Im Spannungsfeld zwischen Annotation und Interpretation – „Übersetzung“ als Grundlage der digitalen Geisteswissenschaften

Dass die DHd 2020 mit ihrem Thema „Spielräume“ nicht nur am Puls der Zeit, sondern den europäischen Entwicklungen aufgrund des Coronavirus sogar einen Schritt voraus war, ahnte zum Zeitpunkt der Abhaltung der größten Konferenz zu den digitalen Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Raum noch niemand.

Aber von Anfang an: Als im Jahr 2019 der Verband „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum“ dazu aufrief, Konferenzbeiträge zum Thema „Spielräume“ einzureichen, war mein Interesse gleich geweckt. Als Translationswissenschafterin habe ich es immer mit Spielräumen zu tun, seien es Spielräume beim Übersetzen, Spielräume durch Technologie oder methodische Spielräume. Eines meiner Forschungsthemen, nämlich maschinelle Übersetzung – und wie maschinelle Übersetzung Spielräume eröffnet und einschränkt – passte perfekt zum Thema. Das sahen die anonymen Gutachter*innen der Tagung  glücklicherweise auch so, und mein Beitrag „Sprachvarietätenabhängige Terminologie in der neuronalen maschinellen Übersetzung“ wurde angenommen. Dass ich überhaupt an der DHd 2020 in Paderborn teilnehmen konnte, habe ich übrigens den Reisestipendiengeber*innen (DHd-Verband und CLARIAH-DE) zu verdanken.

DHd-Ersti

Ihren Auftakt fand die Digital Humanities-Tagung im Heinz Nixdorf MuseumsForum, dem größten Computermuseum der Welt, in dem wir vor der offiziellen Eröffnung herumwandeln durften. In ihrer Eröffnungsrede setzte Julia Flanders den Rahmen für die diesjährige Tagung: Digital Humanities zwischen Modellierung und Interpretation.

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Quelle: https://dhd-blog.org/?p=13363

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Videospiellokalisierungen und ihre (inter-)kulturellen Aspekte

Cola statt Alkohol / Frau statt Mann

von Dejan Lukovic*

Videospiellokalisierungen sind für die meisten Spieler_innen kein neues Phänomen. Inhaltliche, spielmechanische und ästhetische Veränderungen von Spielinhalten, ermöglichen es bestimmten Videospielen auf mehreren Märkten zu erscheinen. Gerade deutschen Spieler_innen wird aufgrund der strengen Regeln der USK die Realität verschiedener lokaler Versionen von Videospielen immer wieder ins Bewusstsein gerufen. Doch was steckt eigentlich hinter Videospiellokalisierungen? Wie können diese wissenschaftliche gefasst werden und welche (inter)-kulturellen Implikationen können in den verschiedenen Versionen analysieren?

Lokalisierung

Die – mittlerweile nicht mehr aktive – Localization Industry Standards Association (LISA), begreift Lokalisierung als „the process of modifying products or services to account for differences in distinct markets (including language and cultural differences)“.[1] Innerhalb der Translation Studies tut sich hier jedoch das Problem auf, dass sich eine solche breite Definition zu wenig vom Begriff der Translation abgrenzen würde.[2] Innerhalb eines akademischen Rahmens situiert sich der Begriff der Lokalisierung in den Translation Studies[3], wodurch er auch in einem Verhältnis zum Begriff der Translation steht[4], der in den Translation Studies breite kulturelle Aspekte miteinbezieht[5] und Lokalisierung somit subsumieren könnte[6]. Ursprünglich stammt Begriff Lokalisierung selbst aus der Software Industrie[7], die unter Translation die bloße Übersetzung von der Source Language in die Target Languages ohne kulturelle Implikationen versteht[8] und die Beschäftigung mit kulturellen Aspekten über den Begriff der Translation hinaus gegeben sieht[9], eben in der Lokalisierung[10].

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Quelle: http://spielkult.hypotheses.org/1165

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Transnational und translational: Zur Übersetzungsfunktion der Area Studies

Welche Übersetzungsfunktion haben die Area Studies? Was für eine Rolle spielen kulturelle Differenzen bei einer Übersetzung? Inwiefern unterscheiden sich aktuelle und historische Übersetzungsfunktionen der Area Studies? Welche Vorteile verspricht diese selbstreflektierte, neue Perspektive?

Translate | Public Domain

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Diese Fragen diskutiert die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick, Permanent Senior Research Fellow am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) an der Universität Gießen, im kürzlich erschienenen Working Paper des Center for Area Studies der Freien Universität Berlin1.

Bachmann-Medick überlegt, wie Übersetzung als Kulturtechnik wirkt, indem sie näher beleuchtet, wie Translationen mit kulturellen Differenzen umgehen. Dabei hebt sie insbesondere die Rolle der Übersetzung als wissenschaftliche Analysekategorie hervor.

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Quelle: http://trafo.hypotheses.org/2406

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 3

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts[1]]

Drittes Kapitel

Von den Räubereien und Eintreibungen der Mächtigen durch sie selbst oder durch ihre Spießgesellen und über ihre verschiedenen Verbrechen[2]

Während der Herr spricht, dass es besser zu geben statt zu nehmen sei, füllten die Menschen jener Zeit, und vor allem die, die die Regierungsgewalt über andere empfangen hatten, nicht nur durch ungesetzliche Schenkungen die Hände der Gierigen, oder erpressten durch Sammlungen und ungebührende Eintreibungen Geld von den Unterworfenen auf ihre eigene Verdammnis hin, sondern sie unterdrückten durch Plünderungen und gewaltsame Räubereien fortwährend, mal im Verborgenen, mal öffentlich, unvorsichtige oder schwache Menschen auf grausame Weise. Dabei waren sie sich nicht genügend gewahr, dass geschrieben steht: „Wehe, der du raubst, denn du wirst beraubt werden.“[3]Über diese sagte der Herr durch den Propheten: „Die das Fleisch meines Volkes fraßen, seine Haut abzogen und seine Knochen zerbrachen, werden zum Herrn schreien, er wird sie nicht erhören und sein Antlitz vor ihnen verbergen.“[4] Die Elenden bedenken nämlich ihre letzten Dinge nicht, wie Jeremia sagt: „Schmutz ist an ihren Füßen, weil sie das Ende nicht bedacht hat.“[5] „Dem Geringen kommt Erbarmen zu, die Mächtigen aber werden heftige Folter erleiden“,[6] und großes Gericht droht den Großen. Dieselben aber suchten nicht nur nach Beute, sondern verwüsteten auch ganze Landstriche durch Brand, und sie schonten nicht die Ländereien und Besitztümer der Klöster und Kirchen, da sie mit frevlerischer Hand die Heiligtümer aufbrachen und das dem geistlichen Dienst Gewidmete aus dem Innersten und von der Brust des Herrn wegschleppten. Den Armen und dazu seine Güter gaben sie ihren ruchlosen Spießgesellen preis, während sie in leichten Fällen untereinander wetteiferten. Mit Eisen gegürtet besetzten sie die Straßen und öffentlichen Plätze, wobei sie die Pilger und Geistlichen nicht verschonten. In den kleinen Orten und auch den Städten erfüllten Meuchelmörder und Verbrecher die Häuser, Plätze und verborgenen Orte, und lagen, durch das Blut der Unschuldigen geschützt, überall im Hinterhalt. Selbst auf dem Meer plünderten Freibeuter und Piraten, weil sie das göttliche Urteil nicht fürchteten, nicht nur die Händler und Pilger aus, sondern sie versenkten sie meist auch auf den Meeresgrund, indem sie ihre Schiffe anzündeten.

Die Fürsten jedoch und die ungläubigen Machthaber, die Verbündeten der Diebe, die eigentlich gehalten waren, den Frieden zu wahren und die Untergebenen zu verteidigen, und weiterhin die Verderben bringenden Menschen von den Untergebenen gleichsam wie Wölfe von den Schafen durch Abschreckung fernzuhalten, gewährten, nachdem sie Geschenke von ruchlosen und unheiligen Menschen aus Gier nach zeitlichem Gewinn angenommen hatten, ihnen Schutz und Begünstigung. Wenn sie einen Dieb sahen, liefen sie mit ihm, als ob sie sagen wollten: „Gib uns den Beuteanteil, der Geldbeutel sei einer für uns alle.“[7] Und so unterstützten sie die Diebe, Räuber, Kirchenschänder, Wucherer, Juden, Messerstecher und Mörder, die aufrührerischen Menschen, die sie eigentlich schwer bestrafen, von Grund auf ausrotten und aus der Mittel entfernen sollten, wobei sie selbst ohne Grund das Schwert trugen. Sie ließen sie ungestraft Übeltaten begehen, wo doch der Herr durch den Propheten sagt: „Sucht die Gerechtigkeit, helft dem Unterdrückten, schafft Recht der Waise und verteidigt die Witwe.“[8]

Sie selbst jedoch, die unreine Hunde waren und keine Sättigung kannten, die mit den höllischen Raben nach Leichen schnappten, unterdrückten die Armen mit Hilfe ihrer Vögte und ihrer Spießgesellen. Sie beraubten die Witwen und Waisen, während sie heimtückisch waren, Verleumdungen verbreiteten und viele Verbrechen begingen, um durch Folter Geld zu erpressen. Meistens wurden die Wehrlosen in Kerker und Fesseln verschleppt und die Unschuldigen gefoltert aus keinem anderen Grund, als weil man glaubte, dass sie noch etwas besäßen. Und vor allem die, die wegen der Verschwendungssucht und der Ausschweifung ihrer Herren schon nichts mehr besaßen, wurden für Turniere und die pompöse Eitelkeit der Welt, für überflüssige Ausgaben, Schulden und Zinsen in Fesseln gelegt. Aber auch Spielleute und Jongleure, Possenreißer, Landstreicher und Narren, Hofschranzen und Ehebrecher verzehrten den Besitz der Räuber, wie wenn sie zu ihrem Fürsten oder Tyrannen sagen wollten: „Reiße nieder, reiße nieder, bis auf den Grund.“[9] „Kreuzige, kreuzige“[10], schlachte und iss.

Dieselben Fürsten aber erlaubten zum Vollmaß ihrer eigenen Verdammnis den Huren und Bordellen, den Spielern, Wirtshäusern und Spelunken, die den Fallgruben der Räuber und den Synagogen der Juden ähneln, dem ungerechten Maßnehmen, den gefälschten Waagen und anderen Krankheiten dieser Art, die die Welt und ihre Staaten und Länder besetzten, und die sie austilgen, zerstören, verderben und zerreißen sollten, fortwährend zu wachsen. Nicht nur diejenigen, die solches verüben, sondern auch diejenigen, die zustimmen, werden das Reich Gottes nicht besitzen.

[1] Nachdem wir am 28. November mit dem Übersetzungsprojekt zur Historia Occidentalis begonnen haben, folgt hier nun das dritte Kapitel. Bitte beachten Sie zum besseren Verständnis immer die Einleitung, mit Informationen zur Vorgehensweise beim Übersetzungsprojekt und zum Editionstext, der die Grundlage für diese Übersetzung bildet: http://mittelalter.hypotheses.org/2529.

[2] Hist. Occ. III, ed. Hinnebusch, S. 79-81.

[3] Jes 33,1, eigentlich „vae qui praedaris nonne et ipse praedaberis“ (BSV).

[4] Mi 3,3.

[5] Klgl 1,9.

[6] Weish 6,7.

[7] Spr 1,14.

[8] Jes 1,17.

[9] Ps 136,7 (Ps 137,7).

[10] Lk 23,21.

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Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 1-2, übers. von Christina Franke, mit einer Einleitung von Björn Gebert, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 9. Dezember 2013, http://mittelalter.hypotheses.org/2634 (ISSN 2197-6120).

 

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2634

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 1-2


Einleitung zum Übersetzungsprojekt

(Björn Gebert)

Die Historia Occidentalis Jakobs von Vitry (gest. 1240) stellt eine ungemein reiche und bekannte Quelle für die Geschichte der lateinischen Kirche im frühen 13. Jahrhundert aus der Sicht eines ihrer Vertreter dar. Der Autor, ein Regularkanoniker, hatte in Paris studiert, gegen die Albigenser gepredigt, war zeitweise Bischof von Akkon und war, gleichsam Höhepunkt seiner kirchlichen Karriere, im Jahr 1229 durch Papst Gregor IX. zum Kardinalbischof von Tusculum erhoben worden.[1] Er darf als Förderer der semireligiosen Lebensweise der Beginen, als Beobachter und Kenner der religiosen Bewegungen seiner Zeit und als Befürworter der Kirchenreform gelten. Die Historia Occidentalis, die er wohl um 1225 vollendete,[2] ist nach einer Historia Orientalis der zweite von drei geplanten Teilen von Jakobs Historia Hierosolimitana abbreviata, die neben zahlreichen Predigten[3] sowie Briefen und einer Vita wiederum nur einen Teil seines schriftlichen Schaffens darstellt.

Bei der Historia Occidentalis handelt es sich freilich nicht um das Werk eines Historikers, der in jedem Fall objektiv versucht Fakten darzustellen. Sie ist zwar durchaus eine historia in Form einer “Historiographie religiösen Lebens”,[4] aber Haltung und Intention des Autors hat Franz J. Felten kürzlich gut auf den Punkt gebracht:

Zweifellos war er ein gut informierter, verständiger, aber unterschiedlich verständnisvoller Beobachter des religiosen Lebens seiner Zeit, oft genug als Augenzeuge. Vor allem aber erscheint er als Theologe und Prediger mit den zeit- und standestypischen Denkmustern (wie z. B. alternde Welt, allgemeiner Sittenverfall, Wesen der Frau) und paränetischen Absichten.”[5]

Dabei ist das Bild, das Jakob von Geschichte und Gegenwart zeichnet, so Felten weiter, “(zumindest teilweise) bewusst konstruiert […], um die höheren kirchenpolitischen Ziele des Autors zu fördern”.[6]

Inhaltlich bietet Jakob im Wesentlichen eine Zustandsbeschreibung der zeitgenössischen westlichen Kirche und Welt, die zunächst sehr düster ausfällt, etwa wenn er die Bewohner des Abendlandes im Allgemeinen, speziell aber auch weite Teile des Klerus als sündhaft und sittenarm beschreibt.[7] Eine Hoffnung und gewissermaßen ein Licht in der Finsternis stellen für den Autor neben einzelnen Klerikern, quasi stelle in firmamento caeli,[8] vor allem die jüngeren, reformorientierten religiosen Bewegungen seiner Zeit dar.[9] Theologische Ausführungen über das Priesteramt und die Messe, das Bischofsamt und die Sakramente bilden den Abschluss des Werkes.[10]

Für die Historia Occidentalis liegt eine kritische Edition aus dem Jahr 1972 vor, die von dem Dominikaner John Frederick Hinnebusch besorgt wurde.[11] Eine publizierte vollständige englische oder deutsche Übersetzung gibt es bislang jedoch nicht.[12] Angesichts der unbestrittenen Bedeutung dieser Quelle,[13] die unter anderem auch darin besteht, dass ihr Autor spätestens 1219 mit Franziskus von Assisi zusammengetroffen war[14] und deshalb in seiner Chronik ein sehr frühes und externes Zeugnis für die junge franziskanische Bewegung liefern konnte, überrascht dieser Befund.[15] Zwar wird der Forscher ohnehin zum lateinischen Text greifen müssen, will er mit der Quelle methodisch sauber arbeiten, doch für die akademische Lehre, gerade in Hinblick auf Studienanfänger, die über (noch) keine Lateinkenntnisse verfügen, erscheint eine Übersetzung ins Deutsche ein Desiderat. Ausgehend von der Edition von Hinnebusch soll dies nun von Christina Franke geleistet und das Ergebnis hier auf dem Blog zur Verfügung gestellt werden.[16]

Theoretisch ist es das Ziel, monatlich ein oder zwei Kapitel zu veröffentlichen, aber garantiert werden kann diese Regelmäßigkeit leider nicht, da weder die Übersetzerin, noch der Redakteur die Arbeit an diesem Vorhaben hauptberuflich betreiben bzw. mangels Finanzierung auch gar nicht betreiben könnten.

Es folgt die Übersetzung des ersten und zweiten Kapitels nach der Edition Hinnebuschs, die bei der Lektüre immer mit herangezogen werden sollte, da alternative Lesarten in der Übersetzung i.d.R. nicht berücksichtigt werden und nur die in der Edition als direktes Zitat gekennzeichneten alt- und neutestamentlichen Textstellen ausgewiesen werden. Bemerkungen/Ergänzungen zum besseren Verständnis werden nur in Einzelfällen vorgenommen und durch eckige Klammern gekennzeichnet bzw. erscheinen in den Anmerkungen, falls sie ausführlicher ausfallen. Die Seitenzahlen für die jeweiligen Kapitel bei Hinnebusch werden immer per Anmerkung hinter der Kapitelüberschrift nachgewiesen.[17]

Erstes Kapitel

Von der Verführung des Abendlandes und den Sünden der Abendländer[18]

Wie die morgenländische Kirche, die einstmals von den Enden der Erde kam, um die Weisheit Salomons zu hören, mannigfaltigen Schicksalen ausgesetzt und durch verschiedenste Bitterkeiten niedergedrückt, ihre Freude in Trauer und Trübsal verwandelte, so blieb auch ihre erstgeborene, besondere Tochter, die Kirche Jerusalems, der Kleidung ihrer Ehre beraubt und von vielen Fleischern zerrissen, fast nackt zurück, „wie die Eiche, wenn die Blätter fallen“[19], so als wäre das Wasser aus ihrer Quelle fast vertrocknet. Nichtsdestotrotz freilich hörte der unersättliche Feind des Menschengeschlechts, die sich ringelnde Schlange nicht auf, in den Landstrichen seiner tödlichen Schlechtigkeit ein verderbliches Gift zu verbreiten, und nachdem das Haupt verwundet war, wollte er die Glieder auf alle Arten verletzen.

Das Haupt und die Mutter des Glaubens ist Jerusalem, so wie Rom das Haupt und die Mutter der Gläubigen ist. So sehr strahlte nun der Schmerz des Hauptes in die Glieder aus, und so sehr zeigte der Herr seinen Zorn und Unwillen durch zahlreiche Strafqualen, dass der gerechte Rächer der Verbrechen, „Gott, der Herr der Rache“[20], nachdem das Heilige Land wegen der Forderungen unserer Sünden in die Hände der Ungläubigen gefallen war, die ganze Welt schlug, indem er ihr viele Qualen auferlegte. Er erlaubte in Spanien den Mauren, in der Provence und der Lombardei den Häretikern, in Griechenland den Schismatikern und überhaupt überall „falschen Brüdern“[21], sich gegen uns zu erheben. Um ein Wort des Propheten zu gebrauchen: So zerbrach der Herr im Takt unsere Zähne, dass, nachdem die Heilige Stadt verlassen worden war, die Ehre der Kirche verringert und ihre Zähne verschoben, das heißt, zerbrochen wurden. Wie viele Kinder auch immer in der Welt geboren wurden, die hatten immer zwei oder drei Zähne weniger als die anderen, die bereits erzeugt worden waren. Nachdem die Zähne zerstört waren, zerbrach der Herr alle unsere Knochen, „verklebt wurde unser Bauch auf der Erde“[22], und unsere Seele haftete am Boden.

Weil die Schlechtigkeit der Menschen auf diese Weise zunahm und zum Bösen geneigt war, wurde sie immer weiter abwärts getragen. Es vertrockneten die Euter, die einstmals Trauben gleich gewesen waren, und die Lehre des Evangeliums erschien gering, während die göttlichen Weisungen fortwährend von den Frevlern niedergetreten wurden. Sie verkehrten Silber zu Asche und mischten den Wein mit Wasser. Alle Ehrerbietung Gottes und der Menschen warfen sie hinter sich, und die Gesichter der Priester erröteten nicht, obwohl sie dem Schädlichen folgten, sich vom Heilbringenden abwandten und sich dem Schlimmsten zuneigten. Der Beste unter ihnen war dem Hagedorn gleich, und der Aufrechte glich der Mauerzinne. Auflösung von Verwandtschaftsbanden und Verfinsterung war in jeder Seele, und die Gesichter aller glichen jener Schwärze. Es fehlte der Glaube, die Barmherzigkeit wurde ausgelöscht und alle Tugend ging zugrunde. Im Sumpf dienten sie mit Ziegel und Stroh dem Pharao. Die Herrschaft des Machthabers und Fürsten der Finsternis erstreckte sich demgegenüber weit und breit.

Die Söhne Zions, die einstmals berühmt waren und ursprünglich in Gold gekleidet, wurden nun für irdene Gefäße gehalten. Ihre Leber war auf die Erde ausgeschüttet, sie irrten blind durch die Straßen und sie waren beschmutzt mit Blut. Auf jämmerliche Weise brachten sie die Ungeheuer ihrer Verbrechen und die Zeichen ihrer Abscheulichkeit hervor, und sie durchschweiften den Erdkreis. Zur Hure ist geworden, die einstmals Stadt der Gläubigen war. „Der Feind streckte seine Hand aus nach allen ihren Schätzen.“[23] „Ihre Fürsten waren in ihrer Mitte wie brüllende Löwen. Ihre Richter waren Wölfe am Abend, am Morgen ließen sie nichts zurück.“[24] „Jedes Haupt war matt und jedes Herz schuldig.“[25] Ihre Fürsten waren Ungläubige, Verbündete von Dieben. „Knabe und Greis lagen draußen auf der Erde.“[26]

Vergangen war die Gerechtigkeit aus den Dingen, die Furcht vor dem Herrn verschwand aus der Öffentlichkeit und Gewalt herrschte durch erzwungene Gleichheit unter den Völkern. Betrug, Hinterlist und Täuschung umgaben weit und breit die Welt. Verschwunden war das Messopfer von Brot und Wein aus dem Haus des Herrn und entvölkert war die Gegend. Es trauerte der Erdboden, weil der Weizen verwüstet war. Der Wein wurde gepanscht, das Öl geriet ins Stocken. Die Bauern waren verwirrt und die Winzer klagten über Weizen und Gerste, denn vergangen war die Erntezeit auf dem Acker. Der Feind hielt Lese im Weinberg des Herrn.

Alle Tugend hatte Platz gemacht und war gleichsam unnütz vergangen. Während die Bosheit Einzug hielt, gab es keinen, der sich entgegenstellte und am Herrn festhielt, oder auch in der Bresche mit ihm stand. Sie hatten eine Wolke entgegengestellt, damit das Gebet nicht durchdringe.

Während die Welt sich jedoch gegen Abend neigte, war die Liebe so sehr erkaltet und wurde Glaube auf der Erde nicht mehr gefunden, dass die zweite Ankunft des Menschensohns nahe und gleichsam schon vor der Tür zu stehen schien. Der Sohn beschimpfte den Vater, die Tochter stand gegen die Mutter auf, die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter, und die Feinde des Menschen waren seine Hausgenossen. Das Heilige wurde vom Profanen nicht unterschieden. Was immer sie begehrten, hielten sie für erlaubt. Alles stand durch die Sünde auf dem Kopf. Wie ein ungezügeltes Pferd wurden sie kopfüber fortgetragen, während sie mit sinnloser Unruhe an den Zügeln zogen. Das Band des Wagens war gleichsam die Sünde. Alle ihre Verfolger, die bösen Geister nämlich, trieben sie in die Enge und „sie wurden in die Gefangenschaft geführt vor dem Angesicht des Feindes“[27]. Sie wollten nicht achtgeben und wandten sich ab. Ihre Ohren verstopften sie, so dass sie nicht hörten, und sie machten ihr Herz zu Stein. Gitarre, Leier, Trommel, Flöte und Wein gab es auf ihren Gelagen, das Werk des Herrn aber achteten sie nicht.

Die Aufrichtigkeit der Sitten und die Zierde der Tugenden fanden, Vertriebenen gleich, keinen Platz, wo die herrschenden und weit ausschweifenden Sünden alles besetzten. Das dem Himmel Freundliche und die gottgefälligen Dinge achteten sie, gleich einer verächtlichen Sache, für nichts. Wo sie also fortwährend und ohne Schamesröte Unkeuschheit trieben wie die Sau im Schlamm, hielten sie Gestank für Köstlichkeit. Gleich dem Vieh vermoderten sie im Schweinekot, während sie ein unbeflecktes Ehebett und eine ehrenhafte Heirat gering achteten. Unter Verschwägerten und Nahestehenden waren die Ehebünde nicht sicher, aber die überstürzte Begierde kümmerte sich nicht um die Gefahren des Geschlechts.

Während also Besonnenheit und Mäßigung ins Exil gingen, besetzten Völlerei und Trunkenheit den Platz. „Wie die Dornen sich gegenseitig umgreifen, so auch sie bei ihren Gelagen.“[28] Alle Tische wurden gefüllt mit Unflat und Schmutz, so dass kein Platz mehr darüber hinaus blieb. Hurerei, Wein und Trunkenheit trugen das Herz davon. Aber das nächtliche Würfelspiel, die gierige und zugleich bittere Sorge der Würfel, auch unerwartete Fälle [der Würfel] riefen Zorn, Betrug, Beleidigung und Streit, ebenso verbrecherische Lästerung gegen Gott hervor, und führten ihre Verehrer häufig in die Grube der Verzweiflung.

 Zweites Kapitel

Von den Gierigen und den Wucherern[29]

Obwohl Gott und den Menschen gefällig, waren Edelmut, Freigiebigkeit und Großzügigkeit aus der Öffentlichkeit verschwunden, weil die Wurzel allen Übels, nämlich die Pest der Habgier, fast alles besetzte und mit dem Gift der Begierde ansteckte: So sehr, dass, während das scheußliche Verbrechen der Zinsnahme fortwährend und gleichsam erlaubt die gierigen Wucherer in Besitz hielt, die Lehnsleute wegen dieses unersättlichen Blutegels die Güter und weiten Ländereien im Stich ließen. Die Armen wurden beraubt und die Kirchen geplündert, während die Pest des Zinses, die mit jedem Augenblick wuchs und keine Ruhe geben konnte, sie immer weiter durch Wucherer in Schulden drängte. Dieses unreine und verwerfliche Menschengeschlecht war jedoch überall so sehr erstarkt, dass die, die Zinsen und Überschüsse über das rechte Maß hinaus ohne Erbarmen eintrieben, nicht nur die Städte und Weiler, sondern auch die Landgüter erfüllten, während sie sowohl bei Tag als auch bei Nacht, stündlich und in jedem Moment Handel auf ihre eigene Verdammnis hin betrieben, obwohl doch der Herr sagt: „Gebt einander und erhofft euch davon nichts.“[30] Und weiterhin: „Ihr sollt nichts von einem Raubtier Zerrissenes essen.“[31] Die Söhne, die Töchter und alle die, von denen jenes unheilvolle und krankmachende Geld festgehalten wurde, zogen sie mit sich hinüber durch das Feuer, so dass sich erfüllen sollte, was geschrieben steht: „Sie opferten ihre Söhne und ihre Töchter den Dämonen.“[32] Die Pfänder aber, die sie gänzlich durch Glück empfangen hatten, weigerten sich die vermessenen Söhne der Verdammnis entgegen dem Gebot des Herrn zurückzugeben. Er sprach nämlich in Leviticus: „Wenn dein Bruder den Preis für den Rückkauf aufbringen kann, soll man die Früchte von der Zeit an rechnen, in der er verkauft hat, und was übrig bleibt, soll er dem Käufer zurückgeben. So kann er seinen Besitz wieder erwerben.“[33] Er [= Moses] nennt jedoch den ‘Käufer’, der gegen Geld Früchte und keinen Besitz kauft. Andere verkauften ihre Waren zum höchsten Preis, weil sich die Zeit des Loskaufs verzögern könnte, oder sie kauften Waren, die in Zukunft wertlos sein werden, weil sie die Zeit des Loskaufs schon vorhersahen, und verschrieben sich so selbst der Strafe des ewigen Todes und der Verdammnis.

[1] Vgl. Geschichte des Kardinalats im Mittelalter, hrsg. von Jürgen Dendorfer und Ralf Lützelschwab, Stuttgart 2012 (Päpste und Papsttum 39), S. 480.

[2] Vgl. Jacques de Vitry, Histoire Occidentale, trad. par Gaston Duchet-Suchaux, introd. et notes par Jean Longère, Paris 1997, S. 32-37.

[3] Neben seinen Zeitgenossen, dem Zisterzienser Casearius von Heisterbach und dem englischen Theologen Odo von Cheriton, war Jakob von Vitry einer der ersten Autoren, die exempla in ihre Predigten integrierten. Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum / Dialog über die Wunder, 1. Teilbd., eingel. von Horst Schneider, übers. und komm. von Nikolaus Nösges und Horst Schneider, Turnhout 2009, S. 57. Ausführlich zu den exempla Jakobs hat zuletzt  Marygrace Peters, Speculum vitae et fidei. The exempla as an historical source in medieval preaching for understanding its context and audience, with emphasis on Jacques de Vitry’s “Sermones Vulgares”, Diss. Boston 1993 gearbeitet.

[4] Franz J. Felten: Geschichtsschreibung cum ira et studio. Zur Darstellung religiöser Gemeinschaften in Jakob von Vitrys Historia occidentalis, in: Christliches und jüdisches Europa im Mittelalter, hrsg. von Lukas Clemens, Trier 2011, S. 83-120, hier S. 118.

[5] Ebda., S. 117. Weitere Kritik übt Felten etwa an der vagen Chronologie innerhalb des Werkes (S. 88 f.) und zumindest mit Verwunderung und leichtem Befremden konstatiert er die Vernachlässigung der Frauengemeinschaften einiger Orden (S. 108-111).

[6] Ebda., S. 118.

[7] John Frederick Hinnebusch, The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A Critical Edition, Fribourg 1972 (Spicilegium Friburgense 17), Kapitel II-V; VII, X, XXX-XXXI. Die Kapiteleinteilung in der Edition von Hinnebusch geht auf eine moderne Strukturierung des Textes zurück, die schon vom Editor (S. 20-24, 62-64) selbst kritisiert wurde, zuletzt auch von Felten, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 87 f.

[8] Hinnebusch, Historia (wie Anm. 7), VI, VIII, IX. Zitat aus Kapitel IX, Z. 9-10.

[9] Ebda., Kapitel XIIII-XXIX, XXXII.

[10] Ebda., Kapitel XXXIIII-XXXVIII.

[11] Hinnebusch, Historia (wie Anm. 7).

[12] Allerdings existiert eine Übersetzung ins Französische: Jacques de Vitry, Histoire Occidentale (wie Anm. 2). Als Beispiel für eine veröffentlichte englische Teilübersetzung ist Jessalynn L. Bird, Texts on hospitals. Translation of Jacques de Vitry, Historia Occidentalis 29, and edition of Jacques de Vitry’s sermons to Hospitallers, in: Religion and Medicine in the Middle Ages, ed. by Peter Biller and Joseph Ziegler, York 2001 (York studies in medieval theology 3), S. 109-134 anzuführen.  Des Weiteren wurden Übersetzungen von Briefen Jakobs: Jacques de Vitry, Lettres de la cinquième croisade, texte latin établi par G. Duchet-Suchaux. Trad. et prés. par R. B. C. Huygens, Turnhout 1998 (Sous la règle de Saint Augustin 5) und der Historia Orientalis: Jacques de Vitry, Histoire orientale, introd., édition critique et traduction par Jean Donnadieu, Turnhout 2008 (Sous la règle de Saint Augustin 12) ins Französische veröffentlicht. Eine Übersetzung der von Jakob verfassten Vita von Maria von Oignies ins Deutsche ist bei Brepols im Druck: Jakob von Vitry, Thomas von Cantimpré, Das Leben der Maria von Oignies, übers. von Iris Geyer, Turnhout [2014] (Corpus Christianorum in Translation 18).

[13] Vgl. etwa Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen des Mittelalters. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, 4. unveränd. Aufl., Darmstadt 1977, S. 171, Alfred John Andrea, Walter, archdeacon of London, and the Historia occidentalis of Jacques de Vitry, in: Church History, 50 (1981), S. 141-151, hier S. 141 f. und Felten, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 118.

[14] Vgl. Pascale Bourgain, Art. “Jakob von Vitry”, in: Lexikon des Mittelalters 5, Sp. 295. Grundmann, Religiöse Bewegungen (wie Anm. 13), S. 172 vermutete schon für 1216 eine Begegnung der beiden Männer in Perugia, wo zu dieser Zeit Papst Innocenz III. gestorben war.

[15] Überhaupt fällt die Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zur Historia Occidentalis im Vergleich zur Historia Orientalis und zum Predigtwerk Jakobs auffallend gering aus, konsultiert man den RI-Opac. Als Standardwerk zum Autor und seinem Gesamtwerk ist immer noch Philipp Funk, Jakob von Vitry, Leben und Werke, Leipzig 1909 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 3) zu betrachten. Da seit dieser Studie jedoch über ein Jahrhundert vergangen ist, kann mit Spannung die Dissertation von Michael de Nève erwartet werden, der das Thema “Jacobus de Vitriaco. Wirken, Werk und Wirkung zwischen ‘cura animarum’ und ‘Curia Romana’” bearbeitet.

[16] Eine Übersetzung ist freilich immer nur als Übersetzungsangebot zu betrachten, da sie zwangsläufig bereits interpretiert, sobald sie sich aus oft vielfältigen Möglichkeiten für eine Wortbedeutung entscheidet. Nochmals sei der Griff zum lateinischen Text für eine detailliertere Beschäftigung mit der Quelle empfohlen.

[17] Angabe wie folgt: Hist. Occ. [Kapitelnummer], ed. Hinnebusch, S. [Seitenzahl(en)].

[18] Hist. Occ. I, ed. Hinnebusch, S. 73-77.

[19] Jes 1,30.

[20] Ps 93,1 (Ps 94,1).

[21] 2 Kor 11,26.

[22] Ps 43,25 (Ps 44,26).

[23] Klgl 1,10.

[24] Zef 3,3.

[25] Jes 1,5.

[26] Klgl 2,21.

[27] Klgl 1,5.

[28] Nah 1,10.

[29] Hist. Occ. II, ed. Hinnebusch, S. 78 f.

[30] Lk 6,35.

[31] Lev 22,8.

[32] Ps 105,37 (Ps 106,37).

[33] Lev 25,25-27.

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(pdf-Version)

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2529

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