Exkursionsbericht Griechenland 2014 Alte Geschichte

Griechenland – Auf den Spuren der Götter (Bericht von Theresa Dorsam und Dimitros Adamopoulos)

Unter diesem Motto stand die Exkursion der Alten Geschichte vom 01. bis 12. Oktober 2014 nach Athen und auf die Peloponnes. Nach einer intensiven Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Quellentexten – von Aischylos bis Platon – aus und über diese Regionen im vorausgegangenen Sommersemester 2014 freuten wir uns auf die Reise und waren bereit für die Spurensuche.

Mittwoch, 01.10.2014: Unsere erste Spur führte uns von Frankfurt/Main über den Flughafen Wien nach Athen, wo wir von der griechischen Sonne empfangen wurden. Weitere griechische Besonderheiten wie der Ouzo und die berühmte Landesküche sollten am selbigen Abend noch folgen. Nach der Ankunft im Hotel fuhren wir nämlich zum Einstieg gemeinsam in den Athener Stadtteil ,,Plaka“, wo wir unter der Akropolis dinierten. Der Anblick des beleuchteten Parthenons ließ schon erahnen, was uns am nächsten Tag erwarten sollte.

Donnerstag, 02.10.2014: Voller Tatendrang erreichten wir am frühen Vormittag des ersten wirklichen Exkursionstages das Wahrzeichen der griechischen Landeshauptstadt: die Akropolis. Nachdem uns die beeindruckenden aber mit Menschenmassen überfüllten Propyläen näher erläutert worden waren, liefen wir am berühmten Nike-Tempel vorbei in Richtung Erechteion. Dann endlich fanden wir eine wichtige und langersehnte Spur unserer Exkursion: den Parthenon. An Ort und Stelle spürten wir die 2500 Jahre alte Geschichte dieses architektonischen Meisterwerkes – und diese Geschichte ist noch lange nicht beendet, denn wir konnten live miterleben, wie der Tempel der Göttin Athene, der nach dem Sieg über die Perser errichtet und Ende des 17. Jahrhunderts schwer beschädigt wurde, in mühevoller Kleinstarbeit wieder aufgebaut wird. Im neuen, modernen Akropolis-Museum konnten wir viele archäologische Schätze wie z. B. die Koren des Erechteions bewundern. Danach ging es über die Überreste des Dionysos-Theaters und über das Odeon des Perikles zur Agora. Manch einer bekam eine Gänsehaut, als er erfuhr, dass genau an diesem Platz die Wurzeln der Demokratie liegen. Etwas enttäuschend war freilich der schlechte Erhaltungszustand der Agora. Dennoch halfen uns Rekonstruktionszeichnungen, Stück für Stück die Spuren auf der Agora zusammenzufügen.

Freitag, 03.10.2014: Nach einem langen Weg durch zahlreiche von der Wirtschaftskrise sichtlich getroffene Stadtteile trafen wir im griechischen Nationalmuseum in Athen ein. Dort wurden wir von der goldenen ‚Maske des Agamemnon’, die von Heinrich Schliemann 1876 in Mykene gefunden wurde, begrüßt. Wir haben diese, wie auch zahlreiche andere Ausstellungsstücke des Museums, kritisch betrachtet und hinterfragt. Tatsächlich ist es umstritten, ob es sich wirklich um die Maske des Agamemnon handelt. Insgesamt gingen wir mit vielen neuen Eindrücken – auch aus der archaischen Zeit – aus dem Museum. Der Tag hatte damit aber nur angefangen, denn unsere Reise führte uns weiter in das Theater von Thorikos, welches zu den ältesten Theater Griechenlands zählt. Hier suchten wir gemeinsam mit unseren Dozenten nach den Überresten von Silber und Blei, die hier bereits in der Archaik abgebaut wurden. Danach hatten wir uns einer besonderen Herausforderung zu stellen: dem windigen Poseidon-Tempel in Sunion. Hier mussten wir alle gegen Poseidons Winde kämpfen. Scheinbar war der Meeresgott uns gegenüber mürrisch gestimmt, denn er machte uns die Spurensuche nicht einfach. Die atemberaubende Aussicht an der südlichen Küste Attikas ließ uns den anstrengenden Aufstieg dann allerdings vergessen.

Samstag, 04.10.2014: Nach einem dreitägigen Aufenthalt in Athen brachen wir in Richtung Tolo auf der Peloponnes auf. Die 25 Kilometer lange heilige Straße führte uns zunächst zum Grabungsgelände in Eleusis. Nach einem kurzen Aufenthalt und der Besichtigung des Telesterions ging es über den Isthmus von Korinth. In der antiken Ausgrabungsstätte von Korinth begegneten wir schließlich dem nächsten Gott, Apollon, und dessen beeindruckenden Tempel. Nach einem anschaulichen Gang durch die Stadtanlage Korinths machten wir einen Zwischenstopp in Nemea. Die Besichtigung hier stellte sich als schwierig heraus, da das Grabungsgelände aufgrund der Winteröffnungszeiten geschlossen war und wir die Größe des Zeus-Tempels nur vom Zaun aus erahnen konnten. Danach fuhren wir nach Tolo, wo wir in einem kleinen Hotel, das von einer netten griechischen Familie geleitet wurde, direkt am Meer untergebracht waren.

Sonntag, 05.10.2014: Am nächsten Morgen begaben wir uns auf eine weitere wichtige Spurensuche in Mykene. Beim Erblicken der riesigen Felsblöcke in den mykenischen Mauern und des Löwentors, kamen wir ins Staunen und konnten Aischylos‘ Tragödie Agamemnon, welche wir im Vorbereitungsseminar gelesen und nachgespielt hatten, vor Ort nachempfinden. Das Megaron und die Gräber auf dem Grabungsgelände von Mykene ließen uns die prächtige mykenische Kultur, welche ca. vom 16. bis ins 12. Jahrhundert v. Chr. bestand, erahnen. Nach einem kurzen Zwischenstopp am ‚Schatzhaus des Atreus’, einem Tholosbau aus dem 13. Jahrhundert v. Chr., fuhren wir weiter zum Heraion von Argos. Dieses Hera-Heiligtum zählte seit früharchaischer Zeit zu den ehrwürdigsten Heiligtümern Griechenlands und hatte seine größte Blüte im 5. Jahrhundert v. Chr. Da nur die Grundmauern der Tempelanlagen erhalten waren, wurde uns auch hier die Spurensuche nicht einfach gemacht. Dennoch durchforsteten wir mit offenem und mittlerweile geschultem Auge die Überreste des Heiligtums. Gegen Mittag machten wir in Argos Rast, wo wir das hellenistische Theater, welches knapp 20.000 Zuschauer fasste, erklommen. Unsere letzte Spur an diesem Tag führte uns zu dem Grabungsgelände der Burg von Tiryns. Diese antike Stadt erlebte ihre Hochphase im 3. Jahrtausend v. Chr. Trotz guter Ausrüstung konnten wir dem aufkommenden Regenschauer nicht Stand halten, sodass ein Teil die Besichtigung leider relativ schnell abbrechen musste.

Montag, 06.10.2014: Heute stand Epidauros auf unserem Plan. Dort fanden wir das imposante und beeindruckende Theater aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. vor, welches am Hang gebaut wurde und bis zu 14.000 Personen Platz bot. Wir konnten es uns nicht verkneifen, die einzigartige Akustik im Theater zu testen und genossen den weitläufigen Ausblick auf die Landschaft. Danach erkundeten wir das Asklepios-Heiligtum von Epidauros, welches in seiner Bedeutung keinesfalls im Schatten des berühmten Theaters stehen sollte. Hier wurde seit dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein umfassender Kult- und Heilbetrieb im Zeichen des Halbgottes und Wunderheilers Asklepios und seiner Tochter Hygieia praktiziert. Auf dem teilweise nur mäßig gut erschlossenen Grabungsgelände begaben wir uns auf Spurensuche von Asklepios.
Der Nachmittag stand zur freien Verfügung. Viele Exkursionsteilnehmer, die von der teils anstrengenden Spurensuche etwas mitgenommen waren, nutzten die Zeit zur Erholung. Einige andere erkundeten die idyllische Gegend rund um Tolo auf dem Wasser. Da unser Boot eher antiken Standards glich und mit der rauen See zu kämpfen hatte, machte so manch ein Grieche auf unsrer kleinen Bootstour schlapp. Dennoch konnten wir alle wieder gut erholt den Tag in geselliger Runde ausklingen lassen.

Dienstag, 07.10.2014: Am nächsten Tag verließen wir Tolo und brachen in Richtung Sparta auf. Nach einem spontanen Zwischenstopp in der prähistorischen Siedlung von Lerna hielten wir bei dem Kloster Moni Loukous aus dem 12. Jahrhundert an. Die kleine Zentralbasilika, in dessen Mauern so manche antike Spolien verbaut sind, befand sich inmitten eines zauberhaften Klostergartens. Nach höflichem Anklopfen durften wir eintreten und wurden von gastfreundlichen Nonnen anschließend mit leckerem griechischen Kaffee versorgt. Danach begaben wir uns einige Meter weiter auf Erkundungstour durchs Gebüsch, um die Villa des römischen Redners und Politikers Herodes Atticus zu erkunden.Unser weiterer Weg führte nach Tegea. Da uns auch hier wieder ein starker Regenschauer heimsuchte, konnten wir den Athena-Tempel nur vom Bus aus bestaunen und unsere Phantasie im kleinen, aber gut ausgestatteten Museum anregen lassen. Gegen Abend kamen wir schließlich in Sparta an. Nachdem wir erkannten, dass unsere Hotelzimmer dem entsprachen, was man im Volksmund mit ‚spartanischen Verhältnisse’ umschreibt, beendeten wir den Tag gemeinsam in einem Restaurant vis-à-vis des modernen Leonidas-Denkmals.

Mittwoch, 08.10.2014: Da Historiker stets nicht nur einer Spur folgen sollten, besuchten wir an diesem Tag die Klosterkirchen der byzantinischen Stadt Mystra aus dem 15. Jahrhundert. Auch an diesem Tag regnete es leider, was uns aber nicht davon abhielt, den Klosterberg zu erklimmen und die Geheimnisse der zahlreichen Kirchen und Kloster zu erkunden.
Da jeder der Exkursionsteilnehmer den Film ‚300’ gesehen hatte, hatte die Mehrheit hohe Ansprüche an Sparta. In der Stadt Sparta – heute eher eine Kleinstadt – besichtigten wir das Museum.
Dabei stach die Statue eines spartanischen Kriegers aus dem Jahre 490 v. Chr. ins Auge. Der Krieger – manche denken, es sei Leonidas persönlich – trägt einen Helm mit großem Kamm und schweren Wangenpanzern. Was genau auf den Wangenpanzern zu sehen ist, führte zu hitzigen Diskussionen in der Gruppe. Doch letztlich konnten wir klären, dass es sich um Widderhörner handelte. Als wir das Museum in Sparta verließen, merkte einer der Detektive, dass der Eingang des Museums dem Nike-Tempel ähnelt. Ein Tourist, der neben unserer Gruppe stand, hörte dies und rief ihm auf deutsch ,,Streber“ zu, was zu Gelächter führte. Insgesamt wurde uns erklärt, dass es nur wenige Zeugnisse aus der Vergangenheit Spartas gibt. Die Ausgrabungsstätten in Sparta waren auch nicht gerade ansehnlich und die hohen Erwartungen wurden nicht erfüllt. Unvergesslich wird dennoch das Taygetos-Gebirge rund um Sparta bleiben, das nicht nur bei den Feinden des antiken Spartas einen mächtigen Eindruck hinterlassen hat.

Donnerstag, 09.10.2014: Von Sparta fuhren wir nach Messene, wo wir das weitläufige Grabungsgelände erkunden konnten. Die beeindruckende Stadtmauer verführte manch einen, an ihr hochzuklettern, was manchen unserer Dozenten gelegentlich das Herz stehenbleiben ließ.
Das Stadion war sehr gut erhalten, sodass auch die brühende Hitze die Detektive nicht davon abschreckte, Beweisfotos zu schießen. Als kleine Entschädigung für das schlechte Wetter in Sparta fuhren wir ins sonnige Pylos, wo wir in einem netten Hotel an einem kleinen Hafen übernachteten. Die Schlacht von Pylos (425 v. Chr.) Krieg und die Schlacht von Navarino (1827 n. Chr.) waren zwei wichtige Ereignisse der Region, jedoch mit gravierendem Einfluss auf die gesamte griechische Geschichte. Und neben allem Schlachtenruhm bot Pylos dann auch die ersehnte Möglichkeit, schwimmen zu gehen und sich ein wenig zu erholen. Den Abend verbrachte die Gruppe gemeinsam direkt am wunderschönen Hafen, wo gelacht, getrunken und gespielt wurde. Man lernte sich untereinander besser kennen und auch unsere Dozenten waren stets Teil unserer gemütlichen Runden, die während dieser Exkursion häufig zusammenfanden.

Freitag, 10.10.2014: Eine lange und schwierige Fahrt war die zum Apollon-Tempel in Bassae, der sich auf 1150 Meter Höhe befindet. Unser Busfahrer Georgos (von uns liebevoll ,,Schosch“ genannt) meisterte die kurvenreiche Straße auf den Berg souverän. Als der Bus plötzlich vor einem großen Straßenkrater stehen blieb, dachten wir schon, dass wir umkehren müssten, doch Georgos füllte den Krater mit zwei Felsbrocken, was dazu führte, dass die eine oder andere Exkursionsteilnehmerin bei diesem Anblick dahinschmolz. Iktinos, der Architekt des Parthenon, wurde auch für den Bauherr des Apollon-Tempels gehalten, dieser verwendete korinthische und ionische Elemente und kombinierte diese mit sechs Meter hohen dorischen Säulen. Die korinthische Ordnung findet sich in diesem Tempel zum ersten Mal. Solche Fakten und die Tatsache, einen derart hervorragend erhaltenen Tempel (zugleich auch UNESCO-Weltkulturerbe) sehen zu können, erstaunten viele.

Samstag, 11.10.2014: Am vorletzten Tag der Exkursion besuchten wir Olympia. Sowohl das Grabungsgelände als auch das Museum waren beeindruckend. Dieses Heiligtum des Zeus war der Austragungsort der Olympischen Spiele. Obwohl der Zeus-Tempel heute rekonstruiert werden muss, wurde uns allen klar, dass der etwa 64 Meter lange, 28 Meter breite und 20 Meter hohe Tempel zu den bedeutendsten Bauwerken der frühklassischen Architektur zählt und wir konnten uns damit auch erklären, warum die Athleten während der Olympischen Spiele in Richtung des Zeus-Tempels starteten. Der plastische Schmuck, d.h. die Giebelskulpturen und die Metopen sind im Museum in Olympia zu bestaunen. Die Giebelfelder waren mit Skulpturen aus parsischem Marmor ausgestattet, die Geschichten aus der Mythologie erzählten. Auf den Metopen wurden die zwölf Taten Herakles’ dargestellt. Im Zeus-Tempel befand sich auch eines der Sieben Weltwunder der Antike: die Zeus-Statue des Phidias, die leider nicht mehr erhalten ist. Erhalten dagegen sind aber etwa das Philippeion, ein Teil der Schatzhäuser, der Eingang zum Stadion, das Stadion selbst sowie Teile der Palästra. Die Länge der Laufbahn betrug – und beträgt heute noch – 192,28 Meter. Als die Exkursionsteilnehmer in das Stadion eintraten, überfiel sie der olympische Geist und es kam spontan zu einem Wettlauf unter den Männern (da Frauen am antiken Wettlauf in Olympia nicht teilnehmen durften und die Gruppe dieses Gesetz respektierte). Nach diesen tollen Eindrücken in Olympia fuhren wir zurück nach Athen, wo wir unsere Spurensuche gemeinsam mit Pita Gyros abschlossen.

Sonntag, 12.10.2014: Am nächsten Tag traten wir die Rückreise nach Frankfurt an. Am Flughafen gab es letzte, unangekündigte ‚Tests’, aber da die Exkursionsteilnehmer die gefragten Fachbegriffe für die ‚Rillen’ in den Säulen (Kanneluren) natürlich kannten, konnten unsere Dozenten fröhlich gestimmt werden und sich dann sogar mehreren Zaubertricks der Exkursionsteilnehmer widmen.
Insgesamt hat die Exkursionsgruppe zahlreiche Spuren der Götter auffinden, analysieren und deuten können. Ihr Anliegen, sich auf dem Gebiet der griechischen Antike und Archäologie praxisnah weiterzubilden und auf den Spuren der Götter zu wandeln, konnte mit viel Begeisterung, Freude und (Tat-) Kraft gelingen.

Den Exkursionsbericht mit Bildern finden Sie auch auf der Homepage der Alten Geschichte.

 

Quelle: http://mgtud.hypotheses.org/207

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Stalag X B – ein Ort für das Gedenken

Michele Montagano
Baracke

Baracke der russischen Krieggefangenen © Sarah Mayr (mit freundlicher Genehmigung)

Dieses Jahr wird, nach 2014, einem weiteren Krieg gedacht. 2015 jährt sich zum siebzigsten Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus diesem Grund stellt sich Zeitgeschichte-online einen Monat lang mit einem Themenschwerpunkt vor. Das Thema behandelt einen bisher oftmals vernachlässigten Gegenstand der Geschichte – die Kriegsgefangenen in deutschen Arbeitslagern. Dazu werden die Arbeiten von Sarah Mayr vorgestellt. Die Fotografin beendete 2014 ihr Studium an der Ostkreuzschule für Fotografie (Berlin) in der Abschlussklasse von Ludwig Rauch. Sie beschäftigt sich in ihrer Abschlussarbeit mit dem ehemaligen Arbeitslager für Kriegsgefangene in Sandbostel im Zweiten Weltkrieg. Die ungewöhnliche Bezeichnung „Stalag X B“ steht für ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager. Damals bezeichnete es das Mannschafts-Stammlager B im Wehrkreis X in Sandbostel. Dort wurden gefangene Soldaten und Widerstandskämpfer aus den verschiedensten Ländern untergebracht und zur Arbeit gezwungen.

Die junge Fotografin ist aus Zufall auf das Lager nordöstlich von Bremen aufmerksam geworden. „Meine Mutter war in die Nähe gezogen. Als ich sie besuchte, zeigte sie mir die verfallenen Barracken, und ich begann, sie zu fotografieren. Damals gab es noch keine Gedenkstätte.“ Sie wollte Öffentlichkeit für den Ort herstellen und beließ es nicht nur bei den Schwarz-Weiß-Aufnahmen, sondern suchte nach Zeitzeugen, die den Lageralltag miterlebt hatten und die Ereignisse schildern konnten. Entstanden sind Porträts und Interviews von acht Männern aus sieben verschiedenen Ländern, die von ihrer Festnahme, über ihre Lagerhaft und die Befreiung sprechen.

Raymond Gourlin

Porträt von Raymond Gourlin © Sarah Mayr (mit freundlicher Genehmigung)

Einer von ihnen ist der ehemalige französische Widerstandskämpfer Raymond Gourlin, der mit 19 Jahren zusammen mit seinem Bruder in das Arbeitslager kam, nachdem er von SS-Männern als Partisan verhaftet worden war. Seine erste Reaktion war lautes Lachen, so beschreibt er seine damalige Situation. Er konnte die Zustände an diesem Ort nicht fassen und lachte über diese abstruse Situation. Später sei ihm das Lachen schnell vergangen. Er erzählt von den Ermordungen, deren genaue Opferzahl unbekannt ist, da alle SS-Dokumente verschwunden seien. So berichtet er: „Ein Russe war auf seinem Arbeitstisch eingeschlafen, und seine Bohrmaschine hatte dabei ein Loch in den Tisch gemacht, er wurde dafür wegen Sabotage verhaftet, in Neuengamme zum Tode verurteilt und in der Fabrik, vor den Augen aller, gehängt. Das Zivilpersonal der Fabrik wurde evakuiert, es blieben nur noch die SS und die Gefangenen. Der Russe stand auf einem Hocker, die Hände hinter dem Rücken gebunden und den Hals in der Schlinge. Ein deutscher Gefangener stieß den Hocker um. Ich stand vier oder fünf Reihen entfernt davon, ich habe alles mit angesehen … alles …“

Dass diese Zeit eine traumatische gewesen sein muss, bestätigen Gourlins Beschreibungen. Am Beispiel von Harry Callan zeigt sich, dass es für die Opfer noch heute schwierig oder sogar unmöglich ist, über das Erlebte zu sprechen. Der Nordire war zwar bereit, sich von Sarah Mayr fotografieren zu lassen, jedoch wollte er nicht über Sandbostel sprechen. Man erfährt nur, dass er Mitglied der Handelsmarine und von 1941 bis 1945 in verschiedenen Arbeitslagern interniert war.

„Willst du mit uns kollaborieren oder bist du gegen uns?“ Der größte Teil hat geantwortet: „Nein, wir wollen nicht kollaborieren, wir sind das italienische Heer und haben mit euch nichts gemein.“ Diese Frage wurde Michele Montagano zuerst von den Deutschen gestellt. Er verneinte sie und wurde in einem Viehwaggon nach Deutschland verfrachtet. Auch er erlebte am eigenen Leib Schikane und Unterdrückung im Gefangenenlager Sandbostel. Trotz allem denkt er nicht kollektiv schlecht über Deutschland. Auf die Frage, welches Verhältnis er heute zu Deutschland habe, antwortet er: „Sehr gut, ich schätze die Deutschen enorm, ich bewundere sie. Alle Deutschen, die ich getroffen habe, nach dem Krieg, waren gute Menschen. Sie waren in Ordnung, ernsthafte Menschen.“ Er warnt aber auch, dass die Deutschen zu angepasst waren und es noch sind – und dass dies gefährlich sei.

Michele Montagano

Porträt von Michele Montagano © Sarah Mayr (mit freundlicher Genehmigung)

Die Interviews sind sehr persönlich. Die Männer reden offen über ihre Erlebnisse und haben auch ihre ganz individuellen Meinungen. So wirkt die Antwort des Polen Wiktor Listopadzki auf die Frage, ob er den Generationen, die keinen Krieg erlebt haben, etwas zu sagen hätte, sehr verletzt und zornig zugleich. „Der Krieg ist das Schlimmste, was der Menschheit passieren kann. Es sterben sehr viele junge, alte, kranke und gesunde Menschen dabei. Es ist eine menschliche Tragödie. So etwas sollte niemals passieren. Alle sollten sich vereinigen und Freunde sein. Es sollte nie dazu kommen, dass jemand einem anderen etwas wegnehmen möchte. Die Menschheit sollte Widerstand gegen jene leisten, die Krieg führen wollen. Mein Leben im Krieg war sehr schlimm. Die ganze Jugend habe ich im Kampf verbracht und wurde ohne Respekt behandelt. Getreten von den Deutschen und den Russen. Sie haben meine Mutter ausgeraubt und … Ich will mich hier nicht weiter aufregen. Danke.“

Wiktor Listopadzki

Porträt von Wiktor Listopadzki © Sarah Mayr (mit freundlicher Genehmigung)

Zu Recht widmet sich Zeitgeschichte-online mit den mutigen Männern aus Sandbostel diesem weitgehend unbekannten Lager der SS. Zu lange wurde diesem Ort nicht die nötige Beachtung geschenkt. Erst 2013 eröffnete auf dem alten Lager-Gelände eine Gedenkstätte. Die Jahre zuvor wollte man sich nicht mit seiner Geschichte auseinandersetzen, und die Gebäude wurden zeitweise als Ferienwohnungen genutzt. Unglaublich erscheint die Verdrängung der unangenehmen Vergangenheit.

Recht hat Michele Montagano damit, wenn er sagt: „An uns muss sich erinnert werden, weil wir Mut hatten, nicht in Italien, sondern in Deutschland, Nein zu sagen. Wir haben Nein gesagt in Deutschland, und das ist es, was sie über uns erzählen sollen. Das bedeutet moralische Integrität.“

Alle acht porträtierten Männer sitzen vor einer grauen Wand und schauen den Betrachter frontal an. Durch ihre Haltung und ihre Kleidung jedoch unterscheiden sie sich. Raymond Gourlin zum Beispiel sitzt gerade auf dem Stuhl und schaut ohne jegliche Emotionen in die Kamera. Er trägt ein Jackett und dazu eine Krawatte, seine Hände ruhen übereinandergelegt auf seinen Beinen. Man vermutet bei einer solchen Darstellung keinen ehemaligen Widerstandskämpfer – umso mehr beeindrucken seine Worte. Anders als der Franzose lässt sich Harry Callan porträtieren. Auch er hat zwar seine Hände auf den Beinen liegen, jedoch posiert er in seiner ehemaligen Uniform, inklusive seiner Auszeichnungen. Wie oben erwähnt, wollte er nicht von seinen Erfahrungen erzählen. Trotzdem lässt sich ein gewisser Stolz über das eigene Leben und Überleben erahnen.

Schaut man sich die Schwarz-Weiß-Aufnahmen an, die Sarah Mayr zu Anfang ihres Projekts machte, wird erkennbar, welche Details in den Abbildungen stecken. Die Bilder zeigen verfallene Gebäude, die nicht mehr an die Grausamkeiten der Nationalsozialisten erinnern, sondern auch Überreste eines Bauernhofs sein könnten. Hier wird wieder einmal klar, dass die Betrachtung von Fotografien ohne Bildunterschrift gänzlich in die Irre führen kann. Am Anfang war Sarah Mayr nämlich nicht klar, was genau sie dort fotografierte, bis sie sich mit der Geschichte des Ortes auseinandersetzte. Sie will die Geschichte öffentlich machen und den Umgang mit dem Nationalsozialismus zeigen und auf ihre Weise darstellen. 2013 besuchte sie die Gedenkfeier in Sandbostel und knüpfte Kontakte zu Zeitzeugen. Sie lediglich zu fotografieren, reichte ihr aber nicht, sie wollte die Geschichte hinter den Menschen erfahren und vermitteln. Sarah Mayr betont: „Das Wissen und die Erinnerungen der Zeitzeugen sind wertvoll, sie bezeugen, was geschehen ist. Ihre Worte stehen gegen die Lüge, die sich in großen Teilen der Gesellschaft wieder breit macht, die alles verharmlost und die die Deutschen als Opfer verklärt.”

Harry Callan

Porträt von Harry Callan © Sarah Mayr (mit freundlicher Genehmigung)

Die Ergebnisse der Interviews und die Porträts können vom 1. April bis 30. April 2015 in der Gedenkstätte Sandbostel angeschaut werden.

 

Sarah Mayr, Letzte Erinnerungen. Porträts ehemaliger Häftlinge des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2014, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/letzte-erinnerungen

Quelle: http://www.visual-history.de/2015/02/02/stalag-x-b-ein-ort-fuer-das-gedenken/

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Interview: Prof. Alain Schnapp über die Vergangenheit und Zukunft der Archäologie

HdU-Herbst-2014

"Dans nous-mêmes, la meilleure manière fidèle est de se servir sucessivement des tous nos sens pour considérer un objet ; et c'est faute de cet usage combiné des sens, que l'homme oublie plus de choses qu'il n'en retient." (Georg Luis Leclerc Buffon, Oeuvres choisies de Buffon, Bd. 2, Paris 1859, S. 293)

Seit 2006 verleiht die Meyer-Struckmann-Stiftung jährlich einen Wissenschaftspreis für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung in Zusammenarbeit mit der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und dem Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. 2014 erhielt der Archäologe und Kunsthistoriker Prof. Alain Schnapp, Kooperationspartner und Unterstützer des Graduiertenkollegs GRK 1678 seit der ersten Stunde, die mit 20.000 Euro dotierte Auszeichnung für seine über die Grenzen des Faches der klassischen Archäologie hinausgehende Forschungsarbeit. Im folgenden Interview nähert er sich den zwei Schwerpunktbegriffen des Graduiertenkollegs aus Sicht der Archäologie.

 

Gibt es in der Klassischen Archäologie einen Produktionsbegriff?

Es gibt einen Produktionsbegriff in der Klassischen Archäologie. Er entstammt der Zeit der Wiener Schule der Kunstgeschichte Ende des 19. Jahrhunderts. Alois Riegl verwendete ihn erstmals in seinem Buch „Die spätrömische Kunstindustrie“. Seit diesem Werk gibt es überhaupt erst ein Bewusstsein für den technischen Produktionsprozess z.B. griechischer oder römischer antiker Monumente – sei es in der Architektur, der Skulptur oder der Keramik. Ranuccio Bianchi-Bandinelli und seine Schüler entwickeln Riegls Herangehensweise in Anlehnung an den Marxismus für die Archäologie weiter. Von der Beschäftigung mit dem Produktionsbegriff in Bezug auf die griechische Kunst zeugen vor allem die Arbeiten von Wolf-Dieter Heilmeyer und Francis Croissant, die die Produktionstätigkeit der Bildhauer in den Mittelpunkt der Forschung stellen. Luca Giuliani, Dyfri Williams und François Lissarrague haben insbesondere die Produktion von Bildern auf griechischen Vasen für die Archäologie fassbar gemacht.

In Ihrer Forschung gehen Sie über die Klassische Archäologie hinaus und setzen Ausgegrabenes, Bilder und Objekte mit zeitgenössischen Schriftquellen und Texten in Verbindung. Entsteht durch diese Methode eine spezielle Materialität bzw. Immaterialität der Archäologie?

Die Erforschung der Beziehungen der Menschen zu ihrer Vergangenheit versucht stets zwei Aspekte des Vergangenheitsinteresses zusammenzubringen: An erster Stelle steht die materielle Spur der Geschichte;  Ruinen und antike Fragmente bspw. beweisen die Materialität der Vergangenheit. An zweiter Stelle steht der immaterielle Prozess der Erinnerung, der die Vergangenheit miterzeugt. Die Poetik ist sein Werkzeug. Die Dichter behaupten, dass ihre Kunst – weil sie immateriell ist – ein sichereres Mittel als das der Monumente sei, um Erinnerungen zu bewahren. Ein Gedicht ist resistenter als ein Stein oder eine Pyramide: „libelli vincunt marmora monumenta (elegiae in maecenatem).“ Die Dialektik zwischen Schriftlichem und Nichtschriftlichem/Materiellem und Immateriellem ist ein Problem der Archäologie und beeinflusst sie enorm, aber macht sie auch aus.

Schreiben Sie eine Archäologie der Archäologie, wie es Dekan Bruno Bleckmann bei der Meyer-Struckmann-Preisverleihung formulierte?

Meine Forschung gehört zur Archäologie der Archäologie, doch nicht im Sinn von Michel Foucault, nämlich Archäologie als etwas, das in seiner Struktur die verschiedensten Reliquien der Vergangenheit darbietet. Ich versuche, den Diskurs unterschiedlicher Gesellschaften über die Vergangenheit zu erforschen.

Denken Sie, dass ein Wissenschaftsblog/die Plattform hypotheses.org im Sinne Buffons zu einem Archiv der geisteswissenschaftlichen Welt werden könnte? Was wäre dann die Aufgabe der Archäologie der Zukunft?

Sicher bietet das Internet zahlreiche, neue Möglichkeiten, an Dokumente und Texte zu kommen, aber die Struktur der humanistischen Forschung bleibt dieselbe. Jede neue Technik eröffnet eine neue Forschungslandschaft. Die Aufgabe zukünftiger Archäologen könnte sein, sich darin zu orientieren. Von der Archäologie der Zukunft wissen wir nicht viel mehr, als dass z.B. durch das Internet viel mehr Material vorhanden sein wird. Allerdings wird auch in der Zukunft das Equilibrium zwischen Erinnerung und Vergessen bestehen. Mit Charles de Montalembert gesprochen: „La mémoire du passé ne devient importune que lorsque la conscience du présent est honteuse.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/327

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Neue Rezensionen: H-Soz-Kult

Magdalena Roeseler, Reading, New York 26.3.2013

 

In den letzten Wochen sind interessante Bücher aus dem Bereich der historischen Bildforschung auf H-Soz-Kult rezensiert worden. Wir stellen einige davon auf Visual History vor.

 

Franz X. Eder/Oliver Kühschelm/Christina Linsboth (Hrsg.), Bilder in historischen Diskursen
Springer VS,  Wiesbaden 2014
rezensiert von Lucia Halder, redaktionell betreut von Jan-Holger Kirsch

Eder, Bilder

Bilder haben einen wichtigen Anteil an den Möglichkeitsbedingungen des Sag- und Denkbaren, zugleich unterliegen sie aber auch den Grenzen des Zeigbaren. Auf dieser Annahme basiert der Sammelband über „Bilder in historischen Diskursen“. Die Herausgeber – allesamt Lehrende am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien – versammeln darin ausgewählte Beiträge der „3. Tagung zur internationalen Diskursforschung“. Das Buch ist in zwei Großkapitel gegliedert. Das erste Segment über „Bilder in Diskursen – Theorie und Methode“ legt mit einer Einleitung und drei Beiträgen das methodische Fundament für die im zweiten Abschnitt des Bandes folgenden Beispielanalysen. Acht Beiträge konkretisieren „Bild-Diskursanalysen“ in historischer Perspektive, wobei der Fokus überwiegend auf Materialien aus dem 19. und 20. Jahrhundert gerichtet ist.

 

Konrad Dussel, Pressebilder in der Weimarer Republik. Entgrenzung der Information
LIT Verlag, Münster 2012
rezensiert von Malte Zierenberg, redaktionell betreut von Christoph Classen

Dussel. Pressebilder

In einer Ausgabe von Carl Dietzes Ratgeber für Pressefotografen konnten Interessierte 1931 folgende Aufstellung von Motiven lesen, die es sich angeblich zu fotografieren lohnte, wollte man als Fotograf erfolgreich sein: „Für die Presse-Illustrationsphotographie überhaupt kommen aber in Betracht: Aufnahmen aller Ereignisse und Vorgänge des öffentlichen Lebens, aktuelle Begebenheiten, […] Katastrophen, Unglücksfälle, Enthüllungen, Einweihungen, Ausstellungen, Interessantes aus fremden Erdteilen, […] Beachtliches aus dem gesamten Leben in der Natur […], Bildnisse von Persönlichkeiten, die das jeweilige öffentliche Interesse in Anspruch nehmen, ferner Abnormitäten, Kuriositäten, Merkwürdigkeiten, aus politischen Bewegungen, […] kurz alles, was viel Interesse erweckt, den Leser belehrt und ihm beachtlich erscheint“. Nach der Lektüre von Konrad Dussels Buch zu den „Pressebildern in der Weimarer Republik“ kann man schließen, dass sich eine ganze Reihe von Fotografen in der Zwischenkriegszeit an Dietzes Tipps gehalten haben. Aber sollte das das einzige Ergebnis einer gut 400 Seiten umfassenden Studie sein? Dussel überträgt die Methoden der kommunikationswissenschaftlichen Inhaltsanalyse auf die Weimarer Pressebilder. Darin liegen zugleich der wichtigste Vorzug als auch das Hauptproblem seiner Analyse.

 

Hentrich und Hentrich, Berlin 2013
rezensiert von Sandra Starke, redaktionell betreut von Ulrich Prehn

 

Kulturprojekte Berlin GmbH, Berlin 2013
rezensiert von Sandra Starke, redaktionell betreut von Ulrich Prehn

 

Kreutzmüller, Pogrom

 

Das Unvermögen der Fotografie, insbesondere unter den Bedingungen der NS-Diktatur authentische Bilder von der Gewalt des frühen nationalsozialistischen Terrors herzustellen, ist schon häufig ein Thema der Fotogeschichte gewesen. Die wenigen Bilder, die wir kennen, zeigen nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit. Trotzdem prägen sie unsere Erinnerung an die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung bis heute. Noch nie hat die Diskussion dazu geführt, diese Bilder nicht mehr zu zeigen, vermutlich aus einem Mangel an Alternativen. Den Autoren zweier Bände mit Fotos der Pogrome im Jahr 1938 gelingt es auf überzeugende Weise und eng am Bild, die Themen Entstehung, Darstellung der historischen Ereignisse, Gebrauch und historischer Kontext der überlieferten Fotografien zu erarbeiten.

 

 

Jaworski, Alltagsperspektiven

 

Die Geschichte dieser Foto-Dokumentation beginnt in einer Kieler Eckkneipe. Dort traf Rudolf Jaworski, bis 2009 Professor für die Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Kiel, auf Johannes Beyerlein, der ihm vom fotografischen Nachlass seines Vaters, des Leiters der Deutschen Post Osten in Warschau, berichtete. Gemeinsam mit Florian Peters machte sich Jaworski an die Erschließung dieses Fundes. Mit Unterstützung des Hamburger Generalkonsuls der Republik Polen ist daraus nun eine „Alltagsperspektiven im besetzten Warschau“ betitelte Publikation geworden, in der die beiden Autoren, ausgehend von der fotografischen Überlieferung, den Versuch einer biographischen Mikrostudie unternommen haben. Dies soll – so die Autoren – ein Schlaglicht werfen auf die „in der Forschung bislang verhältnismäßig wenig beachtete Grauzone der Lebens- und der Wahrnehmungsweisen deutscher Zivilbeamter im besetzten Polen“.

 

Picturing Empires: Photography and Social Change in 19th-Century Multi-Ethnic Environments
Tagung des Forschungsprojekts „Russlands Aufbruch in die Moderne. Technische Innovation und die Neuordnung sozialer Räume im 19. Jahrhundert“, 27.-29.8.2014, Augst
Tagungsbericht von Alexis Hofmeister

Die internationale Tagung „Picturing Empires: Photography and Social Change in 19th-Century Multi-Ethnic Environments“ fand im Rahmen des von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsprojekts “Russlands Aufbruch in die Moderne. Technische Innovation und die Neuordnung sozialer Räume im 19. Jahrhundert” vom 27. bis 29. August 2014 auf dem Landgut Castelen in Augst bei Basel statt. Die Beziehung zwischen dem sozialen und technologischen Wandel im „Zeitalter der Imperien“ einerseits und der Rolle der Fotografie als Nutznießer und Spiegel dieser Entwicklung andererseits sowie die Nutzbarmachung der Fotografie für imperiale bzw. koloniale Politik standen im Mittelpunkt der Tagung.

Magdalena Roeseler, Reading, New York 26.3.2013

Magdalena Roeseler, Reading, New York 26.3.2013,
Flickr/Roeseler / CC BY-2.0

Quelle: http://www.visual-history.de/2015/01/19/neue-rezensionen-h-soz-kult/

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Neuburg 1912 – Städtisches Leben zwischen Tradition und Moderne

     Wohl kein Datum in der jüngeren Geschichte Europas zeitigte gravierendere Auswirkungen auf das Schicksal des Kontinents als der 28. Juni 1914. Das Attentat von Sarajevo, die Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares durch einen serbischen Nationalisten, sollte die politischen, die militärischen, die sozialen und die kulturellen Koordinaten der „Alten Welt“ für immer verschieben.

     Nur anderthalb Monate nach den Schüssen in der bosnischen Hauptstadt gingen, wie der damalige britische Außenminister Grey bereits am 3. August 1914 prophezeit hatte, in Europa die Lichter aus: Ein Kontinent, in dem mit Ausnahme einiger Balkankriege im Gefolge des Niedergangs des Osmanischen Reiches mehr als vierzig Jahren Frieden geherrscht hatte, versank in einem vierjährigen Völkermorden, das sich bis heute ins kollektive Gedächtnis der daran beteiligten Nationen eingebrannt hat: Die grauenhaften Materialschlachten in Flandern; das einjährige Blutvergießen bei Verdun mit knapp einer Million Toten; die Zustände an der Front in Russland; die völlig sinnlosen Waffengänge in den Hochalpen; Gallipoli an den Dardanellen; schließlich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit an den Armeniern – für viele, nicht nur europäische Völker bilden die Geschehnisse zwischen 1914 und 1918 einen zentralen Bestandteil ihrer nationalen Narrative.[1]

     Doch der Erste Weltkrieg stellte nicht nur aus der Perspektive der Humanität einen Epocheneinschnitt, einen Zivilisationsbruch dar. Im Gefolge all der Grausamkeiten, die an den Fronten begangen wurden, gerieten vielmehr ganze gesellschaftliche Ordnungen ins Wanken. Das Jahr 1914 markiert auch den Beginn eines Zeitalters der Revolutionen und der soziokulturellen Umwälzungen. Eine Dekade nach dem Anschlag auf das österreichische Thronfolgerpaar war in Deutschland und Europa nichts mehr wie zuvor: Monarchien waren gestürzt, die traditionelle Gesellschaft befand sich in Auflösung, die industrielle Moderne hielt endgültig, die kulturelle Moderne hielt auf breiter Front Einzug in die Lebenswelten.[2]

     Dabei finden sich erste Anzeichen für das Herannahen einer neuen Zeit bereits vor 1914. In Deutschland wies die Art und Weise der politischen Auseinandersetzung zunehmend in Richtung Demokratie; die Gesellschaft wurde mobiler und durchlässiger; die künstlerische Avantgarde setzte, zögerlich noch, mit expressionistischen Ausdrucksformen erste Akzente; Technikbegeisterung griff im Zuge der Hochindustrialisierung und einer ganzen Welle an neuen, wegweisenden Erfindungen um sich; moderne Formen der Freizeitgestaltung schließlich begannen sich durchzusetzen: das Kino, das sich bereits vor 1914 mit Lichtspielhäusern selbst in Kleinstädten zu einem Volksvergnügen entwickelte; die Tanzveranstaltungen, die Varietés, die auf die Sensationsgier der Zeitgenossen abzielten; und auch der Sport – Schwimmen, Radfahren, Fußball – avancierte noch vor jener „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) zu einer bevorzugten Freizeitbeschäftigung.[3]

     Anderseits freilich hatten die Entwicklungen, die der modernen Massengesellschaft den Weg wiesen, noch nicht jenen Schwung, den ihnen der Epochenbruch des Weltkrieges verleihen sollte. Noch dominierte das Traditionelle, noch dominierte die herkömmliche gesellschaftliche Schichtung, wurden öffentliches Leben sowie öffentliche Diskurse von Bildungsbürgern, meist konservativer Provenienz, bestimmt[4] – und dies in umso stärkerem Maße, je weiter man sich von den urbanen Zentren entfernte. Noch wiesen das Theater, wiesen klassische Konzerte nicht jenen elitären Charakter auf, der diesen beiden Kunstformen nach dem endgültigen Siegeszug der populären Unterhaltungsindustrie zugeschrieben wurde. Noch wurde das Bild der Leibesübung von Turnvereinen geprägt und nicht von modernen, aus England stammenden Sportarten.[5] Noch hatten neueste Techniken der Fortbewegung nicht den Alltag der Menschen erobert. Noch diente die Presse mehrheitlich der Aufrechterhaltung der überkommenen Ordnung. Noch stand die Revolution  nicht einmal als „Drohung“ im Raum.

     Anhand einer Kleinstadt, anhand des Beispiels Neuburg an der Donau, sei im Folgenden die Lebenswelt der Menschen kurz vor dem Ersten Weltkrieg beschrieben – eine Lebenswelt, die noch bestimmt war von Tradition und die dennoch bereits vom Anbruch einer neuen Zeit kündet.

 

Politisches – Ökonomisches - Demographisches

     Bevor das Alltagsleben Neuburgs kurz vor Ausbruch Ersten Weltkrieges ins Zentrum rückt, ist es angebracht, einige allgemeine Anmerkungen voranzustellen. Wie stellte sich die Stadt vor 1914 auf der politischen und demographischen Landkarte Bayerns dar, wie nehmen sich deren struktur- und kommunalgeschichtlichen Daten aus?

     Im Jahr 1505 entstand das Herzogtum Pfalz-Neuburg mit Neuburg als Residenzstadt. Knapp vier Dekaden später wurde Neuburg unter Pfalzgraf Ottheinrich protestantisch. Wiederum gut sieben Jahrzehnte nach der Hinwendung des Landesherrn zum Protestantismus erfolgte 1616/17 die Gegenreformation. 1742 starb die Hauptlinie der Neuburger Pfalzgrafen aus, wodurch der Zweig Sulzbach in der Nachfolge zum Zuge kam. 1777 wurden auch die bayerischen Wittelsbacher beerbt, so dass nun die Länder Pfalz und Bayern vereinigt waren. Nach dem Ende der Linie Sulzbach 1799 fielen deren Territorien an Pfalz-Birkenfeld-Bischweiler-Zweibrücken. Als Folge der Mediatisierung, jener großangelegten Flurbereinigung des ehemaligen Kaiserreiches zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wurde 1808 das Herzogtum Pfalz-Neuburg/Sulzbach endgültig aufgehoben und dem neu geschaffenen Königreich Bayern einverleibt. Einen weiteren Einschnitt brachte das Jahr 1837, als im Zuge der Landesteilung Bayerns der Zusammenschluss der Donaustadt mit Schwaben zu einem Regierungsbezirk erfolgte.

     Als Konsequenz der Reorganisation des Königreiches musste sich Neuburg mit einer geminderten politischen Bedeutung abfinden. Der Stadt kam nun lediglich noch die Funktion eines Zentrums für das ländliche Umland zu. Dass Neuburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dabei auch ökonomisch und demographisch ins Hintertreffen geriet, war freilich dem Umstand geschuldet, dass die Stadt nicht sofort an die im Zuge der industriellen Moderne neu entstehenden Verkehrswege angeschlossen wurde. Die „Königlich-Bayerischen Staatseisenbahnen“, 1844 gegründet, ließen mit ihren Hauptverbindungen zwischen den drei großen Städten des Landes, ließen mit ihren Verbindungen zwischen Nürnberg, München und Augsburg, die alte Residenzstadt außen vor. Um Franken besser an Altbayern anzubinden, führten zweigleisige Schienenstränge über Ingolstadt und Donauwörth, nicht aber über Neuburg. Die alte Donaustadt fand Anschluss an das Eisenbahnnetz nur mittels einer West-Ostverbindung, eine Linie, die überdies nur eingleisig ausgebaut war.

     Der Standortnachteil, den die bayerische Verkehrspolitik eingebracht hatte, wirkte sich auf die wirtschaftliche Entwicklung Neuburgs aus. Das verarbeitende Gewerbe blieb lange Zeit schwach ausgeprägt, noch in den 1930ern war im Grunde einzig die Erschließung der am nördlichen Stadtrand lagernden Kieselerde-Vorkommen von Bedeutung. Angesichts des Defizits in puncto Industrialisierung darf es somit auch nicht verwundern, dass sich vor 1914 eine organisierte Arbeiterbewegung nur rudimentär ausgebildet hatte. Zwar hatte sich bereits 1903 ein Ortsverein der SPD konstituiert, ihr Nischendasein in Neuburg – 4,6 Prozent bei der Landtagswahl 1907 – konnte die Sozialdemokratie allerdings erst nach dem Weltkrieg überwinden.[6]

     Als Folge der ausbleibenden Industrialisierung stagnierte auch die Einwohnerzahl Neuburgs. Zwischen 1840 und 1900 wuchs die städtische Bevölkerung nur um 26,5 Prozent, von 6350 auf 8030 Personen. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum nahm die Einwohnerzahl Ingolstadts um 140 Prozent von gut 9.000 auf mehr als 22.000 Personen zu, stieg die Zahl der Bürger Regensburgs um 130 Prozent von 20.000 auf 46.000. Ein merklicher demographischer Schub war erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu verzeichnen, als 4.000 Heimatvertriebene zuwanderten.[7]

     Belebend auf die lokale Ökonomie wirkte sich hingegen das Militär aus. Seit 1868 war in Neuburg das knapp anderthalb Jahrhunderte zuvor in Donauwörth aufgestellte „Königlich-Bayerische 15. Infanterie-Regiment“ stationiert. Der Umstand, dass die Einheit ihren Friedensstandort in Neuburg hatte, führte unter anderem dazu, dass sich die Stadtbevölkerung zeitweise bis zu einem Drittel aus Militärpersonen zusammensetzte. Der Verlust der Garnison im Gefolge des Versailler Friedens 1919 brachte deshalb enorme wirtschaftliche Nachteile mit sich.[8]

     Was die politischen Verhältnisse anbelangt, so zeigt sich Neuburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest in der Hand des konservativen katholischen Bürgertums. Bei der Landtagswahl 1912 etwa erreichte Martin Loibl, der Kandidat des Zentrums 58 Prozent der Stimmen, während die Liberalen mit 28 Prozent bzw. die SPD mit 13,6 Prozent abgeschlagen auf dem 2. Und 3. Platz landeten.[9]

     Seit napoleonischen Zeiten befand sich Neuburg etwas abseits der großen strukturhistorischen Entwicklungen. Die Stadt war Provinz: sehr bürgerlich, sehr konservativ, sehr traditionell. Abgesehen von der Rolle, die das Militär spielte, kann die ehemalige Residenz somit als repräsentativ für das kleinstädtische Bayern des frühen 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Für diejenigen jedoch, die die vergangene Größe und Bedeutung Neuburgs verinnerlicht hatten, konnte die urbane Realität ihrer Heimat kurz vor Ausbruch des Weltkrieges nur unbefriedigend sein.

 

Theater – Kino

     Wie wirkten sich die beschriebenen Faktoren im Alltag der Stadt aus? Wie dominant war der katholische Konservatismus, das Bildungsbürgertum in Wirklichkeit? Standen nicht auch die Zeichen auf Fortschritt? Wer waren die Protagonisten einer kulturellen Moderne, von wem gingen entsprechende Impulse aus?

     Zentrale Institution traditioneller Bildung und Gelehrsamkeit in Neuburg war das Stadttheater. Keiner anderen kulturellen Einrichtung wurde in Martin Loibls „Neuburger Anzeigeblatt“ mehr Platz eingeräumt. Sowohl Vorberichte zu neuen Inszenierungen, als auch die Kritiken nach den Premieren gestalteten sich ausführlich. Das Stadttheater war ein Ort, an dem sich das Bürgertum mit Hilfe der Klassiker der Dramenliteratur – mitunter auch mit Hilfe kulturkritisch-reaktionärer Inszenierungen – seiner selbst vergewisserte. Dementsprechend nahmen sich Teile des Spielplans aus. So finden sich im Programm für das Jahr 1912 die Komödie „Was Ihr wollt“ von William Shakespeare ebenso wie das Lustspiel „Frauerl“ des nicht unbedingt als Revolutionär verschrienen Autors Alexander Engel, über das selbst das „Anzeigeblatt“ urteilte, dass es nicht besonders „originell“ sei.[10] Weiter finden sich die Posse „Lumpazi-Vagabundus“ von Nestroy, die Lustspiele „Der Heiratsurlaub“ und „Die Hochzeitsreise“, die Operetten „Guten Morgen, Herr Fischer“ und der Walzerkönig“, die komische Oper „Der Waffenschmied“ von Lortzing, die Tragödie „Ghetto“ des jüdisch-holländischen Dichters Heijermans, deren Neuburger Inszenierung anscheinend nicht ganz frei war von Antisemitismus, sowie das Schauspiel „Die Tochter des Fabrizius“ des ehemaligen Wiener Burgtheaterdirektors Adolf von Wilbrandt, dessen Besprechung im „Anzeigeblatt“ in einen Verriss mündete: „Rührseligkeiten ohne psychologischen Untergrund gibt es (…) in Fülle. Die Taschentücher wurden in Anbetracht dieses Umstandes fleißig in Anwendung gebracht.“[11] Anscheinend war man in Neuburg mit dem herkömmlichen Programm des Stadttheaters nicht recht zufrieden, wobei nicht nur die Sprech-, sondern ebenso Musikstücke herber Kritik ausgesetzt waren. Über die Operette „Guten Morgen, Herr Fischer“ urteilte Loibls Presseorgan gar vernichtend: „(…) Handlung unterdurchschnittlich (…) Ein tolles Durcheinander von Unmöglichkeiten, über die man ernsthaft nicht lachen kann; ein großes Arbeiten mit blöden Effekten.“[12]

     Nachdem offenkundig bereits längere Zeit Klage darüber geführt worden war, dass der Besuch des Stadttheaters zu wünschen übrig lasse,[13] scheint sich noch im Winter 1912 in der Programmgestaltung eine Wende angebahnt zu haben – weg vom klassischen Repertoire eines kleinstädtischen Theaters mit Operetten, antiquierten Lust- und christlichen Trauerspielen hin zu modernen, regelrecht avantgardistisch anmutenden Formen der darstellenden Kunst. Tatsächlich ist der Spielplan des Stadttheaters Neuburg für das Jahr 1912 alles andere als einseitig. Nicht nur die bereits erwähnten Inszenierungen gelangten zur Darbietung, sondern die Leitung des Hauses zeigte sich auch offen für Neues. Mit expressionistischen Ansätzen wurde experimentiert; Emmy Schneider-Hoffmann, eine zeitgenössisch sehr renommierte Balletttänzerin, war mit ihrem pantomimischen Theater zu Gast; ebenso Madame Hanako vom kaiserlichen Hoftheater in Tokio, die allerdings kurz vor ihrem Auftritt erkrankte – und mit dem „Fuhrmann Henschel“ von Gerhart Hauptmann war auch das naturalistische Drama, das aufgrund seiner freimütigen, teils sozialkritischen Darstellungsweise immer für einen Skandal gut war, auf der Neuburger Bühne vertreten.[14]

     Freilich könnte die Vermutung naheliegen, dass die allmähliche Öffnung des Stadttheaters hin zur Avantgarde nicht zuletzt mit dem Aufschwung eines neuen Mediums für darstellende Kunst zusammenhing, mit dem Aufschwung des Kinos – ein Aufschwung, der mit dem „Zentral-Theater“ bereits vor dem Ersten Weltkrieg Neuburg erreicht hatte. Für Kulturpessimisten den Inbegriff einer verachtenswerten neuen Epoche symbolisierend, erwies sich das Kino in der Rosenstraße jedoch alles andere als auf der Höhe der Zeit. Vielmehr verhielt sich die Entwicklung des Zentral-Theater-Programms geradezu gegensätzlich zu jener des Stadttheater-Spielplanes. Wurden in der oberen Stadt, an einem traditionellen Ort der Kunst, zunehmend neue Formen und Inhalte ausprobiert, so wurde im sogenannten „Lichtspielhaus“ unterhalb des Schlosses mit Hilfe moderner Technik der Konservatismus propagiert.

Gewiss wurden anspruchsvolle Filme gezeigt, Melodramen mit der Schauspielerin Asta Nielsen, die während der gesamten Stummfilmzeit zur absoluten Weltspitze in ihrem Fach zählte. Und ebenso gelangten sogenannte „Kunstfilme“ zur Aufführung, die einfach nur die Möglichkeiten des neuen Mediums Kino ausloteten. Aber es wurden in der Rosenstraße eben auch Filme der Öffentlichkeit präsentiert, die eher konservativ-katholischem Kunstverständnis entsprachen – Filme, in die bedenkenlos ebenso jene Zuschauer gehen konnten, die während des Faschingsausklangs dem bunten Treiben in den Straßen und Tanzsälen fernblieben und lieber am 40-stündigen Gebet in der Hofkirche teilnahmen. Religiöse Darstellungen und Heiligenlegenden mit Titeln wie „Das Leben und Leiden Christi“ oder „St. Georg, der Drachentöter“ – es waren derartige Sujets, die für das Kinoprogramm in Neuburg vor 1914 repräsentativ waren.[15]

 

Musik

     Gegensätze, wie sie sich auf der Bühne und auf der Leinwand abzuzeichnen begannen, manifestierten sich ebenso in anderen Bereichen der Kunst, in der Architektur etwa – erwähnt sei die 1901 im Jugendstil erbaute Warmbadeanstalt am Wolfgang-Wilhelm-Platz – oder in ganz besonderer Weise in der Musik. Allerdings kam es in der Konzertsparte nicht zu einer allmählichen Herausforderung der Tradition durch avantgardistische Richtungen, sondern elitärer und volkstümlicher Geschmack standen sich a priori gegenüber.

     Einerseits wurde der urbanen Bevölkerung ein umfangreiches Angebot an ernsten musikalischen Darbietungen unterbreitet – ein Angebot, das für eine Kommune von der Größenordnung Neuburgs keineswegs als selbstverständlich zu bezeichnen ist. In diesem Punkt dürften die Vergangenheit der Stadt als Residenz und deren Gegenwart als Truppenstandort zum Tragen gekommen sein. Im ersten Halbjahr 1912 beispielsweise finden sich auf dem Veranstaltungskalender – zusätzlich zu den Standkonzerten des Militärs: Gesangsabende des Liederkranzes, das Konzert eines Pariser Orchesters mit Interpretationen US-amerikanischer Komponisten sowie ein Gastspiel der renommierten Violinistin Ernestine Boucher aus Paris, wobei unter anderem Werke von Bruch, Wolff, Saint-Saëns und Paganini zur Aufführung gelangten.[16]

     Freilich war andererseits ebenso das Spektrum an volkstümlicher musikalischer Unterhaltung sehr breit. Mindestens fünf Gaststätten in Neuburg boten regelmäßig Tanzmusiken an – mit zunehmender Tendenz: Wurden 1909 lediglich zwanzig derartige Gesuche eingereicht, so waren es drei Jahre später bereits vierzig.[17] 1912 konnte die erwachsene Bevölkerung Neuburgs somit im Durchschnitt jedes Wochenende, die Advents- und die Fastenzeit ausgenommen, eine Tanzveranstaltung besuchen.

 

Varieté

     Zweifellos war in Neuburg in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg das Bedürfnis nach Amüsement sehr groß, eine Tatsache, die sich nicht zuletzt durch eine Vielzahl von Varieté- Veranstaltungen belegen lässt. Die für die Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert so typische Sensationsgier nach dem Fremden und Exotischen konnte auch in einer Kleinstadt wie Neuburg gestillt werden. Dabei reichte das Angebot vom herkömmlichen Zirkus bis hin zu völlig neuartigen, recht obskur anmutenden Veranstaltungen, aus dem Bereich der Parapsychologie. So traten etwa bis zum Juli des vorletzten Friedensjahres in Neuburg unter anderem auf: Schuhplattler vom Schliersee; ein Okkultist, der angeblich über telepathische Fähigkeiten verfügte; ein Varieté, dessen Hauptattraktion ein indischer „Serpentintanz“ war; sowie ein mobiles Museum für „Anatomie, Ethologie und Naturwissenschaft“, das angeblich Folgendes zur Schau stellte: „geöffnete Körper, asiatische Beulenpest, Cholera, Lepra, Knochenresektionen, Amputationen, [Folgen von] Blitzschlag, Durchschlagskraft eines Stahlmantel-Geschosses, (…) Armbrüche, Beinbrüche“ etc.[18] 

     Unter all den sensationsheischenden Veranstaltungen, die 1912 beworben wurden, muss ein Spektakel gesondert erwähnt werden: die erste Luftlandung eines Motorflugzeugs bei Neuburg im Juli jenen Jahres. Die Aktion war ein Tribut an die Technikbegeisterung der Zeit – und in der Art und Weise ihrer Rezeption war sie ein Beleg dafür, dass sich Tradition und Moderne, Reaktion und Fortschritt keineswegs ausschließen mussten. Tatsächlich waren es vor allem bürgerlich-konservative Kreise, die den Fortschritt zur Luft in überschwänglichen, von Pathos geradezu strotzenden Worten feierten. Zitat aus dem „Anzeigeblatt“ Martin Loibls, auf dessen Initiative hin die Landung zustande gekommen war:[19]

     „Durch die Münchener Straße, durch die Feldkirchener Durchfahrt strömte Neuburg auf den morgendlichen Plan. Fußvolk und Stahlreiter. Zur Vervollständigung der sportlichen Stimmung Wagen und Automobile. (…) Längs der Straße standen sie und harrten. Nicht sehr lange. Ein surrendes Geräusch, erst in weiter Ferne, ähnlich dem der Automobile, dann schärferes und grelles Knattern eines Flugzeugmotors. Wer’s einmal gehört hat, den durchzuckts. Hoch oben die Straße entlang, kam es sausend aus dem Nebel heran, eine elegante Biegung, ein steiler Abstieg – noch sahen die Insassen wie Puppen, das Ganze wie Spielzeug aus – mitten in der Wiese, ruhig, leicht, fast zart steht ein moderner Aeroplan (…)

Neuburg hat erlebt, wovon die Menschheit seit Jahrtausenden geträumt. Der große Atem der neuen Zeit brauste über uns[,] der Zeit, die das Gold und Silber blasser Mythen in Stahl der Wirklichkeit wandelt. Und wir können beinahe (…) in Variation eines uralten Wortes enthusiastisch ausrufen: Volare necesse est – vivere non necesse! (Fliegen müssen wir, aber Leben ist uns keine Notwendigkeit).“[20]

 

Vereinswesen

     Ein Aspekt des Freizeitgeschehens, der insbesondere in den letzten Dekaden vor Ausbruch des Weltkrieges gesellschaftlich von Bedeutung war, wurde bisher nicht thematisiert: das Vereinswesen. Im Neuburg des frühen 20. Jahrhunderts gab es vielfältige Möglichkeiten, sich in einem Verein zu engagieren. Es gab „Urformen“, die dieser Ausprägung der Bürgerlichkeit ihre Gestalt gegeben hatten, mit anderen Worten: Gesangs- und Turnvereine.[21] Daneben aber existierten ebenso ausgesprochen reaktionäre Vereine, die katholische Jugend etwa, die regelrechte Kulturkämpfe gegen Emanzipationsbestrebungen der Frau und gegen die Sozialdemokratie führte,[22] sowie nationalistische Organisationen, die auf dem äußersten rechten Rand des politischen und kulturellen Spektrums anzusiedeln waren.

     Zwei Ableger jener reichsweit agierenden Verbände – Ortsgruppen des Wehrkraftvereins (gegründet 1911) und des Deutschen Flottenvereins – entfalteten in der ehemaligen Residenzstadt rege Aktivitäten. Ihre Zielsetzung sahen beide Gruppierungen darin, konservative Kreise, auch die bürgerliche Jugend, auf einen neuen, in ihren Augen unvermeidlichen Krieg einzuschwören. Zu diesem Zweck veranstaltete der Wehrkraftverein im Gymnasium Vortragsabende, auf welchen in glorifizierender Weise über den Krieg gegen Frankreich 1870/71 oder über Kriege in den Kolonien referiert wurde, und hielt der Flottenverein Lichtbildervorträge zu dem etwas weit hergeholten Thema „Heldentaten der deutschen Marine“ ab.[23] Wohlwollend begleitet wiederum wurden derartige Veranstaltungen von der Berichterstattung des „Anzeigeblattes“, dessen Herausgeber Martin Loibl aufgrund seiner Offiziersausbildung bei den „Fünfzehnern“ wohl selbst zum Kreis der Nationalisten und Militaristen zu zählen war.

     Abgesehen von den traditionellen Organisationen und vaterländischen Gruppierungen, taten sich in den letzten Jahren vor dem Krieg auch Vereine hervor, die auf neuartige Weise versuchten, Freizeit zu organisieren – Vereine, deren Existenz durch die zunehmende Mobilisierung der Bevölkerung möglich wurde, oder die in Konkurrenz zu den Turnern entstanden waren. Es gab in Neuburg auch eine Sektion des Deutschen Alpenvereins, die seit 1906 eine Hütte in den Stubaier Alpen unterhielt, einen Ring- und Stemm-Club und einen Schwimmverein.[24] Letzterer veranstaltete Ende Juni 1912 ein sogenanntes „Propaganda-Schwimmen“, das sämtliche damals in der Sportart gängigen Wettbewerbe aufwies.[25] Ob mit dieser Veranstaltung auch ein Kontrapunkt zum Gau-Fest der eher konservativ ausgerichteten Turner gesetzt werden sollte, das im Mai des gleichen Jahres aus Anlass des 50. Gründungsjubiläums des Turnvereins von 1862 in Neuburg stattfand,[26] mag dahingestellt sein. 

 

Kriminalität

     Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wies Neuburg den Charakter einer beschaulichen Kleinstadt auf. Dementsprechend sicher konnten sich die Bürger in den Straßen und in der Öffentlichkeit bewegen. Dennoch sind für den Untersuchungszeitraum einige spektakuläre Kriminalfälle dokumentiert, die Fragen aufwerfen:

     Noch in den Dezember 1911 fiel eine Messerstecherei mit Todesfolge, die sich in der Nähe des Schlosses ereignet hatte. Der Täter wurde wenige Monate später zu vierzehn Jahren Haft verurteilt. Gleich zu Beginn des Jahres 1912 musste ein Flickschneider wegen an einem Kind verübten Sittlichkeitsverbrechen für sieben Monate ins Gefängnis. Es handelte sich um einen Wiederholungstäter. Zu einer weiteren Messerstecherei kam es am Faschingsdienstag 1912 vor einer Gaststätte. Mitte März schoss in einem Joshofener Wirtshaus ein betrunkener Dienstknecht um sich und verletzte einen der Gäste schwer, wobei laut dem „Anzeigenblatt“ die übrigen Zecher noch an Ort und Stelle Selbstjustiz übten: „Der allgemeinen Empörung über die rohe Tat wurde dadurch Ausdruck gegeben, daß man [den Dienstknecht] weidlich durchprügelte, so daß er sich in das Krankenhaus der [Barmherzigen] Brüder begeben musste.“ Vom Juni 1912 datiert erneut eine Messerstecherei, auch diese Tat trug sich in Kreisen der Dienstknechtschaft zu. Noch im gleichen Monat wurde in der Nähe von Neuburg ein Schreinermeister von einem Jugendlichen erstochen und Anfang Juli schließlich kam es in einem Waldstück bei Neuburg zu einer versuchten Vergewaltigung einer „Tagelöhnersfrau“.[27]

     Die Berufsgruppen, denen die meisten Täter, aber auch zahlreiche Opfer zuzurechnen waren, scheinen die Vermutung nahezulegen, dass in den unteren Bereichen der gesellschaftlichen Schichtung Neuburgs ein hohes Aggressionspotenzial vorhanden war. Ausgehend von dieser Annahme, könnte die Schlussfolgerung zutreffen, dass es nicht zuletzt die Zwänge der bürgerlichen Lebenswirklichkeit der Vorkriegsjahre waren, die von Zeit zu Zeit zu einem unkontrollierten Gewaltausbruch führten. Dabei war in Neuburg gewiss nicht nur gesellschaftliche Repression verantwortlich zu machen waren, sondern ebenso die Tatsache, dass weniger wohlhabenden Schichten oftmals, auch sehr unverblümt, mit Verachtung begegnet wurde. Der Männer-Turnverein beispielsweise veranstaltete jedes Jahr im Fasching einen sogenannten „Dienstbotenball“, in dem man sich über diese Berufsgruppe lustig machte.[28] Ausgehend von einer derartigen Einstellung war es meist nur ein Schritt hin bis zur offenen Diskriminierung – in Neuburg besonders ausgeprägt durch die hervorgehobene Rolle des Militärs. In Offizierskreis etwa galten Dienstmädchen lediglich als „Prostituierte“, die stationierte Soldaten mit Geschlechtskrankheiten anstecken würden.[29]

 

Gesundheitsfürsorge

     Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wies in vielen deutschen Städten die öffentliche Gesundheitsfürsorge eklatante Defizite auf. Darunter zu leiden hatte vor allem die weniger gut situierte Bevölkerung, auch in Neuburg. Wenn in den Krankenhäusern der Stadt junge Frauen an Knochenentzündungen starben, wenn dort 25-jährige Dienstknechte an den Folgen einer Entzündung im Rachenbereich dahinsiechten und wenn im Jahre 1912 die Einführung einer Müllabfuhr deshalb scheiterte, weil die Bürger alles selbst hätten bezahlen müssen und sich darum nur 30 Haushalte beteiligen wollten,[30] dann wirft dies kein gutes Licht auf die Gesundheitspolitik und auf die Fürsorgepflicht der Kommune. Unter denjenigen jedenfalls, die von diesen Zuständen zunächst betroffen waren, dürfte sich, verstärkt durch ihre soziale Deklassierung, ein erhebliches Frustrationspotential ausbildet haben.

     Freilich richtete sich der Unmut nie gegen die lokale Obrigkeit. Als im November 1918 auch an der Donau für die progressiven Kräfte der Zeitpunkt gekommen wäre, die Machtfrage zu stellen, erwies sich Neuburg als ein Musterbeispiel an Ruhe und Ordnung. Bürgermeister und Magistrat blieben im Amt, während sich die örtliche Sozialdemokratie für den Schutz des Privateigentums aussprach und sich gegen jede Form des Radikalismus wandte.[31] Das lange Verharren in überkommenen gesellschaftlichen Verhältnissen schien zunächst auch in Neuburg über den Epochenbruch Erster Weltkrieg hinauszuwirken.

 

Ausblick

     Neuburg im Jahr 1912 – eine Kleinstadt zwischen Tradition und Moderne, wobei die Zeichen einer neuen Zeit noch eher schwach zu vernehmen waren. Aber sie waren gleichwohl unübersehbar, vor allem im kulturellen Leben der Stadt. Noch einige Jahre sollten diesem relativ beschaulichen Dasein vergönnt sein, bevor die Folgen des Weltkrieges letztlich doch für einschneidende Veränderungen sorgten. Schien es im Frühjahr 1919 nach Waffenstillstand und Revolution zunächst, als seien die Umwälzungen, die die Metropolen Mitteleuropas erfasst hatten, an der Kleinstadt Neuburg fast spurlos vorübergegangen, so machte spätestens der Vertrag von Versailles deutlich, dass dies nicht der Fall war. Der Einschnitt kam mit der erzwungenen Abrüstung, die der Friedensschluss vorsah und dem der Garnisonsstandort Neuburg zum Opfer fiel.

     Die Auswirkungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges veränderten den Alltag der Stadt gänzlich. Die gesellschaftliche Neuformierung, die die deutsche Terrorherrschaft über Europa mit sich brachte, machte auch an der Donau nicht halt. Die Ankunft von Evakuierten, Flüchtlingen und Vertriebenen setzte einen Bevölkerungsanstieg in Gang, führte zu bis dahin ungeahnten Aktivitäten im Wohnungsbau und resultierte seit den fünfziger Jahren in einer planmäßigen Ansiedlung von Industriebetrieben. Allmählich entstand das heutige Bild Neuburgs.

     [1] Unter den Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg am ausführlichsten: Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014.

     [2] Exemplarisch dazu: Martin H. Geyer: Verkehrte Welt Revolution, Inflation und Moderne, München 1914-1924, Göttingen 1998.

     [3] Vgl. Rudolf Oswald, „Fußball-Volksgemeinschaft“. Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919-1964, Frankfurt a.M., New York 2008, 94ff.; Matthias Marschik, Topographie der freien Zeit, in: SWS-Rundschau 33 (1993), H. 3, 353-363.

     [4] Vgl. etwa: Justus H. Ulbricht, „Wege nach Weimar“ und „deutsche Wiedergeburt“: Visionen kultureller Hegemonie im völkischen Netzwerk Thüringens zwischen Jahrhundertwende und „Drittem Reich“, in: Wolfgang Bialas und Burkhard Stenzel (Hg.), Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz, Weimar, Köln, Wien 1996, 23-35.

     [5] Vgl. Oswald, „Fußball-Volksgemeinschaft“, 51f.

     [6] Vgl. Wolfgang Wollny, Die Neuburger Arbeiterbewegung zwischen 1918 und 1945, in: Barbara Zeitelhack u.a. (Hg.), Umbrüche. Leben in Neuburg und Umgebung 1918-1948. Ausstellung des Stadtmuseums Neuburg an der Donau vom 28. März bis 5. Oktober 2008, Neuburg a.d. Donau 2008, 97f.

 

     [7] Dazu die einschlägigen online-zugänglichen Statistiken.

     [8] Thomas Menzel: Neuburg an der Donau als Militärstandort, in: Zeitelhack, Umbrüche (wie Anm. 6), 49f.

     [9] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 7.2.1912.

     [10] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 18.1.1912, 24.1.1912 und 28.1.1912.

     [11] Zu den einzelnen Inszenierungen und Besprechungen: Neuburger Anzeigeblatt, 30.1.1912, 8.2.1912, 22.2.1912, 2.3.1912, 10.3.1912, 16.3.1912, 21.3.1912, 28.3.1912 und 31.3.1912. Über die männliche Hauptfigur von Heijermans Tragödie „Ghetto“ war im „Anzeigeblatt“ vom 19.3.1912 zu lesen: „Ihn ekelt das Treiben seiner jüdischen Stammesbrüder an.“

     [12] Neuburger Anzeigeblatt, 28.3.1912.

     [13] Vgl. etwa: Neuburger Anzeigeblatt, 3.3.1912.

     [14] Zu den genannten Veranstaltungen: Neuburger Anzeigeblatt, 22.2.1912, 12.3.1912, 17.3.1912 und 25.4.1912.

     [15] Vgl. etwa: Neuburger Anzeigeblatt, 4.1.1912, 5.1.1912, 17.2.1912, 2.3.1912, 30.3.1912, 6.4.1912, 14.4.1912, 20.4.1912, 27.4.1912, 4.5.1912, 12.5.1912, 1.6.1912, 8.6.1912, 15.6.1912, 22.6. 1912 und 21.7.1912.

     [16] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 6.1.1912, 18.1.1912, 21.1.1912 und 13.4.1912.

     [17] Vgl. Tanzmusik-Bewilligungen 1906-1920, Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (1561 I).

     [18] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 17.1.1912, 25.1.1912, 6.4.1912, 7.7.1912 [Zit. ebd.] und 18.7.1912.

     [19] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 12.7.1912.

     [20] Vgl. Zeitungsartikel o. Dat., Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (669).

     [21] Vgl. Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (3036 und 3014) sowie die einschlägigen Artikel des „Neuburger Anzeigeblattes“ zur Gesangsvereinigung „Liederkranz“.

     [22] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 25.4.1912, 2.6.1912, 4.6.1912 und 15.6.1912.

     [23] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 17.1.1912, 4.4.1912, 12.4.1912 und 15.5.1912.

     [24] Vgl. Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (1563, 3030 und 3039).

     [25] Vgl. Programm zum „Propaganda-Schwimmfest“ am 30.6.1912, Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (1563).

     [26] Vgl. Turnverein Neuburg a.D. an den hohen Stadtmagistrat der Stadt Neuburg a.D., 10.3. 1912 und 21.3.1912; Festprogramm zum 50 jährigen Jubiläum, Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (3014).

     [27] Zu den einzelnen Delikten: Neuburger Anzeigeblatt, 3.1.1912, 22.2.1912, 5.3.1912, 24.3.1912 [Zit. ebd.], 9.6.1912, 26.1.1912 und 3.7.1912.

     [28] Vgl. Neuburger Anzeigeblatt, 2.2.1912.

     [29] Vgl. dazu etwa: Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (2943).

     [30] Zu den einzelnen Missständen vgl. die entsprechenden amts- und bezirksärztlichen Gutachten, Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (3884). Zur Müllproblematik in Neuburg vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Bekanntmachung des Stadtmagistrats vom 9.4.1912 und Beschluss vom 6.5.1912, Stadtarchiv Neuburg a.d. Donau, XX 02 (1009).

     [31] Vgl. Wollny, Arbeiterbewegung (wie Anm. 6), 99f.

Quelle: http://neuburg.hypotheses.org/236

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Historische Netzwerke Stuttgart. Das zweite Twitterinterview #hnSTR #2

Ein Gastbeitrag von Anne Baillot

Interviewpartner dieses Mal ist Marten Düring. Er arbeitet als Forscher im Digital Humanities Lab am Centre virtuel de la connaissance sur l’Europe in Luxembourg. 2012 promovierte er an der Universität Mainz zu verdeckten sozialen Netzwerken im Nationalsozialismus. Zudem ist er mit Linda von Keyserlingk, Ulrich Eumann und Martin Stark Mitbegründer der Workshop-Serie "Historical Network Research", für deren Webseite er auch verantwortlich ist.

Vom 10.-12. April findet an der Ruhr-Universität Bochum der Historische Netzwerkforschung zum Thema "Vom Schürfen und Knüpfen - Text Mining und Netzwerkanalyse für Historiker_innen" statt. Es ist bereits der neunte Workshop der Reihe. Weitere Informationen erhalten Sie hier.


Siehe auch
: Anne Baillot, Historische Netzwerke Stuttgart. Ein Twitterinterview #hnSTR, in: Digitale Geschichtswissenschaft.Das Blog der AG Digitale Geschichtswissenschaft im VHD, 22.12.2014, http://digigw.hypotheses.org/1153.

Quelle: http://digigw.hypotheses.org/1190

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West-Berlin

Inside Kreuzberg
Berlin um 1950

Berlin um 1950. Fotografien von Ernst Hahn. Komposition und Text: Hermann Ebling, mit einem Vorwort von Annemarie Jaeggi, edition Friedenauer Brücke, Berlin 2013

Das Heft 2/2014 der „Zeithistorischen Forschungen“ beschäftigt sich mit West-Berlin. In drei Hauptaufsätzen beschreiben Stefanie Eisenhuth und Scott H. Krause, Christiane Reinecke sowie Krijn Thijs Erinnerungen und Veränderungen der Insel in der DDR.

Der erste Beitrag von Stefanie Eisenhuth und Scott H. Krause beleuchtet in „Inventing the ‘Outpost of Freedom’. Transatlantic Narratives and Historical Actors“ die internationale Kampagne und deren Protagonisten, die das Weltbild West-Berlins aufwerten sollten.

Berlin in den 1950er-Jahren

Antonia Meiners, Berlin in den 1950er-Jahren. Eine Chronik in Bildern, nicolai Verlag, Berlin 2013

 

Christiane Reinecke beschäftigt sich in ihrem Artikel „Am Rande der Gesellschaft?“ mit dem Märkischen Viertel in den 1970er-Jahren: einem neu entstandenen Randbezirk, der schnell zu einem sozialen Krisenherd wurde.

In „West-Berliner Visionen für eine neue Mitte (1981-1985)“ beschreibt Krijn Thijs die Problematik, das Gelände zwischen Reichstag, Mauer und Potsdamer Platz für unterschiedlichste Bauvorhaben wieder zu nutzen.

 

Ein weiterer Beitrag von Hanno Hochmuth legt seinen Fokus auf die Vorstellung von neuen Bildbänden über West-Berlin. Es handelt sich sowohl um Werke einzelner Künstler als auch um gesammelte oder private Fotografien. Gab es vor einigen Jahren erst wenige Bände dieser Art, ist mittlerweile eine erwähnenswert hohe Zahl an Bildbänden erschienen, die teilweise jedoch schnell herausgebracht wurden und dem künstlerischen Anspruch nicht immer gerecht werden.

Wirtschaftswunder West-Berlin

„Wirtschaftswunder West Berlin. Fotografien von Herbert Maschke”, nicolai Verlag, Berlin 2013.

 

Die Themen reichen von den 1950er-Jahren über das in bunten Bildern dargestellte „Wirtschaftswunder“, das mit farbigen Reklamen das Stadtbild prägte, bis hin zu Darstellungen des heruntergekommenen Kreuzberg der 1970- und 80er-Jahre, die von Hausbesetzern und ihrem Kampf gegen die Exekutive erzählen. All diese Bilder zeigen in vielerlei Facetten die Entwicklung, die (West-)Berlin seither durchlaufen hat – und regen zu einer Zeitreise an.

Inside Kreuzberg

Michael Hughes, Inside Kreuzberg. Eine Hommage auf Berlin-Kreuzberg in den 80ern, Berlin Story Verlag, Berlin 2013

Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe,  11 (2014), H. 2

Quelle: http://www.visual-history.de/2015/01/05/west-berlin/

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Interview: Giulia Ghionzoli über die Aktualität von Don Juan-Figuren und ihre Arbeit am GRK 1678


dongiovannidramm00moza_page_022 Die Formung eines Körpers ist immer eine Begegnung der konkreten Materie mit immateriellen Ordnungspraktiken wie Moral, Gesundheit oder Vernunft. Von dieser Prämisse geht Giulia Ghionzoli in ihrem Disserationsprojekt "Die Figur des Don Juan als Experiment: Übergänge zwischen Rematerialisierung und 'creatio'/Schöpfung" aus. Ins Blickfeld rückt in ihrer Forschung nicht nur die biopolitische Wende der europäischen Kultur um 1800, sondern auch die Kreativitätsprozesse, denen die fortwährende Auseinandersetzung mit den Verhältnissen von Materie und Norm eingeschrieben sind. Mehr zu historischen und aktuellen Don Juan-Figuren sowie der Arbeit im GRK 1678 erzählt Giulia Ghionzoli im folgenden Interview. 

 

Liebe Giulia, wie entstand Dein Interesse am Zusammenhang von "Materialität“ und "Produktion“?

Das Körperliche zeigte sich am Ende der Recherche für meine Master-Arbeit als grundlegendes Element des Don Juan-Mythos und bildete zugleich den Ausgangpunkt für eine innovative Forschung zu dieser Figur. Die Problematisierung des Körpers, die jeder Lebensform inhärent ist, führt notwendigerweise zur Reflexion der Begriffe "Materialität" und "Produktion" sowie über ihre Relation und Interaktion. Don Juan verkörpert den Kampf, in dem die Kraft des Lebendigen antritt (man denke an die schöpferischen Prozesse sprachlicher und künstlerischer Art) und die Dominanz der Form unterbricht bzw. provoziert. Damit ist auch die Macht über das Leben gemeint, die die Ordnungen des Wissens wie z.B. Religion, Moral, Politik usw. mit ihrem regulierenden Charakter durchsetzen.

In Deinem Forschungsprojekt schreibst Du über den subversiven Charakter von Don Juan-Figuren. Sie widersetzen sich mit ihrer Sinnlichkeit und ihren Exzessen einer aufgedrängten Normierung wie Moral, Sitte, Vernunft oder Recht. Besitzt dieses Konzept auch 2014 noch Wirkungskraft? Peter Handkes Don Juan-Figur von 2004 z.B. war bereits sehr müde und abgekämpft.

Die Artikulation des Kampfes zwischen gesellschaftlichen Regulierungsdynamiken einerseits und von Don Juan erzeugten De-Regulierungsprozessen andererseits nimmt in den verschiedenen historischen Kontexten zwar immer eine neue Form ein, jedoch bleibt der subversive Charakter der Figur des Don Juan bis zum 21. Jh. aktuell.

Am Ende des 18. Jh. setzt Don Juan von da Ponte/Mozart zweifellos eine Zäsur in der Tradition dieses Mythos, die mit Tirso de Molina begann und die später bei Molière eine wichtige Fortsetzung fand. Ab diesem Moment wird eine andere Art Subversion dargestellt, nämlich eine, die auf Prozesse der "Entmaterialisierung des Körperlichen“ basiert, und im Kontext der Romantik Dynamiken transzendentaler Art anstrebt. Man denke z.B. - noch vor Peter Handke - an E.T.A. Hoffmanns Don Juan am Anfang des 19. Jh., in dem Don Juan nach dem Unendlichen und der Idealität (als Fluchtweg aus Nützlichkeitsdenken und Sicherheitsstreben der Bourgeoisie) strebt, die er nun für einen Augenblick durch den Somnambulismus erreichen kann. Diese Art Wahn subversiven Charakters ist als Macht des Lebendigen zu betrachten. Diese lässt sich auch bei Peter Handke aufzeigen, bei dem es zwar nicht um die Potenz verführerischer Künste geht, aber um die Affektkraft. Der Erzähler bei Handke sagt selbst, dass "es jetzt um keine Verführung mehr ging […]. Er [Don Juan]hatte eine Macht. Nur war seine Macht eine andere.“[1] Es handelt sich nun um eine Macht, die von einem Blick erzeugt wird, der die Frauen affektiert, um einen "Blick, der handelte“[2].

Inwiefern profitierst Du als Doktorandin vom GRK 1678?

Aufgrund der Vertiefung theoretischer Diskussionen habe ich die Gelegenheit, neue, bedeutende Impulse zu erhalten und diese furchtbar umzusetzen. Außerdem habe ich die Möglichkeit, meine Kenntnisse in den theoretisch, methodisch und thematisch relevanten Bereichen zu erweitern. Wichtig sind dabei die interdisziplinäre Gruppe und die Konfrontation mit anderen Fragestellungen und Methoden.

[1] Handke, Peter: Don Juan (erzählt von ihm selbst), Frankfurt a.M. 2004, S. 73.

[2] Ebd., S. 75.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/306

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Eine komponierte Sichtweise

Magdeburg 1998-2000

Passend zum 25. Jubiläum des Mauerfalls präsentiert die LOOCK Galerie vom 18. Oktober bis zum 31. Januar 2015 eine Ausstellung mit Bildern des Fotografen Ulrich Wüst. Die Sammlung mit dem Titel „Übergänge“ beschäftigt sich zwar nicht direkt mit den Ereignissen vom 9. November 1989, aber eben auch mit den Jahren danach.

Berlin 1995-1997

Berlin 1995-1997, Pressefoto zur ausschließlichen Verwendung für die die Besprechung der Ausstellung „Übergänge” in der Loock Galerie (© Ulrich Wüst, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung)

Es werden drei verschiedene Werkgruppen des Künstlers gezeigt. Eine davon bildet die Veränderungen in Berlin-Mitte (Berlin 1995 – 1997) nach dem Abbau der innerdeutschen Grenze ab. Anhand der zweiten Gruppe Morgenstraße (Magdeburg 1998 – 2000) wird die Geschichte Magdeburgs, Wüsts Geburtsstadt, erzählt. Der Verfall der einstigen Industriestadt steht im Mittelpunkt dieser Arbeiten. Als dritte Sammlung kann man die Bildergruppe Fremdes Pflaster (Köln 2004 – 2005) sehen, welche einerseits das traditionelle Stadtbild zeigt, jedoch auch auf die Entwicklung dieser eingeht.

Die kleine Galerie besteht aus zwei aneinander-grenzenden Räumen, beide sind weiß gestrichen und lassen die Lokalität eher unscheinbar wirken. Wendet man sich jedoch den Bildern zu, bemerkt man, welche starke Aussagekraft diese in Schwarz-Weiß entwickelten Fotografien haben.

Magdeburg 1998-2000

Magdeburg 1998-2000, Pressefoto zur ausschließlichen Verwendung für die die Besprechung der Ausstellung „Übergänge” in der Loock Galerie (© Ulrich Wüst, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung)

Die erste Wand zeigt Bilder aus Magdeburg. Darunter eine Straße mit einem Haus, welches einen Sexshop mit dazugehörigem Kino beheimatet. Die Fassade des Gebäudes ist aus Beton und bröckelig. Dieser Vordergrund ist durch eine Mauer zum Hintergrund der Fotografie abgegrenzt. Hinter dieser Mauer steht eine Häusergruppe, die aus Neubauten in älterem Stil zu bestehen scheint. Obwohl die Bildkomposition stimmig ist, passen die gezeigten Gebäude nicht zueinander. Es scheint, als sei die Stadt in der Entwicklung zur Moderne hängen geblieben. Die in der Vergangenheit berühmte Industriestadt Magdeburg muss der kommerziellen Dienstleistung in Gestalt der immer beliebter werdenden Pornoindustrie weichen, schafft dabei aber den „Absprung“ zu der modernen Infrastruktur nicht.

Geht man weiter in den nächsten Raum, kann man auf den Fotografien die Straßen von Berlin erkennen. Die Aufnahmen zeigen verfallene Häuser mit eingeschlagenen Fenstern und abgebröckelter Fassade. Oft haben diese Gebäude nur eine Front, oder die Fenster auf der anderen Seite wurden zugemauert. Sie wirken wie Kulissen aus einem Film, als gäbe es keinen Raum hinter den Fenstern. Die Spuren des Postsozialismus oder besser gesagt dessen Reste sind deutlich zu erkennen. Heute erscheint es in Berlin-Mitte kaum noch vorstellbar, dass Straßen oder gar Häuser von der Mauer geteilt wurden, doch damals war das Realität und trennte Familien und Freunde voneinander, die zuvor in demselben Gebäude gewohnt hatten.

Köln 2004-2005

Köln 2004-2005, Pressefoto zur ausschließlichen Verwendung für die die Besprechung der Ausstellung „Übergänge” in der Loock Galerie (© Ulrich Wüst, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung)

Dreht man sich zur Seite, landet man thematisch in der nordrhein-westfälischen Stadt Köln. Die Darstellungen sind von einem Paradoxon geprägt. Auf der einen Seite wird das Stadtbild von traditionellen gotischen und antiken Bauwerken dominiert, auf der anderen Seite geht es um die Entwicklung zur modernen Industriestadt. Dies zeigt sich zum Beispiel an einem Foto, das im Hintergrund den Dom in seiner vollen Pracht der gotischen Bauweise zeigt. Der Betrachter schaut von einer Treppe, die ans Ufer des Rheins führt, auf die Szenerie. Links im Bild auf einer Brücke ist von hinten eine Reiterstatue zu erkennen, die in Richtung Dom „schaut“. Den Gegensatz zu diesem edel anmutenden Ausblick bildet der Vordergrund des Fotos. Der Kölner Hauptbahnhof verdeckt mit seiner großen kuppelförmigen Halle und den vielen Oberleitungen den freien Blick auf das früh-neuzeitliche Bauwerk. Die Brücke, auf dem die Statue steht, scheint durch die Eisenbahnbauten verlängert worden zu sein. Dieser Fakt ist ein aussagekräftiges Sinnbild, wie aus dem Alten das Neue, das Moderne entsteht und im neuen Stadtbild integriert wird.

Ulrich Wüst hat mit seinen Werken eine Zeitspanne dokumentiert, die wichtige Etappen der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland umrahmt. Dabei hat er sich nicht auf Schnappschüsse verlassen, sondern seine Aufnahmen streng komponiert. Alles passt zusammen und ist so gewollt. Er fotografiert nicht nur die Eindrücke, sondern verfolgt immer einen Zweck, möchte dem Betrachter eine Botschaft hinterlassen. Das ist Wüst in der Ausstellung definitiv gelungen.

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/12/15/eine-komponierte-sichtweise/

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Das Innere nach außen gekehrt

Alf Lockhart (Großbritannien, 1918)

Alf Lockhart (Großbritannien, 1918)

Alf Lockhart (Großbritannien, 1918). Press photo for exhibition „The Eyes of War“ in the German Historical Museum in Berlin

Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt seit dem 1. Oktober 2014 Fotografien des Niederländers Martin Roemers. 2004 traf der Fotograf den britischen Kriegsveteranen Frederick Bentley, der im Jahre 1944 sein Augenlicht verlor, als er von einer Granate getroffen wurde. Berührt von diesem Schicksal, begann der Niederländer nach Personen zu suchen, die ähnliche Erfahrungen wie Bentley gemacht haben. Entstanden ist eine große Sammlung an Geschichten und Bildern aus den verschiedensten Ländern.

Die Ausstellung umfasst 40 Porträts von Menschen aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Großbritannien, der Ukraine und der ehemaligen Sowjetunion. Die Bilder zeigen Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs als Jugendliche, junge Erwachsene und Soldaten ihr Augenlicht zum Teil oder ganz verloren haben. Begleitet werden die ca. ein Meter großen Aufnahmen von Interviews mit den gezeigten Personen, die ihre persönlichen Geschichten erzählen. So berichtet ein Mann aus Großbritannien von einem Freund, mit dem er gemeinsam einen verschütteten Keller nach interessanten Dingen durchsucht hatte. Dabei fanden die beiden eine Handgranate, die sie aber nicht als solche erkannten und damit spielten. Als der Junge wieder erwachte, hatte er zwei Wochen im Koma gelegen und sein Augenlicht verloren.

Jedes tragische Einzelschicksal berührt und hält einem einmal mehr die Sinnlosigkeit von Kriegen vor Augen. Auf der anderen Seite rufen die Darstellungen nicht nur Mitleid hervor, sondern zeugen von einer besonderen Stärke. So beschreiben die Betroffenen nicht nur ihren Leidensweg, sondern vielmehr ihre persönliche Art und Weise, mit einer solchen Behinderung umzugehen.

Sieglinde Bartelsen (Deutschland, 1930

Sieglinde Bartelsen (Deutschland, 1930). Press photo for exhibition „The Eyes of War“ in the German Historical Museum in Berlin

Dies wird auch durch die Präsentation der Sammlung bestärkt. Die Galerie ist mit schwarzen Wänden ausgekleidet, und auch die Aufsteller sind in dunkler Farbe gehalten. Die Porträts wurden in Schwarz-Weiß entwickelt. Jedoch sind sie auf einem weißen Untergrund angebracht, der sich wie ein Rahmen um die Fotografien schmiegt. Diese Darstellung gibt den Konsens der Ausstellung sehr gut wieder. Jedes einzelne Schicksal ist wichtig und erwähnenswert. Letztendlich werden aber all diese individuellen Geschichten zu einem Ganzen, weil sie trotz unterschiedlicher Nationalitäten das gleiche Schicksal eint. Martin Roemers verweist mit seiner Sammlung darauf, dass Bilder von äußerlich verletzten Menschen auch ihre innere Konstitution widerspiegeln können. Dies wird eindrucksvoll bestätigt, wenn man die Interviews neben den Bildern liest, wie Sieglinde Bartelsen, die trotz ihrer Einschränkung Näherin wurde und ihr eigenes Geld verdiente.

Zudem hat das Deutsche Historische Museum erstmals ein Leitsystem für Blinde und Sehbehinderte entwickelt und angelegt. So können die Besucher in Brailleschrift einen Einführungstext und auch die einzelnen Schicksale neben den Bildern lesen. Es gibt außerdem die Möglichkeit für Menschen ohne Augenlicht, an Führungen mit anschließender Diskussion teilzunehmen.

Ergänzend zu der Sammlung brachte der Hatje Cantz Verlag einen begleitenden Fotoband zur Ausstellung heraus, der jedoch nur noch einmal die Interview-Ausschnitte und die dazugehörigen Bilder zeigt, die ohnehin in der Ausstellung betrachtet werden können. So kann man die Bilder und ihre Geschichten nachlesen, erhält jedoch kaum neue Informationen zur Entstehung.

Norman Perry (Großbritannien, 1919).

Norman Perry (Großbritannien, 1919). Press photo for exhibition „The Eyes of War“ in the German Historical Museum in Berlin

Die Ausstellung läuft noch bis zum 4. Januar 2015 und ist besonders für jüngere Menschen einen Besuch wert. Denn sie zeigt am Beispiel tragischer Ereignisse, dass die vom Krieg betroffenen Menschen noch lange nach solchen Erlebnissen mit der Verarbeitung der Folgen beschäftigt sind. Erschreckend ist auch zu sehen, dass die Bilder ein heute sehr aktuelles Thema ansprechen. Man muss nur auf die Krisengebiete der Welt blicken und kann sich vorstellen, dass solche und noch schlimmere Ereignisse tagtäglich geschehen.

The Eyes of War – Fotografien von Martin Roemers
1. Oktober 2014 bis 4. Januar 2015
Deutsches Historisches Museum Berlin

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/12/01/das-innere-nach-aussen-gekehrt/

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