Arno Münster: Utopie, Emanzipation, Praxis. Sozialphilosophische Interventionen; Berlin 2012 (Rezension)

Arno Münster, emeritierter Professor für deutsche Philosophiegeschichte, Ernst Bloch-Schüler und Autor vieler Schriften, die dem Wissenstransfer zwischen der deutschen und französischen Linken dienten, legt in Utopie, Emanzipation, Praxis zehn Texte (Vorträge, Aufsätze, ein Interview) vor, deren Gemeinsamkeit er darin sieht, einen „stets kritischen, dialektischen und materialistischen Ansatz in der Gesellschaftsanalyse mit der Analyse von Denksystemen“ zu verbinden, „die die Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse immer noch mit der Hoffnung einer letztendlich vielleicht doch noch möglichen gesellschaftlich-politischen Durchsetzung des Emanzipationsgedankens und der sozialen Gerechtigkeit vereint“ (S.9).

Besonders wichtig scheint es Münster dabei der von ihm diagnostizierten „’Abwicklung’ und Marginalisierung des Marxismus nach der deutschen Wiedervereinigung“ etwas entgegenzusetzen (S.10) – indem vor allem an einen anderen, freiheitlichen Marxismus erinnert wird. Hierbei steht Ernst Bloch im Zentrum dreier Texte, und dessen „Grundverdienst“ sieht Münster dann auch darin, „dass er den Marxismus humanistisch, messianisch-utopisch bereichern, erneuern wollte“ (S.41f.). Der Aufsatz/Vortrag zu Jean Paul Sartre hebt positiv hervor, dass dieser mit seiner Kritik der dialektischen Vernunft, neben wenigen anderen „den wichtigsten theoretischen Beitrag zur Neubegründung einer kritischen, undogmatischen und auf weite Strecken neo-marxistischen Praxisphilosophie im 20.Jahrhundert“ geleistet hätte (S.98). Und zum Austromarxisten Max Adler wird auf dessen „sehr wertvollen und gleichzeitig auch sehr wichtigen Beitrag zur Entdogmatisierung des Marxismus“ aufmerksam gemacht (S.190), wie auch Pierre Bourdieu bescheinigt wird, sich „der marxistischen Kritik in zahlreichen Punkt angenähert“ zu haben (S.123).

Dieser Fokus auf einen anderen Marxismus hindert Münster aber nicht daran sich auch mit anarchistischen Autoren zu beschäftigen. So findet sich im Band ein kurzer Zeitungsartikel zum „radikale[n] libertäre[n] Pragmatiker“ Proudhon (S.136) und ein Vortrag/Aufsatz zur „Stirner-Rezeption im französischen Existentialismus“, in dem die Stirnerinterpretation von Albert Camus in Der Mensch in der Revolte im Mittelpunkt steht. Diese Fokussierung ist etwas schade, weil dem Einfluss Stirners, oder Stirner’sche Motive für die 1968er und die alternativen Bewegungen der 70er Jahre nachzugehen – von marxistischer Seite bisweilen in polemischer Absicht unterstellt – eine interessante Arbeit wäre und auch mit der Frage verbunden werden könnte, inwieweit, nach dem modischen Strukturalismuszwischenspiel der 1960er Jahre existentialistische Aspekte wieder aufgegriffen wurden. Mit dem Pariser Mai ’68, als der „umfassendste[n] spontane[n] Emanzipationsbewegung, die jemals über die so genannten ‚Konsumgesellschaften’ der Nachkriegszeit hinwegfegte“ (S.172), beschäftigt sich Münster, damals Augenzeuge der Ereignisse in einem weiteren Vortrag/Aufsatz.

Das Buch dürfte eine nette Lektüre für Menschen sein, die sich für die hier besprochenen Thematiken, bzw. Personen interessieren. Mir selbst erschien vieles nicht allzu originell, oft ein wenig zu knapp, bisweilen werden die von Münster geschätzten Autoren auch zu positiv perspektiviert. Man erfährt beispielsweise nichts davon, dass Bloch im Prinzip Hoffnung auf dem Höhepunkt des Stalinismus die anarchistische Kritik an der Diktatur des Proletariats als Ausdruck einer „Monomanie von Autoritätshass“ pathologisierte, sowie über seine Ausfälle gegen Dissidenten zu Zeiten der Moskauer Schauprozesse der 1930er Jahre. Im Sartre-Aufsatz gar kein Thema, wird dessen wichtige Auseinandersetzung mit Albert Camus an anderer Stelle kurz erwähnt, und – wie mir scheint – zu Unrecht Camus das Vertreten „links-liberale[r] Positionen“ vorgeworfen (S.152). Proudhons Antisemitismus wird erwähnt (S.134), aber nicht dessen massiver Antifeminismus, der seinerzeit schon Kritik hervorrief. Dass Max Adler 1919 einen „radikalen ultralinken Antiparlamentarismus“ (S.187) vertreten habe, scheint mir ebenso wenig zuzutreffen (siehe seinen Text Demokratie und Rätesystem, 1919), wie dessen Gegnerschaft zum Bolschewismus vereinseitigt wird, da Adler in den 1930er Jahren vehement betonte, dass „die russische Revolution auch in ihrer jetzigen Gestalt gegen alle feindlichen Bestrebungen des Kapitalismus und der bürgerlichen Reaktion zu verteidigen“ sei (Unsere Stellung zu Sowjetrussland, 1932).

Philippe Kellermann

Arno Münster: Utopie, Emanzipation, Praxis. Sozialphilosophische Interventionen. Karin Kramer Verlag, 2013, 208 Seiten, 19,80 Euro

Wir danken Philippe Kellermann herzlich für die Erlaubnis zur Erstpublikation dieser Rezension auf kritische-geschichte. Kellermann schreibt u.a. für Graswurzelrevolution und kritisch-lesen.de. Von ihm erschien zuletzt u.a. Anarchismus, Marxismus, Emanzipation (Berlin 2012, als Hrsg.).


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Bildung für nachhaltige Ungleichheit? Broschüre von glokal e.V. erschienen

In Kitas, Schulen, in Weltläden, in der pädagogischen Begleitung von Freiwilligendiensten und der Erwachsenenbildung: Entwicklungspolitische Bildungsarbeit hat sich in den letzten Jahren vielen Zielgruppen erschlossen und soll zukünftig weiter institutionalisiert werden. Orientiert am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, soll entwicklungspolitische Bildungsarbeit Bewusstsein für globale Zusammenhänge schaffen und die Übernahme von Verantwortung fördern. Doch wie wirkt sie in die Gesellschaft? Welche Effekte erzielt sie bei den Zielgruppen?

Aus einer Fülle an Bildungsmaterialien hat glokal e.V. über 100 Methodenhefte aus den Jahren 2007-2012 ausgewählt und anhand postkolonialer Fragestellungen analysiert. Die daraus resultierende Dokumentation “Bildung für nachhaltige Ungleichheit?” bietet neben einem theoretischen Einstieg in postkoloniale Perspektiven eine ausführliche, praxisnahe Analyse von aktuellen Beispielen aus der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit. Sie endet mit dem Fazit, dass entwicklungspolitische Bildungsarbeit mit ihrer aktuellen Praxis sowohl in Bezug auf die deutsche Migrationsgesellschaft als auch im globalen Kontext zur Stabilisierung von Ungleichheitsverhältnissen beiträgt. Dies geschieht durch den Bezug auf eurozentrische Geschichtsschreibung, die Nichtinfragestellung Konzepte von Entwicklung und Kultur sowie durch die Erzeugung von Ausschlüssen und Diskriminierungen in Lernmaterialien und Lerngruppen. Die Dokumentation wird abgerundet durch eine Praxishilfe für die eigene postkoloniale Analyse von Bildungsmaterialien.

Broschüre “Bildung für nachhaltige Ungleichheit? Eine postkoloniale Analyse von Materialien der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit in Deutschland”. Es gibt einen kostenfreien Download und nähere
Informationen zu glokal e.V. hier: http://www.glokal.org/


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Macht Großstadtluft die besseren Wissenschaftler? Eine Standpunkt

Der Streit ist alt und bis heute nicht gelöst. Welches Umfeld eignet sich besser zur geistigen Arbeit und ermöglicht in der Folge die interessanteren, innovativeren und nützlicheren Textprodukte? Die Auseinandersetzung geht zurück bis in das frühe Christentum, die Antworten waren unterschiedlich und zeigen dennoch einen Trend in der longue durée. Meine These: Stadtluft macht frei. Aber Großstadtluft macht heute die besseren sozial- und geisteswissenschaftlichen Arbeiter bzw. Arbeiten. Um es gleich vorwegzunehmen: natürlich ist das Folgende verallgemeinernd. Natürlich ist es kontinentaleuropäisch. Und natürlich ist alles auch eine Frage der Persönlichkeit. Das sollte jedoch nicht von einigen Überlegungen abhalten. Ein historischer Abriss zeigt die allmähliche Verstädterung der Geistesarbeit. Während in der Spätantike Wissen vor allem in den großen Städten des Mittelmeerraums stattfindet, endet die Urbanität und der Glanz von Bildung mit dem Zusammenbruch des Imperium Romanum. Im christlichen Frühmittelalter verlagern sich Wissen und Nachdenken meist in Klöster – und die befinden sich vielfach auf dem Land. Der Raum des intellektuell Möglichen wird zudem eingeengt auf christliche Elementarien. Der gedankliche Horizont endet am Klosterzaun. Dahinter wird Wissen vor allem bewahrt, aber nur selten produziert und mit der Außenwelt geteilt. Im engen Kloster, in einer kleinen Gruppe und in ländlichen Regionen wird das Eigene [...]

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/711

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Historischer Methodenstreit? Anthropologie vs. Sozialer Raum

Moderne Historiker/innen arbeiten vielfach mit Methoden der Soziologie und der Anthropologie – gerne auch mit beiden. Doch was passiert, wenn grundlegende Ansätze der Nachbarfächer eigentlich unvereinbar sind? So verhält es sich mit dem soziologischen Konzept des Sozialen Raums (Bourdieu) und grundsätzlichen Ausrichtungen der Anthropologie. Beide stehen für unterschiedliche Zugriffe, Beschreibungs- und Darstellungsebenen. Worin genau besteht der Unterschied zwischen den beiden Methoden? Und muss daraus ein Methodenstreit entstehen – oder gibt es einen dritten Weg der methodischen Integration?


Wie (un-)vereinbar sind Anthropologie und Sozialer Raum?

Ein rein anthropologischer Ansatz würde etwa für mein Dissertationsprojekt zu den altgläubigen Zugehörigkeiten und Kulturen bedeuten, dass ich mich zwischen meinen Quellen und Artefakten gleichsam wie ein Ethnologe bewege. Ich würde die Praktiken, Kommunikationsarten, sozialen Distinktionen, Deutungen und Selbstwahrnehmungen von innen heraus, aus der Perspektive der untersuchten Akteure nachvollziehen. Der Zugriff erfolgte im Rahmen von Mikrostudien speziell auf eine soziale Entität oder deren paradigmatische Figuren. Von den dort gemachten Beobachtungen – es geht der Anthropologie vielfach weniger um zeitlich diachrone Kausalitäten und Ereignisketten, sondern um Nachvollziehung und Beschreibung – wird bei dieser Methode vielfach auf allgemeine menschliche Verhaltenskonstanten und Strukturen geschlossen, die das situativ erfasste Handeln determinieren. Gerade die synchrone Arbeitsweise und die mitunter etwas rasche Ausweitung der Beobachtung auf generelle menschliche Verhaltensweisen dürfte für Historiker/innen problematisch sein.[1] Denn sie sind naturgemäß auf Quellen aus der Vergangenheit angewiesen, haben also keinen “unverfälschten” Zugriff auf Kulturen. Allerdings kennen auch Ethnologen dieses Problem, so Robert Scribner. “The mere presence of an observer changes the situation he or she intends to observe, indeed, the ethnologist may well find that what he or she observes is merely the natives observing him or her, so that access to any ‘native point of view’ is virtually impossible.”[2]

Einen bei genauer Betrachtung sehr verschiedenen Zugang zum Sozialen verkörpern Theorie und Methode zur Erfassung des Sozialen Raums, bekanntlich maßgeblich entwickelt von Pierre Bourdieu und der Schule der kritischen Soziologie. Wenden Historiker/innen diese Herangehensweise an, vollziehen sie nicht neutral “von innen”, also aus der Kultur der Studierten selbst heraus, nach. Vielmehr ordnen sie; zeigen, was die Protagonisten selbst nicht sehen; weisen Plätze zu. Entlang von distinktiven Praktiken, Verhaltensweisen, familiärer Herkunft und ökonomischem Kapitel setzt der Forscher die studierten Gruppen oder Personen auf verschiedene Positionen im  Sozialen Raum, der einen Gesamtüberblick “von oben” auf die Konfiguration der Gesamtgesellschaft ermöglichen soll. Dass die studierten Akteure sich selbst, ihr Tun oder andere Gruppen ganz anders oder manches gar nicht wahrnehmen, stört dabei nicht. Denn es ist der Historiker-Soziologe, der dekonstruiert und (be-)urteilt. Er lüftet den Vorhang für den Blick auf das, was die Gesellschaft im Innersten zusammen hält… und trennt. Gerade das wurde in den 1990er Jahren von Soziolog/innen wie Luc Boltanski und aktuell vom Anthropologen Didier Fassin kritisiert.[3] Doch Überblicke und Generalisierungen – kurz, das kritische Moment – sind ein zentraler Bestandteil von sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalysen. Ohne einen nicht an die Perspektiven der Akteure gebundenen Blick “von oben” ließe sich kein Konflikt mehr darstellen, geschweige denn zusammenfassen. Zudem gibt es ja unzweifelhaft verschiedene sozial-kulturelle Zugehörigkeiten, die von den Akteuren als solche bewusst oder unbewusst erkannt und ausgedrückt werden. Es gibt, möchte man sagen, vielleicht keinen Sozialen Raum. Sehr wohl aber Soziale Räume.

Bürger drängen in die Kathedrale von Bourges. Drinnen feiert der Bischof eine Messe – Kulturformen und soziale Praktiken, die dem Historiker nur auf Umwegen zugänglich sind. Doch wie soll man auf sie zugreifen? (Bild: Henfflin-Werkstatt, um 1470)

Bleibt für das theoretisch-methodische Gerüst einer historischen Studie also getrennt, was prinzipiell unvereinbar scheint? Nein, wenn man beide Ansätze ausgleichend kombiniert und integriert. Der Mehrwert aus der praktischen Vereinigung übersteigt meiner Ansicht nach die letztlich unüberwindlichen theoretischen Antagonismen. Mehrere Ansatzpunkte sind hier denkbar, auf einige greife ich auch in meiner Dissertation zurück.

1. Ich sehe mich grunsätzlich einer auf das Soziale gerichteten, konstruktivitischen Kulturwissenschaft und historischen Anthropologie verpflichtet. Es geht mir um den Nachvollzug von innen und unten, um Praktiken, Sinngebungsprozesse und soziale Konfigurationen. Interessant ist für mich die Beschreibung der Aktualisierung altgläubiger Kulturen aus deren Kultursystem selbst heraus. Das bedingt die von Didier Fassin für anthropologisch-soziale Studien geforderte Aussetzung des Urteils (“suspension du jugement”). Ich setze also beim inneren Nachvollzug einer Teilgruppe im fiktiven Sozialen Raum an, natürlich im Bewusstsein um dessen Vielschichtigkeit und Komplexität.

2. Gerade diese Komplexität des Sozialen verdeutlicht, dass sich etwas Eigenes nicht bildet, menschliche Kultur nicht funktionniert, ohne Alterität. Es gibt keine abgeschottete, “reine” Kultur, die man ohne ihre inneren und äußeren Auseinandersetzungen und Abgrenzungen in Bezug auf “die Anderen” im Sozialen Raum untersuchen könnte. Die Fixierung auf nur eine Gruppe, ohne die distinktiv-heterogene Dimension des Sozialen zu berücksichtigen, ist eine Sackgasse. Deshalb versuche ich zudem, den Blick der von mir untersuchten Altgläubigen auf das langsam und situativ konstruierte Andere zu untersuchen. Gleichzeitig ist das sozial-kulturelle Handeln von Altgläubigen aus der Perspektive der “Anderen” (etwa bei reformatorischen Visitationen) oder von “Dritten” (etwa bei Verhören zweier streitender Gruppen) zu untersuchen. Denn ein Merkmal des Eigenen ist es, dass es vielfach so internalisiert ist, dass es “normal” wird. Das Eigene sagt man nicht – außer im Moment der Auseinandersetzung. So verrät auch der Blick der Anderen etwas über kulturelle Eigenheiten der studierten Gruppe. Bei einem rein nachvollziehend-anthropologischen Ansatz würden diese Erkenntismöglichkeiten wegfallen.

3. So sollte die Methode des Vergleichs besondere Beachtung finden. Dies kann der Vergleich zwischen den Wahrnehmungen oder Praktiken verschiedener, jeweils allein aus sich selbst (also anthropologisch) nachvollzogener Gruppen sein. Dies kann durch den gekreuzten Blick der “Anderen” auf das “Eigene” entstehen. So lässt sich zumindest ansatzweise auf die nachvollziehende Rekonstruktion der Sozialen Räume in den verschiedensten Wahrnehmungen, Deutungen, Überlagerugnen und Wiedersprüchen hoffen. Das Soziale ließe sich dann nur noch im Plural schreiben.

4. Nicht nur auf die Wiedersprüche und Abgrenzungen bei der Aktualisierung und Disktinktion verschiedener Kulturen ist Wert zu legen, sondern auch auf Formen und Folgen von Interaktion und gegenseitiger Beeinflussung. Diese müssen nicht immer “freundschaftlich” oder bewusst kooperativ erfolgen, sondern entstehen auch in der Ablehnung oder dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher sozialer, ökonomischer oder geographischer Kulturformen. Schließlich entsteht auch Distinktion in der Interaktion. Solche Ansätze verfolgt seit gut zehn Jahren die histoire croisée (Michael Werner). So können etwa in Gesellschaften Kämpfe um Denominiationen oder Begriffsbildungen für Ereignisse, Gruppen, Devianzen usw. dargestellt werden. Daraus könnte sich eine an das soziale gebundene, aus dem Sozilen entstehende und das Soziale bzw. Distinktive gleichzeitig schaffende Repräsentationengeschichte ergeben.[4]

5. Die Zugriffsebene ist in meinen Forschungen die Mikroebene. Ich untersuche Konflikte, Spannungen, Praktiken und Begriffskonstruktionen entlang von präzisen Fällen, Auseinandersetzungen und Fragen in einem klar abgesteckten geographischen Rahmen. Gerade im Reich kann “Mikroebene” freilich nicht bedeuten, nur die lokalen Bezüge zu untersuchen. Dazu sind zu schnell und zu oft zu viele Akteure unterschiedlicher herrschaftlicher, hierarchischer oder rechtlicher Ebenen involviert. Microstoria bedeutet heute die Bezogenheit auf einen Fall oder eine Auseinandersetzung. Gerade für die Lösung des hier beschriebenen Methodenstreits hat Didier Fassien den Bezug auf enjeux vorgeschlagen.[5]

Letztlich ergibt sich bei der durchaus möglichen Verbindung von Anthropologie und Sozialem Raum ein Blick auf die Kulturen des Sozialen und das Soziale der Kulturen, wie sie eben sind: vielfältig, wiedersprüchlich und veränderbar. Die Verirrtheit in Komplexität, das ständige Suchen und (vergebliche) Festhalten am Bekannten sind somit wohl eine der wenigen Konstanten der Menschheitsgeschichte.

 

[1] Historiker/innen bleiben letztlich nach dem Ende der Strukturgeschichte bei Fällen, die sie diachron und kontextuell einordnen, ohne sich wirklich von diesen Einzelfällen zu entfernen. Über das Verhältnis und die Unterschiede zwischen Geschichtswissenschaft und Anthropologie vgl. Bensa, Alban: “Anthropologie et histoire”, in: Delacroix, Christian u.a. (Hg.), Historiographies. Concepts et débats, Bd. 1 (Folio histoire inédit), Paris 2010, 42-53.

[2] Scribner, Robert: “Historical Anthropology of Early Modern Europe”, in: Ders./Hsia, Ronnie Po-Chia (Hg.), Problems in the Historical Anthropology of Early Modern Europe (Wolfenbütteler Forschungen 78), Wiesbaden 1997, 11-34, hier 31.

[3] “Donner à comprendre signifie-t-il pour autant se placer dans une position surplombant d’où le savant verrait ce que les autres ne discernent pas et révélerait ce qu’ils se dissimulent à eux-mêmes?” Fassin, Didier: “Sur le seuil de la caverne. L’anthropologie comme pratique critique”, in: Haag, Pascale/Lemieux, Cyril (hg.), Faire des sciences sociales. Bd. 1, Critiquer, Paris 2012, 263-287, hier 270.

[4] Vgl. dazu Cavaillé, Jean-Pierre: Pour un usage critique des catégories en histoire, in: Faire des sciences sociales. Bd. 1, Critiquer, hg. v. Haag, Pascale/Lemieux, Cyril, Paris 2012, 121-147.

[5] Fassin, Anthropologie, 284-285.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/465

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Rolle vorwärts. Warum Mikrofilme endlich aus den Archiven verschwinden müssen

Viel zu lange und trotz guter Alternativen haben Historikerinnen und Historiker geschwiegen. Doch jetzt muss es raus: Mikrofilme und Mikrofiches haben in den Archiven des 21. Jahrhunderts nichts mehr verloren. Meine momentane Recherche im Hauptstaatsarchiv München brachte das Fass zum Überlaufen. Was ich dort sehen will, ist auf den Mikrofilmen, die ich bekam, teilweise gar nicht und immer so abgelichtet, dass eine wissenschaftliche Rückverfolgbarkeit nicht gewährleistet werden kann. Dazu kommen die üblichen Schwierigkeiten mit dem Format Mikrofilm. In Zeiten des digitalen Wissensmanagements droht der status quo in deutschen Archiven in Vergessenheit zu geraten. Zeit also für ein Wutpamphlet in sechs Punkten.


Mikrofilm-Lesegeräte im Hauptstaatsarchiv Stuttgart.
Quelle: www.landesarchiv-bw.de

1. Quellenbestände auf Mikrofilmen sind unübersichtlich und oft schlampig gespeichert. Was auf den langen Rollen abgelichtet ist, bleibt bisweilen unklar. Das liegt an ihrer schieren Länge – mitunter dutzende Aktenbestände wurden aneinandergereiht. Nummerierungen und Bezeichnungen stimmen nicht mit dem überein, was in den Findbüchern steht. Mehrmals ist es mir schon passiert, dass in den Schächtelchen falsche Rollen lagen. Zudem scheint mir die Verfilmung, die zumindest bei den mich interessierenden Beständen oft aus den 1960er Jahren stammt, ungenau und unsystematisch. Im aktuellen Münchner Fall wurden aus einer Bestandsgruppe Aktenteile fast willkürlich durcheinander aufgenommen. Es mangelt an einer klaren Führung durch den Mikrofilm.

2. Mikroformate sind oft unleserlich und lassen zentrale Quellenbestandteile verschwinden. Jeder, der schon mal eine Quelle auf Mikrofilm gelesen hat, kennt das Problem. Sie sind oft verwischt, undeutlich oder zu kleinformatig aufgenommen. Problematisch wird das besonders bei vormodernen Dokumenten, an denen die Zeit besonders genagt hat und deren Schrift und Sprache wissenschaftlich besonders anspruchsvoll sind. Für diese ist in puncto Analysefähigkeit der Mikrofilm die schlechteste Wahl. Allgemein problematisch ist die schwarz-weiß-Verfilmung. Unterschiedliche Schriftfarben oder farbige Vermerke – die entscheidend sind für die korrekte Quelleninterpretation – sind so nicht erkennbar. 

3. Die Arbeit an Mikroformat-Lesegeräten ist gesundheitsschädlich. Die Benutzer/innen sind an die Lage des Apparats gefesselt. Anders als bei Papierdokumenten oder am Netbook können sie die Position des Arbeitsgeräts oder die eigene Haltung nicht wirklich wechseln. Das geht auf den Rücken, genauso wie die oft schlechten Verfilmungen, die zum ständigen Vorbeugen zum Bildschirm zwingen. Die schaden auf Dauer den Augen. Oft stehen die Lesegeräte in separaten Kabinen, die durch die Apparate schnell warm werden. Die schlechte Luft, das ungünstige Sitzen und die schlechte Dokumentqualität erschweren die Konzentration. Es leiden Gesundheit und wissenschaftliche Qualität.

Kein guter Arbeitsplatz: Mikrofilm-Lesegerät.

4. Mikrofilme sind schwierig und teuer zu reproduzieren. Wenn schon die Verfilmungen schlecht sind, gilt das um so mehr für die Abzüge von den Filmen. Bedenkt man, dass die meisten Historikerinnen und Historiker heute nicht zum Exzerpieren, sondern zum Reproduzieren in die Archive gehen, hat das negative Folgen für den wissenschaftlichen output. Denn am heimischen Schreibtisch sind manche Mikrofilme so schlecht reproduziert, dass die Auswertung schwierig wird. Zudem sind meiner Erfahrung nach Mikrofilm-Kopien immer teurer als Kopien aus den Originalen. Warum, bleibt mir rätselhaft. Die Benutzerinnen und Benutzer zahlen mehr, bekommen aber eine schlechtere Qualität der Repros.

5. Die Lesegeräte sind störanfällig, die Technik ist oft veraltet. Auch dieses Phänomen kennen Archivbesucherinnen und -besucher. Gerade hat man sich auf der unübersichtlichen Filmrolle zurechtgefunden, in eine Handschrift eingelesen und angefangen zu kopieren oder zu exzerpieren – da geht das Licht aus und das Lesegerät macht schlapp. Alte Geräte überhitzen leicht und geräuschvoll. Moderne Lesegerät-Technik ist nicht Standard in deutschen Archiven.

6. Mikrofilme entfremden von den Quellen. Dieser Vorwurf wird von Traditionalisten gerne an Historikerinnen und Historiker gerichtet, die mit digitalisierten Quellen arbeiten oder selbst in Archiven (was in Deutschland selten genug der Fall ist) Quellen digitalisieren. Wo bleibt der Geschmack des Archivs? Der ist bereits seit den 1960er Jahren durch die Mikrofilme verloren gegangen. Wo hingegen Digitalisate authentischer abbilden oder die Reproduktion selbst am Original vorgenommen werden muss, ist der Kontakt mit den Quellen viel direkter, physischer und visuell nachdrücklicher. All das fällt bei Mikrofilmen weg. Sie stehen unüberwindlich zwischen Historiker/in und Quelle – zumal die Originaldokumente von den Archiven mit dem Hinweis auf die Mikrofilme hermetisch unter Verschluss gehalten werden.

Oft unübersichtlich und unsorgfältig: Mikrofilm-Rollen.

Mikrofilme eignen sich also nicht für eine qualitativ hochwertige, exakte, kostengünstige und effektive historische Arbeit. Sie schaden sogar dem Leistungsvermögen der Archivbesucher und verbauen den direkteren Gang ad fontes. Dennoch prägen sie vielfach den Archivalltag, v.a. in den großen Archiven. Darüber muss gesprochen werden. Denn es gibt Alternativen: Digitalisierung, Foto-Reproduktion durch die Benutzer/innen (wie es etwa in den Archives départementales in Frankreich auch für vormoderne Dokumente möglich ist) oder der direkte Zugriff auf die Quellen. Und schon vorweg: gerade für alte Dokumente dürfte die Bestellfrequenz ohnehin nicht sonderlich hoch sein. Zudem werden die Originale von geprüften und gut ausgebildeten Fachleuten eingesehen, die wissen, wie man mit altem Schriftgut umgeht. Alles ist besser als Mikrofilme.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/348

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Zocken in Vegas, Überleben in Lappland, zum Erinnern nach Auschwitz? Opfergedenken als Billigtourismus? Zum SZ-Magazin vom Freitag

Nachdem ich mich schon im Zusammenhang mit Mario Balotelli als SZ-Leser geoutet habe – hier erneut ein objet trouvé der ärgerlichen Art. Das Freitagsmagazin der SZ (Nr. 43, 26.10.2012) featured 11 Reiseberichte unter dem Titel Lebensziele: “Wir haben elf Autoren gefragt, wohin sie schon immer mal fahren wollten und warum.” Und rauskam eine schöne Zusammenstellung: eine Journalistin will sich unbedingt in Autralien in ein Becken mit Krokodilen legen. Ein Zweiter reist zum Zocken nach Vegas, ein Dritter nach Lappland zum Überleben, noch einer anderer will nach San Sebastián zum Sterne-Koch (“11 Sterne in drei Tagen”). Und mittten drin – Auschwitz: “Einmal im Leben wollte unser Autor in Auschwitz der Nazi-Opfer gedenken – er verließ den grauenhaften Ort auch mit Hoffnung.” Was folgt ist ein eher nachdenklicher Bericht. Was mich so stört, ist das Framing dieses Texts, der reißerische Teaser, eingequetscht zwischen Kleinbürgertraumreisen und einarmigen Banditen.

Die Forschung (z.B. das Institute for Dark Tourism der UCLan) sieht das Phänomen “dark tourism” durchaus ambivalent und attestiert aufklärerisches Potential. Realiter ist, Auschwitz ohnehin ein Anziehungspunkt für Besucher aus aller Welt, buchbar übers Reisebüro und beworben auf den Billboards der Straßen Warschaus. Von den Framing-Spezialisten des SZ -Magazins hätte ich aber mehr Reflexion in der Zusammenstellung erwartet. Auschwitz wird hier zum billigen Tourismusziel. Man könnte es auch überblättern, aber gilt die SZ nicht als eine der letzten Qualitätszeitungen?


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/10/27/zocken-in-vegas-uberleben-in-lappland-zum-erinnern-nach-auschwitz-opfergedenken-als-billigtourismus-zum-sz-magazin-vom-freitag/

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Für längere Dauern, größere Räume und materiellen Determinismus?

Turns gibt es viele in der Geschichtswissenschaft. Ihr Rhythmus scheint sich mit der Beschleunigung der globalisierten Welt selbst zu beschleunigen. Wir erleben “Gleichzeitigkeiten” (Achim Landwehr) von Wenden bezüglich der Interessenschwerpunkte, Theorien und Methoden.

Mir scheint aber, dass diese turns mehr gemeinsam haben, als es auf den ersten Blick scheint. Nicht immer, wenn in der Historiographie eine neue Seite aufgeschlagen wird, beginnt auch immer ein neues Kapitel. An vier Punkten will ich versuchen, die Gleichartigkeiten der turns seit der kulturalistischen Wende der 1970er Jahre (in Frankreich und Italien) bzw. der 1990er Jahre (in Deutschland) zu bezeichnen. Meine Einlassungen zu diesen vier Merkmalen der aktuellen Kulturgeschichte sind freilich nur flüchtige Überlegungen – zumal auch ich eigentlich auf der kulturwissenschaftlichen Methodenseite stehe.

1. Mikrostudien. Der große räumliche Wurf wird nur mehr selten gewagt. Die Skalierung von Studien bezieht sich auf kleinteilige Räume: Städte, Landgerichte, kleine und mittlere Reichsterritorien oder Regionen, einzelne Klöster oder Zwischenräume wie Fenster, Brücken und Türen. Freilich gibt es Ausnahmen, die mir in der französischen Forschung mit ihrer alten Tradition der grands espaces noch am häufigsten scheinen. Aber auch dort herrscht der Mikrotrend. Friaul mit Käse und Würmern statt totaler Mittelmeergeographie.

2. Eher kurze Dauer.
100 Jahre sind lang, länger werden nur Minimalthemen oder (quellenmäßg) rare Phänomene behandelt. Thesen, die mehrere Jahrhunderte umfassen, werden seltener – abgesehen von den wild wuchernden Epochen-Überblicksbänden für Studienanfänger. Ein zeitlicher und auch konzeptuell fassbarer Großblick à la temps des réformes eines Pierre Chaunu würde womöglich nicht mehr ernst genommen werden.

3. Materialität und Grundbedingungen. Eigentlich erlebt Materialität gerade wieder ein Comeback, allerdings in einer kulturalisierten theoretischen Form. Es geht heute um die Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungne zu Artefakten, deren “Materialität und Präsenz” in Ding-Raum-Mensch-Geflechten. Was ich aber meine, ist eine andere Art von Materialität: natürliche, geographische, ökonomische, klimatische Bedingungen für die Lebenswelt der Menschen. Grundbedingungen im eigentlichen Sinne, die menschliches Handeln und Wahrnehmen prägen, möglich machen, formen und konditionieren. So unkonstruktivistisch wie möglich!

4. Wehe den Determinsimen…! rufen dann viele. Der Mensch sei der Ort der Geschichte und allen Handelns, Wahrnehmens, aller Bedeutung und Sinnhaftigkeit. Aber müsste die Postmoderne nicht ein wenig von diesem anthropozentrischen Geschichtsbild abrücken? Ist es nicht tatsächlich so, dass Berge mit ihren klimatisch-geographischen Bedingungen die Landwirtschaft, Ökonomie und sogar die Zahl der Menschen dort stärker beeinflussen als umgekehrt? Präzise gefragt: Konstruiert der Mensch den Berg oder nicht doch der Berg den Menschen? Ist Geschichte bis zur Moderne nicht eine der langen Zeit und starren (da, ja, determinierten) faktischen Strukturen?

So sind doch die meisten aktuellen turns keine historiographischen Wenden, die in Bedeutung und Umbruch dem Wandel von der Politik- zur Sozial- zur Kulturgeschichte gleichen würden. Seit der kulturalistischen Wende, beginnend mit den mental und linguistic turns, schwanken Interessen. Die Grundausrichtungen aber bleibt.

Kann es überhaupt etwas anderes geben als die aktuelle kulturalistisch-anthropologische Geschichtsschreibung? Vielleicht täte es gut, mal wieder einen Blick in seinen Braudel oder – für die Deutschen – ihren Wehler zu werfen. Was mir vorschwebt ist freilich keine Rückkehr zur alten Sozialgeschichte der 1950er und 60er Jahre. Aber ein verstärkter Rückgriff auf längere Dauern, größere Räume, essentiell-materielle Lebensbedingungen und Determinismen für das menschliche Leben in der Vormoderne wäre womöglich eine Perspketive. Nicht zuletzt, um mal wieder einen fundierten und fruchtbaren Theorie- und Methodenstreit in der forschenden Zunft zu provozieren. Denn der vergangene Historikertag in Mainz war doch arg harmonisch.

Fernand Braudel, der Entdecker der longue durée und des Mittelmeers.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/205

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Rostock-Lichtenhagen ist noch kein “Erinnerungsort”

Ein paar Gedanken zum Erinnern. Bundespräsident Gauck hat am Wochenende in Rostock-Lichtenhagen eine Rede gehalten. Er hat an die Taten eines gewalttätigen, mordwilligen Mobs vom 22.-26.8.1992, das Leid der Opfer in einem Asylbewerberheim und einem Wohnheim für Vietnam-Deutsche, das Versagen der staatlichen Sicherheitsorgane und die Pflicht zum Gedenken erinnert. Meiner Ansicht nach besteht eine Gefahr im allzu schnellen Gedenken, Erinnern und Historisieren. In der deutschen Erinnerungskultur gibt es mittlerweile anscheinend eine Erinnerungsroutine, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus speist und nun auf jüngst vergangene Ereignisse übertragen wird. Dass eine bestimmte Form des Erinnerns einer Verschiebung vom “Arbeitsspeicher” in das “Archiv” des kollektiven Gedächtnisses gleicht – ja sogar eine natürlich Funktion sei, wurde verschiedentlich angemerkt (siehe z.B. WerkstattGeschichte 52/2009 “archive vergessen”). Lebendige Geschichte droht, wenn man nicht aufpasst, zur vergangenen, abgeschlossenen, erfolgreich überwundenen Geschichte zu werden. Genau die Gefahr sehe ich, wenn nun zum 20. Jahrestag R-Lichtenhagen zum Erinnerungsort gemacht wird. Diese Vergangenheit ist nicht vorbei! Sie ist ummittelbar wirksam, beispielsweise im Asylrecht: Im Anschluss oder in Reaktion auf die Gewalt gegen vermeintlich Fremde in Lichtenhagen, Mölln, Hoyerswerda oder Solingen verschärfte Deutschland seine Asylgesetzgebung (u.a. mit der Drittstaaten-Regelung) – dieses Asylverhinderungsrecht ist immer noch in Kraft.

Nur ein Zitat aus den Bundestagsdebatten im Vorfeld des sog. Asylkompromisses vom 26. Mai 1993, Norbert Geis am 4.11.1992 (auch heute noch CSU-Abgeordneter):

„Nun können wir uns leicht ausrechnen, wann wir, weil dieser Asylstrom überhaupt nicht enden wird […] die Kapazitäten nicht mehr haben, um diese Menschen aufnehmen zu können. Wir können uns doch auch leicht ausrechnen, wann es zur Katastrophe kommt. […] Es geht doch letztlich darum, dass wir Wortklauberei betreiben und der eigentlichen Tatsache nicht ins Gesicht sehen. Diese unsere Haltung bewirkt draußen, daß wir eine zunehmende Radikalisierung der Bevölkerung, zumindest ein starke Sympathie gegenüber radikalen Parteien erleben. Dieser Radikalimus ist die Ursache für Exzesse.“ (BT - Aktuelle Stunde Plenarprotokoll 12/116 04.11.1992 S. 9892-9893.)

Von vielen in den Regierungsparteien und der SPD wurde die einfache Gleichung, „Asylstrom“ führt zu „Exzessen“, unterschrieben; die Asylrechtsänderung von 1993 war auch eine Konsequenz aus dieser Wahrnehmung der Gewalt gegen vermeintlich Fremde.

20 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen ist nicht die Zeit der deutschen Geschichte einen weiteren Erinnerungsort hinzuzufügen, es ist Zeit für eine Entradikalisierung des Asylrechts.

Herr Gauck, das wäre Ihre Gelegenheit gewesen zu handeln. Ergreifen Sie die nächste !


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Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/08/27/rostock-lichtenhagen-ist-noch-kein-erinnerungsort/

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“…weil Gott sich in Jesus Christus ganz auf die Geschichte eingelassen hat”?

Dieser Artikel soll einige Gedanken zum Verhältnis von Religionsgemeinschaften, persönlicher Religiosität und Geschichtsschreibung anstellen. Anlass dafür ist eine im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (14. August 2012) auszugsweise abgedruckte Rede des Münsteraner Kirchenhistorikers Hubert Wolf, die er eine Woche zuvor bei den Salzburger Hochschulwochen gehalten hat. Darin beklagte Wolf die unbedeutende und zu angepasste Rolle, die die universitäre Kirchengeschichte für die politischen und theologischen Entscheidungen des Vatikans spielten. Die Amtskirche solle viel stärker auf ihre Historiker hören, denn: “Ohne Kirchengeschichte fehlt dem theologischen Blick die nötige Tiefenschärfe.” Kirchengeschichte könne der Kirchenleitung demnach die ganze (katholische) Vielfalt der theologischen Meinungen und deren historische Entwicklungen und Brüche demonstrieren. Sie könne zeigen, dass es in der Theologie keine Lehrkonstanz gibt. Nicht einmal in Rom. Dabei müssten freilich wissenschaftliche Standards eingehalten werden. Dazu beschreibt Wolf wie folgt das Wesen von Glauben in und für die (Kirchen-)Geschichte: “Der Traditionsprozess, der seinen Ausgangspunkt im historischen Christusereignis nimmt, kommt niemals zum Stillstand, weil Gott sich in Jesus Christus ganz auf die Geschichte eingelassen hat und die Kirche unter den wechselnden Bedingungen der jeweiligen Zeit die zentrale Aufgabe hat, den Tod und die Auferstehung des Herrn zu bezeugen.” Hier beginnen die Schwierigkeiten, die ich mit einigen Aspekten der Rede habe. Kirchenhistoriker sind noch immer auf der Suche nach dem “Gottesteilchen” in der Geschichte. Volker Leppin hat diese Aufgabe vor kurzem so formuliert: “In diesem Zusammenhang stellt die Kirchengeschichte wirklich eine eigene theologische Frage: die nach der Verschiedenartigkeit der kulturell bestimmten Bilder, die den Gott der biblischen Offenbarung sprechen lassen.” [1] Zweifel, ob es sich dabei nicht um eine – frei nach Lucien Febvre - question mal posée handelt, ja handeln muss, tauchen nicht auf. Ich habe noch nie in einer kirchengeschichtlichen Arbeit die Frage gelesen: gibt es das überhaupt, was wir da nachverfolgen? Auch unabhängig davon, wie man diese Frage beantwortet, ist die notwendigerweise so an persönliche Glaubensbejahung gebundene Geschichtsbetrachtung eine große Hypothek für die daraus resultierende Forschung. Die aus dem und mit dem Glauben (und laut Wolf für die Kirche) heraus operierende Hermeneutik setzt den Kirchenhistorikern eine Brille für Deutungen und großrahmige Einordnungen der Geschichte auf, die stärker sind als jede Theorie. Kirchenhistoriker antizipieren, wenn sie ihr Aufgabenfeld wie Wolf und Leppin begreifen, unausgesprochen eine Kraft hinter die Geschichte, an die man letztlich als seriöser Historiker nicht herankommen kann. Kirchenhistoriker versuchen dies trotzdem über die Theologiegeschichte (die an sich ein ehrenwertes und höchst anregendes Forschungsfeld ist!), mitunter auch über Institutionen (bzw. deren “Sieg” oder “Untergehen”). So wird freilich das Pferd der Clio von hinten aufgezäumt. Die stark auf Gott und Formen der göttlichen Offenbarung in Theologie und Kirchenstrukturen abzielende deutsche Kichengeschichte bringt somit eine falsche Sakralität in einen Forschungsbereich, den manch einer für Atheisten oder Agnostikern sogar verschlossen sieht. Die Debatte, ob nicht-religiöse Menschen überhaupt Zugang zu historischer Religiosität haben, kocht immer wieder hoch. [2] Fast noch problematiascher ist aber der durch die Suche nach dem “Gottesteilchen” verengte Blick auf die Religionsgeschicht. Gerade die frühneuzeitliche Religionsgeschichte und in ihr besonders die Reformation werden in Deutschland von Kirchenhistorikern dominiert. Das ist zunächst einmal weder gut noch schlecht. Aber ihre einseitige Fokussierung auf Theologie und Institionen verdrängt das für die größte Zahl der historischen Zeitgenossen wichtigste an den Rand: Kulturformen, Praktiken, Deutungen und soziale Wirkmächtigkeiten von Religion. So werden aus einer schlecht gestellten Frage nicht gestellte Fragen! Der Umstand, dass Kirchenhistoriker in aller Regel als Beschäftigte an Theologischen Seminaren von der Kirche ausgewählt und besoldet werden, macht dies nicht besser. Die Kirchen suchen sich also die aus, die dann über sie schreiben. Dabei kommen vielfach ausgebildete Theologen zum Zuge. Natürlich, zahlreiche gläubige Menschen und Theologen betreiben hervorragende Forschung. Dennoch werden somit nicht bessere und neue Fragen an die Geschichte gestellt. Vielleicht liegt auch hier ein Grund für die innerkirchliche Zahmheit und Marginalität der konfessionellen Kirchengeschichte, die Hubert Wolf konstatiert hat. Im Ausland läuft manches besser. Das Beispiel Frankreich zeigt, was für exzellente und innovative Forschung zur Religionsgeschichte ohne die deutsche Sonderform der Theologie- und Kirchenhistorie entsteht. In Frankreich gibt es keine staatlichen Theologischen Fakultäten. Dort kümmern sich “Allgemeinhistoriker” um die Religionsgeschichte. Sie machen eine theoretisch-methodisch moderne histoire des religions und werden so zu Religionshistorikern.     Religionshistoriker und Agnostiker: Lucien Febvre (1878-1956)   [1] Volker Leppin: Histoire de l’Eglise et histoire des religions, in: Christophe Duhamelle/Philippe Büttgen (Hg.): Religion ou confession. Un bilan franco-allemand sur l’époque moderne (XVIe-XVIIIe siècles), Paris 2010, 57-72, hier: 72. [2] Siehe dazu demnachäst Marc Mudrak, Rez. zu C. Scott Dixon: Contesting the Reformation (Contesting the Past), New York 2012, unter: H-Soz-u-Kult. Cf. auch Tracy, James D.: Believers, Non-Believers, and the Historian’s Unspoken Assumptions, in: Catholic Historical Review 86 (2000), S. 403-419. Gläubige sehen Religion laut Tracy als ein persönliches Phänomen und die Person als in rational-bewusstem Handeln erklärbar. Atheisten sehen Religion sowie einzelne Personen demnach im Zusammenhang sozialer und kultureller Prozesse und sind theorieaffiner.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/165

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Mario Balotelli – Fußballspieler, Performancekünstler und Medienkritiker

Respekt vor der Medienkompetenz dieses 21-jährigen Fußballspielers! Mit einer wütenden, enorm ausdrucksstarken und ikonenhaften Geste hat Mario Balotelli ein Kunstwerk des digitalen Medienzeitalters geschaffen. Nach seinem zweiten Tor, das die hochgejubelte deutsche Fußballnationalmannschaft aus der EM 2012 katapultiert, zog er sich das Trikot aus. Er blieb stehen und formte seinen Oberkörper zu einem Trapez aus angespannter Muskulatur. Seine künstlerische Performance im Anschluss an seinen spektakulären Siegtreffer nutzte die denkbar größte Bühne, die der Globus zur Zeit zur Verfügung stellt, mit mehreren 100 Millionen Zuschauern. Im Netz wurde sein Werk in Videoclips, Fotos, Karikaturen, Blogs, Kommentaren exponentiell vervielfacht. Das Rohmaterial für die künstlerische Kritik an den kolonialen und rassistischen Tiefenstrukturen der modernen Gesellschaft bildeten die latent wuchernden Stereotype, die in den massenmedialen Reaktionen auf seine Performance offengelegt wurden.

Was in den einschlägigen Foren geschrieben wurde, möchte ich nicht wiederholen. Es dürfte für den Sohn ghanaischer Einwanderer, der in Italien bei einer Pflegefamilie aufwuchs und nun in England bei Manchester City kickt, nicht neu sein. Aber auch in bürgerlichen Medien fanden sich Charakterisierungen wie „Straßenköter“ (R. Beckmann, ARD) oder eine Karikatur im Corriere dello Sport, die Balotelli als Kingkong auf dem Empire State Building zeigt. Ersteres, angeblich „respektvoll“ gemeint, muss gar nicht groß dekonstruiert werden. Dass jedoch seriöse Journalisten nicht umhin können, das Verhalten Balotellis in die primitive Vorzeit zu versetzen, weisst auf die diskursive Relevanz des Problems hin. Die Süddeutsche (“Posen mit Mario Balotelli”, 29.6.12) zum Beispiel bemühte sich nach Kräften, Balotellis Geste zu persiflieren, verglich ihn mit David-Skulpturen Michelangelos – diese seien „lebendig“ , Balotellis „Triumph“ dagegen „seelenlos“, wahlweise „archaisch“, „Urzeit“ oder aus „dem Computerspiel“ entnommen. Hier ficht die feine Klinge des Bildungsbürgers, steht der frühe künstlerische Höhepunkt des Abendlandes den primitiven Rohheiten und dem Unterschichten-Vergnügen gegenüber.

Die Berichterstattung über Balotellis überragende fußballerische Leistung und seine anschließende Performance erinnert an eine Situation, die Stuart Hall in seinem Aufsatz „Das Spektakel des Anderen“ (Hall 2008) aufgreift, um die rassistische Grundstruktur westlicher Medienberichte zu analysieren: Der aus Jamaika stammende Linford Christie hatte die Goldmedaille für das englische Nationalteam im olympischen 100-m-Finale 1992 geholt und die englischen Boulevardmedien haben nichts Besseres zu tun, als über die „lunch box“ in Christies Sporthose zu lästern. Hall arbeitet einen typischen Grundton des medialen Rassismus heraus, die Naturalisierung, also die diskursive Reduzierung vermeintlich „Anderer“ auf ihren Körper, ihre Natur. Das geniale an Balotellis Performance ist, dass sie diese Prozesse nicht nur nutzt, um (1) seine Wut auf den weißen Rassismus darzustellen (siehe Fanon 1981). Sie ist zugleich reflexiv und macht den latenten, bürgerlichen Rassismus sichtbar, der sich nicht in lautstarkem Parolengrölen oder Bananenwürfen manifestiert, sondern in der diskursiven Alterisierung eines vermeintlich archaischen Straßenfußballers.

Mancher Kommentator hat die Fußball-WM genutzt sich zu desavouieren, Balotelli die Bühne für ein starkes Statement.

Zitierte Literatur:

Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M. 1981 (frz. 1961).

Stuart Hall, Das Spektakel des ‚Anderen‘, in: ders., Ideologie, Identität, Repräsentation (Ausgewählte Schriften 4), Hamburg 2. Aufl. 2008, 108–166.


Einsortiert unter:Aktion, Ereignis, Kolonialismus, Medien, Meinung

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/07/03/mario-balotelli-fusballspieler-performancekunstler-und-medienkritiker/

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