Interview: Die GRK1678-Koordinatorinnen Anna-Lisa Langhoff und Miriam Leopold über ihre Arbeit

Beim Wein mit Bernhard Schlink. Wir repräsentatieren das Grako bei der Meyer-Struckmann-Preisverleihung am 19. 11.2014

Beim Wein mit Bernhard Schlink: Anna-Lisa Langhoff (links) und Miriam Leopold repräsentieren das Grako bei der Meyer-Struckmann-Preisverleihung am 19. 11.2014

Beinahe jedes Graduiertenkolleg in Deutschland besitzt ForschungskoordinatorInnen. Sie bilden die wichtige Schnittstelle zur universitären Administration und organisieren maßgeblich den Arbeitsalltag im Kolleg. Trotz ihrer Schlüsselfunktion erhalten KoordinatorInnen in der akademischen Welt meist wenig Aufmerksamkeit und ihre Tätigkeit erfolgt im Stillen. Wir möchten hier die Gelegenheit nutzen, um Ihnen unsere beiden Forschungskoordinatorinnen Anna-Lisa Langhoff und Miriam Leopold vorzustellen, ohne die die wissenschaftliche Produktivität im GRK1678 markant leiden würde. In einem Doppelinterview geben sie u.a. Auskunft über ihre tägliche Aufgaben sowie die Verbindung von GRK-Theorie und eigener Forschungspraxis.

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Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/846

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Interview: Katharina Kelter zur Produktion von Materialität im zeitgenössischen Tanz

Foto Ursina Tossi

Choreografie “excellent birds“ von Ursina Tossi © Saskia Bannasch/Ursina Tossi

Tanz steht in einem ganz besonderen Verhältnis zu Materialität und Produktion. Als performative Kunstform materialisiert er sich ereignishaft und verflüchtigt sich zugleich wieder. Die GRK-Kollegiatin Katharina Kelter versucht in ihrem Promotionsvorhaben “Tanzen zwischen Materialität und Immaterialität.  Zum Produktionsprozess im zeitgenössischen Tanz” diese Abwesenheit bzw. die Immaterialität als Voraussetzung von Materialität zu denken und den Tanz als fortlaufenden Produktionsprozess zu untersuchen. Zu ihrer Forschung, aber auch zu ihren Erfahrungen als Stipendiatin und Kollegiatin des GRK1678 gibt Katharina Kelter im folgenden Interview ausführlich Auskunft.

Liebe Katharina, wie entstand Dein Interesse an “Materialität” und “Produktion”?

Mein Interesse für „Produktion“ ist eigentlich schon ziemlich früh im Studium entstanden. Sowohl in der B.A.- als auch in der M.A.-Arbeit habe ich mich mit verschiedenen Aspekten von Produktion im Tanz auseinandergesetzt – zunächst die Frage nach der Autorschaft und dann die Produktivität von Erinnerung. In diesem Kontext kam die Frage nach der spezifischen Materialität von Tanz fast automatisch dazu, da sich Tanz bzw. die tänzerische Bewegung als solche nicht in einem bleibenden stofflichen Artefakt materialisiert, sondern als Ereignis im Moment der Aufführung direkt wieder vergeht, sich verflüchtigt. Das beeinflusst wiederum in besonderem Maße den Produktionsprozess. Das Graduiertenkolleg kam mir mit seinem Ziel, die Relation und Interaktion dieser beiden Begriffe zu untersuchen, also gerade recht. Mein Hauptinteresse – wenn man das sagen kann – gilt aber nach wie vor dem Produktionsbegriff.

Dein Promotionsvorhaben untersucht die Materialität und die Produktion, die dem zeitgenössischen Tanz eingeschrieben sind. Mit welchen Methoden untersucht eine Kulturwissenschaftlerin Materialität und Produktion im Tanz? Mit welchen Quellen arbeitest du?

Wie gerade schon kurz angesprochen ist der Tanz eine flüchtige Kunstform und hat daher grundsätzlich mit einem methodischen „Problem“ zu tun, nämlich dass der eigentliche Untersuchungsgegenstand flüchtig ist. Es gilt also zum einen eine Dynamik bzw. einen Prozess zu analysieren und zum anderen auf mediale Übersetzungen zurückzugreifen. Darüber hinaus geht es mir in meinem Promotionsprojekt vor allem darum, Prozessualität als entscheidendes Charakteristikum einer Tanzproduktion herauszuarbeiten. Ich möchte u.a. aufzeigen, dass gerade mediale Übersetzungen Teil von Tanzproduktion sind. Medienanalysen spielen in meinem Projekt daher eine zentrale Rolle. Meine Quellen sind u.a. Filme, Bilder, Kataloge, Bücher, Archivmaterialien. Aber auch Interviews und Projekt- und Produktionsbegleitungen sind wichtige Quellen.

Eine Deiner Thesen ist, dass die Aufführung nicht mehr Ziel des zeitgenössischen Tanzes ist, sondern vielmehr die Arbeitsprozesse und die Materialität des Tanzes erfahrbar werden sollen. Die Orte, an denen sich professioneller Tanz ereignet, zeugen aber vielfach von einem traditionellen Kunstverständnis: Auf einer Bühne sieht ein zahlender Zuschauer eine Aufführung. Gibt es Anzeichen, dass auch diese räumliche Konfiguration aufgebrochen wird?

Du sprichst damit zwei verschiedene Punkte an: Zum einen die Existenz oder Notwendigkeit von Aufführung und zum anderen mein Verständnis von Produktion, bei dem die Aufführung nicht (mehr) im Fokus steht. Zunächst einmal ist die Aufführung in der derzeitigen Tanzlandschaft nicht mehr zwingendes oder notwendiges Ziel. Tanz präsentiert sich nicht nur in Bühnenformen, sondern es gibt vielfältige Produktions- und Erscheinungsformen, wovon die Aufführung ein Beispiel ist. Ich denke hier bspw. an Chantiers (sogenannte Baustellen), künstlerische Labore oder offene Proben – sprich Formate, die die „Unfertigkeit“, die Prozesshaftigkeit und Offenheit von Kunst – und von Tanz im Besonderen – in den Fokus rücken. Damit meine ich aber nicht, dass die Aufführung an sich obsolet geworden ist oder Tanz zukünftig nicht mehr auf der Bühne zu sehen sein wird. Natürlich ist Tanz als performative Kunstform auf den Moment des Aufführens angewiesen, alleine schon aus ökonomischen Gründen. Du sprichst also zu Recht den zahlenden Zuschauer an. Meine These ist jedoch, dass die Aufführung nicht das Ende, das fertige „Produkt“ und damit Höhepunkt des tänzerischen Produktionsprozesses ist. Die Produktion von Tanz beschränkt sich nicht auf Probenprozess und Aufführung, sondern auch ohne Aufführung – das „Produkt“ – und darüber hinaus findet Produktion statt. Die Aufführung bildet vielmehr nur einen Moment im Prozess der Produktion, der zwar am leichtesten wahrzunehmen ist, jedoch von vergleichsweise geringem Umfang ist. Ziel meines Promotionsprojekts ist es, den Blick von der Zentralstellung der Aufführung, vom „Produkt“ weg und hin zum Herstellungsprozess, hin zur Produktion zu richten.

Du kennst das Leben als Stipendiatin und Kollegiatin im GRK 1678. Worin liegen für dich die Differenzen zwischen Stipendium und Kollegiat?

Der größte Unterschied zwischen Stipendium und Kollegiat ist für mich ganz klar die Zeit, sich voll und ganz auf das eigene Projekt und das Angebot des GRKs konzentrieren zu können. Ich bin froh, dass ich zu Beginn meiner Promotion das Glück eines Stipendiums und damit Zeit und finanzielle Absicherung hatte. Durch das Stipendium hatte ich Zeit, an allen Veranstaltungen des Kollegs teilzunehmen und war immer und automatisch im Austausch mit den KollegInnen. Für dieses intensive Eingebunden-Sein in das Kolleg fehlt mir als Kollegiatin jetzt die Zeit. Ich arbeite seit einem Jahr als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg bei Gabriele Klein am Institut für Bewegungswissenschaft/Performance Studies, was für mich thematisch natürlich super ist. Meine Arbeit erlaubt es mir allerdings nicht mehr an allen Terminen des Kollegs teilzunehmen und auch der tägliche Austausch im Doktorandenraum fehlt. Aber glücklicherweise standen im letzten Jahr, im Gegensatz zu den ersten Semestern, relativ wenige Termine an, so dass es mir auch als Kollegiatin immer noch gut möglich war, vom Angebot des GRKs zu profitieren.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/421

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Interview: Bernadette Burchard über materielle und immaterielle Kirchenschätze

Domschatz von Minden. © Bernadette Burchard, Düsseldorf

Mittelalterliche Kirchenschätze bestanden nicht nur aus kostbaren Materialien wie Gold und Edelsteinen. Auch handelte es sich bei Ihnen nicht um Kleinode, die nur unangetastet in dunklen, geheimen Verstecken lagerten. Wie die Schätze vielmehr durch immaterielle Vorstellungen und konkreten Praktiken konstituiert wurden, untersucht die GRK1678-Stipendiatin Bernadette Burchard in ihrem Dissertationsprojekt “Mittelalterliche Kirchenschätze Westfalens: Eine Analyse des Verhältnisses von Materialität, immateriellen Schatzvorstellungen und Schatzpraktiken anhand der Domschätze von Münster und Osnabrück und ihrer schriftlichen Überlieferung”. Lesen Sie im folgenden Interview von den Verhältnissen zwischen Materialität und Immaterialität bei Kirchenschätzen und Bernadette Burchards Arbeit im GRK1678.

Liebe Bernadette, wie entstand Dein Interesse an “Materialität” und “Produktion”?

Mein Interesse für Fragen der “Materialität” und “Produktion” entwickelte sich schon während des Studiums. Neben meinem Hauptfach Geschichte des Mittelalters habe ich auch Kunstgeschichte studiert. Außerdem besuchte ich nebenbei Veranstaltungen in Fächern wie Archäologie oder Ur- und Frühgeschichte, die den Fokus auf den Sachquellen haben. In der Kunstgeschichte hat mich die Kunsttechnologie immer besonders angesprochen, denn wenn man um die Produktionsprozesse weiß, bekommt man einen ganz anderen Blick auf die Gegenstände. Es war daher kein Zufall, dass ich in meiner Dissertation zu den mittelalterlichen Kirchenschätzen neben den klassischen Quellen des Historikers auch die Sachquellen, also die Kirchenschätze selbst, in die Untersuchung miteinbeziehen möchte.

Die mittelalterlichen Kirchenschätze von Münster und Osnabrück sind Dein Forschungsobjekt. Du gehst aber davon aus, dass immaterielle Konzepte von ‚Schatz’ die tatsächliche Herstellung von Kirchenschätzen beeinflussten. Könntest Du uns hierzu ein Beispiel nennen?

Das wichtigste Schatzkonzept des Christentums ist immateriell, gemeint ist die christliche Lehre als der größte Schatz. Damit einher geht eigentlich die Ablehnung materieller Reichtümer. Das Gleichnis vom Kamel, das eher durch ein Nadelöhr passt, als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt (Mt 19, 24; Mc 10, 25; Lk 18, 25), ist hier bezeichnend. Allerdings benutzt auch die Bibel eine Bildsprache in der kostbare immaterielle Dinge mit kostbaren materiellen Dingen gleichgesetzt werden, z. B. gleicht die christliche Lehre einer Perle (Mt 13, 46). Das himmlische Jerusalem besteht aus Gold und Edelsteinen (Apc 21, 18-20). Diese Bildsprache wurde in den Kirchenschätzen umgesetzt. Deshalb wurden bspw. die Gebeine von Heiligen, die zu Lebzeiten materiellen Reichtum abgelehnt hatten, in Behälter aus Gold und Silber gegeben. Es war ein didaktisches Mittel, um ihre Heiligkeit augenscheinlich zu machen, das im Grunde noch aus der Antike stammte, in der Reichtum sozialen Status bzw. Macht darstellte. Das Armutsgebot wurde jedoch nie ganz vergessen, so gebot es die christliche Caritas (Nächstenliebe), dass der Kirchenschatz in Notsituationen für die Gläubigen eingesetzt werden sollte. Für die materiellen Kirchenschätze bedeutet dies im Umkehrschluss, dass sie einen hohen ökonomischen Wert haben können, aber niemals müssen.

Neben der Materialität und Produktion von Schätzen interessiert Dich auch der Umgang mit Schätzen. Was wurde mit den Kirchenschätzen angestellt?

Kirchenschatzobjekte waren in die verschiedensten Funktionszusammenhänge eingebunden und eigentlich mit allen Bereichen des Lebens verknüpft: Als liturgische Geräte waren sie unverzichtbar für den Gottesdienst. Gestiftete Ensemble und Einzelstücke dienten der Memoria ihrer Stifter. Dabei ging es nicht nur darum etwas für das eigene Seelenheil zu tun, sondern auch seinen gesellschaftlichen Status zu präsentieren und zu konservieren. Im Kirchenschatz als Ganzem spiegelte sich die spirituelle, politische und soziale Identität der Gemeinde. Seine verschiedenen Funktionen trugen dazu bei, dass sich ein Kirchenschatz in einem permanenten Wandel befand, also gerade kein Schatz im Sinne eines Hortes, Piratenschatzes oder heute Museumsobjektes war.

Das GRK ist nicht nur interdisziplinär, sondern umfasst auch verschiedene historische Epochen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wie erlebst Du die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Disziplinen und Fachbereichen?

Für mich ist das GRK ein großartiger Rahmen, um die eigenen Forschungsfragen interdisziplinär zu diskutieren und somit den eigenen Horizont zu erweitern. Dabei wird auch das gegenseitige Verständnis geschärft, indem man die Unterschiede, aber auch die Schnittmengen der verschiedenen Disziplinen und Epochen auslotet. Häufig bekommt man Anregungen und Ideen aus Richtungen mit denen man nicht gerechnet hätte. Das empfinde ich als sehr bereichernd.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/413

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Interview: Prof. Vittoria Borsò zu den Schlüsselbegriffen des GRK1678

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Ausschnitt aus: Roland Barthes, L’empire des signes, Paris: Seuil 1970, S. 14f.

‘Materialität’ meint nicht nur Material. Auch ist ‘Produktion’ kein Synonym für Herstellung. Welche Implikationen ‘Materialität’ und ‘Produktion’ theoretisch wie methodisch in literaturwissenschaftlicher Hinsicht besitzen, haben wir daher Prof. Vittoria Borsò gefragt. Vittoria Borsò ist emeritierte Professorin für Romanistik an der HHU Düsseldorf sowie stellvertretende Sprecherin des GRK1678 und zeichnet sich u.a. durch ihr profundes theoretisches Wissen aus. Dazu arbeitete sie in ihrer vielseitigen akademischen Karriere mit Vorliebe interdisziplinär und international. Die ideale Gesprächspartnerin also, um sich den Schlüßelbegriffen unseres Graduiertenkollegs anzunähern.

Liebe Frau Borsò, gleich zu Beginn eine Frage, die banal wirkt, aber schwierig zu beantworten ist: Was ist die Materialität der Literatur?

Die Poiesis, nämlich das materielle Herstellen, kennzeichnet Literatur als eine Arbeit am sprachlichen Material, die gewohnte Sinnbezüge verändert. Insofern scheint die Rede der Materialität der Literatur unmittelbar evident zu sein. Es sind die materiellen Prozesse von humanen und nicht-humanen Mediatoren, nämlich Schriftstellern und Lesern, aber auch Techniken des Schreibens, Notierens, Druckens und Publizierens. Die Frage der Materialität der Literatur hat mit diesem Fokus Studien zu Handschriften, typographischen Prozessen, Formen des Archivierens u.s.w. neu belebt. Trägermaterialien, Schreibstoffe und –geräte, Formate und Techniken sowie die Genese von Texten werden neu beleuchtet. Doch heißt Materialität mehr als nur das sprachliche Material oder die materiellen Prozesse der Herstellung und Archivierung von Literatur. In einer im Abendland eher vergessenen, aber mächtigen Tradition, die auf das von Aristoteles postulierte Verhältnis zwischen der Form und der Substanz ihrer Materie (Hylemorphismus) zurückgeht, ist Materialität etwas “vorgängiges”, “zuvorkommendes”, das was man zwar in kognitiven Prozessen nicht mehr sieht, aber das Werden der Form zuallererst ermöglicht. Die Materialitätswende der Kulturwissenschaften hat diese Tradition wiederaufgenommen, um in der materiellen Ästhetik von Medien – Sprache, Schrift, Bild – die Dynamik des Werdens und die Potenz des Sich-Ereignens beschreiben zu können. Was ist also Materialität der Literatur? Materialität ist ein pool von akustischen, visuellen, körperlichen, imaginativen Energien, aus dem heraus Sinnprozesse werden und sich transformieren. In diesem Sinne muss man fragen, was Materialität in literarischen Texten macht. Und dies ist mein Interesse. Denn wenn wir so fragen, sehen wir, wie sich in der Materialität der Buchstaben und des Klangs ein Raum öffnet, auf den der Literaturwissenschaftler blickt. Der Raum der literarischen Schrift hat eine Eigenzeit (Rhythmen, Reime etc.) und eine eigene topologische Ordnung, in der sich das Verhältnis von Subjekt und Welt, Dingen und Menschen jeweils anders und neu ereignet. Hier werden affektiv Erfahrungen mobilisiert, Blicke werden beweglich, Kontingenzen in der Ordnung sichtbar, mögliche Welten denkbar. Stéphan Mallarmé hat diesen Raum von kontingenten Dynamiken und möglichen Welten durch die auch mathematisch errechnete Disposition der Schrift auf der weißen Seite sichtbar gemacht. Dies ist durch traditionelle hermeneutische oder semiotische Methoden deshalb nicht fassbar, weil diese Methoden im Material der literarischen Sprache nur den Träger eines außerhalb der Materialität (in der Geschichte, der Struktur oder der Realität) bestehenden Sinns sehen. Wenn man also nicht den Sinn, sondern zunächst die Dynamik des Werdens als Eigensinn der Materialität der Schrift beschreibt, so können unerwartete Fragen oder Sinnhorizonte hervorgehen, die andere Pfaden des Denkens, Sehens, Erfahrens erschließen. Dies ist methodisch höchst produktiv, und zwar nicht nur für diejenige (moderne oder aktuelle) Literatur, die extreme Grenzbereiche der Erfahrung oder des Wissens aufsucht, sondern auch in Bezug auf historische Epochen. Wie anders könnte man die Transformationsprozesse der Schrift von Vita Nuova zur Divina Commedia als den Materialitätsraum entdecken, in dem sich Dante als auctor novus ermächtigt, um im Paradies die Überschreitung der Grenzen des Menschlichen zu wagen? Oder die Schrift des Canzoniere bei Petrarca als Raum eines sich durch Affekte materialisierenden Subjektes? Wie die Linie entdecken, der in einer Art parasitären Genealogie von Brunetto Latini zu Giordano Bruno geht? Wie die immanente Ontologie von Diderot, der materiellen Netzwerken und dem Körper eine Potenzialität zuschreibt, welche die Erkenntniskraft des Geistes überschreitet? Derartige Latenzen, denen ich meine Untersuchungen gewidmet habe, sind bei der diskursiven Markierung des Denkens zugunsten einer Materialitätsblindheit abgewählt oder vergessen worden.

“Materialität” und “Produktion” werden im GRK 1678 in Relation zueinander untersucht. Wie ist diese Relationalität in Bezug auf die Literatur zu denken? Können Sie uns ein Beispiel geben?

Wenn Texte mehr als Container von Inhalten sind, und Inhalte über die Form generiert werden, wie schon die Russischen Formalisten und Prager Strukturalisten postuliert haben, so gilt die Relationalität von Form und Inhalt für die literarische Schrift umso mehr. Heute wissen wir, dass sich diese Relationalität als ein Verhältnis von Materialität und Produktion darstellt. Die Dynamik dieses Verhältnisses ist nicht vorgegeben. Sie entwickelt sich vielmehr im Schreibprozess selbst. Beeindruckender Beleg hierfür ist die Fluidität der Schrift in den Varianten eines Wortes oder eines Satzes bei der Genese literarischer Texte, die man heute in der New Philology bzw. der critique génétique untersucht. Aber wie die Materialität muss ihre Relation zur Produktion auf einer grundsätzlicheren Weise betrachtet werden. Materielle Prozesse der Verdichtung wie Rhythmen, Metaphern, aber auch der Verknappung wie Lücken, Leerstellen, Fragmentierung, minimalistische Tendenzen zur Stilisierung von Alltagsdiskursen oder Kleinformen induzieren über das Imaginäre verschiedene Prozesse der psychomotorischen, affektiven, kognitiven und visuellen Produktion, bei der die Arbeit und die Investition des schreibenden und lesenden Subjektes in Abhängigkeit von der materiellen Beanspruchung des Textes steht. In diesem Sinne hat schon Charles Baudelaire das Schreiben als Arbeit, als travail journalier, bezeichnet. Der Literaturwissenschaftler muss also in der Materialität der Schrift die verschiedenen Strategien, Wege und parcours dieses Verhältnisses beschreiben. Erst diese Beschreibung kann die Produktion eines für die Literatur eigenen, poetologischen Wissens freilegen, das an der Konstitution der jeweiligen historischen Welten beteiligt ist und/oder diese transzendiert bzw. gegenüber Normalisierungsprozessen widerständig ist. Literarische Darstellung lebt aus dem jeweiligen Verhältnis des Materialitätsraums der Schrift und der sich in diesem produzierenden Ereignisse – und dies auch im Sinne einer szenischen Hervorbringung emergenter Wissensordnungen und/oder affizierender Erfahrungen einer Physis, die ein anderes, ein ‚situiertes‘ Wissen des Lebens nahebringt. Die Produktionsprozesse sind im literarischen Medium mehr als nur Vermittler von Inhalten, die übersetzt werden, im Sinne des gelungenen Transports eines mobilen Guts von einem Ufer zum anderen. Sie sind vielmehr eine Art Übersetzen, d.h. ein Insistieren auf dem Übergang, auf dem Materialitätsraum der Schrift. Produktionsprozesse sind also Mittler einer Dynamik, welche zum einen ein selbstreflexives Rückblicken auf die eigene Medialität induziert, zum anderen aber auch alles in diesem Raum zum Akteur werden lässt, so dass das schreibende und lesende Subjekt kognitiv, imaginativ und sinnlich Alteritätserfahrungen und Transformationen durchmachen kann. Dies ist die Politik der Materialität der Schrift, um dies in den Begriffen von Jacques Rancière zu fassen. Mir fällt das Beispiel der kleinsten Kurzgeschichte der Weltliteratur ein, die auch Italo Calvino im Kapitel “Rapidità” der Lezioni americane (American Lessons) als Beispiel für die Kunst der mentalen und physischen Geschwindigkeit literarischer Texte erwähnt. Es ist die Mikrogeschichte des guatemaltekisch-mexikanischen Autors Augusto Monterroso: “Cuando despertó, el dinosaurio todavía estaba allí.” / “Als er aufwachte, war der Dinosaurier immer noch da”. Hier gründet die Dynamik des Verhältnisses von Materialität und Produktion auf der (ebenfalls von Calvino gelobten) ikonischen Präzision und zugleich minimalistischen Reduktion des Sprachmaterials bei einer immensen Potenz der Eigenzeit und der topologischen Verhältnisse, die von dieser Materialität produziert werden: Die Präsenz eines Akteurs, des Dinosauriers, der in der kürzesten Erzählzeit eine Zeitreise von Jahrtausenden anregt; die auch körperliche Erfahrung des Fremden und des Erstaunens; die paradoxe und doch spekulativ und imaginativ reale Koexistenz des Prähumanen und des Alltäglichen, die zur reflexiven Auseinandersetzung mit den Grundlagen der abendländischen Philosophie inspiriert.

Das GRK 1678 verfolgt einen interdisziplinären Ansatz. Wer ihre beeindruckende Publikations- und Vortragsliste liest, erhält den Eindruck, dass Sie diese Interdisziplinarität geradezu verkörpern. Worin sehen Sie den Gewinn, aber auch die Schwierigkeiten dieser interdisziplinären Ausrichtung im GRK?

Die Frage der Überschreitung von Disziplingrenzen stellte sich für mich nie, oder vielmehr ich war immer von der curiositas getrieben. Ich war neugierig, mehr zu erfahren über die wunderbaren Gegenstände der anderen Disziplinen, über ihre Verfahren und methodischen Vorgehensweise. Ich glaube, dass wissenschaftliche Neugierde der Motor unseres Tuns, aber auch die Gnade unserer Arbeit ist. Dies lässt sich wissenschaftlich begründen: Es ist die Anziehungskraft des Fremden, die uns treibt. Aber auch ganz rational und erkenntnistheoretisch: Wenn man über den Tellerrand der eigenen Disziplin schaut, dann sieht man besser, was die eigene Wissenschaft tut, welche ihre Grenzen, aber auch Vorzüge sind. Umgekehrt gilt es ganz definitiv: Interdisziplinarität ist nur dann möglich und produktiv, wenn sie auf einer profunden und sicheren Beherrschung der eigenen Disziplin basiert. In einem interdisziplinären Forschungsverbund ist dies ein ernst zu nehmendes Problem für junge Promovendinnen und Promovenden, die sich bei der Arbeit am eigenen Dissertationsprojekt in ihrer eigenen Disziplin erst finden und stabilisieren sollen. Deshalb ist neben den interdisziplinären workshops ganz wichtig auch eine enge und regelmäßige Zusammenarbeit über Themen, Methoden und Theorien der eigenen Disziplin.

Was das inter- oder gar transdisziplinäre Potential eines Nachdenkens über die Relation von Materialität und Produktion betrifft, so ist dieses sehr hoch. Ich hatte zwar Aristoteles als Referenzautor für Materialität erwähnt. Aber gerade neuere Philosophen wie Henri Bergson zeigen, dass die Grundlagen der Materialität, nämlich eine substantielle Ununterscheidbarkeit von Geist und Materie im gemeinsamen Werden von Formen und Bildern, die Bergson in Bezug auf das Gedächtnis entwickelt (Matière et mémoire) und Gilles Deleuze im Bereich des bewegten Bildes des Kinos wiederaufnimmt, von den Erkenntnissen der frühen Quantenphysik gewonnen wurden. Später hat gerade die französische Epistemologie kognitive Konfigurationen und Problemstellungen des Materialitätsparadigmas im Zusammenhang von Physik, Biologie, Biogenetik und Medizin erarbeitet. Und auch die wissenspoetologische Produktion aus der Materialität der Literatur ist im Bereich der Ökonomie schon eindringlich gezeigt worden. Insofern werden unsere Promovenden nicht nur auf die Zusammenarbeit mit affinen Disziplinen vorbereitet, sondern auch auf die Herausforderungen transdisziplinärer Fragen, die heute vom komplexen Setting biologischer, ökologischer oder technischer Prozesse an die scientific community gestellt werden.

Die Wissenschaft arbeitet u.a. mit verschiedenen Materialien und produziert Wissen. Besitzt die historische und systematische Beschäftigung mit “Materialität” und “Produktion” auch eine methodologische Relevanz in dem Sinne, dass die eigene Arbeit reflektiert wird?

Es ist eine wichtige Frage, die ich ohne Zögern mit “ja” beantworte, weil sich dies auch schon aus den vorangehenden Begründungen und Beispielen ergibt. Wenn Materialität das „Vorgängige“ und das energetische Pool ist, aus dem Formen werden, wenn wir also diesen ontogenetischen Zugang zu unserer Kultur wählen, dann reflektieren wir anhand der Mediationen, die sich im Zusammenspiel von Materialität und Produktion ergeben, auch über die Bedingungen unserer eigenen Arbeit, über die materiellen Rahmen und Techniken, die die Produktion unseres eigenen Wissens ermöglichen, ja dieses verfertigen – samt der materiellen Zwänge der erzeugten Diskurse. Nur auf diesem Wege können wir systematisch und historisch auch auf Unerwartetes stoßen. Und dies erfahren zu können oder auch zu erhoffen, ist ein besonders großes Glück.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/373

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Interview: Prof. Alain Schnapp über die Vergangenheit und Zukunft der Archäologie

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"Dans nous-mêmes, la meilleure manière fidèle est de se servir sucessivement des tous nos sens pour considérer un objet ; et c'est faute de cet usage combiné des sens, que l'homme oublie plus de choses qu'il n'en retient." (Georg Luis Leclerc Buffon, Oeuvres choisies de Buffon, Bd. 2, Paris 1859, S. 293)

Seit 2006 verleiht die Meyer-Struckmann-Stiftung jährlich einen Wissenschaftspreis für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung in Zusammenarbeit mit der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und dem Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. 2014 erhielt der Archäologe und Kunsthistoriker Prof. Alain Schnapp, Kooperationspartner und Unterstützer des Graduiertenkollegs GRK 1678 seit der ersten Stunde, die mit 20.000 Euro dotierte Auszeichnung für seine über die Grenzen des Faches der klassischen Archäologie hinausgehende Forschungsarbeit. Im folgenden Interview nähert er sich den zwei Schwerpunktbegriffen des Graduiertenkollegs aus Sicht der Archäologie.

 

Gibt es in der Klassischen Archäologie einen Produktionsbegriff?

Es gibt einen Produktionsbegriff in der Klassischen Archäologie. Er entstammt der Zeit der Wiener Schule der Kunstgeschichte Ende des 19. Jahrhunderts. Alois Riegl verwendete ihn erstmals in seinem Buch „Die spätrömische Kunstindustrie“. Seit diesem Werk gibt es überhaupt erst ein Bewusstsein für den technischen Produktionsprozess z.B. griechischer oder römischer antiker Monumente – sei es in der Architektur, der Skulptur oder der Keramik. Ranuccio Bianchi-Bandinelli und seine Schüler entwickeln Riegls Herangehensweise in Anlehnung an den Marxismus für die Archäologie weiter. Von der Beschäftigung mit dem Produktionsbegriff in Bezug auf die griechische Kunst zeugen vor allem die Arbeiten von Wolf-Dieter Heilmeyer und Francis Croissant, die die Produktionstätigkeit der Bildhauer in den Mittelpunkt der Forschung stellen. Luca Giuliani, Dyfri Williams und François Lissarrague haben insbesondere die Produktion von Bildern auf griechischen Vasen für die Archäologie fassbar gemacht.

In Ihrer Forschung gehen Sie über die Klassische Archäologie hinaus und setzen Ausgegrabenes, Bilder und Objekte mit zeitgenössischen Schriftquellen und Texten in Verbindung. Entsteht durch diese Methode eine spezielle Materialität bzw. Immaterialität der Archäologie?

Die Erforschung der Beziehungen der Menschen zu ihrer Vergangenheit versucht stets zwei Aspekte des Vergangenheitsinteresses zusammenzubringen: An erster Stelle steht die materielle Spur der Geschichte;  Ruinen und antike Fragmente bspw. beweisen die Materialität der Vergangenheit. An zweiter Stelle steht der immaterielle Prozess der Erinnerung, der die Vergangenheit miterzeugt. Die Poetik ist sein Werkzeug. Die Dichter behaupten, dass ihre Kunst – weil sie immateriell ist – ein sichereres Mittel als das der Monumente sei, um Erinnerungen zu bewahren. Ein Gedicht ist resistenter als ein Stein oder eine Pyramide: „libelli vincunt marmora monumenta (elegiae in maecenatem).“ Die Dialektik zwischen Schriftlichem und Nichtschriftlichem/Materiellem und Immateriellem ist ein Problem der Archäologie und beeinflusst sie enorm, aber macht sie auch aus.

Schreiben Sie eine Archäologie der Archäologie, wie es Dekan Bruno Bleckmann bei der Meyer-Struckmann-Preisverleihung formulierte?

Meine Forschung gehört zur Archäologie der Archäologie, doch nicht im Sinn von Michel Foucault, nämlich Archäologie als etwas, das in seiner Struktur die verschiedensten Reliquien der Vergangenheit darbietet. Ich versuche, den Diskurs unterschiedlicher Gesellschaften über die Vergangenheit zu erforschen.

Denken Sie, dass ein Wissenschaftsblog/die Plattform hypotheses.org im Sinne Buffons zu einem Archiv der geisteswissenschaftlichen Welt werden könnte? Was wäre dann die Aufgabe der Archäologie der Zukunft?

Sicher bietet das Internet zahlreiche, neue Möglichkeiten, an Dokumente und Texte zu kommen, aber die Struktur der humanistischen Forschung bleibt dieselbe. Jede neue Technik eröffnet eine neue Forschungslandschaft. Die Aufgabe zukünftiger Archäologen könnte sein, sich darin zu orientieren. Von der Archäologie der Zukunft wissen wir nicht viel mehr, als dass z.B. durch das Internet viel mehr Material vorhanden sein wird. Allerdings wird auch in der Zukunft das Equilibrium zwischen Erinnerung und Vergessen bestehen. Mit Charles de Montalembert gesprochen: „La mémoire du passé ne devient importune que lorsque la conscience du présent est honteuse.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/327

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Interview: Giulia Ghionzoli über die Aktualität von Don Juan-Figuren und ihre Arbeit am GRK 1678


dongiovannidramm00moza_page_022 Die Formung eines Körpers ist immer eine Begegnung der konkreten Materie mit immateriellen Ordnungspraktiken wie Moral, Gesundheit oder Vernunft. Von dieser Prämisse geht Giulia Ghionzoli in ihrem Disserationsprojekt "Die Figur des Don Juan als Experiment: Übergänge zwischen Rematerialisierung und 'creatio'/Schöpfung" aus. Ins Blickfeld rückt in ihrer Forschung nicht nur die biopolitische Wende der europäischen Kultur um 1800, sondern auch die Kreativitätsprozesse, denen die fortwährende Auseinandersetzung mit den Verhältnissen von Materie und Norm eingeschrieben sind. Mehr zu historischen und aktuellen Don Juan-Figuren sowie der Arbeit im GRK 1678 erzählt Giulia Ghionzoli im folgenden Interview. 

 

Liebe Giulia, wie entstand Dein Interesse am Zusammenhang von "Materialität“ und "Produktion“?

Das Körperliche zeigte sich am Ende der Recherche für meine Master-Arbeit als grundlegendes Element des Don Juan-Mythos und bildete zugleich den Ausgangpunkt für eine innovative Forschung zu dieser Figur. Die Problematisierung des Körpers, die jeder Lebensform inhärent ist, führt notwendigerweise zur Reflexion der Begriffe "Materialität" und "Produktion" sowie über ihre Relation und Interaktion. Don Juan verkörpert den Kampf, in dem die Kraft des Lebendigen antritt (man denke an die schöpferischen Prozesse sprachlicher und künstlerischer Art) und die Dominanz der Form unterbricht bzw. provoziert. Damit ist auch die Macht über das Leben gemeint, die die Ordnungen des Wissens wie z.B. Religion, Moral, Politik usw. mit ihrem regulierenden Charakter durchsetzen.

In Deinem Forschungsprojekt schreibst Du über den subversiven Charakter von Don Juan-Figuren. Sie widersetzen sich mit ihrer Sinnlichkeit und ihren Exzessen einer aufgedrängten Normierung wie Moral, Sitte, Vernunft oder Recht. Besitzt dieses Konzept auch 2014 noch Wirkungskraft? Peter Handkes Don Juan-Figur von 2004 z.B. war bereits sehr müde und abgekämpft.

Die Artikulation des Kampfes zwischen gesellschaftlichen Regulierungsdynamiken einerseits und von Don Juan erzeugten De-Regulierungsprozessen andererseits nimmt in den verschiedenen historischen Kontexten zwar immer eine neue Form ein, jedoch bleibt der subversive Charakter der Figur des Don Juan bis zum 21. Jh. aktuell.

Am Ende des 18. Jh. setzt Don Juan von da Ponte/Mozart zweifellos eine Zäsur in der Tradition dieses Mythos, die mit Tirso de Molina begann und die später bei Molière eine wichtige Fortsetzung fand. Ab diesem Moment wird eine andere Art Subversion dargestellt, nämlich eine, die auf Prozesse der "Entmaterialisierung des Körperlichen“ basiert, und im Kontext der Romantik Dynamiken transzendentaler Art anstrebt. Man denke z.B. - noch vor Peter Handke - an E.T.A. Hoffmanns Don Juan am Anfang des 19. Jh., in dem Don Juan nach dem Unendlichen und der Idealität (als Fluchtweg aus Nützlichkeitsdenken und Sicherheitsstreben der Bourgeoisie) strebt, die er nun für einen Augenblick durch den Somnambulismus erreichen kann. Diese Art Wahn subversiven Charakters ist als Macht des Lebendigen zu betrachten. Diese lässt sich auch bei Peter Handke aufzeigen, bei dem es zwar nicht um die Potenz verführerischer Künste geht, aber um die Affektkraft. Der Erzähler bei Handke sagt selbst, dass "es jetzt um keine Verführung mehr ging […]. Er [Don Juan]hatte eine Macht. Nur war seine Macht eine andere.“[1] Es handelt sich nun um eine Macht, die von einem Blick erzeugt wird, der die Frauen affektiert, um einen "Blick, der handelte“[2].

Inwiefern profitierst Du als Doktorandin vom GRK 1678?

Aufgrund der Vertiefung theoretischer Diskussionen habe ich die Gelegenheit, neue, bedeutende Impulse zu erhalten und diese furchtbar umzusetzen. Außerdem habe ich die Möglichkeit, meine Kenntnisse in den theoretisch, methodisch und thematisch relevanten Bereichen zu erweitern. Wichtig sind dabei die interdisziplinäre Gruppe und die Konfrontation mit anderen Fragestellungen und Methoden.

[1] Handke, Peter: Don Juan (erzählt von ihm selbst), Frankfurt a.M. 2004, S. 73.

[2] Ebd., S. 75.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/306

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Interview: Arne Leopold über Kästchen, Material und Promotion

Leopold, A

© Arne Leopold, Düsseldorf

Viele Sammlungen mittelalterlicher Kunst sind in Besitz von aufwändig verarbeiteten, nicht selten wertvollen Kästchen. Herkunft und Alter, Funktion und Verwendung sind aber oft gar nicht oder nur mangelhaft geklärt. Hier setzt Arne Leopolds Dissertationsprojekt "Studien zur Materialität geschnitzter Kästen im Hoch- und Spätmittelalter" an, das diese Objekte aus einer materialorientierten Perspektive untersucht. Wie Arne Leopold dabei vorgeht, wieso ihn Materialität und Produktion interessieren und was er über das Promovieren im GRK1678 denkt, lesen Sie im folgenden Interview.

Lieber Arne, was interessiert Dich an "Materialität" und "Produktion"?

Für die Kunstgeschichte waren das Material des Werkes und dessen Verarbeitung bisweilen sekundär zu betrachtende Parameter in ihrem methodischen Vorgehen und ihrer generellen Perspektive. Doch gerade über stilistische Vergleiche und motivgeschichtliche Betrachtungen hinweg eröffnet die Untersuchung der materiellen Spuren und Voraussetzungen neue Aspekte und Fragestellungen. In meiner Arbeit denke ich Materialität nun zum einen materialikonographisch und zum anderen in ihrer Multiplizität als Intermaterialität. Für letztere und in jüngere Zeit intensiver behandelter Ausrichtung ist äußerst interessant, wie die Kombination zweier oder mehrerer Materialien und die Imitation eines Materials durch mindestens ein anderes eigene Materialitäten inne haben können, die weder dem einen noch dem anderen Material eigen sind. Dies ist aber ohne den produktiven Aspekt, sprich der technischen Umsetzung des Kombinierens und Imitierens im Sinn einer Kunstfertigkeit, nicht denkbar.  Dementsprechend lassen sich die beiden Begriffe – auch gemäß dem offiziellen Titel des Forschungskollegs – viel besser zusammen als „Materialität UND Produktion“ fassen.

In deiner Dissertation beschäftigst du dich mit Kästchen im Hoch- und Spätmittelalter. Welche Materialen haben eine besondere Bedeutung bei ihrer Produktion?

Jeder Stoff, der im Herstellungsprozess eines Objektes – und darüber hinaus – als Material deklariert und verwendet wird, hat eine gewisse Bedeutung für das Ergebnis dieses Prozesses, die Konstitution des Objektes, bis hin zu seiner sich wandelnden Wahrnehmbarkeit. Es haben sich aus Hoch- und Spätmittelalter ganz unterschiedliche Kästen aus diversen Materialien erhalten: Im Fokus vieler Untersuchungen standen aber bislang eher offensichtlich kostbare Materialen wie Gold, Elfenbein oder Edelsteine. Letztlich sind aber die wenigsten Kästen homogen aus einem dieser Luxusmaterialien gefertigt. Ihnen ist in der Regel ein Korpus aus Holz – eine Art hölzerne Grundlage – eigen, welche allerdings seltener Beachtung findet. Bei Kästen, deren Schauseiten selbst aus Holz gearbeitet sind, tritt die Relevanz dieses Materials umso deutlicher hervor. Gerade diese Kästen und damit insbesondere Holz stehen im Mittelpunkt meiner Untersuchungen. Zudem finden ebenso metallischen Beschläge, vornehmlich aus Bronze oder Eisen, sowie farbliche Fassungen Einzug in die Arbeit, soweit diese als ursprünglich zu bezeichnen sind.

Eine These deines Forschungsprojekts ist, dass mithilfe des Materials Rückschlüsse auf Produktion und Funktion der Kästchen gezogen werden können. Kannst du genauer ausführen, wie du methodisch vorgehst?

Sowohl das Material als Spur der Vergangenheit als auch die Spuren der Bearbeitung am Material lassen Rückschlüsse auf die Entstehung von Kunstwerken zu: In einem ersten Schritt untersuche ich die Bedeutung einzelner Materialien, vornehmlich Holz und Elfenbein im Zeitraum des 12. bis 14. Jahrhunderts. Nach der Bestimmung der verwendeten Materialien und einer kurzen Analyse der derzeit bekannten, vornehmlich naturwissenschaftlich zusammengetragenen Informationen zu ihren Eigenschaften, stelle ich mithilfe schriftlicher Quellen entsprechende zeitgenössische Begriffe, Informationen und Bedeutungszuweisungen heraus. Zudem versuche ich auf unterschiedlichen Wegen ihre Herkunft einzugrenzen, was sich für einzelne Holzarten als nicht ganz einfach darstellt. Es geht letztlich darum, herauszufinden, warum bestimmte Materialien häufiger für die Herstellung von Kästen verwendet wurden als andere und zu welcher Zeit Veränderungen feststellbar sind. In einem zweiten Schritt verwende ich die gewonnen Erkenntnisse und setzte sie in Bezug zu den Produktionspuren an den Objekten. Welche Materialien wurden wie miteinander kombiniert? Lässt sich eine Rationalisierung in den Arbeitsschritten ablesen, etwa im Sinn einer massenhaften Produktion? Sind die Materialien so verarbeitet, dass sie ihren eigenen spezifischen Materialcharakter zeigen, oder wurde versucht, ihnen eine fremde Identität durch verschiedene Arbeitsschritte zu verschaffen? Mögliche Spannungen zwischen Materialwert (ideell wie monetär) und dem Grad der Kunstfertigkeit können so zum Beispiel Aussagen über die Wertschätzung der (künstlerischen) Arbeit und folglich auch über die Stellung des Handwerker-Künstlers liefern. Ebenso können Auftraggeberkreise eingegrenzt werden: So lassen sich etwa Materialimitationen an manchen Kästen in den Kontext der Imitationen respektive einem Nacheifern des Hochadels durch niedere Adelsstände setzen.

Inwiefern profitierst Du als Doktorand vom interdisziplinären Graduiertenkolleg "Materialität und Produktion"?

Besonders der Einblick in Methoden und Diskurse anderer Disziplinen wäre im Rahmen einer Individual-Promotion niemals auf der qualitativen Ebene erfolgt, wie es das Graduiertenkolleg leistet. Dabei können natürlich nicht alle Diskussionen für das eigene Thema in gleichem Maß fruchtbar gemacht werden, aber gerade die Auseinandersetzung mit dem Unbedachten stellt die Arbeit und Herangehensweisen immer wieder auf den Prüfstand und verändert diese eben bisweilen auch. Die Möglichkeiten, neue Ideen im großen wie im kleinen Kreis zur Debatte zu stellen oder für kleinere Probleme eine tägliche Anlaufstelle im zumeist disziplinär bunt gemischten Doktorandenraum zur Verfügung zu haben, sind für den Fortschritt und die Entwicklung der Dissertation gleichermaßen großartig wie essentiell.

Mit dem reichhaltigen Angebot von Weiterbildungsmöglichkeiten in diversen Schlüsselkompetenzen oder Fremdsprachen wird einem darüber hinaus ein mittlerweile etablierter Standard der zunehmend strukturierter organisierten Promotionsstudiengänge von Beginn an in die Hand gegeben. Es wäre zudem vermessen, die finanziellen Vorzüge zu verschweigen. Dabei ist insbesondere die Sicherheit, sich einen längeren Zeitraum nicht den Kopf über das nächste Einkommen zerbrechen zu müssen, die größte Freiheit für selbigen.

Interview: Aude-Marie Certin

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/277

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Interview: Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch zu “Materialität und Produktion”

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© Miriam Leopold, Düsseldorf

In den nächsten Monaten werden hier in regelmäßiger Folge Interviews veröffentlicht, in denen die Mitglieder des GRK1678 Einblicke in ihr wissenschaftliches Schaffen geben. Den Auftakt bildet das Interview mit der Sprecherin des Graduiertenkollegs und Professorin für Kunstgeschichte an der HHU Düsseldorf, Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch, die über die Geschichte des GRK 1678, ihren eigenen wissenschaftliche Zugang zu Materialität und Produktion sowie die länderübergreifende anthropologie historique berichtet.

 

Frau Professorin von Hülsen-Esch, Sie sind Sprecherin des Graduiertenkollegs und gehören zu den AntragstellerInnen der ersten Stunde. Können Sie uns von der Vorgeschichte des GRK 1678 erzählen? Wie entstand die Idee eines Graduiertenkollegs zu Materialität und Produktion?

Ein Großteil der Antragsteller arbeitet seit langen Jahren im Forschungsverbund FiMuR (Forschungsinstitut für Mittelalter und Renaissance) zusammen, dessen jährliche Ringvorlesungen immer wieder im Vorfeld zu Diskussionen über relevante Themen geführt haben. Aus diesem “Kern”, der bereits einige Antragsteller in einem vorhergehenden Graduiertenkolleg (“Europäische Geschichtsdarstellungen”) vereint hatte, ist auch die Diskussion über “Materialität und Produktion” hervorgegangen, zwei Begriffe, denen sich einige von uns immer wieder durch eigene Forschungen von verschiedenen Seiten angenähert haben. Vorlesungen und Kolloquien zu diesem Themenfeld, aber auch die sehr positive Erfahrung der intensiven Zusammenarbeit mit Promovierenden aus dem ersten Graduiertenkolleg haben dann dazu geführt, ein Graduiertenkolleg zum Themenfeld “Materialität und Produktion” zu konzipieren.

Mit “Materialität” und “Produktion” beschäftigen sich im GRK 1678 verschiedene kultur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen, die jeweils unterschiedliche Zugänge zum Thema haben. Können Sie die Relevanz der Leitkonzepte für Ihre eigene Forschung, die sich oft zwischen Kunstgeschichte und Geschichte ansiedelt, in einigen Sätzen schildern?

Mein sehr persönlicher Zugang zu diesem Themenfeld setzt bereits einige Zeit vor meiner Berufung an die Heinrich-Heine-Universität an. Während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Referentin am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen in den 1990er Jahren hat einer meiner Kollegen, Bernhard Jussen, eine Diskussionsreihe mit Künstlern initiiert, die er “Von der künstlerischen Produktion der Geschichte” nannte und mit der er den Umgang mit Geschichte – die Konstruktion und damit auch die Produktion – thematisierte. Künstler wie Anne und Patrick Poirier, Hanne Darboven, Jochen Gerz etc. reflektierten mit und in ihrer Kunst auf eine Weise den gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte, bei der viele unserer kollegrelevanten Leitbegriffe und Forschungsthemen bereits aufscheinen: ästhetische Forschung, Konstruktion eines kollektiven, zeitspezifischen Gedächtnisses, Materialisierung von Erinnerung, aber auch das Verschwinden, Vergessen, Verschweigen von Ereignissen, womit die Prozesshaftigkeit des Entstehens ebenso benannt ist wie diejenige des De-Materialisierens, aber auch die Eigendynamik des Ereignisses. Mit meinen ersten Seminaren an der Universität habe ich zunächst diesen Gedanken aufgegriffen und weiter verfolgt, bin dann aber durch die Lehre und die Konzentration auf genuin kunsthistorische Themen in den ersten Jahren an der Universität vermehrt auf die Beschäftigung mit dem Material und die ihm eigene oder zugeschriebene Materialität gekommen. Zugleich stieß ich über meine Beschäftigung mit dem frühen Bühnenbild auf das anscheinende Paradox des immateriellen Raumes, der durch architektonische Versatzstücke im Betrachter zu einem bespielbaren Raum wird und auch in der Dynamik des Stückes weitergedacht wird.

Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist das mittelalterliche Kunstwerk. “Materialität” und “Produktion” sind aber zwei neuzeitliche Begriffe. Mit welchen Begriffen wurde über das Material und die Herstellungsprozesse von Objekten und Bildern im Mittelalter reflektiert? Existierten diese Konzepte überhaupt zu jener Zeit?

Die gerade beschriebenen Beobachtungen zum frühen Bühnenbild sind bereits in der spätmittelalterlichen Malerei zu finden, ohne dass wir in zeitgenössischen Texten Begriffen wie “Materialität” oder “Produktion” begegnen würden. Konzepte sind Deutungsschemata, mit denen ich grundlegenden Phänomenen auch im Mittelalter näher kommen möchte: Fragen der Materie, des Materials und der Materialität werden beispielsweise in den frühen Etymologien reflektiert, wenn einem Material aufgrund seiner vermeintlichen etymologischen Genese eine bestimmte Wertigkeit zugeschrieben wird, oder wenn in der Liturgie bestimmte Materialien für bestimmte liturgische Geräte vorgeschrieben werden. Zugleich werden immaterielle Prozesse, ein Weg zur Transzendenz beim Betrachten von Kunstwerken ausgelöst, wie Bernhard von Angers oder Suger von Saint-Denis es anschaulich beschreiben. Die chronologisch unterschiedliche Beliebtheit von Materialien, das Phänomen der Imitation von Materialien in anderen Kunstwerken (z.B. von Elfenbein durch Marmorskulpturen und in der Malerei) und der Materialkombinationen lässt mich auch die Frage nach der Produktion von Werten und den dafür verantwortlichen Faktoren stellen, und schließlich gibt es bereits im Mittelalter arbeitsteilige Produktion und Massenproduktion, auch wenn es damals nicht mit diesen griffigen Ausdrücken bezeichnet wurde. Mit “Materialität” und “Produktion” als Leitbegriffen lassen sich sowohl die Erforschung des Verhältnisses von Handwerker und Künstler (im Sinne des Schöpfers von Kunstwerken) wie auch der ästhetischen und materiellen Wertigkeit von Kunstwerken aus einer Perspektive betrachten, die Beschreibung, Kontextualisierung und Historisierung gleichermaßen erlaubt.

Das GRK 1678 ist auf thematischer, personeller sowie institutioneller Ebene international. Was macht “Materialität” und “Produktion” zum länder-, ja kulturübergreifenden Forschungsfeld?

Manche Forschungsthemen scheinen zwar “in der Luft” zu liegen, doch muss es bei Geisteswissenschaftlern auch nicht verwundern, dass Themen, die aktuell diskutiert werden, sich auch länderübergreifend schnell verbreiten. Hier sind ganz sicherlich die akademischen Verbindungen mit entscheidend dafür, dass bestimmte Ansätze sich über Workshops, gemeinsame Forschungsprojekte und große Tagungen verbreiten und in je anderen Ländern bzw. anderen Disziplinen mit der ihnen eigenen Methodik weiterentwickeln. Unsere französischen Partner etwa haben mit der anthropologie historique stets kulturübergreifende Phänomene im Blick; zugleich ist, wenn man etwa an die Materialität von Schrift denkt, ein Grundphänomen einer jeden Gesellschaft, die eine Schriftkultur besitzt, aufgerufen, so dass man gar nicht an Länder (und Disziplin-)grenzen haltmachen kann. Auch der Produktionsbegriff lässt sich auf alle Gesellschaften beziehen, nicht nur, wenn man eine dinghafte Produktion betrachtet, sondern insbesondere, wenn man die spezifischen Bedingungen einer Produktion von Werten erforscht. Insbesondere im kulturellen Vergleich sind die Dynamiken des Entstehens, die Emergenz, interessante Forschungsfelder, aber auch Fragen der Materialgerechtigkeit oder der Materialpräferenz – wobei bereits innerhalb Europas große kulturelle Unterschiede bestehen können.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/194

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