbock selbst vor, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu präsentieren. Zwar sieht er im Reich „vielfach parallele Krankheitsempfindungen und Gefühlsregungen“ vorhanden und meint damit „eine Reaktion gegen übertriebene Sozialisierungsversuche, eine Unzufriedenheit mit dem unfähigen Bürokratentum, eine Abneigung gegen den schlaffen Parlamentarismus, eine Regeneration des Nationalismus“[60]; schätzt grundsätzlich Italien aber für ‘kränker’ und damit reformbedürftiger ein. Hier erteilt er explizit „äußere[n] Begleiterscheinungen […] wie de[...][m] Gummiknüppel“ die Absage, adaptionswürdig sei jedoch „die eigentliche fascistische Medizin mit ihren manchesterlichen und nationalistischen Bestandteilen“.[61] Hier geht Güterbock auch direkt auf die nationalsozialistische Bewegung ein, die er vom Faschismus abgrenzt. Mussolini selbst habe betont, dass es keine Berührungspunkte zum ‘bayerischen’ Nationalsozialismus gebe und auch Güterbock konstatiert, dass dieser sich „in der Tat von seinem italienischen Vorbild nur das Mittel des Gummiknüppels und das Ziel einer nationalen Diktatur aneignet, ohne in den Kern des Problems einzudringen.“[62]

In einem Beitrag zur Festschrift seines Schullehrers, des jüdischen Pädagogen und Historikers Moritz Schäfer, unternimmt Güterbock ein paar Jahre später eine eher kursorische Einordnung Mussolinis in die Geschichte der Stadt Rom seit der Antike.[63] Hier hebt er die Stützung der „Staatsautorität“ und des „Nationalgefühls“ der Italiener durch antike Reminiszenzen des Faschismus besonders hervor. Er weist ihre Einschätzung als „theatralische[...] Aueßerlichkeiten“ zurück, sie hätten vielmehr zu einem Aufschwung der italienischen Wissenschaft, besonders der Archäologie, geführt.[64] Neben der Förderung archäologischer Projekte durch Mussolini streicht Güterbock ausdrücklich die „politischen imperialistischen Tendenzen“ in Nachfolge „der alten Römer“ etwa in Form von Expansionstendenzen im Norden heraus. All dies habe dazu geführt, dem italienischen Volk, „das zum Partikularismus wie zur Schwäche und Korruption“ neige, ein „stärkeres Nationalgefühl“ zu verleihen, wie auch „Ordnungssinn und Selbstzucht“.[65] Der nach Güterbock seit dem Mittelalter in Italien eingetretenen „Verweichlichung“ – als Beispiel nennt er die Niederlage römischer Truppen 1167 vor Tusculum – suche der Faschismus „durch sportliche[...] und militärische[...] Ausbildung“ entgegenzutreten, um „ein neues männliches kampfbereites Geschlecht heranzuerziehen und zu diesem Behuf das Menschenmaterial des heimatlichen Bodens umzuformen durch Beschwörung der Geister der Ahnen.“[66]

Man wird Güterbocks Stellungnahmen zum italienischen Faschismus – und damit indirekt auch zur Weimarer Republik – als Ausdruck eines dem politischen Umsturz nach dem Ersten Weltkrieg skeptisch gegenüberstehenden bürgerlichen Liberalismus begreifen müssen. Kritik an einem als ausschließlichen Diener von Sonderinteressen aufgefassten Parlamentarismus, Sympathien für die Vorstellung einer nationalen Volkseinheit, scharfe Frontstellung gegen den Sozialismus und Bolschewismus bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Erneuerung und Reform, Führer-Diskurs – Güterbock artikuliert hier Denkmuster ehemals demokratisch-liberalen, nun in die politische Sinnkrise geratenen Bürgertums. Dazu tritt die Verkennung des faschistischen Antisemitismus – wobei seine diesbezügliche Einschätzung des Nationalsozialismus offenbleiben muss.[67]

 

[1]    Die biographischen Angaben folgen: Beck, Marcel, Ferdinand Güterbock +, in: Neue Zürcher Zeitung, 29.04.1944, Bl. 2; Vasella, Oskar, Nekrolog Ferdinand Güterbock, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 38 (1944), S. 160; Holtzmann, Walther, Nekrolog Ferdinand Güterbock, in: Deutsches Archiv 8 (1951), S. 498; ders., Ferdinand Güterbock, in: Historische Zeitschrift 172 (1951), S. 433f. Vgl. auch: Kies, Dorothea, Die Juden und die MGH. Jüdische und jüdischstämmige Monumenta-Mitarbeiter im Spiegel ihrer Zeit, Magisterarbeit Tübingen ca. 2012 (PDF-Version: http://www.mgh-bibliothek.de/dokumente/b/b070295.pdf), S. 91-93.

[2]    Carl (auch: Karl) Eduard Güterbock (1830-1914), seit 1851 evangelisch getauft, erlangte 1865 eine ordentliche Professur in Königsberg. Zu seinen Spezialgebieten zählte die Geschichte des mittelalterlichen Strafrechts; vgl.: Claußen, Hans-Kurt, „Güterbock, Carl Eduard“, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 290.

[3]    Zu Bruno Güterbock (1858-1940) und Grethe Auer (1871-1940) vgl. die Autobiographie: Auer, Grethe, Wenn ich mein Leben betrachte… Wien – Bern – Marokko – Berlin. Erinnerungen. Im Auftrag von Hans Gustav Güterbock hg. von Herzeleide Henning, Berlin 1995. Zur Familie Güterbock siehe auch: Panwitz, Sebastian, Die Gesellschaft der Freunde 1792-1935. Berliner Juden zwischen Aufklärung und Hochfinanz (= Haskala. Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 34), Hildesheim u.a. 2007, S. 66 und 301. Bruno Güterbocks Name findet sich auch in den Akten der Monumenta Germaniae Historica: 1909 teilte der Vorsitzende der Zentraldirektion mit, dass durch Vermittlung Güterbocks die Bibliothek seines Freundes Ludwig Traube in das Eigentum des Reichs und in den Besitz der MGH übergegangen sei, Protokoll der 35. Plenarversammlung der Zentraldirektion, 15.04.1909, MGH-Archiv 338/47, Bl. 12. Bruno Güterbock konvertierte zum protestantischen Glauben; vgl. Renger, Johannes, Altorientalistik und jüdische Gelehrte in Deutschland – Deutsche und österreichische Altorientalisten im Exil, in: Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871-1933 (= Marbacher Wissenschaftsgeschichte 3), hg. von Wilfried Barner und Christoph König, Göttingen 2001, S. 247-262, hier S. 256.

[4]    Heer, Gall, Einführung, in: Güterbock, Ferdinand, Engelbergs Gründung und erste Blüte 1120-1223. Neue quellenkritische Forschungen von Ferdinand Güterbock. Aus seinem Nachlass herausgegeben von P. Gall Heer, Zürich 1948, S. VI-VII. Auch Bruno Güterbocks Familie hielt sich regelmäßig dort auf, siehe: Auer, Erinnerungen (wie Anm. 3), S. 259.

[5]    Güterbock, Ferdinand, Der Friede von Montebello und die Weiterentwicklung des Lombardenbundes. Von Ferdinand Güterbock. Mit Widmung des Verf. an Prof. Holder-Egger, Berlin 1895.

[6]    Güterbock, Ferdinand, Aus Scheffer-Boichorsts Leben, in: Gesammelte Schriften von Paul Scheffer-Boichorst. 1. Bd.: Kirchengeschichtliche Forschungen, Berlin 1903, S. 1-62.

[7]    Holtzmann, Nekrolog (wie Anm. 1), S. 498; Beck, Güterbock (wie Anm. 1), Bl. 2. Zu Güterbocks Werk siehe auch: Beck, Marcel, Bibliographie der historischen Arbeiten von Ferdinand Güterbock, in: Güterbock, Ferdinand, Engelbergs Gründung und erste Blüte 1120-1223. Neue quellenkritische Forschungen von Ferdinand Güterbock. Aus seinem Nachlass herausgegeben von P. Gall Heer, Zürich 1948, S. 144-147. Vgl. zu Güterbocks Forschungen zu Barbarossa: Berwinkel, Holger, Die Schlacht bei Legnano (1176), in: Kirche und Frömmigkeit – Italien und Rom. Colloquium zum 75. Geburtstag von Professor Dr. Jürgen Petersohn. Würzburg, 7. und 8. Mai 2010, hg. von Jörg Schwarz, Matthias Thumser und Franz Fuchs, Würzburg 2012, S. 70-80, hier S. 70f., S. 75f.

[8]    In den Jahresberichten der Monumenta Germaniae Historica nach dem Ersten Weltkrieg erscheint Güterbock unter dem Titel eines Professors, vgl. z.B.: Kehr, Paul, Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica 1920, in: Neues Archiv 44 (1922), S. 1-10, hier S. 4. So auch Vasella, Nekrolog (wie Anm. 1), S. 160.

[9]    Holtzmann, Nekrolog (wie Anm. 1), S. 498; Beck, Güterbock (wie Anm. 1), Bl. 2.

[10]  So Holtzmann, Nekrolog (wie Anm. 1), S. 498; Beck, Güterbock (wie Anm. 1), Bl. 2.

[11]  Beck, Güterbock (wie Anm. 1), Bl. 2.

[12]  Reichert, Folker, Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 79), Göttingen 2009, S. 249.

[13]  Eine Parallele stellt das Leben seines Verwandten Bruno Güterbock dar: Sein Amt als Schriftführer der Deutschen Orient-Gesellschaft, was u.a. die Herausgabe des Publikationsorgans wie auch der wissenschaftlichen Veröffentlichungen ihrer Mitarbeiter beinhaltete, übte er ohne Bezahlung aus. Güterbock erhielt später die Ehrenprofessorwürde; so Auer, Erinnerungen (wie Anm. 3), S. 271-273.

[14]  Vgl. seine Reaktion auf den Ausbruch des 1. Weltkriegs: Reichert, Hampe (wie Anm. 12), S. 203.

[15]  Dargelegt bei: Reichert, Hampe (wie Anm. 12), S. 166, S. 251f.

[16]  So Kies, Juden (wie Anm. 1), S. 92.

[17]  Heer, Einführung (wie Anm. 4), S. VIf.

[18]  Kies, Juden (wie Anm. 1), S. 92f.; Beck, Güterbock (wie Anm. 1), Bl. 2.

[19]  Güterbock, Ferdinand, Einige Beobachtungen zu den SS-Editionen, 25.10.1931, MGH-Archiv 338/52, Bl. 137f., hier Bl. 138.

[20]  Holder-Egger, Oswald, Bericht über die 31. Jahresversammlung der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica, in: Neues Archiv 30 (1905), S. 1-12, hier S. 5.

[21]  Güterbock hatte der Feststellung von Johannes Haller, das Privileg Friedrichs I. für Kloster Neuburg von 1174 stelle eine Fälschung dar, massiv und rhetorisch recht unverblümt widersprochen; vgl.: Güterbock, Ferdinand, Ein echtes und ein unechtes Privileg Friedrichs I. für Kloster Neuburg (im Elsass), in: Neues Archiv 38 (1913), S. 559-561. Eine Erwiderung Hallers erschien nicht, weil dieser sich weigerte, die aus Sicht der Redaktion zu ausfälligen Formulierungen seiner „Gegenerklärung“ zu modifizieren. Vgl. den Brief von Harry Bresslau an Karl Zeumer, 12.10.1913, MGH-Archiv 3338/66: Haller „unterstellt, daß er [d.i. Güterbock; Anm.d.V.] seinen Artikel nicht aus wissenschaftlich-sachlichen, sondern aus persönlichen Motiven, um Haller zu diskreditieren, geschrieben habe. Ein solcher Vorwurf, wenn er nicht bewiesen werden kann, erscheint mir unzuläßig.“ Siehe auch den Brief Karl Zeumers an Michael Tangl mit der Zustimmung zu Harry Bresslaus Gutachten, 14.10.1913 sowie den Briefwechsel zwischen Michael Tangl und Johannes Hallers Anwalt F. Sailer aus dem Mai 1914 mit dem Rückzug von Hallers Erwiderung; ebd. Zur Redaktion des „Neuen Archivs“ durch Karl Zeumer und Michael Tangl bzw. später Ernst Perels vgl.: Schaller, Annekatrin, Michael Tangl (1861-1921) und seine Schule. Forschung und Lehre in den Historischen Hilfswissenschaften (= Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 7), Stuttgart 2002, S. 250-252.

[22]  Kehr, Paul, Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica 1920, in: Neues Archiv 44 (1922), S. 1-10, hier S. 4; ders., Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica 1921, in: Neues Archiv 45 (1924), S. 1-13, hier S. 4. Im MGH-Archiv findet sich eine kurze Zusammenstellung der von Güterbock für die MGH geleisteten Arbeiten, darunter auch seine Aufsätze für das „Neue Archiv“, MGH-Archiv 338/52, Bl. 124.

[23]  Kehr, Paul, Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica 1925, in: Neues Archiv 46 (1926), S. *I-*VIII, hier S. *IV.

[24]  Güterbock, Ferdinand, Pro memoria von Editionen italienischer Schriftsteller der Stauferzeit, 01.4.1926, MGH-Archiv 338/41, Bl. 136-138.

[25]  Kehr, Paul, Bericht über die Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica 1926, in: Neues Archiv 47 (1928), S. I-VII, hier S. III. Belege für weitere Italienreisen im Dienst der Monumenta finden sich z.B. in der Jahresrechnung der Zentraldirektion für 1928 mit der Erstattung der Auslagen Güterbocks von 800 Mark, MGH-Archiv 338/191.

[26]  Güterbock, Ferdinand (Hg.), Das Geschichtswerk des Otto Morena und seiner Fortsetzer über die Taten Friedrichs I. in der Lombardei (= MGH SS rer. Germ. n.s. 7), Berlin 1930.

[27]  Nach Holtzmann, Nekrolog (wie Anm. 1), S. 498, hinderte die Vertreibung durch die Nationalsozialisten sowie der Kriegsausbruch Güterbock an der Inangriffnahme der Edition.

[28]  Güterbock, SS-Editionen (wie Anm. 19), Bl. 137f. Konkret mahnte Güterbock dabei an, auf genauere Feststellung der Entstehungsdaten von Textteilen zu achten, bei der Eruierung der Quellen noch weiterzugehen, im Fall zweifelhaften Wortlauts bei mangelhafter Überlieferung in der Edition Elemente zur Nachprüfung anzugeben sowie klassische und Vulgata-Zitate nicht wörtlich wiederzugeben. Für die Indizes schlug er möglichst vollständige Namen- und beschränkte Sachregister vor; geographische Ortsbestimmungen sollten allgemein verständlich nach nahe gelegenen größeren Städten oder Ortschaften nach dem Vorbild von Georg Heinrich Pertz vorgenommen werden. Die Namensformen von Orten und Personen seien nach Urkundenbüchern anzusetzen. Das Druckbild wünschte Güterbock sich möglichst klar und übersichtlich, außerdem eine weitergehende Vereinheitlichung aller Bände.

[29]  Protokoll der Sitzung der Zentraldirektion, 24.04.1931, MGH-Archiv 338/51, Bl. 116-118.

[30]  Protokoll der Ausschusssitzung der Zentraldirektion, 29.04.1933, MGH-Archiv 338/52, Bl. 55.

[31]  Vgl. dazu die Bemerkungen im Nachruf des Perels-Schülers Oskar Vasella, demzufolge „die Beziehungen mit dem einstigen Wirkungskreis auch nie ganz ab[rissen]“, ders., Nekrolog (wie Anm. 1), S. 160.

[32]  Wilhelm Engel an Jacques Dropet, 19.07.1937, MGH-Archiv B 539, Bl. 109. Es handelt sich um den Aufsatz: Güterbock, Ferdinand, Zur Geschichte Burgunds im Zeitalter Barbarossas, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 17,2 (1937), S. 145-229. Siehe auch die Rezension im Deutschen Archiv 2 (1938), S. 289f.

[33]  Landesbibliothek Hannover an das Reichsinstitut, 12.03.1938, MGH-Archiv B 540/41, Bl. 90f. (Brief Güterbocks beigefügt).

[34]  Ohnsorge, Werner, Die Byzanzpolitik Friedrich Barbarossas und der “Landesverrat” Heinrichs des Löwen, in: Deutsches Archiv 6 (1943), S. 118-149.

[35]  Edmund Ernst Stengel an Werner Ohnsorge, 06.01.1942, MGH-Archiv B 569, Bl. 415.

[36]  Werner Ohnsorge an Edmund Ernst Stengel, 09.01.1942, MGH-Archiv B 569, Bl. 413.

[37]  So Martin Lintzel an Theodor Mayer, 26.12.1942, MGH-Archiv B 569, Bl. 86.

[38]  Schieder, Wolfgang, Mythos Mussolini, München 2013, S. 106f.

[39]  Güterbock, Ferdinand, Mussolini und der Fascismus, München 1923, S. 5. Eine erweiterte, ins Spanische übersetzte Ausgabe erschien ein Jahr später; vgl. ders., Mussolini y el fascismo, Berlin 1924. Im Wintersemester 1924/25 nahm Güterbock an einer Vortragsreihe der Universität Königsberg zum Thema „Romanische Völker“ teil und fasste seine Beobachtungen zu Mussolini und zum Faschismus dort noch einmal bündig zusammen; ders., Mussolini und der Fascismus, in: Die romanischen Völker (= Auslandsstudien 1), Königsberg 1925, S. 89-110. Vgl. zu Güterbocks Buch auch: Damm, Matthias, Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik (= Extremismus und Demokratie, Bd. 27), Baden-Baden 2013, S. 181f. Rezensiert wurde Güterbocks Studie im Berliner Tageblatt von dem Kulturhistoriker und Schriftsteller Mario Krammer, der ebenfalls Mitarbeiter der Monumenta war, ebd.

[40]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 9. Vgl. ebd.: „Feuergeist, der mit zündenden Worten sein Land in den Weltkrieg trieb und der als ein geborener Beherrscher der Menge erscheint, [..] ein die Majorität verachtender Individualist, der ‘die Aristokratie der Intelligenz und Kraft’ verherrlicht; ein warmherzig für die Freunde empfindender Mensch und andererseits eine auf die Gegner rücksichtslos einstürmende, roh gewaltsame Kampfnatur […]; ein heißblütiger, begeisterungsfähiger Idealist und zugleich ein dogmenfeindlicher, klar und konsequent denkender Realpolitiker […]; bei alledem ein aufrechter Charakter, der ohne ein Prinzipienreiter zu sein, doch mannhaft für seine Überzeugung eintritt […].“

[41]  Eine Auswahl bei Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 126: „ein ganzer Mann; seinem Wesen haftet nichts Schwächliches oder Weichliches, nichts Dekadentes an.“; ebd.: „unersättlicher Tätigkeitsdrang“; S. 127: „aristokratische Machttheorien und Gewaltmethoden, mit denen er auch über Leichen geht und gleicherweise Gegner und Anhänger niederhält. Ja, er übertrumpft als Herrennatur sogar den eisernen Kanzler und wandelt als nietzschescher Übermensch auf den schwindelnden Pfaden eines Napoleon, indem er gelegentlich die drohende Geste des Diktators fast zynisch herausfordernd hervorkehrt“.

[42]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 23.

[43]  Güterbocks Bemühungen um eine Objektivierung zeigen sich besonders in seinen Ausführungen zum Ersten Weltkrieg, die der in anderen zeitgenössischen deutschen Schriften zum Thema so hervorstechenden nationalen bis nationalistischen Empörung vollständig entbehren. So beurteilt Güterbock die italienische Position äußerst verständnisvoll und begründet den Kriegseintritt aufseiten der Entente mit Fehlern Österreich-Ungarns auf dem Balkan; Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 25-39. Obwohl er die ‘Gräuelpropaganda’ der Entente gegenüber Deutschland kritisiert, versucht er ihren medialen Erfolg in Italien teilweise wiederum zu erklären. In Bezug auf die Deutschfeindlichkeit Mussolinis lässt sich nur eine indirekte Stellungnahme durch die Bezeichnung des „italienischen Clemenceau“ (S. 45) erkennen und er zieht aus ihr sogar den Schluss – auch wenn ‘uns’ diese Einstellung Mussolinis unsympathisch erscheine – dass der ‘Duce’ sich dadurch nationale Verdienste errang, weil er den italienischen Kriegswillen aufrecht erhielt, S. 46.

[44]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 76. Vgl. auch die Bemerkung Güterbocks im Kontext von Mussolinis Deutschlandreise: Das Reich habe „in schwierigster Lage sich von dem Bolschewismus nicht infizieren“ lassen „und der roten Sturmwelle einen unerschütterlichen Damm entgegen[...][gesetzt]“; ebd., S. 95.

[45]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 23.

[46]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 101. Der Faschismus stelle im Gegensatz zum Bolschewismus ein realpolitisches Reformieren statt des ‘Beseitigens’ in den Mittelpunkt, ebd., S. 129.

[47]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 100.

[48]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 62.

[49]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 105.

[50]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 106.

[51]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 75. Vgl. noch pointierter S. 131: „[...] die Einigung der verschiedensten Volksklassen auf ein gemeinsames Programm, der Zusammenschluß von Stadt und Land, von Intelligenz und Proletariat, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, von konservativen Monarchisten und radikalen Republikanern zu einer einheitlichen Partei.“

[52]  Vgl. dazu: Bruendel, Steffen, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin  2003, bes. S. 275ff.

[53]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 63f.

[54]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 75.

[55]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 83 bzw. S. 87.

[56]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 128. Kurz darauf konstatiert Güterbock aber auch, der Faschismus habe den revolutionären Überschwang seiner Anfänge bereits überwunden, S. 129

[57]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 124.

[58]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 125.

[59]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 125.

[60]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 130. Vgl. ebd.: „Immerhin werden wir aus der Geschichte des italienischen Faschismus auch manches für die Behandlung unseres erkrankten Volks- und Staatskörpers – man denke nur an die bürokratischen Auswüchse unserer Wohnungsämter – lernen können.“

[61]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 130.

[62]  Güterbock, Mussolini (wie Anm. 39), S. 130.

[63]  Güterbock, Ferdinand, Roma Aeterna und der moderne Fascismus, in: Festschrift zum 70. Geburtstage von Moritz Schaefer, Berlin 1927, S. 79-84.

[64]  Güterbock, Roma Aeterna (wie Anm. 63), S. 80.

[65]  Güterbock, Roma Aeterna (wie Anm. 63), S. 82.

[66]  Güterbock, Roma Aeterna (wie Anm. 63), S. 83f.

[67]  Vgl. hier wiederum die Haltung seines Verwandten Bruno Güterbock: Nach Grethe Auer waren sie und ihr Ehemann Anhänger der rechtsliberalen DVP, weil die eigentlich bevorzugte DNVP wegen ihres Antisemitismus nicht wählbar erschien, Auer, Erinnerungen (wie Anm. 3), S. 377.  Das Ehepaar begrüßte sogar die ‘Machtergreifung’ von 1933, da es sie aus starker Sympathie mit der Arbeiterschaft als Revolution von rechts und verhinderten Klassenkampf begriff, ebd. S. 391. Die 1940 verstorbene Auer verharmlost in ihren Erinnerungen die antisemitischen Maßnahmen des NS-Regimes, von denen das Ehepaar und ihre zwei Söhne selbst betroffen waren.

 

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Empfohlene Zitierweise:
Nikola Becker: Ferdinand Güterbock – Mediävist und Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica, 18. September 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4304 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4304

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Mediävistik auf dem Ameisenpfad oder: Mit der ANT das Königreich der Himmel stürzen

 

Ameisen1Ameisen ‘ernten’ Weizen. Aus dem Bestiarium des Philippe de Thaon (um 1121). Quelle: Wikimedia Commons

„Ich muss Sie leider warnen: Ich bin nur ein einfacher Doktorand“ – „die anderen Studenten haben mich gewarnt, ich solle das ANT-Zeug nur mit der Pinzette anfangen“.[1] So lauten zwei Fragmente eines fiktiven Dialogs, der ins Büro eines renommierten Gastprofessors an der London School of Economics führt. Der Autor des Textes, der französische Soziologe Bruno Latour, gefällt sich darin in der Rolle des unbequemen Dozenten, der das Welt- und Wissenschaftsverständnis seines Besuchers gründlich durcheinanderwirbelt. Ob der enigmatischen Einlassung seines Gesprächspartners, der das Theoriegerüst der Dissertation genüsslich zerpflückt und doch kein gleichwertiges Gegenmodell zu präsentieren vermag, wendet sich der Nachwuchswissenschaftler schließlich ernüchtert ab: Er werde es lieber mit Niklas Luhmann versuchen und künftig die Finger von der Akteur-Netz­werk-Theorie (ANT) lassen.

Forscherinnen und Forschern der mediävistischen Fachdisziplinen ein derartiges Frustrationserlebnis zu ersparen, ist das erklärte Ziel dieses Beitrages. Er bezweckt in dieser Hinsicht dreierlei: Zunächst soll er eine knappe Einführung in das Theoriedesign der ANT bieten.[2] Auf der Sachebene zeichnet er sodann ein konkretes Netzwerk nach. Exemplarisch soll auf diesem Weg schließlich die Frage beantwortet werden, inwieweit die Quellendichte des Mittelalters es überhaupt gestattet, sich des methodischen Instrumentariums moderner Sozialwissenschaften zu bedienen. Ist die ANT dazu geschaffen, „Luxusprobleme“[3] zu bearbeiten, die im Überlieferungshorizont der Epoche keine geeignete Materialgrundlage finden? Oder gestattet sie es im Gegenteil, über bislang wenig beachtete Zeugnisse einen neuen Zugang zur Geschichte des Mittelalters zu gewinnen?

Die Akteur-Netzwerk-Theorie im Aufriss

Enttäuschung mag sich vornehmlich dann einstellen, wenn man von der ANT einen elaborierten Erklärungsansatz, einen festen Theorierahmen oder gar ein Makromodell sozialer Strukturzusammenhänge erwartet. Sie selbst versteht sich in erster Linie als ein heuristischer Erfassungs- und Beschreibungsmodus des empirisch Gege­benen. Als solcher lenkt sie den Blick auf ein hybrides Gefüge aus menschlichen und materiellen Entitäten, geschaffen und zusammengehalten durch reziproke und multilaterale Assoziationen. Metaphorisch ließe sich dieses Gebilde mit einem Fischernetz vergleichen, dessen Knoten die jeweiligen Akteure repräsentieren.[4] Jeder von ihnen wird nur durch die Verknüpfung mit anderen Knotenpunkten in seiner Position gehalten, ausgerichtet und ggf. verschoben. Als flexible Verbindungsstränge dienen Performanzen, das Netzwerk wird prozesshaft auf der Handlungsebene konstituiert. Als Knoten bzw. Akteure zu verstehen sind folglich allein jene „Entitäten, die Dinge tun“[5] und zugleich „von vielen anderen zum Handeln gebracht“[6] werden. Dies schließt explizit nicht-humane Elemente mit ein, sofern sie von anderen Mitwirkenden mit Handlungspotential versehen werden. Die Dinge geraten dadurch, erlöst aus ihrem Schlummer als museale Schaustücke und befreit von den Banden unverrückbar ‚objektiver’ Existenz, ins Zentrum wissenschaftlicher Vergangenheitsrekonstruktion.

Der veränderte Blickwinkel erweist sich indes als voraussetzungsvoll. Bruno Latour bezeichnet die ANT zu Recht als „negatives Argument“: Sie hegt eine grundlegende Aversion gegen konstruktivistische Zugriffsweisen, die auf das Apriori abstrakter Modellbildung, den alles durchdringenden „Äther des Sozialen“, angewiesen sind.[7] Daher meidet sie Begriffe wie ‚Gesellschaft’, ‚Struktur’ oder ‚System’ und verweigert sich den Dichotomien von Mikro und Makro, Kultur und Natur. Der virulenten ‚Metasprache der Soziologie’ sucht sie durch eine ‚Infrasprache’ beizukommen, deren Begriffsinstrumentarium einen vorurteilslosen Zugang zu allen Akteuren gestattet. Zur ANT-Terminologie – deren „lächerliche Armut“ wohl allein ihr Schöpfer selbst zu preisen vermag[8] – zählen Assoziationen, Allianzen und Aktanten (performativ mit Handlungsmacht ausgestattete Entitäten), Blackboxes, Symmetrien (gleichwertige Einbeziehung von Menschen und Dingen) und Übersetzungen (das Aufbauen und Aushandeln von Assoziationen, verbunden mit einer Modifikation von Interessen und Identitäten). Es ist der forcierte Gestus des Gegenaufklärers, sein sperrig-kapriziöser Schreib­stil, mit dem Bruno Latour mehr als seine ANT-Mitstreiter akademische Abwehrreflexe ausgelöst hat. Es waren und sind seine ‚kleinen’ Essays und konkreten Fallstudien, durch die er den nicht-initiierten Leser zu gewinnen vermag. Insofern möchte ich mich im Folgenden mit der Sprache und Sichtweise der ANT einem einzelnen ausgewählten ‚Gegenstand’ der mittelalterlichen Geschichte zuwenden: Der Lichterscheinung in der Grabeskirche zu Jerusalem am 21. April 1101.[9]

Ameisen2Auf dem Ameisenpfad. Foto: „Worker ant carrying leaf“ von Scott Bauer, U.S. Department of Agriculture via Wikimedia Commons

Alte Allianzen und neue Konstellationen

Mit den Augen der ANT betrachtet blickt man auf eine Allianz, deren Geschichte sich seit dem 9. Jahrhundert gut nachzeichnen lässt: Sie verbindet Gott und die christlichen Kirchen, lässt sich in einem konkreten Kirchbau lokalisieren und assoziiert Akteure unterschiedlicher Art. Bereits der knappe Report des fränkischen Mönches Bernard enthüllt um 870 eine Bündniskonstellation, die ohne materielle Mittler in Form von Klängen, Lampen und transzendenten Effekten historisch niemals wirksam geworden wäre: „Nach Ab­schluss der Messe wird das Kyrie eleison angestimmt, bis durch das Eintreffen eines Engels das Licht in den Lampen aufleuchtet, die über dem genannten Grab hängen. Von diesem spendet der Patriarch den Bischöfen und dem übrigen Volk, damit jeder von ihnen das eigene Heim beleuchte.“[10] In diesem Miteinander von Menschen und Dingen ‚übersetzten’ sich die beteiligten Entitäten wechselseitig: Mit der Aura des Heiligen versehen, verwandeln die Gebete und brennenden Lampen die versammelte Menge in wahre Gläubige, welche die Evidenz des Wunders wiede­rum effektiv bezeugen. Der Pakt beruhte demnach auf einem erfolgreichen ‚Enrolement’, das die Vertragspartner durch attraktive Identitätsangebote zu gewinnen verstanden. Innerhalb dieser ‚Heiligen Allianz’ agiert der Klerus mit dem Patriarchen an der Spitze als anerkannter Regisseur: Er orchestriert die Rollenzuweisung und definiert den ‚obligatorischen Passage­punkt’, den alle Mitwirkenden zur Erfüllung ihrer Ziele durchschreiten müssen.[11] Die liturgischen Handlungen markieren zugleich die Distanz zum Kollektiv der ‚Ungläubigen’, die sich der Assoziation von Wunder­zeichen und Heilsgewissheit ostentativ verweigern. Lateinische, griechische und selbst ara­bische Textzeugnisse weisen muslimischen Protagonisten einhellig die Rolle von Störern zu.[12] All ihr Be­mühen, das Bündnis durch alternative Deutungsangebote zu sprengen, ist freilich zum Scheitern ver­ur­teilt: Die Manipulation des Materiellen – durch kupferne Dochte etwa oder Diebstahl der Kerzen – und eine waffenstarrende Drohkulisse entfalten letztlich nur affirmative Wirkung.[13] Gleichwohl waren die Mus­lime keineswegs vom Mirakelereignis ausgeschlossen: Vor der Eroberung Jerusalems 1099 und erneut nach dem Ende der Kreuzfahrer­herrschaft fungierten sie als scheinbar interessenlose Garanten für die Authentizität des Wundergeschehens. Für diese Rolle ließen sie sich nicht zuletzt deshalb rekrutieren, weil das Heilige Feuer einen weiteren materiellen Akteur zu mobilisieren vermochte: „Entweder ist dem Fürsten der Geldbetrag lieber, der dir aus dieser Quelle zufließt, oder die Aufklärung darüber“, so fasst der arabische Gelehrte al-Dschaubari im 13. Jahrhundert diese wirkmächtige Verbindung prägnant zusammen.[14]

Die Wende zum 12. Jahrhundert bezeichnet in mehrfacher Hinsicht den Bruch etablierter Bünd­­nisstrukturen. Kurz nach der Ankunft der Kreuzfahrer zeigten sich erste Friktionen im Kollektiv der christlichen Glaubens­brüder, das sich alljährlich am Grab des Herrn versammelt hatte. Der amtieren­de Patriarch von Jerusalem, Daimbert von Pisa, war durch die abend­ländische Eroberung an die Spitze der lokalen Hierarchie getragen worden. Als Reprä­sentant der römischen Kirchen­reform suchte er den lateinischen Ritus in der Heiligen Stadt rigoros durchzusetzen.[15] Die ecclesia orientalis, zu deren Befreiung die Kreuzfahrer einst ausgezogen waren, war im Verlauf des Unternehmens sukzessive unter Häresieverdacht geraten und hatte in der Grün­dungs­phase des Königreichs Jerusalem allenthalben an Boden verloren. Während die syrisch-ortho­­doxe Geistlichkeit die Stadt bereits vor ihrer Einnahme zeitweilig geräumt hatte[16], büßte der griechische Klerus unter Federführung Daimberts u.a. seine Pfründen an der Grabes­kirche ein: „Die Franken gingen so weit, alle Armenier, Griechen, Syrer und Georgier aus ihren Klöstern zu vertreiben“, so resümiert der armenische Chronist Matthäus von Edessa.[17] Gleichwohl war auch die Stellung des lateinischen Patriarchen keineswegs gefestigt: Nur fünf Tage vor dem Osterfest des Jahres 1101 war sein Zerwürfnis mit Bal­duin I. offen zu Tage getreten, als der König Daimbert formell der Veruntreuung und des Verrats bezichtigte. Balduin selbst rang im ersten Jahr seiner Regierung um die politische und militärische Kontrolle seines von zahlreichen Seiten bedrohten Königreiches. Das bevorstehende Hochfest eröffnete ihm die Gelegenheit, die Befehls­haber eines genu­esischen Flottenverbandes für seine Ziele zu gewinnen. Unter diesen Vorzeichen avancierte das Heilige Feuer zum allseits begehrten Bündnispartner. Den Akteuren in und um die Grabeskirche bot es die Möglichkeit, sich in der Allianz zwischen Gott und den Menschen selbst als Mittler zu verankern und die eigene prekäre Position durch den erneuerten Pakt mit den himmlischen Mächten sichtbar und dauerhaft zu stabilisieren.

Doppelte Übersetzungen

Noch zu Ostern 1100, dem ersten Jahr nach der Eroberung, schien die Situation hinreichend kontingent, um die alten Allianzen abermals zu reaktivieren: In der Nacht zum 1. April jedenfalls ging die Feier der gaudia Paschalia in der Grabeskirche solemnis – also wohl störungsfrei – vonstatten.[18] Für das Folgejahr jedoch weiß die Chronik Fulchers von Chartres konsterniert zu berichten: „Alle wurden in Verwirrung gestürzt wegen des Feuers, das wir am Samstag im Grab des Herrn nicht empfingen“.[19] Das Ausbleiben des Licht­wunders stieß bei den zeitgenössischen Berichterstattern auf breite Resonanz, der Ablauf der Ereignisse lässt sich dadurch erstaunlich präzise rekonstruieren:[20] Unter der Leitung Daimberts begann man um die dritte Stunde mit der Messfeier. Die Perikopen wurden dabei abwechselnd in lateinischer und in griechischer Sprache gelesen. Zumal die wundersame Entzündung des Feuers traditionell in den frühen Nachmittagsstunden erfolgte, dauerte das Hochamt annähernd bis zur Non an und wurde abrupt unterbrochen, als griechische Geistliche erstmals das Kyrie eleison anstimmten: „Ich Fulcher aber, der solche Klänge niemals vernommen hatte, und viele andere (…) sprangen mit zerknirschten Herzen, die Augen zum Himmel gewandt vom Boden auf und erwarteten bereits das Erscheinen des gnadenbringenden Lichts irgendwo in der Kirche“.[21]

Diese Hoffnung wurde enttäuscht, die Lesungen wiederaufgenommen und schließlich wieder und wieder flehentlich das Erbarmen des Herrn herbeigerufen. Irritiert öffnete der Patriarch die Pforten der Grabeskapelle um dort persönlich nach dem Heiligen Feuer zu suchen. Vergebens, die alten Allianzen verweigerten sich der neuen Kräftekonstellation. Die Kreuzfahrer hatten das etablierte Netzwerk zerrissen, erwiesen sich selbst gegenüber Gott und seinen Geschenken aber als nicht koalitionsfähig. Von einem Augenblick zum anderen schienen sie von Befreiern in Zerstörer des Heiligen Grabes ‚übersetzt’.

In der Forschungslogik Bruno Latours bildet „jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es Unterschiede macht“, einen Akteur.[22] Diese Definition schließt das Heilige Feuer zweifellos mit ein: Es war kein bloßer Gegenstand der Geschichte, kein passives Objekt diskursiver Sinnzuschreibung, sondern besitzt unübersehbar „phänomenologische Gewalt“[23] über andere Akteure. Seine schiere physische Präsenz – oder eben Absenz – schuf Verbindungen und Verbindlichkeiten, stiftete eine relationale Ordnung zwischen den Anwesenden und verlieh damit dem Osterfest seine spezifische Dramaturgie. Die Protagonisten des Jahres 1101 adaptierten das veränderte Drehbuch und akzeptierten scheinbar demütig ihre ‚Übersetzung’ in reuige Büßer. Der Patriarch zog gleichwohl alle Register, um aus seiner gewandelten Rolle heraus neuerlich Bündnisverhandlungen mit dem Spender des Heiligen Feuers anzuknüpfen. Er legte ein ausführliches Sündenbekenntnis ab, gab den Bischofsstab zugleich mit dem geistlichen Hirtenamt aus der Hand, warf sich unter Tränen flehentlich zu Boden und forderte die Anwesenden auf, es ihm gleich zu tun.[24] Doch alle Demutsgesten genügten nicht, um Gehör bei Gott zu erlangen. Daimbert sah sich daher genötigt, dem zunehmend riskanten Aushandlungsprozess ein abruptes Ende zu setzen. Der versammelten Menge stellte er in öffentlicher Predigt vor Augen, dass gerade mit der Gewinnung Jerusalems für die Christenheit jeglicher Anlass für göttliche Gnadenzeichen entfallen sei: „Solange sich diese heilige Stadt in der Gewalt der Heiden befand, war es gut und gerecht, dass Gott durch seine Wunderwerke die Ungläubigen zum Glauben führte“.[25] Diese gedankliche Kapriole eröffnete die Aussicht, den lateinischen Eroberern ihre Identität als Befreier des Heiligen Grabes zurückzugeben. Allein, nur die sapientiores unter den Zuhörern zeigten sich geneigt, das veränderte Deutungsangebot anzunehmen.[26] Daimbert entschloss sich daher, den Schauplatz zu wechseln und auf diese Weise einen neuen materiellen Akteur zu rekrutieren. Barfüßig führte er eine Bittprozession zum Tempel Salomons, der aus biblischer Tradition heraus als geeigneter Ort erschien, in Zwiesprache mit dem Allerhöchsten zu treten. Griechen und Syrer hingegen blieben in der hereinbrechenden Dämmerung betend und klagend vor den verschlossenen Pforten der Grabeskirche zurück.[27] Dieses Neu­­arrangement führte endlich zum Erfolg: In den ersten Morgenstunden des Ostertages wurde vermeldet, dass zwei Leuchter im Kircheninneren durch göttliche Einwirkung entflammt seien. Der Patriarch eilte mit den Schlüsseln schleunigst zum Heiligen Grab zurück und zündete dort die erste Wachskerze an. Jubel erhob sich, Glöckchen wurden in der ganzen Stadt geläutet und der Chronist Fulcher ließ gemeinsam mit anderen das Kyrie eleison erschallen. Die Klänge der griechischsprachigen Liturgie etablierten sich damit erneut als Mittler, der die einheimischen Christen als Rechtgläubige rehabilitierte.[29] Kaum hatten die Lateiner die Kirche verlassen, wiederholte sich das Lichtwunder während der Messe der Syrer und bis zur Vesper hatten sich 16 Lampen scheinbar ohne menschliches Zutun entzündet.[28] „Wie sehr wir auch zuvor gelitten hatten, so sehr frohlockten wir nunmehr angesichts des Wunders“, so resümiert Fulcher von Chartres den Ausgang des Geschehens.[30] Durch die Reintegration des materiellen Akteurs wurden die menschlichen Mitwirkenden erneut ‚übersetzt’.

Tatsächlich wandelte sich mit der Wiederkehr des Wunders die Kräftekonstellation des Kreuz­­fahrerkönigreiches grundlegend. Daimbert von Pisa wurde „von allen nach übereinstimmendem Willen und Zuspruch wiedergewählt“[31] – konnte seine Position also vorübergehend stabilisieren. Sein Nachfolger Ebremar beeilte sich am Jahreswechsel 1102/3, den ritus anteriorum in der Grabeskirche wieder einzuführen, verbunden vermutlich mit einer Pfründen­restitution zugunsten des einheimischen Klerus.[32] Der Kirchenbau avancierte in der Folge zum multirituellen Ort, der von Lateinern, Griechen, Syrern, Armeniern und Kopten simultan genutzt wurde.[33] Zumindest in den Augen des Armeniers Matthias von Edessa markierte das Ausbleiben des Lichtwunders den historischen Wendepunkt: „Als also die Franken dieses furchterregenden Fingerzeigs gewahr wurden, der eine göttliche Ermahnung darstellte, da (…) stellten sie jede Gemeinschaft wieder an ihren angestammten Platz.“[34] König Balduin I. schließlich gelangte zu einem günstigen Vertragsabschluss mit den Genuesen, deren Flotte ihm wenige Wochen später die Einnahme der Küstenstadt Arsuf ermöglichte. Er trat als Garant religiöser Pluralität in die Fußstapfen der muslimischen Emire und etablierte sich als Zentralfigur des Zeremonialgeschehens, der unter anderem die erste am Heiligen Feuer entzündete Kerze zustand.[35] Die neue Allianz präsentierte sich damit als Aktualisierung altbewährter Assoziationen.

Menschen und Dinge zusammendenken

Das Heilige Feuer des Jahres 1101 scheint mit jenem Tageslichtprojektor vergleichbar, dessen Ausfall Bruno Latour exemplarisch schildert: Erst das Eintreten der Funktionsstörung macht die Existenz des Gerätes vollends bewusst und enthüllt das Netzwerk aus Ersatzteilen, Lieferanten und Monteuren, die mit ihm verbunden sind: „Wir konzentrieren uns nicht länger auf das Objekt, sondern sehen eine Gruppe von Menschen um dieses Objekt“. Der Moment der Krise vermag die Vielfalt der Verbindungen in einer ‚Blackbox’ sichtbar zu machen, die sonst „vollkommen unsichtbar im Hauptprogramm unseres Handelns“, dem großen Gang der Geschichte, verschwindet.[36] Das Ausbleiben des Lichtwunders leistet Ähnliches: Es lenkt den Blick auf Assoziationen, die gewöhnlich unter dem Berichthorizont unserer Quellen bleiben. Es offenbart, wie sich der Lauf der Geschichte durch das Dazwischentreten materieller Handlungsträger, eines widerständigen Netzwerkknotens, performativ veränderte.

Vollständig aufschlüsseln lässt sich der Inhalt der ‚Blackbox’ indes nicht mehr, das Mirakelereignis entfaltet seine Mobilisierungseffekte nur als inenarrabile mysterium.[37] Allein einige arabische Autoren suchen mit Hilfe vermeintlich „rational technische[r] Erklärungen“ und in unverkennbar polemischer Absicht zum Kern des Geschehens vorzudringen.[38] Die Lampen würden vermittels eines Auslösemechanismus über ein balsamgetränktes Seil artifiziell ‚ferngezündet’.[39] Als Drahtzieher glaubt die moderne Forschung überwiegend die griechisch-ortho­doxe Geistlichkeit aus­ge­macht zu haben, deren „fromm gemeinte[n] Feuerwerkszauber (…) um 1100 von den Kreuzfahrern noch nicht durchschaut wurde“.[40] Sie hätte ihren Wissensvorsprung in manipulativer Weise zur Diskreditierung des lateinischen Patriarchen ausgespielt.

Kon­stru­iert wird unter der Prämisse naturwissenschaftlicher Faktizität mithin eine einfache Kausalkette, die dem komplexen Geflecht von Interessen und Identitäten kaum gerecht werden kann. Die ANT schließt hingegen mit dem Prinzip eines ‚allgemeinen Agnostizismus’[41] die Privilegierung scheinbar objektiv-technischer Lesarten aus. Ihr Credo, einfach ‚den Akteuren zu folgen’, führt hinter die Kulissen monokausaler Konspirationshypothesen und holt sämtliche Handlungsträger auf die Bühne historischer Interpretation. Dort treten sie nicht als autonom agierende Virtuosen, sondern als Gesamtensemble in Erscheinung. Sie autorisieren und befähigen sich wechselseitig dazu, Handlungsmacht über andere auszuüben: Nicht ‚die Orthodoxen’ oder ‚der Zündmechanismus’ machten am 2. April 1101 Geschichte. Erst das Zusammenspiel aller Kräfte gestaltete das Drama jenes denkwürdigen Osterfestes.

In Szene gesetzt wurde das Stück demnach weder durch einen individuellen Akteur noch durch eine überwölbende Idee. Sein Skript lässt sich schwerlich aus dem Ideal christlicher caritas oder gar einem kategorischen Imperativ ableiten. Die ANT hilft dabei, das ‚Königreich der Himmel’ zu stürzen: Die Notwenigkeit zur friedlichen Koexistenz, die „Kreuzfahrerstaaten als multikulturelle Gesellschaft“[42], bildet nicht das moralische Apriori der Ereigniskette. Sie beschreibt allenfalls das zeitweilig stabile Ergebnis erfolgreicher Netzwerkbildung. Der Geist weht, anders als im Herrenwort, in der Geschichte eben nicht, wo er will:[43] Er ist gebunden an menschliche und materielle Mittler, an konkrete Handlungen und ihre Settings. Mit ihrem Slogan „schaut nach unten“ ermahnt die ANT dazu, fleißig den unmittelbar fassbaren Spuren und Details zu folgen statt als Erklärungsrahmen jenes abstrakte „Gesamtbild“ zu bemühen, „das die Soziologen gern mit einer typischen Geste begleiten, indem sie mit den Händen einen Umriß in der Größe eines Kürbis in die Luft zeichnen.“[44] Eine solche Sichtweise korrespondiert erstaunlich eng mit dem sorgsam gehegten Selbstbild einer empirieorientierten Mittelalterforschung.

Sollte sich die Mediävistik demnach auf den Ameisenpfad begeben? Untersuchungsobjekte jedenfalls gäbe es genug. Bedenkt man, dass Bruno Latour bislang scheinbar banale Alltagsdinge wie Hotelschlüssel, Türschließer oder Sicherheitsgurte zum Ausgangspunkt seiner Analyse gemacht und sogar Comicstrips als Quellenbasis verwendet hat, besteht hinsichtlich der Materialgrundlage kaum ein Mangel. Im Gegenteil: Indem die ANT materielle Artefakte als Mitwirkende begreift, erweitert sie den Quellenfundus historischen Arbeitens beträchtlich. Bleibt der bisweilen schwer erträgliche theoretische und terminologische Ballast, der die Bündnisangebote Latours begleitet. Die Frage der Anschlussfähigkeit entscheidet sich letztlich innerhalb des wissenschaftlichen Netzwerkes, das ohne materielle Mittler in Form von Büchern und Blogbeiträgen mithin kaum funktionsfähig sein dürfte.

Bemerkung zur Zitation: Die Publikationsform als Blogbeitrag ermöglicht es, durch Hyperlinks direkt auf Online-Ressourcen zu verweisen. Dies ist hier überall dort geschehen, wo weniger prominente Ausgaben und Aufsätze referenziert wurden, während die Benutzung von google-books, dmgh etc. ins Belieben des Lesers gestellt wird. Alle Links wurden am 26.08.2014 letztmals abgerufen.

[1] Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Frankfurt a. M. 2007, S. 244, 254.

[2] Unter den zahlreichen verfügbaren Einführungen empfehle ich Ingo Schulz-Schaeffer, Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik, in: Johannes Weyer (Hrsg.), Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung. München 2000, S. 187–210 (https://www.uni-due.de/imperia/md/content/soziologie/akteurnetzwerktheorie.pdf) und Andréa Belliger/David J. Krieger, Netzwerke von Dingen, in: Stefanie Samida/Manfred K.H. Eggert/Hans Peter Hahn (Hrsg.), Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart 2014, S. 89–96. Einen instruktiven Lektüreblog, der als erklärender Kommentar fungieren kann, bietet http://peter.baumgartner.name/2009/10/18/gemeinsam-latour-lesen-gll/

[3] Christian Schwaderer, Mauern, Maschinen und Menschen. Das Bewusstsein von Technik, materieller Veränderung und Innovation zwischen 500 und 1200. Tübingen 2013, S. 39 (http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2013/7014/). Der vorliegende Text ist teils als Reaktion auf die Forendiskussionen auf http://mittelalter.hypotheses.org/, teils auf Diskussionsbeiträge der Tagung „Reassembling the Past?! Akteur-Netzwerk-Theorie und Geschichtswissenschaft“, Göttingen 3.–5. Juli 2014 entstanden. Die Frage, ob Mediävisten ANT-fähig sind, wird sich letztlich in der Forschungspraxis erweisen müssen.

[4] Vgl. Latour, Eine neue Soziologie (wie Anm. 1), S. 229.

[5] Jim Johnson (alias Bruno Latour), Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen: Die Soziologie eines Türschließers, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 237–258, S. 247.

[6] Latour, Eine neue Soziologie (wie Anm. 1), S. 81.

[7] Latour, Eine neue Soziologie (wie Anm. 1), S. 245, 82.

[8] Bruno Latour, Über den Rückruf der ANT, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 561–572, S. 566. Diesen „Rückruf“ revidiert Latour, Eine neue Soziologie (wie Anm.1), S. 14, Anm. 24, übrigens erneut.

[9] Vgl. zum Geschehen und Quellenlage Otto Meinardus, The Ceremony of the Holy Fire in the Middle Ages and To-Day, in: Bulletin de la societe d’archeologie copte 16, 1961/62, S. 243–252; Christopher MacEvitt, The Crusades and the Christian World of the East. Rough Tolerance. Philadelphia 2008, S. 115–120; Camille Rouxpetel, Trois récits occidentaux de la descente du feu sacré au Saint-Sépulcre (Pâques 1101): polyphonie chrétienne et stratégies discursives, in: Mélanges de l’École française de Rome – Moyen Âge 126-1/2014 (http://mefrm.revues.org/1932). Unter der älteren Literatur seien hervorgehoben mit ausführlicher Rezeptionsgeschichte: Titus Tobler, Golgatha. Seine Kirchen und Klöster. Nach Quellen und Anschau. St. Gallen/Bern 1851, S. 460–483 (http://books.google.de/books?id=G4tAAAAAcAAJ&hl); sowie Gustav Klameth, Das Karsamstagsfeuerwunder der heiligen Grabeskirche. Wien 1913 (http://www.mgh-bibliothek.de/dokumente/a/a137177.pdf); Bernhard Schmidt, Die Feier des heiligen Feuers in der Grabeskirche, in: Palästinajahrbuch des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des heiligen Landes zu Jerusalem 11, 1915, S. 85–118 (https://archive.org/details/palstinajahrbu1915dalm).

[10] Josef Ackermann, Das ‚Itinerarium Bernardi Monachi’. Edition – Übersetzung – Kommentar (MGH Studien und Texte 50). Hannover 2010, S. 115–127, c. 11, S. 121.

[11] Begriffe ‚Enrolement’, ‚Heilige Allianz’ und ‚obligatorischer Passagepunkt’ erläutert bei Michel Callon, Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 135–174, S. 150.

[12] Vgl. zur Frühphase Thomas Pratsch, Der Platz der Grabeskirche in der christlichen Verehrung im Osten, in: Ders. (Hrsg.), Konflikt und Bewältigung. Die Zerstörung der Grabeskirche zu Jerusalem (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 32). Berlin/Boston 2011, S. 57–66, hier S. 62–65.

[13] Vgl. Paul E. D. Riant, Lettre du clerc Nicétas à Constantin VII Porpphyrogénète sur le Feu sacré (avril 947), in: Archives de l’Orient latin 1, 1881, S. 376–382 (https://archive.org/details/archivesdelorie01parigoog); Gotthard Strohmaier, Al-Birunis Bericht über das Osterfeuer und den Grabfelsen in Jerusalem, in: Ders. (Hrsg.), Hellas im Islam. Interdisziplinäre Studien zur Ikonographie, Wissenschaft und Religionsgeschichte (Diskurse der Arabistik 6). Wiesbaden 2003, S. 186 f, S. 187; Chronicon Hugonis monachi Virdunensis et Divionensis, hrsg. von Georg Heinrich Pertz (MGH SS 8). Hannover 1848, S. 280–503, hier S. 396; Rodulfus Glaber, Historiarum Libri Quinque, hrsg. von Neithard Bulst/John France. Oxford 1989, IV 19, S. 202. Interessanterweise befürchtet Niketas den Waffeneinsatz der Muslime für den Fall, dass das Feuer erscheint, Hugo von Flavigny hingegen im umgekehrten Fall.

[14] Übers. nach Richard Hartmann, Arabische Berichte über das Wunder des heiligen Feuers, in: Palästinajahrbuch des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des heiligen Landes zu Jerusalem 12, 1916, S. 76–94, S. 82 f. Siehe auch: Eilhard Wiedemann, Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaft XII, in: Sitzungsbericht der physikalisch-medizinischen Sozietät zu Erlangen 89, 1907, S. 200—225, S. 200–225, S. 205 f. (https://archive.org/details/sitzungsbericht00erlagoog) Ähnlich argumentieren nach Riant, Lettre du clerc Nicétas (wie Anm. 13), S. 377 auch die Schreiber des lokalen Emirs gegenüber dem Kalifen.

[15] Vgl. Michael Matzke, Daibert von Pisa. Zwischen Pisa, Papst und erstem Kreuzzug (Vorträge und Forschungen. Sonderband 44). Sigmaringen 1998, bes. S. 178–187; Klaus-Peter Kirstein, Die lateinischen Patriarchen von Jerusalem. Von der Eroberung der Heiligen Stadt durch die Kreuzfahrer 1099 bis zum Ende der Kreuzfahrerstaaten 1291 (Berliner Historische Studien 35). Berlin 2002, hier S. 62, 486 f.

[16] Vgl. Johannes Pahlitzsch, St. Maria Magdalena, St. Thomas und St. Markus. Tradition und Geschichte dreier syrisch-orthodoxer Kirchen in Jerusalem, in: Oriens christianus 81, 1997, S. 82–106, S. 85.

[17] Übers. folgt: Ara Edmond Dostourian (Hrsg.), Armenia and the Crusades. Tenth to Twelfth Centuries: The Chronicle of Matthew of Edessa. Lanham/New York/London 1993, S. 179 sowie knapper: Edouard Dulaurier (Hrsg.), Chronique de Matthieu d’Edesse (Bibliothèque historique arménienne). Paris 1858, S. 1–322, S. 234. Zum Häresieverdacht generell vgl. MacEvitt, Crusades (wie Anm. 9), S. 100-106.

[18] Historia belli sacri/Tudebodus imitatus et continuatus, in: Recueil des historiens des croisades. Historiens occidentaux, Bd. 3. Paris 1866, S. 165–229, S. 226 f. Hingegen berichtet Guibert von Nogent, wohl ex post, von Schwierigkeiten, siehe Heinrich Hagenmeyer (Hrsg.), Fulcheri Carnotensis Historia Hierosolymitana. Heidelberg 1913, S. 836 (https://archive.org/details/historiahierosol00foucuoft).

[19] Ebd., S. 395. Dieser Satz findet sich in allen Fassungen der Chronik, die Handschrift L enthält jedoch einen weitaus ausführlicheren Text, der bei Hagenmeyer gemeinsam mit weiteren Berichten zum Ereignis auf S. 831-–837 wiedergegeben ist.

[20] Neben den hier verwendeten, bei Hagenmeyer abgedruckten Versionen Fulchers (S. 831–834), Bartolfs de Nagis (S. 834–836) und Guiberts von Nogent (S. 836 f.) berichten ausführlich: Cafari Annales Ianuenses, hrsg. von Georg Heinrich Pertz (MGH SS 18). Hannover 1863, S. 1–39, S. 12 f. und Ekkehard von Aura, Chronik, hrsg. von Franz-Josef Schmale/Irene Schmale-Ott (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters 15). Darmstadt 1972, Rec. I, S. 123–209, hier S. 176–178.

[21] Fulcheri Carnotensis Historia (wie Anm. 18), S. 831.

[22] Latour, Eine neue Soziologie (wie Anm. 1), S. 123.

[23] Lars Frers, Zum begrifflichen Instrumentarium – Dinge und Materialität, Praxis und Performativität (http://userpage.fu-berlin.de/frers/begriffe.html).

[24] Die Stabniederlegung nur bei Bartolfs de Nagis, S. 834 f.

[25] Cafari Annales Ianuenses (wie Anm. 20), S. 12: Donec civitas ista sancta in potestate infidelium erat, bonum et equum fuit, ut Deus miracula faciendo, incredulos ad fidem reduceret.

[26] Fulcheri Carnotensis Historia (wie Anm. 18), S. 832.

[27] Bartolf (wie Anm. 18/20), S. 835, ergänzt als einziger Augenzeuge die Armenier, die auch an einer Stelle durch Guibert von Nogent (wie Anm. 18), S. 837, erwähnt werden.

[28] Zum Stellenwert von Klang und Raum vgl. eindrucksvoll ROUXPETEL, Trois récits occidentaux (wie Anm. 9).

[29] So Ekkehard von Aura, Chronik (wie Anm. 20), S. 178, der hier einen Brief des Priesters und Augenzeugen Hermann zitiert. Auch Fulcher (wie Anm. 18/20), S. 833, berichtet, dass zu einem späteren Zeitpunkt zwei Lampen entflammt seien.

[30] Fulcheri Carnotensis Historia (wie Anm. 18), S. 833.

[31] Bartolf (wie Anm. 18/20), S. 836.

[32] Matzke, Daibert von Pisa (wie Anm. 15), S. 184; Kirstein, Die lateinischen Patriarchen (wie Anm. 15), S. 162, beide mit Verweis auf Geneviève Bresc-Bautier, Le cartulaire du Chapitre du Saint-Sépulcre de Jérusalem (Documents relatifs à l’histoire des croisades 15). Paris 1984, Nr. 19, S. 72 ff.

[33] Eindrucksvoll bei Theodericus, Libellus de locis sanctis, hrsg. von Robert B. C. Huygens, in: Peregrinationes tres: Saewulf, John of Würzburg, Theodericus (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis, 139). Turnhout 1994, S. 143–197, hier S. 152: Hee sunt professiones sive secte que in ecclesia Iherosolimitana divina peragunt officia, scilicet Latini, Suriani, Armenii, Greci, Iacobini, Nubiani. Hii omnes in conversatione quam in divinis ofiiciis suas quisque habet differentias. Das Ringen um die Bündnisstruktur war damit freilich noch nicht zu Ende. Der russische Abt Daniel, der 1107 dem Lichtwunder beiwohnte, berichtet, dass allein die Lampen des orthodoxen Klerus, die direkt auf dem Grab standen sich wie von selbst entzündet hätten, während die Hängelampen der Lateiner nicht am Wundergeschehen teilgehabt hätten. Übers. August Leskien, Die Pilgerfahrt des russischen Abtes Daniel ins heilige Land 1113–1115, in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 7, 1884, S. 17–64, hier 57–61 (https://archive.org/details/zeitschriftdesde07deut).

[34] Wie Anm. 17.

[35] Der liturgische Ablauf des 12. Jahrhunderts ist wiedergegeben im sog. Rituale von Barletta: Charles Kohler, Un Rituel et un Breviaire du Saint sepulchre de Jerusalem, in: Revue de l’Orient latin 8, 1900/1901, S. 383–500, hier S. 421: Deinde patriarcha regi, si presens fuerit, et ceteris omnibus obtalum ignem déferre vel mittere festinat. Vgl. dazu Iris Shagrir, The Visitatio Sepulchri in the Latin Church of the Holy Sepulchre in Jerusalem, in: Al-Masaq 22,1, 2010, S. 57–77, S. 58 ff. (http://www.openu.ac.il/Personal_sites/iris-shagrir/download/ShagrirAlMasaq.pdf).

[36] Bruno Latour, Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 483–528, hier S. 492.

[37] So Bartolf (wie Anm. 18/20), S. 834.

[38] Dietrich Lohrmann, Östliche Mechanik auf dem Weg nach Europa zur Zeit der Kreuzzüge, in: Hans-Jürgen Kotzur (Hrsg.), Die Kreuzzüge: kein Krieg ist heilig. Mainz 2004, S. 286–295, hier S. 288.

[39] Vgl. Hartmann, Arabische Berichte (wie Anm. 14). Derartige Aussagen lassen sich aus Sicht der ANT als ‚Gegenprogramme’ beschreiben: Sie bemühen sich um eine ‚Übersetzung’ des Wundergeschehens, indem sie ein vermutlich rein virtuelles Seil als Mittler in das Setting einzubringen versuchen und so die Zuordnung der Akteure verändern. Gott wird auf diese Weise aus dem Netzwerk ausgeschlossen.

[40] So Matzke, Daibert von Pisa (wie Anm. 15), S. 185.

[41] Callon, Einige Elemente (wie Anm. 11), S. 167.

[42] So der programmatische Titel: Hans Eberhard Meyer (Hrsg.), Die Kreuzfahrerstaaten als multikulturelle Gesellschaft. Einwanderer und Minderheiten im 12. und 13. Jahrhundert (Schriften des Historischen Kollegs 37). München 1997.

[43] „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht.“ (Joh. 3,8 nach der Einheitsübersetzung). Dies mag für das Numinose zutreffen, kaum aber für irdische Interaktionen.

[44] Bruno Latour, Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen, in: Soziale Welt 52,3, 2001, S. 361–376, hier S. 368.

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Empfohlene Zitierweise:
Jan Keupp: Mediävistik auf dem Ameisenpfad, oder: Mit der ANT das Königreich der Himmel stürzen, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 04. September 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4237 (ISSN 2197-6120).

 

 

 

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4237

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 7

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]

Siebtes Kapitel

Über den Zustand der Stadt Paris

In jenen üblen und dunklen Tagen und gefährlichen Zeiten wandelte die Stadt Paris in Dunkelheit, wie andere Städte auch eingehüllt in verschiedene Verbrechen und zahlreiche Gemeinheiten, die nun durch das rechte Eingreifen des Himmels, der das Verwüstete in Wonne und das Verödete in den Sitz des Herrn verwandelt, zu einer gläubigen und ruhmreichen Stadt geworden ist, der Stadt des großen Königs. Wie der Garten der Freude und Ursprung der Wonne ist sie angefüllt mit allen Arten von Obstbäumen, und in der gesamten Welt atmet man die Süße (ihres) Geruchs. Wie aus einer Schatztruhe holt der höchste Vater das Neue und das Alte aus ihr hervor.

Sie selbst, gleichsam wie eine Quelle des Aufgangs und ein Brunnen des lebendigen Wassers, bewässert die Oberfläche der gesamten Erde, wobei sie den Königen wohlschmeckendes Brot und andere Köstlichkeiten darreicht und der gesamten Kirche Gottes über Honig und Honigwaben hinaus die überaus süßen Brüste anbietet.

Damals jedoch war der Klerus in ihr verdorbener als das übrige Volk, gleichsam ein stinkender Bock und ein krankes Schaf. Durch verderbliches Beispiel korrumpierte sie viele ihrer Besucher, die von überall her zu ihr strömten, und sie verschlang ihre Bewohner und versenkte sie mit sich in die Tiefe. Einfache Unzucht hielten sie für keine Sünde. Huren zogen überall öffentlich auf den Plätzen und Straßen der Stadt vorbeigehende Kleriker gleichsam mit Gewalt in ihre Bordelle. Wenn sich aber welche beharrlich weigerten hineinzugehen, dann nannten sie diese Sodomiten und schrien hinter ihnen her. Dieses hässliche und abscheuliche Übel hatte die Stadt so sehr in Besatz genommen, gleichwie ein nicht behandelbarer Aussatz und ein unheilbares Gift, dass sie es für etwas Ehrbares hielten, wenn jemand sich öffentlich eine oder mehrere Konkubinen hielt. In ein und demselben Haus wurden oben Vorlesungen gehalten, während unten die Dirnen lebten. Im Obergeschoss lehrten die Magister, im Untergeschoss gingen die Huren ihren verwerflichen Geschäften nach. Aus dem einen Teil (des Hauses) heraus stritten die Huren untereinander und mit den Kupplern, aus dem anderen Teil heraus plärrten die Disputierenden und die sich streitsüchtig aufführenden Kleriker.

Je mehr jedoch die üppig Lebenden und in ihren Ausgaben Freizügigen ihren Besitz auf sehr schändliche Weise verschwendeten, desto mehr vertraute man ihnen, und sie wurden von fast allen rechtschaffen und edel genannt. Wenn aber welche gemäß der apostolischen Lehre nüchtern, gerecht und fromm unter ihnen leben wollten, dann wurden diese sofort von den Unkeuschen und Weichlichen als geizig, elend, heuchlerisch und abergläubisch verurteilt.

Fast alle Pariser Gelehrten, Fremde wie Einheimische, beschäftigten sich mit nichts anderem als dem, etwas Neues zu lernen oder zu hören. Die einen lernten, um viel zu wissen. Das ist Neugier. Die anderen (lernten), um bekannt zu werden. Das ist Eitelkeit. Wieder andere (lernten), um Geld zu verdienen. Das ist Gier und das Übel der Simonie. Wenige jedoch lernten, um erbaut zu werden und zu erbauen.

Aber nicht nur aus dem Grund verschiedener Sekten(zugehörigkeit) oder aus dem Anlass der Disputation heraus widersprachen sich die Gegner gegenseitig, sondern auch wegen der Verschiedenheit der Herkunftsregionen stritten sie sich, sahen sich scheel an und zogen sich gegenseitig in den Schmutz, und brachten dabei gegeneinander auf unverschämte Weise Beleidigungen und Beschimpfungen hervor. Die Engländer nannten sie Säufer und Schwanzträger, die Franzosen eitel, weichlich und auf weibische Weise aufgeputzt, die Deutschen rasend und unsittlich in ihren Gelagen, die Normannen leer und prahlerisch und die Poitevins Verräter und Freunde des Reichtums. Diejenigen, die aus Burgund stammten, hielten sie für plump und dumm. Die Bretonen beurteilten sie als leichtfertig und unstet, und warfen ihnen häufig den Tod des Artus vor. Die Lombarden bezeichneten sie als gierig, bösartig und feige, die Römer als aufrührerisch, gewalttätig und eidbrüchig, die Sizilier als tyrannisch und grausam, die Brabanter als Männer des Blutes, Brandstifter, Eroberer und Vergewaltiger, die Flamen schließlich als reich, verschwenderisch, Trinkgelagen ergeben und nach Art der Butter weich und schlaff. Und bei Zank dieser Art gingen sie häufig von Worten zu Schlägen über.

So wollen wir aber von den Logikern schweigen, um deren Augen die Schmeißfliegen Ägyptens flogen, womit die sophistischen Spitzfindigkeiten gemeint sind, „damit die Redegewandtheit ihrer Sprache nicht durchschaut werden kann, in der“, so sagt Jesaja, „keine Weisheit ist“.[1]

Die Doktoren der Theologie, die auf dem Stuhl des Moses saßen, und die die Liebe nicht erbaute, ließ dafür das Wissen anschwellen. Als Lehrende, aber nicht zugleich Handelnde wurden sie wie das tönende Erz und die klingende Schelle, und wie ein steinerner Kanal, der Wasser in Gewürzgärten führt, aber in sich trocken bleibt. Nicht nur waren sie aufeinander neidisch und zogen die Studenten der anderen mit Schmeicheleien an sich, wobei sie den eigenen Ruhm suchten, sich um die Frucht der Geister aber nicht kümmerten, sondern sie vermehrten auch ihr Gehalt und jagten nach Würden, wobei sie das apostolische Wort mit allzu offenen Ohren aufnahmen: „Wer das Bischofsamt begehrt, begehrt ein gutes Werk.“[2] Weil sie jedoch nicht so sehr das Werk, als vielmehr die Berühmtheit liebten, wollten sie auf der Straße als erste gegrüßt werden, begehrten die vordersten Plätze in der Versammlung und die besten Liegen beim Fest. Während aber der Apostel Jakobus sagt: „Strebt nicht so sehr danach, Magister zu werden“,[3] beeilten sich so viele, Magister zu werden, dass die meisten von ihnen nur durch Bitte und Bestechung Schüler zu halten vermochten. Sicherer ist es jedoch zu hören als zu lehren, und besser ist ein demütiger Hörer als ein ungenügender und voreiliger Doktor. Der Herr hatte sich jedoch nur wenige unter ihnen als ehrliche und gottesfürchtige Männer bewahrt, die nicht auf der Straße der Sünder standen und nicht mit den anderen auf dem Stuhl der Pestilenz saßen.

[1]    Jes 33,19

[2]    1 Tim 3,1

[3]    Jak 3,1

D O W N L O A D

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Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 7, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 24. Juli 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4096 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4096

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Akten des „Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde“

Die Monumenta Germaniae Historica wurden zum 1.4.1935 mit Zustimmung des Vorsitzenden der Zentraldirektion, Paul Fridolin Kehr, unter Beseitigung der seit 1875 bestehenden bisherigen Organisationsform in ein „Reichsinstitut für altere deutsche Geschichtskunde“ umgewandelt. Mit Abschaffung der Zentraldirektion wurde auf Grundlage des ‚Führerprinzips‘ der Vorsitzende zum faktischen Leiter und später Präsidenten aufgewertet, der nicht nur sämtliche Geschichts- und Altertumsvereine überwachen sollte, sondern auch dem ehemaligen Preußischen Historischen Institut in Rom vorstand. Vonseiten des NS-Regimes war es als eine Schwesterinstitution zum ebenfalls 1935 begründeten „Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschland“ von Walter Frank konzipiert.

Der ca. 100 Faszikel umfassende, faktisch unversehrt gebliebene Aktenbestand des Reichsinstituts wurde bis zum 28.2.2014 in Eigenleistung teilerschlossen: Etwa die Hälfte der Archivalien konnte bearbeitet werden und steht über die Homepage des MGH-Archivs zur Verfügung.

Der Aktenbestand bildet die Basis für die noch ausstehende Erforschung der Geschichte der Monumenta während der Zeit des ‚Dritten Reichs‘. Er dokumentiert ihre Einbindung in die wissenschaftlichen Strukturen und Netzwerke, die Entwicklung des Faches mittelalterliche Geschichte und verwandter Disziplinen sowie die intensiven Verflechtungen mit dem Reichswissenschaftsministerium und verschiedenen wissenschaftslenkenden Einrichtungen des NS-Staates. Zu den Korrespondenten zählen renommierte deutschsprachige und ausländische Geisteswissenschaftler, sowie Universitäten, Verlage, Archive und Bibliotheken, Akademien und kulturpolitische Einrichtungen des nationalsozialistischen Regimes in den besetzten Gebieten nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Akten geben Aufschluss über wissenschaftliche und (wissenschafts-)politische Aspekte des Wirkens der Leiter bzw. Präsidenten Paul Fridolin Kehr, Wilhelm Engel, Edmund Ernst Stengel und Theodor Mayer sowie weiterer Mitarbeiter und mit den Monumenta verbundener bedeutender Gelehrter wie Karl Brandi. Nicht zuletzt wird die wissenschaftliche Geschichte der Monumenta selbst mit ihren Editionen (MGH-Reihen), der Zeitschrift „Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters“ und weiteren Reihen und Projekten sichtbar.

Die Archivalien ermöglichen Erkenntnisse zu verschiedenen Themenkomplexen der Wissenschaftsgeschichte der NS-Zeit, wie etwa dem Monopolanspruch der deutschen Geschichtswissenschaft mit dem versuchten Gewinn einer ‚Deutungshoheit‘ in Europa und ihrem Verhältnis zum Regime, der Organisation der Geisteswissenschaften (z.B. das Verhältnis der Reichinstitute zu landesgeschichtlichen Institutionen), der Interpretation der deutschen Geschichte aus Sicht der NS-Ideologie, der ideellen Unterstützung der deutschen Kriegsführung (‚Kriegseinsatz Geisteswissenschaften’) oder der Geschichtswissenschaft in Österreich und im „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“. Sie leisten darüber hinaus Beiträge zur Biographieforschung, einschließlich der Verdrängung und des Ausschlusses von Wissenschaftlern mit unerwünschter Abstammung oder missliebiger politischer Orientierung.

Einige Beispiele sollen im Folgenden vorgestellt werden:

  • Faszikel B 543 enthält Korrespondenzen zum „Kunst-, Bibliotheks- und Archivschutz“ während des 2. Weltkriegs in Frankreich und den Beneluxstaaten. Sie dokumentieren die Beteiligung des Reichsinstituts an der umfangreichen Fotokopierung von in zeitgenössischer Diktion dem Deutschen Reich ‚entfremdeten‘ Archivalien und Handschriften. Die Akten stammen aus dem Zeitraum zwischen 1940 und 1943 und machen besonders das Engagement des Präsidenten Edmund Ernst Stengel für die Tätigkeiten der „Gruppe Archivwesen“ deutlich. Der Kommissar für Archivschutz, Ernst Zipfel, bat Stengel bereits kurz nach seiner Ernennung um Mitwirkung bei der „Sicherung“ von Archivgut (Brief vom 28.06.1940). Bereits im Ersten Weltkrieg hatte es vonseiten der Monumenta Bestrebungen zur „Herausgabe der in den napoleonischen Kriegen entfremdeten Archivalien und Handschriften deutscher Herkunft“ gegeben (Vgl. den Brief von Stengel an die Witwe von Michael Tangl, 24.06.1940). Stengel sagte Zipfel die Hilfe des Reichsinstituts bei der „Betreuung“ der holländischen, belgischen und französischen Archive zu, legte den Schwerpunkt dann aber deutlich auf die Erstellung von Fotokopien (Brief vom 11.07.1940). Bereits am 03.07.1940 hatte er offensichtlich aus eigener Initiative ein Rundschreiben an Institutsmitglieder und Fachkollegen mit der bitte um Mitteilung von mittelalterlichen Archivalien bzw. nichtarchivalischen Handschriften für die laufenden amtlichen Erhebungen über dem Deutschen Reich ‚entfremdete‘ und nach Frankreich und Belgien ‚verschleppte‘ Kulturgüter verschickt. Auch darin betonte er  die Bedeutung der möglichst umfassenden Fotokopierung für die Arbeiten des Reichsinstituts. Sein Rundschreiben stieß bei amtlichen Stellen auf wenig Gegenliebe, am 25.09.1940 wurde ihm vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung nahegelegt, eigenmächtige Aktionen zukünftig zu unterlassen. Die Akten enthalten Zusammenstellungen der aufgrund von Stengels Umfrage ermittelten Handschriften zur Vervielfältigung.
  • Beziehungen des Reichsinstituts unter Wilhelm Engel und Edmund Ernst Stengel zu wissenschaftlichen Einrichtungen wie etwa dem „Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschland“ spiegeln Akten in den Faszikeln B 546 und B 563 wider. Vorbehalte Stengels gegenüber Walter Frank, seine Ablehnung einer räumlichen Vereinigung beider Reichsinstitute, aber auch die offizielle Wahrung gegenseitiger guter Beziehungen und praktische Zusammenarbeit werden hier deutlich. In einer Niederschrift vom Dezember 1937 in B 546 berichtet Stengel über ein Gespräch mit Frank, in dem dieser eine Zusammenarbeit anbot unter der Bedingung, dass Karl August Eckhardt nicht die Leitung der Leges-Abteilung erhalte. Aus Franks Worten geht dabei hervor, dass er Stengel für einen Gegner des Nationalsozialismus hielt und seine Ernennung zum Präsidenten nicht befürwortet hatte. Korrespondenzen in B 563, die aus der Zeit zwischen 1935 und 1940 stammen, dokumentieren den gegenseitigen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Austausch, etwa durch die Erstellung von Gutachten. Thematisiert wird z.B. auch die Entfernung von Wilhelm Mommsen aus der Redaktion von „Vergangenheit und Gegenwart“ 1936 in der Amtszeit von Stengels Vorgänger Wilhelm Engel.
  • Zahlreiche Briefwechsel zeigen die Verbindungen des Reichsinstituts zur europäischen Geschichtswissenschaft in den gegnerischen, befreundeten und neutralen Staaten. Faszikel B 545-1 dokumentiert Kontakte des Reichsinstituts von 1942 bis 1943 mit der Schweiz in Form einer Vortragsreise von Präsident Theodor Mayer. Unter den Korrespondenten finden sich die Schweizerische Botschaft Berlin, das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Person von Herbert, der Deutsche Akademische Austauschdienst, das Auswärtige Amt, das Deutsche Studienwerk für Ausländer sowie die Schweizer Historiker Richard Feller und Anton Lagiadèr. Thematisiert werden die Lage der Schweizer Mediävistik, die Propaganda der „Feindmächte“ in dem neutralen Land, Absichten zur Errichtung einer ständigen Stelle eines Schweizer Mitarbeiters beim Reichsinstitut (mit Einladung der Stipendiaten Adolf Reinle und Eugen Bürgisser) und insgesamt der Versuch, eine Einflussnahme auf die Schweizer Geschichtswissenschaft zu erreichen. Faszikel B 577 enthält Materialien zu einer weiteren Vortragsreise von Mayer nach Rumänien und Briefwechsel mit rumänischen Wissenschaftlern wie z.B. Alexandru Marcu.
  • Geschichtspolitik im Sinne der NS-Ideologie in besetzten Gebieten offenbaren Akten von 1939 bis 1941 in Faszikel B 556 zur von Stengel geplanten Edition der deutschen Überarbeitung der alttschechischen Chronik des sogenannten „Dalimil“. Die Aufnahme auch der tschechischen Fassung in die MGH wird dabei angesichts der politischen Umstände nach der Eingliederung des Sudetenlandes und der Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ als ‚nationale Pflicht‘ angesehen. Die Korrespondenzpartner Stengels sind der Volkstumsforscher Bruno Schier, die Slawisten Ferdinand Liewehr und Max Vasmer, der Historiker Wilhelm Wostry sowie die Gruppe Unterricht und Kultus beim Reichsprotektor in Böhmen und Mähren. Der Editionsauftrag wurde an Liewehrs Schüler Karl Rösler übertragen. Die politische Brisanz des Projekts wird in den Bedenken des Reichsprotekorats, die Berücksichtigung des tschechischen Texts könne bei den Deustcehn Ärger erregen, deutlich. In Faszikel B 557 befinden sich Korrespondenzen von 1941 bis 1942 zur ebenfalls von Stengel beabsichtigten Herausgabe der Miniaturen des „Brünner Schöffenbuchs“ mit rechtsikonographischen Ausführungen der österreichischen Historikerin Gertrud Schubart-Fikentscher. Stengel warb bei Adolf Hitler persönlich um finanzielle Unterstützung in Hinblick auf die Werbewirkung des Werks für ‚deutsches Wesen‘ in Böhmen.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4036

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