Bibliotheken – Eine Ausstellung über ihre Architektur, Geschichte und Zukunft
Jahrhundertelang waren Bibliotheken und Archive die wichtigsten Speicher des Geschriebenen. Vor allem die Bibliotheken waren die zentralen Sammelpunkte für das abstrakte Wissen und die Kondensate menschlichen Denkens. Doch mit dem Web haben diese Einrichtungen eine Konkurrenz bekommen. Man könnte sagen, die Basiliken der Bücher werden unaufhaltsam vom digitalen Basar abgelöst.
Anlass genug, um über die künftige Rolle von Bibliotheken neu nachzudenken. Da kommt die Münchener Ausstellung Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken gerade recht. Sie widmet sich der Geschichte von Bibliotheken zunächst aus architekturgeschichtlicher Sicht.
Dabei lassen sich auch neue Ideen gewinnen, wie Orte aussehen können, an denen Wissen für alle bereitgestellt werden soll. Und am Ende ging ich mit dem Gedanken hinaus, dass nicht nur das Web die Bibliotheken, sondern auch die Bibliotheken das Web verändern werden.
1. Versuche, die Welt zu ordnen
Die erste Abteilung der Ausstellung macht dem Besucher klar, wie intensiv sich der Architekt (seltener: die Architektin) einer Bibliothek mit der „Ordnung der Dinge“ (Michel Foucault) auseinandersetzen muss. Natürlich haben die „Baumeister“ der Bibliotheken viele praktische Probleme zu lösen: Licht, Zugänge, Deckenbelastungen. Aber die Architektur der Bibliotheken ist von Beginn an eng mit dem Welt- und Menschenbild der Bauherren und Architekten in ihrer Epoche verzahnt. Das kommt schon in den Raumkonzepten oder in den Bildprogrammen zum Ausdruck.Bibliotheken versuchen dabei nicht nur den jeweils aktuellen Kenntnisstand zu erfassen und zu ordnen, sie weisen auch immer über ihre Zeit hinaus. Man könnte sagen, Bibliotheksbau ist immer eine Weltinterpretation oder eine Weltaneignung mit einem Fahrplan wohin die Reise gehen soll und einer Idee, wie diese Reise zu organisieren ist. Der Bibliotheksbau ist ein ganz besonderer Erkenntnisweg für die Beteiligten. Wenn man beispielsweise als Architekt des 17. Jahrhunderts davon ausgeht, dass die Welt einer göttlichen Ordnung entspricht, dass sie ein „Kosmos“ ist, den es zu entdecken gilt, dann wird der Bau einer Klosterbibliothek zur Gottsuche.
Ich glaube, dass die anhaltende Attraktivität von Bibliotheken – gerade die der modernen und bürgerlichen – viel damit zu tun hat, dass sie verallgemeinerbare Utopien zum Ausdruck bringen. Man findet zumindest in den in Bibliotheken seit dem Mittelalter mehr als nur Wissen. Man muss sich nur umsehen.
In jedem Fall eröffnet sich ein interessantes Forschungsgebiet für diejenigen, der sich ideologiekritisch an das Thema heranwagen. Und dieses Forschungsgebiet ist sogar sehr relevant, weil sich täglich Milliarden von Menschen in der größten Bibliothek der Welt – dem Web – aufhalten. Diese digitale Bibliothek nutzen und ergänzen sie jeden Tag, verändern und ordnen sie; wenn auch nicht mit den Methoden der Bibliothekare der Papier-Bücher. Hier wird jeden Tag konkret bestimmt, was Wissen ist, was wichtig und was aufhebenswert. Dieser Gedanke schwingt bei Blick auf die historischen Bibliotheken in dieser Ausstellung immer mit.
Das Web aktualisiert damit die alte Utopie einer umfasssenden Universalbibliothek. Seit der Bibliothek von Alexandria träumt die Menschheit von einer kompletten Sammlung des Wissens, zumindest träumt sie davon, Zugriff auf dieses Wissen an einem einzigen Ort zu haben. Doch das wurde spätestens mit Erfindung des Buchdrucks völlig unmöglich. Das rapide Anwachsen des globalen Buchbestands hat noch jeden Versuch, diesen an einem Ort verfügbar zu machen, ad absurdum geführt.
Schon Gottfried Wilhelm Leibniz Leibniz (1646-1716) erwog in der Not die Einrichtung einer „Kernbibliothek“ mit den wichtigsten Werken. Paul Otlet (1868 – 1944) und Henri La Fontaine (1854 – 1943) gründeten 1894 das Mundaneum, das bis 1930 über sechzehn Millionen bibliographische Einträge aufwies. Und auch Vannevar Bush (1890 – 1974) griff mit dem Hypertext-Konzept Memex die Idee auf, dass man den Wissensbestand der Menschheit wenigstens verzettelbar machen könnte.
Und nun scheinen diese Utopien des Vollzugriffs über das Web wirklich erreichbar. Dabei könnte man aus der langen Geschichte der Bibliotheken den Schluss ziehen, sich nicht mit Vollständigkeitsvorstellungen und der Suche nach universalen Ordnungsmustern zu belasten. Es ist einfach sinnvoller, die Wissensproduktion in Bewegung zu denken. In diesem Sinn will die heutige Bibliotheksordnung vor allem „praktisch“ sein. Winfried Nerdinger plädiert in der Aufsatzsammlung zur Ausstellung für eine dynamische, stets in Bewegung befindliche und der Bibliothek angemessene Ordnung (S. 31).
Bei der Betrachtung der dynamischen Wissensproduktion und der Bücherbewegungen sind nicht zuletzt die Lücken interessant. Worüber wird nicht gesprochen? Welches Wissen wird nicht in Büchern festgehalten und bereitgestellt? Welche Disziplinen und Themen treten wann und warum in den Hintergrund? Was ging dabei verloren? Die wissenschaftlichen Ordnungsversuche und Lernprozesse sagen erstaunlich viel über die Gesellschaft, über Kulturen und Klassen einer Epoche aus. Damals wie heute.
2. Weltaneignung und kulturelle Hegemonie
Der zweite Teil der Ausstellung ist sicher der visuell interessanteste. Hier rekonstruieren Baumodelle und erstklassige Aufnahmen die Entwicklungsgeschichte von Bibliotheken seit der Antike. Nur langsam entwickelte sich aus Archiven erste Bibliotheken.
Auch wenn der Fokus der Ausstellung auf der Baugeschichte liegt, erfährt man vor allem in der Aufsatzsammlung immer wieder Interessantes in Nebensätzen. Die Palastbibliothek des Assyrischen Herrschers Assurbarnipal (668-627 v.Chr.) hatte den Zweck, sich die Kultur der unterworfenen Babylonier anzueignen (S. 263). Auch in Rom waren größere Büchersammlungen zuerst Beutestücke aus Kriegen im Osten. Die Geschichte von Bibliotheken erweist sich nicht selten als Geschichte einer Sammlung von Herrschaftswissen, ist Ergebnis von Beutezügen oder Aneignung fremder Kulturgüter – von der Antike bis heute.
Im europäischen Mittelalter waren Bücher vor allem Gebrauchsgegenstände. Sie wurden dort aufgestellt, wo sie täglich benötigt werden. Die Idee, mit Bibliotheken ein kulturelles Gedächtnis zu schaffen, entwickelte sich in der frühen Neuzeit. Es entstanden Kloster-, Universitäts- oder Fürstenbibliotheken. Sie dienten unter anderem der Repräsentation der Auftraggeber, brachten ihren Herrschaftsanspruch und ihre Ordnungsvorstellungen zum Ausdruck.
Das machen nicht zuletzt die barocken Kloster-Bibliotheken deutlich. Sie wurden als palastartige Anlagen geplant und waren im Unterschied zu ihren mittelalterlichen Vorläufern zentrale Gebäude im gesamten Bau-Ensemble.
Heinfried Wischermann meint allerdings in seinem Aufsatz, Barockbibliotheken wären gar keine Demonstration der Macht gewesen. Die Bücherbestände der barocken Klosterbibliotheken hätten einerseits eine praktische Funktion für Studium, Seelsorge, Predigt und Schule gehabt. Sie wurden andererseits als „Heilmittel“ für „Gemüths-Kranckheiten“ und „für die Seele“ betrachtet. (S.113) Ich glaube Wischermann hat recht, wenn er darauf drängt, in der Interpretation nicht zu kurz zu springen. Aber sein Hinweis provoziert gleich weitere Fragen: Heilmitttel wovon? Aus welchen Verhältnissen konnte man dort ausbrechen? Welche Funktion haben Klosterbibliotheken im 18. Jahrhundert? Im Zeitalter von Konfessionskriegen und Aufklärung? Die historischen Gegenbewegungen bleiben wie so oft ausgeblendet.
Es ist eine Schwäche der Ausstellung, dass die sozial- und kulturgeschichtlichen Einordnungen sehr blass bleiben. In der Aufsatzsammlung scheinen zwar Zusammenhänge durch, doch man findet nur wenige Ansatzpunkte, welche Auseinandersetzungen die Geschichte der Bibliotheken vorantrieb und welche Rolle die inhaltlich sehr unterschiedlichen Bibliotheken mit ihren jeweiligen Trägern und spezifischen Sammlungsschwerpunkten darin spielten.
Ist das von einer Ausstellung über Architektur auch zu erwarten? Eigentlich schon. Denn die großen Anstrengungen, Bibliotheken zu bauen und betreiben, erklären sich nicht aus der Zeit heraus („in der Zeit des Humanismus“) oder aus der Laune eines Fürsten. Die Errichtung der Laurenziana in Florenz, der Bibliotheca Apostolica Vaticana in Rom oder des Bibliotheksaals im Escorial waren sehr konkrete Maßnahmen in einer anhaltenden Geschichte des Kampfes um kulturelle Hegemonie und politische Herrschaft.
Nicht zufällig betrat mit dem Annahof in Augsburg die erste öffentliche kommunale Bibliothek die weltgeschichtliche Szenerie (S. 176ff.). Mit dem städtischen Bürgertum waren in der frühen Neuzeit neue Eliten, Kulturen und Klassen entstanden, die sich aus unterschiedlichen Motiven vom Wissensmonopol der Kirche emanzipierten. So auch in Augsburg. Eigene Bibliotheken ermöglichten diese Emanzipation. (Die Bedeutung der Sammlung des Wissens in Bibliotheken für die Rationalisierung der Herrschaft, für eine effizientere Verwaltung, Ökonomie und Kriegsführung wäre Mal ein eigenes Thema.)
Die frühneuzeitlichen Bibliotheken popularisierten in jedem Fall den Gedanken, dass Wissen ohne Ständeschranken verfügbar sein sollte. Wissen als etwas „Öffentliches“? Nun meinte öffentlich in der frühen Neuzeit nur für das Bürgertum zugänglich, und es bedeutete schon gar nicht im Besitz der Öffentlichkeit. Dennoch werden die Traditionslinien bis zur heutigen Auseinandersetzungen um „Open Access“ im Web erkennbar: Hier wurde ein Programm formuliert, das bis heute nicht realisiert ist.
Und für das Thema „öffentliches Wissen“ ist der Beitrag über die Pluralisierung des Wissens von Dietrich Erben (S.169ff.), aber auch der Beitrag Wissen für alle: Von der Volksaufklärung zur öffentlichen Bibliothek von heute von Peter Vodosek (S.195ff.) lesenswert. Sie setzen sich mit den Entwicklungen in der Neuzeit und Zeitgeschichte auseinander und lenken den Blick weg von den Bildungseliten. Vodosek erinnert unter anderem daran, dass während der Revolution von 1848/49 erstmals die Forderung nach Volksbibliotheken für die breite Masse erhoben wurde. Die später Bücherhallenbewegung griff den Gedanken auf und erweiterte die Forderung, dass Bibliotheken für alle Stände gleiche Inhalte haben müssten. Sie wandten sich gegen eine Zwei-Klassen-Bildung und die Bevormundung durch eine Bildungselite. Und natürlich gehören auch die Arbeiterbildungsvereine um die Sozialdemokratie in die Geschichte öffentlicher Bibliotheken.
3. Ausblick und Zukunft der Bibliotheken im Web 2.0
Der dritte Teil der Ausstellung beschäftigt sich mit der Zukunft. Hier setzt das Web die neuen Maßstäbe. Das Web ist der Ort, an dem zuerst recherchiert wird. Und es ist der Ort, an dem zuerst publiziert wird. Inhalte, die dort nicht zu finden und zu lesen sind, haben das Problem, überhaupt noch rezepiert zu werden. Deswegen werden Zeitschriften und Bücher digital zur Verfügung gestellt.
Durch die digitale Erschließung der heutigen Bibliotheken wird das Web inhaltlich reicher. Physikalisch müssen auch die digitalen Bücher irgendwo liegen, aber sie sind an keinen räumlichen Aufstellungsort mehr gebunden. Sie sind potenziell überall verfügbar. Kategorisierungen und Gewichtungen werden nicht von wenigen Bibliothekaren, sondern über einen größeren Kreis engagierter Nutzer vorgenommen.
Für die Zukunft der Bibliotheken aus Stein und Beton sehen Caroline und Johann Leiß drei Trends:
- Die extrovertierte Bibliothek. Hier verstehen sich die Bibliotheken als soziale Integrationsorte. Ihre Räume bieten sich etwa mit Cafés auch als Location für kulturelle Veranstaltungen (Lesungen, Konzerte, Workshops) an. Dort ließen sich beispielsweise auch Zukunftswerkstätten organisieren.
- Die introvertierte Bibliothek. Als Gegenwelt zur Konsumgesellschaft schließt dieser Typus an eine jahrhundertelange Tradition des Umgangs mit dem Buch an. Lesen und stille Beschäftigung mit dem Buch stehen hier im Mittelpunkt. Sich vertiefen zu können, ist hier Luxus oder aber auch Befriedigung eines Bedürfnisses nach Einkehr und Orientierung.
- Die virtuelle Bibliothek. Die Bibliotheken lösen sich von ihrer Örtlichkeit und werden immer mehr zu virtuellen Dienstleistern. In die Lesesäle ziehen Laptops ein. Print und Digital entwickeln ein produktives Nebeneinander.
Es geht also weiter.
Aber werden die digitalen und nicht-digitalen Bibliotheken dann warenförmig organisiert? Wird der Leser zum Kunden? Gibt es auch im Netz eine Verwertung des Intellectual Porperties? Das sind die Konflikte von heute. Und deshalb werden aktuell wieder Bibliotheken und Sammlungen errichtet. Digitale und nicht-digitale. Freie und unfreie. Und vielleicht steht am Ende dieses Konflikt ein Wertewandel, dass als intellektuelle Leistung nur etwas wert ist, was über die digitalen Bibliotheken überall verfügbar ist und letztlich allen gehört.
Ausstellung: Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken. Ausstellung des Architekturmuseum der TU München in Kooperation mit der Stiftung Bibliothek Werner Oechslin in der Pinakothek der Moderne. 14. Juli bis 16. Oktober 2011.
Der gleichnamige Tagungsband, hg. v. Winfried Nerdinger, erschien im Prestel-Verlag
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