Der hermaphroditische Adam und die ungeschlechtliche Seele

“Als Mann und Frau schuf er sie” – das liest sich in der Genesis  (Gen. 1, 27) recht klar und einfach. Doch schon mit der Bestimmung, Gott habe sie “zu seinem Bilde” erschaffen, wird es theologisch erheblich komplizierter. In mittelalterlichen Bibelhandschriften sieht man das besonders deutlich an den kleinen Erläuterungen, die sich zwischen den Zeilen ansammeln, den am Rand zu findenden Kommentartexten, die meist aus der patristischen Literatur stammen (“Glossen”) und den Kommentaren zu den Kommentaren.In der Abbildung hier ist z.B. das Wort “Masculum” […]

Quelle: http://intersex.hypotheses.org/137

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Der hermaphroditische Adam und die ungeschlechtliche Seele

“Als Mann und Frau schuf er sie” – das liest sich in der Genesis  (Gen. 1, 27) recht klar und einfach. Doch schon mit der Bestimmung, Gott habe sie “zu seinem Bilde” erschaffen, wird es theologisch erheblich komplizierter. In mittelalterlichen Bibelhandschriften sieht man das besonders deutlich an den kleinen Erläuterungen, die sich zwischen den Zeilen ansammeln, den am Rand zu findenden Kommentartexten, die meist aus der patristischen Literatur stammen (“Glossen”) und den Kommentaren zu den Kommentaren.In der Abbildung hier ist z.B. das Wort “Masculum” […]

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 7

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]

Siebtes Kapitel

Über den Zustand der Stadt Paris

In jenen üblen und dunklen Tagen und gefährlichen Zeiten wandelte die Stadt Paris in Dunkelheit, wie andere Städte auch eingehüllt in verschiedene Verbrechen und zahlreiche Gemeinheiten, die nun durch das rechte Eingreifen des Himmels, der das Verwüstete in Wonne und das Verödete in den Sitz des Herrn verwandelt, zu einer gläubigen und ruhmreichen Stadt geworden ist, der Stadt des großen Königs. Wie der Garten der Freude und Ursprung der Wonne ist sie angefüllt mit allen Arten von Obstbäumen, und in der gesamten Welt atmet man die Süße (ihres) Geruchs. Wie aus einer Schatztruhe holt der höchste Vater das Neue und das Alte aus ihr hervor.

Sie selbst, gleichsam wie eine Quelle des Aufgangs und ein Brunnen des lebendigen Wassers, bewässert die Oberfläche der gesamten Erde, wobei sie den Königen wohlschmeckendes Brot und andere Köstlichkeiten darreicht und der gesamten Kirche Gottes über Honig und Honigwaben hinaus die überaus süßen Brüste anbietet.

Damals jedoch war der Klerus in ihr verdorbener als das übrige Volk, gleichsam ein stinkender Bock und ein krankes Schaf. Durch verderbliches Beispiel korrumpierte sie viele ihrer Besucher, die von überall her zu ihr strömten, und sie verschlang ihre Bewohner und versenkte sie mit sich in die Tiefe. Einfache Unzucht hielten sie für keine Sünde. Huren zogen überall öffentlich auf den Plätzen und Straßen der Stadt vorbeigehende Kleriker gleichsam mit Gewalt in ihre Bordelle. Wenn sich aber welche beharrlich weigerten hineinzugehen, dann nannten sie diese Sodomiten und schrien hinter ihnen her. Dieses hässliche und abscheuliche Übel hatte die Stadt so sehr in Besatz genommen, gleichwie ein nicht behandelbarer Aussatz und ein unheilbares Gift, dass sie es für etwas Ehrbares hielten, wenn jemand sich öffentlich eine oder mehrere Konkubinen hielt. In ein und demselben Haus wurden oben Vorlesungen gehalten, während unten die Dirnen lebten. Im Obergeschoss lehrten die Magister, im Untergeschoss gingen die Huren ihren verwerflichen Geschäften nach. Aus dem einen Teil (des Hauses) heraus stritten die Huren untereinander und mit den Kupplern, aus dem anderen Teil heraus plärrten die Disputierenden und die sich streitsüchtig aufführenden Kleriker.

Je mehr jedoch die üppig Lebenden und in ihren Ausgaben Freizügigen ihren Besitz auf sehr schändliche Weise verschwendeten, desto mehr vertraute man ihnen, und sie wurden von fast allen rechtschaffen und edel genannt. Wenn aber welche gemäß der apostolischen Lehre nüchtern, gerecht und fromm unter ihnen leben wollten, dann wurden diese sofort von den Unkeuschen und Weichlichen als geizig, elend, heuchlerisch und abergläubisch verurteilt.

Fast alle Pariser Gelehrten, Fremde wie Einheimische, beschäftigten sich mit nichts anderem als dem, etwas Neues zu lernen oder zu hören. Die einen lernten, um viel zu wissen. Das ist Neugier. Die anderen (lernten), um bekannt zu werden. Das ist Eitelkeit. Wieder andere (lernten), um Geld zu verdienen. Das ist Gier und das Übel der Simonie. Wenige jedoch lernten, um erbaut zu werden und zu erbauen.

Aber nicht nur aus dem Grund verschiedener Sekten(zugehörigkeit) oder aus dem Anlass der Disputation heraus widersprachen sich die Gegner gegenseitig, sondern auch wegen der Verschiedenheit der Herkunftsregionen stritten sie sich, sahen sich scheel an und zogen sich gegenseitig in den Schmutz, und brachten dabei gegeneinander auf unverschämte Weise Beleidigungen und Beschimpfungen hervor. Die Engländer nannten sie Säufer und Schwanzträger, die Franzosen eitel, weichlich und auf weibische Weise aufgeputzt, die Deutschen rasend und unsittlich in ihren Gelagen, die Normannen leer und prahlerisch und die Poitevins Verräter und Freunde des Reichtums. Diejenigen, die aus Burgund stammten, hielten sie für plump und dumm. Die Bretonen beurteilten sie als leichtfertig und unstet, und warfen ihnen häufig den Tod des Artus vor. Die Lombarden bezeichneten sie als gierig, bösartig und feige, die Römer als aufrührerisch, gewalttätig und eidbrüchig, die Sizilier als tyrannisch und grausam, die Brabanter als Männer des Blutes, Brandstifter, Eroberer und Vergewaltiger, die Flamen schließlich als reich, verschwenderisch, Trinkgelagen ergeben und nach Art der Butter weich und schlaff. Und bei Zank dieser Art gingen sie häufig von Worten zu Schlägen über.

So wollen wir aber von den Logikern schweigen, um deren Augen die Schmeißfliegen Ägyptens flogen, womit die sophistischen Spitzfindigkeiten gemeint sind, „damit die Redegewandtheit ihrer Sprache nicht durchschaut werden kann, in der“, so sagt Jesaja, „keine Weisheit ist“.[1]

Die Doktoren der Theologie, die auf dem Stuhl des Moses saßen, und die die Liebe nicht erbaute, ließ dafür das Wissen anschwellen. Als Lehrende, aber nicht zugleich Handelnde wurden sie wie das tönende Erz und die klingende Schelle, und wie ein steinerner Kanal, der Wasser in Gewürzgärten führt, aber in sich trocken bleibt. Nicht nur waren sie aufeinander neidisch und zogen die Studenten der anderen mit Schmeicheleien an sich, wobei sie den eigenen Ruhm suchten, sich um die Frucht der Geister aber nicht kümmerten, sondern sie vermehrten auch ihr Gehalt und jagten nach Würden, wobei sie das apostolische Wort mit allzu offenen Ohren aufnahmen: „Wer das Bischofsamt begehrt, begehrt ein gutes Werk.“[2] Weil sie jedoch nicht so sehr das Werk, als vielmehr die Berühmtheit liebten, wollten sie auf der Straße als erste gegrüßt werden, begehrten die vordersten Plätze in der Versammlung und die besten Liegen beim Fest. Während aber der Apostel Jakobus sagt: „Strebt nicht so sehr danach, Magister zu werden“,[3] beeilten sich so viele, Magister zu werden, dass die meisten von ihnen nur durch Bitte und Bestechung Schüler zu halten vermochten. Sicherer ist es jedoch zu hören als zu lehren, und besser ist ein demütiger Hörer als ein ungenügender und voreiliger Doktor. Der Herr hatte sich jedoch nur wenige unter ihnen als ehrliche und gottesfürchtige Männer bewahrt, die nicht auf der Straße der Sünder standen und nicht mit den anderen auf dem Stuhl der Pestilenz saßen.

[1]    Jes 33,19

[2]    1 Tim 3,1

[3]    Jak 3,1

D O W N L O A D

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Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 7, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 24. Juli 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4096 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4096

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 6

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]

Sechstes Kapitel

Über die Heimsuchung der abendländischen Kirche. Über das Leben und die Predigt des Priesters Fulk von Neuilly[1]

In jenen Tagen erweckte der Gott des Himmels den Geist eines gewissen Landpriesters, sehr schlicht und ungebildet, aus dem Pariser Episkopat mit dem Namen Fulk. Wie er nämlich Fischer und Einfältige erwählte, um seinen Ruhm nicht einem anderen zu verleihen, so erwählte der Herr, weil die Geringen nach Brot verlangten, die Gebildeten jedoch, bemüht um eitle Disputationen und Wortgefechte, das Zerbrochene nicht heilten, sich erbarmend den genannten Priester, um seinen Weinberg zu bebauen. Er war wie ein Stern inmitten des Nebels und ein Regen in einer Trockenzeit, gleichsam ein zweiter Samgar, der durch den Pflug der rohen Predigt viele getötet hatte. Nicht hielt (der Herr) im Zorn seine Barmherzigkeit zurück. Als er erzürnt war, gedachte er seines Mitleids, denn er wusste, der Mensch ist Fleisch, ein flüchtiger und nicht wiederkehrender Windhauch.

Dieser genannte Fulk also, der gleichsam irdisch gesinnt gewesen war und nicht erkannte hatte, was Gottes ist, hatte zuvor ein sehr weltliches Lebens gelebt und, selbst außerordentlich zügellos, seinem ungestümen Pferd die Zügel weit gelockert. Weil es ihm (Gott), der denselben aus der Dunkelheit ins Licht zurückrief, damit ihm, wo er Sünde im Überfluss gehabt hatte, nun die Gnade umso größer sei, jedoch gefiel, fand dieser keine dauerhafte Ruhe in Fleisch und Blut, sondern, verwandelt in einen anderen Mann und den Geist in Fieber entbrannt, beschritt er den beschwerlichen Weg und wollte durch die enge Pforte schreiten. Weil er nämlich inne wurde, dass das Himmelreich Gewalt zulässt und die Gewalttätigen es auseinanderreißen, begann er die harte Buße und die schweren Wege. Da er viele Beispiele der Verworfenheit an seine Untergebenen weitergegeben hatte, nahm er sie nicht nur als Beispiel des Lebens, sondern auch als häufige Warnung und Aufforderung der Lehre, auf den Weg der Wahrheit zurückzurufen. So bewunderten alle, dass aus dem Saulus ein Paulus wurde, während der Herr den Wolf in ein Schaf und den Raben in eine Taube verwandelte.

Weil er sich aber dafür schämte, dass er ein Einfaltspinsel und ungebildeter Mann war und die göttlichen Schriften nicht kannte, machte er sich auf nach Paris, um an den theologischen Schulen[2] einige maßgebliche Aussprüche und moralische Beispiele zu sammeln, die er auf seine von ihm mitgeführten Tafeln schrieb – gleichsam als reinste Steine, um sie auf Goliath zu werfen.

[1] † 1201

[2] Fulk von Neuilly war Schüler von Petrus Cantor († 1197) und wird daher (u.a.?) an der Domschule von Notre-Dame unterrichtet worden sein.

D O W N L O A D

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Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 4, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 8. Juni 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3879 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3879

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 4

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]

Viertes Kapitel

Von den verschiedenen Geschlechtern der Menschen und den verschiedenen verschlungenen Verbrechen

Aber nicht nur diese, sondern das gesamte Menschengeschlecht hatte seine Wege auf der Erde verdorben. Sie erhoben sich nämlich in der Nachwelt über die vergessenen Altvorderen. Die Händler bemühten sich, durch Lügen und unendliche Betrügereien ihre Brüder zu hintergehen. Bauern gaben von ihren Gütern den Zehnten nicht mehr den Kirchen. Knechte und Mägde dienten ihren Herren ohne Gottesfurcht und nur dem Augenschein nach.

Die Ärzte fürchteten sich nicht davor, ihre Kranken auf alle Arten zu betrügen, indem sie mit trügerischen Lippen und großsprecherischer Zunge vieles versprachen und mäßiges hielten, wobei sie viel annahmen, aber wenig vollbrachten. Meistens raubten sie denen, die sie heilen sollten, das Leben durch Lüge und Täuschung und brachten dabei auf betrügerische Weise noch Geld an sich. Sie sind jedoch nicht nur den Körpern nicht zuträglich, sondern vernichten auch die Seelen. Während sie nämlich versichern, dass die Körper durch Ausweitung der Begierde gereinigt würden, verführen sie viele zur Unzucht. Die Schwerkranken aber, denen sie sagen sollten: „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht leben“,1 bringen sie dazu, die Beichte und andere geistliche Heilmittel aufzuschieben oder gering zu achten, während sie sie auf lügnerische und betrügerische Weise in Sicherheit wiegen.

Auch die ungerechten Advokaten, geblendet durch die Gier nach Besitz und unermesslichem Lohn, widmeten sich nicht nur den ungerechten Fällen, sondern nahmen, im Vertrauen auf Lügen und Geschwätzigkeit, auch die aussichtslosen an. Von diesen sagte der selige Ijob: „Feuer wird die Zelte derer verschlingen, die gerne Bestechungsgeld annehmen.“2 Dieselben jedoch, die zugunsten des schmählichen Gewinns von Stadt zu Stadt, von Haus zu Haus, von Ratsversammlung zu Ratsversammlung liefen, wurden über das gesamte Land Ägypten verstreut, um Getreide zu sammeln. Sie verschleppten die Rechtssachen, indem sie freudig die Streitfragen vermehrten und unzählige Ausnahmen vorbrachten, um so die Kassen vielfach zu plündern. Wenn sie es aber nicht vermochten, eine Sache, durch welchen Betrug auch immer, zum gewünschten Ende zu führen, ließen sie sich sofort zur Berufung hinreißen, damit, wenn die Sache neu verhandelt würde, sich auch ihr Lohn erneuerte.

Die Weiber aber zogen, nicht nur in dirnenhaftem Schmuck und durch Verschwendungssucht der Kleidung, in gelocktem Haar, in Gold und Perlen und kostbarem Gewand, in unerlaubtem Beifall und Tanz, sondern auch mit mächtiger Hexerei und unzähligen Übeltaten, unvorsichtige Menschen in den Tod und zum tiefen Fall. Indem sie den Brunnen aufwühlten und nicht bedeckten, wurden sie durch Tierhaftes und Törichtes ruiniert. Ihnen wird, gemäß einer Weissagung des Propheten Jesaja, Gestank anstelle lieblichen Geruchs, ein Strick für die Hüfte und eine Glatze anstelle des gelockten Haars sein.

Diese jedoch, die der Welt entsagt und sich durch ein religiöses Gelübde gebunden hatten, indem sie die regulierte Lebensweise angenommen hatten, die nach außen eine Art von Frömmigkeit zeigten, deren Tugend jedoch verweigerten, die fielen nach dem Gelübde im elenden Fall so schwer, wie ihr Rang hervorgehoben war. Die Ungehorsamen, die Murrenden, die sich gegenseitig Verleumdenden, die das Kreuz Christi unter Zwang Tragenden, die Unreinen und Maßlosen, die nach dem Fleisch und nicht nach dem Geist Wandelnden, und auch die, die mit der an den Pflug gelegten Hand gemeinsam mit dem Weib des Lot zurückblickten nach dem Lauch, den Melonen und den Fleischtöpfen Ägyptens, während sie das Manna der Wüste verschmähten, die vergingen in den Gräbern der Begierlichkeit als Tote und Begrabene, „weil sie den frühen Glauben für ungültig erklärt hatten.“3 Viele von diesen, die die Frömmigkeit als Gewinn einschätzten, machten zwischen dem Heiligen und dem Profanen keinen Unterschied, aber nahmen häufig das Gestorbene und Geraubte von den Wucherern und Räubern an. Aus Gier hinterfragten sie dabei nichts, obwohl doch der heilige Tobias seine Frau bat: „Sieh zu, dass es nicht gestohlen sei.“4 Jene jedoch, die nicht durch die Tür gingen, sondern unter der Erde gruben, die durch das Schlupfloch des Geldes hineingekommen sind, die sind schon gerichtet durch den Herrn, der spricht: „Jede Anpflanzung, die nicht mein Vater gepflanzt hat, wird ausgerissen werden“,5 und ebenso die, die sich nicht scheuten, mit Hananias und Saphira nicht nur an der Eigenart des Willens, sondern auch am Eigentum des Geldes festzuhalten.

1Jes 38,1

2Ijob 15,34

31 Tim 5,12

4Tob 2,21 (BSV)

5Mt 15,13

D O W N L O A D

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Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 4, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 26. Januar 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/2917 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2917

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 3

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts[1]]

Drittes Kapitel

Von den Räubereien und Eintreibungen der Mächtigen durch sie selbst oder durch ihre Spießgesellen und über ihre verschiedenen Verbrechen[2]

Während der Herr spricht, dass es besser zu geben statt zu nehmen sei, füllten die Menschen jener Zeit, und vor allem die, die die Regierungsgewalt über andere empfangen hatten, nicht nur durch ungesetzliche Schenkungen die Hände der Gierigen, oder erpressten durch Sammlungen und ungebührende Eintreibungen Geld von den Unterworfenen auf ihre eigene Verdammnis hin, sondern sie unterdrückten durch Plünderungen und gewaltsame Räubereien fortwährend, mal im Verborgenen, mal öffentlich, unvorsichtige oder schwache Menschen auf grausame Weise. Dabei waren sie sich nicht genügend gewahr, dass geschrieben steht: „Wehe, der du raubst, denn du wirst beraubt werden.“[3]Über diese sagte der Herr durch den Propheten: „Die das Fleisch meines Volkes fraßen, seine Haut abzogen und seine Knochen zerbrachen, werden zum Herrn schreien, er wird sie nicht erhören und sein Antlitz vor ihnen verbergen.“[4] Die Elenden bedenken nämlich ihre letzten Dinge nicht, wie Jeremia sagt: „Schmutz ist an ihren Füßen, weil sie das Ende nicht bedacht hat.“[5] „Dem Geringen kommt Erbarmen zu, die Mächtigen aber werden heftige Folter erleiden“,[6] und großes Gericht droht den Großen. Dieselben aber suchten nicht nur nach Beute, sondern verwüsteten auch ganze Landstriche durch Brand, und sie schonten nicht die Ländereien und Besitztümer der Klöster und Kirchen, da sie mit frevlerischer Hand die Heiligtümer aufbrachen und das dem geistlichen Dienst Gewidmete aus dem Innersten und von der Brust des Herrn wegschleppten. Den Armen und dazu seine Güter gaben sie ihren ruchlosen Spießgesellen preis, während sie in leichten Fällen untereinander wetteiferten. Mit Eisen gegürtet besetzten sie die Straßen und öffentlichen Plätze, wobei sie die Pilger und Geistlichen nicht verschonten. In den kleinen Orten und auch den Städten erfüllten Meuchelmörder und Verbrecher die Häuser, Plätze und verborgenen Orte, und lagen, durch das Blut der Unschuldigen geschützt, überall im Hinterhalt. Selbst auf dem Meer plünderten Freibeuter und Piraten, weil sie das göttliche Urteil nicht fürchteten, nicht nur die Händler und Pilger aus, sondern sie versenkten sie meist auch auf den Meeresgrund, indem sie ihre Schiffe anzündeten.

Die Fürsten jedoch und die ungläubigen Machthaber, die Verbündeten der Diebe, die eigentlich gehalten waren, den Frieden zu wahren und die Untergebenen zu verteidigen, und weiterhin die Verderben bringenden Menschen von den Untergebenen gleichsam wie Wölfe von den Schafen durch Abschreckung fernzuhalten, gewährten, nachdem sie Geschenke von ruchlosen und unheiligen Menschen aus Gier nach zeitlichem Gewinn angenommen hatten, ihnen Schutz und Begünstigung. Wenn sie einen Dieb sahen, liefen sie mit ihm, als ob sie sagen wollten: „Gib uns den Beuteanteil, der Geldbeutel sei einer für uns alle.“[7] Und so unterstützten sie die Diebe, Räuber, Kirchenschänder, Wucherer, Juden, Messerstecher und Mörder, die aufrührerischen Menschen, die sie eigentlich schwer bestrafen, von Grund auf ausrotten und aus der Mittel entfernen sollten, wobei sie selbst ohne Grund das Schwert trugen. Sie ließen sie ungestraft Übeltaten begehen, wo doch der Herr durch den Propheten sagt: „Sucht die Gerechtigkeit, helft dem Unterdrückten, schafft Recht der Waise und verteidigt die Witwe.“[8]

Sie selbst jedoch, die unreine Hunde waren und keine Sättigung kannten, die mit den höllischen Raben nach Leichen schnappten, unterdrückten die Armen mit Hilfe ihrer Vögte und ihrer Spießgesellen. Sie beraubten die Witwen und Waisen, während sie heimtückisch waren, Verleumdungen verbreiteten und viele Verbrechen begingen, um durch Folter Geld zu erpressen. Meistens wurden die Wehrlosen in Kerker und Fesseln verschleppt und die Unschuldigen gefoltert aus keinem anderen Grund, als weil man glaubte, dass sie noch etwas besäßen. Und vor allem die, die wegen der Verschwendungssucht und der Ausschweifung ihrer Herren schon nichts mehr besaßen, wurden für Turniere und die pompöse Eitelkeit der Welt, für überflüssige Ausgaben, Schulden und Zinsen in Fesseln gelegt. Aber auch Spielleute und Jongleure, Possenreißer, Landstreicher und Narren, Hofschranzen und Ehebrecher verzehrten den Besitz der Räuber, wie wenn sie zu ihrem Fürsten oder Tyrannen sagen wollten: „Reiße nieder, reiße nieder, bis auf den Grund.“[9] „Kreuzige, kreuzige“[10], schlachte und iss.

Dieselben Fürsten aber erlaubten zum Vollmaß ihrer eigenen Verdammnis den Huren und Bordellen, den Spielern, Wirtshäusern und Spelunken, die den Fallgruben der Räuber und den Synagogen der Juden ähneln, dem ungerechten Maßnehmen, den gefälschten Waagen und anderen Krankheiten dieser Art, die die Welt und ihre Staaten und Länder besetzten, und die sie austilgen, zerstören, verderben und zerreißen sollten, fortwährend zu wachsen. Nicht nur diejenigen, die solches verüben, sondern auch diejenigen, die zustimmen, werden das Reich Gottes nicht besitzen.

[1] Nachdem wir am 28. November mit dem Übersetzungsprojekt zur Historia Occidentalis begonnen haben, folgt hier nun das dritte Kapitel. Bitte beachten Sie zum besseren Verständnis immer die Einleitung, mit Informationen zur Vorgehensweise beim Übersetzungsprojekt und zum Editionstext, der die Grundlage für diese Übersetzung bildet: http://mittelalter.hypotheses.org/2529.

[2] Hist. Occ. III, ed. Hinnebusch, S. 79-81.

[3] Jes 33,1, eigentlich „vae qui praedaris nonne et ipse praedaberis“ (BSV).

[4] Mi 3,3.

[5] Klgl 1,9.

[6] Weish 6,7.

[7] Spr 1,14.

[8] Jes 1,17.

[9] Ps 136,7 (Ps 137,7).

[10] Lk 23,21.

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Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 1-2, übers. von Christina Franke, mit einer Einleitung von Björn Gebert, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 9. Dezember 2013, http://mittelalter.hypotheses.org/2634 (ISSN 2197-6120).

 

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2634

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 1-2


Einleitung zum Übersetzungsprojekt

(Björn Gebert)

Die Historia Occidentalis Jakobs von Vitry (gest. 1240) stellt eine ungemein reiche und bekannte Quelle für die Geschichte der lateinischen Kirche im frühen 13. Jahrhundert aus der Sicht eines ihrer Vertreter dar. Der Autor, ein Regularkanoniker, hatte in Paris studiert, gegen die Albigenser gepredigt, war zeitweise Bischof von Akkon und war, gleichsam Höhepunkt seiner kirchlichen Karriere, im Jahr 1229 durch Papst Gregor IX. zum Kardinalbischof von Tusculum erhoben worden.[1] Er darf als Förderer der semireligiosen Lebensweise der Beginen, als Beobachter und Kenner der religiosen Bewegungen seiner Zeit und als Befürworter der Kirchenreform gelten. Die Historia Occidentalis, die er wohl um 1225 vollendete,[2] ist nach einer Historia Orientalis der zweite von drei geplanten Teilen von Jakobs Historia Hierosolimitana abbreviata, die neben zahlreichen Predigten[3] sowie Briefen und einer Vita wiederum nur einen Teil seines schriftlichen Schaffens darstellt.

Bei der Historia Occidentalis handelt es sich freilich nicht um das Werk eines Historikers, der in jedem Fall objektiv versucht Fakten darzustellen. Sie ist zwar durchaus eine historia in Form einer “Historiographie religiösen Lebens”,[4] aber Haltung und Intention des Autors hat Franz J. Felten kürzlich gut auf den Punkt gebracht:

Zweifellos war er ein gut informierter, verständiger, aber unterschiedlich verständnisvoller Beobachter des religiosen Lebens seiner Zeit, oft genug als Augenzeuge. Vor allem aber erscheint er als Theologe und Prediger mit den zeit- und standestypischen Denkmustern (wie z. B. alternde Welt, allgemeiner Sittenverfall, Wesen der Frau) und paränetischen Absichten.”[5]

Dabei ist das Bild, das Jakob von Geschichte und Gegenwart zeichnet, so Felten weiter, “(zumindest teilweise) bewusst konstruiert […], um die höheren kirchenpolitischen Ziele des Autors zu fördern”.[6]

Inhaltlich bietet Jakob im Wesentlichen eine Zustandsbeschreibung der zeitgenössischen westlichen Kirche und Welt, die zunächst sehr düster ausfällt, etwa wenn er die Bewohner des Abendlandes im Allgemeinen, speziell aber auch weite Teile des Klerus als sündhaft und sittenarm beschreibt.[7] Eine Hoffnung und gewissermaßen ein Licht in der Finsternis stellen für den Autor neben einzelnen Klerikern, quasi stelle in firmamento caeli,[8] vor allem die jüngeren, reformorientierten religiosen Bewegungen seiner Zeit dar.[9] Theologische Ausführungen über das Priesteramt und die Messe, das Bischofsamt und die Sakramente bilden den Abschluss des Werkes.[10]

Für die Historia Occidentalis liegt eine kritische Edition aus dem Jahr 1972 vor, die von dem Dominikaner John Frederick Hinnebusch besorgt wurde.[11] Eine publizierte vollständige englische oder deutsche Übersetzung gibt es bislang jedoch nicht.[12] Angesichts der unbestrittenen Bedeutung dieser Quelle,[13] die unter anderem auch darin besteht, dass ihr Autor spätestens 1219 mit Franziskus von Assisi zusammengetroffen war[14] und deshalb in seiner Chronik ein sehr frühes und externes Zeugnis für die junge franziskanische Bewegung liefern konnte, überrascht dieser Befund.[15] Zwar wird der Forscher ohnehin zum lateinischen Text greifen müssen, will er mit der Quelle methodisch sauber arbeiten, doch für die akademische Lehre, gerade in Hinblick auf Studienanfänger, die über (noch) keine Lateinkenntnisse verfügen, erscheint eine Übersetzung ins Deutsche ein Desiderat. Ausgehend von der Edition von Hinnebusch soll dies nun von Christina Franke geleistet und das Ergebnis hier auf dem Blog zur Verfügung gestellt werden.[16]

Theoretisch ist es das Ziel, monatlich ein oder zwei Kapitel zu veröffentlichen, aber garantiert werden kann diese Regelmäßigkeit leider nicht, da weder die Übersetzerin, noch der Redakteur die Arbeit an diesem Vorhaben hauptberuflich betreiben bzw. mangels Finanzierung auch gar nicht betreiben könnten.

Es folgt die Übersetzung des ersten und zweiten Kapitels nach der Edition Hinnebuschs, die bei der Lektüre immer mit herangezogen werden sollte, da alternative Lesarten in der Übersetzung i.d.R. nicht berücksichtigt werden und nur die in der Edition als direktes Zitat gekennzeichneten alt- und neutestamentlichen Textstellen ausgewiesen werden. Bemerkungen/Ergänzungen zum besseren Verständnis werden nur in Einzelfällen vorgenommen und durch eckige Klammern gekennzeichnet bzw. erscheinen in den Anmerkungen, falls sie ausführlicher ausfallen. Die Seitenzahlen für die jeweiligen Kapitel bei Hinnebusch werden immer per Anmerkung hinter der Kapitelüberschrift nachgewiesen.[17]

Erstes Kapitel

Von der Verführung des Abendlandes und den Sünden der Abendländer[18]

Wie die morgenländische Kirche, die einstmals von den Enden der Erde kam, um die Weisheit Salomons zu hören, mannigfaltigen Schicksalen ausgesetzt und durch verschiedenste Bitterkeiten niedergedrückt, ihre Freude in Trauer und Trübsal verwandelte, so blieb auch ihre erstgeborene, besondere Tochter, die Kirche Jerusalems, der Kleidung ihrer Ehre beraubt und von vielen Fleischern zerrissen, fast nackt zurück, „wie die Eiche, wenn die Blätter fallen“[19], so als wäre das Wasser aus ihrer Quelle fast vertrocknet. Nichtsdestotrotz freilich hörte der unersättliche Feind des Menschengeschlechts, die sich ringelnde Schlange nicht auf, in den Landstrichen seiner tödlichen Schlechtigkeit ein verderbliches Gift zu verbreiten, und nachdem das Haupt verwundet war, wollte er die Glieder auf alle Arten verletzen.

Das Haupt und die Mutter des Glaubens ist Jerusalem, so wie Rom das Haupt und die Mutter der Gläubigen ist. So sehr strahlte nun der Schmerz des Hauptes in die Glieder aus, und so sehr zeigte der Herr seinen Zorn und Unwillen durch zahlreiche Strafqualen, dass der gerechte Rächer der Verbrechen, „Gott, der Herr der Rache“[20], nachdem das Heilige Land wegen der Forderungen unserer Sünden in die Hände der Ungläubigen gefallen war, die ganze Welt schlug, indem er ihr viele Qualen auferlegte. Er erlaubte in Spanien den Mauren, in der Provence und der Lombardei den Häretikern, in Griechenland den Schismatikern und überhaupt überall „falschen Brüdern“[21], sich gegen uns zu erheben. Um ein Wort des Propheten zu gebrauchen: So zerbrach der Herr im Takt unsere Zähne, dass, nachdem die Heilige Stadt verlassen worden war, die Ehre der Kirche verringert und ihre Zähne verschoben, das heißt, zerbrochen wurden. Wie viele Kinder auch immer in der Welt geboren wurden, die hatten immer zwei oder drei Zähne weniger als die anderen, die bereits erzeugt worden waren. Nachdem die Zähne zerstört waren, zerbrach der Herr alle unsere Knochen, „verklebt wurde unser Bauch auf der Erde“[22], und unsere Seele haftete am Boden.

Weil die Schlechtigkeit der Menschen auf diese Weise zunahm und zum Bösen geneigt war, wurde sie immer weiter abwärts getragen. Es vertrockneten die Euter, die einstmals Trauben gleich gewesen waren, und die Lehre des Evangeliums erschien gering, während die göttlichen Weisungen fortwährend von den Frevlern niedergetreten wurden. Sie verkehrten Silber zu Asche und mischten den Wein mit Wasser. Alle Ehrerbietung Gottes und der Menschen warfen sie hinter sich, und die Gesichter der Priester erröteten nicht, obwohl sie dem Schädlichen folgten, sich vom Heilbringenden abwandten und sich dem Schlimmsten zuneigten. Der Beste unter ihnen war dem Hagedorn gleich, und der Aufrechte glich der Mauerzinne. Auflösung von Verwandtschaftsbanden und Verfinsterung war in jeder Seele, und die Gesichter aller glichen jener Schwärze. Es fehlte der Glaube, die Barmherzigkeit wurde ausgelöscht und alle Tugend ging zugrunde. Im Sumpf dienten sie mit Ziegel und Stroh dem Pharao. Die Herrschaft des Machthabers und Fürsten der Finsternis erstreckte sich demgegenüber weit und breit.

Die Söhne Zions, die einstmals berühmt waren und ursprünglich in Gold gekleidet, wurden nun für irdene Gefäße gehalten. Ihre Leber war auf die Erde ausgeschüttet, sie irrten blind durch die Straßen und sie waren beschmutzt mit Blut. Auf jämmerliche Weise brachten sie die Ungeheuer ihrer Verbrechen und die Zeichen ihrer Abscheulichkeit hervor, und sie durchschweiften den Erdkreis. Zur Hure ist geworden, die einstmals Stadt der Gläubigen war. „Der Feind streckte seine Hand aus nach allen ihren Schätzen.“[23] „Ihre Fürsten waren in ihrer Mitte wie brüllende Löwen. Ihre Richter waren Wölfe am Abend, am Morgen ließen sie nichts zurück.“[24] „Jedes Haupt war matt und jedes Herz schuldig.“[25] Ihre Fürsten waren Ungläubige, Verbündete von Dieben. „Knabe und Greis lagen draußen auf der Erde.“[26]

Vergangen war die Gerechtigkeit aus den Dingen, die Furcht vor dem Herrn verschwand aus der Öffentlichkeit und Gewalt herrschte durch erzwungene Gleichheit unter den Völkern. Betrug, Hinterlist und Täuschung umgaben weit und breit die Welt. Verschwunden war das Messopfer von Brot und Wein aus dem Haus des Herrn und entvölkert war die Gegend. Es trauerte der Erdboden, weil der Weizen verwüstet war. Der Wein wurde gepanscht, das Öl geriet ins Stocken. Die Bauern waren verwirrt und die Winzer klagten über Weizen und Gerste, denn vergangen war die Erntezeit auf dem Acker. Der Feind hielt Lese im Weinberg des Herrn.

Alle Tugend hatte Platz gemacht und war gleichsam unnütz vergangen. Während die Bosheit Einzug hielt, gab es keinen, der sich entgegenstellte und am Herrn festhielt, oder auch in der Bresche mit ihm stand. Sie hatten eine Wolke entgegengestellt, damit das Gebet nicht durchdringe.

Während die Welt sich jedoch gegen Abend neigte, war die Liebe so sehr erkaltet und wurde Glaube auf der Erde nicht mehr gefunden, dass die zweite Ankunft des Menschensohns nahe und gleichsam schon vor der Tür zu stehen schien. Der Sohn beschimpfte den Vater, die Tochter stand gegen die Mutter auf, die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter, und die Feinde des Menschen waren seine Hausgenossen. Das Heilige wurde vom Profanen nicht unterschieden. Was immer sie begehrten, hielten sie für erlaubt. Alles stand durch die Sünde auf dem Kopf. Wie ein ungezügeltes Pferd wurden sie kopfüber fortgetragen, während sie mit sinnloser Unruhe an den Zügeln zogen. Das Band des Wagens war gleichsam die Sünde. Alle ihre Verfolger, die bösen Geister nämlich, trieben sie in die Enge und „sie wurden in die Gefangenschaft geführt vor dem Angesicht des Feindes“[27]. Sie wollten nicht achtgeben und wandten sich ab. Ihre Ohren verstopften sie, so dass sie nicht hörten, und sie machten ihr Herz zu Stein. Gitarre, Leier, Trommel, Flöte und Wein gab es auf ihren Gelagen, das Werk des Herrn aber achteten sie nicht.

Die Aufrichtigkeit der Sitten und die Zierde der Tugenden fanden, Vertriebenen gleich, keinen Platz, wo die herrschenden und weit ausschweifenden Sünden alles besetzten. Das dem Himmel Freundliche und die gottgefälligen Dinge achteten sie, gleich einer verächtlichen Sache, für nichts. Wo sie also fortwährend und ohne Schamesröte Unkeuschheit trieben wie die Sau im Schlamm, hielten sie Gestank für Köstlichkeit. Gleich dem Vieh vermoderten sie im Schweinekot, während sie ein unbeflecktes Ehebett und eine ehrenhafte Heirat gering achteten. Unter Verschwägerten und Nahestehenden waren die Ehebünde nicht sicher, aber die überstürzte Begierde kümmerte sich nicht um die Gefahren des Geschlechts.

Während also Besonnenheit und Mäßigung ins Exil gingen, besetzten Völlerei und Trunkenheit den Platz. „Wie die Dornen sich gegenseitig umgreifen, so auch sie bei ihren Gelagen.“[28] Alle Tische wurden gefüllt mit Unflat und Schmutz, so dass kein Platz mehr darüber hinaus blieb. Hurerei, Wein und Trunkenheit trugen das Herz davon. Aber das nächtliche Würfelspiel, die gierige und zugleich bittere Sorge der Würfel, auch unerwartete Fälle [der Würfel] riefen Zorn, Betrug, Beleidigung und Streit, ebenso verbrecherische Lästerung gegen Gott hervor, und führten ihre Verehrer häufig in die Grube der Verzweiflung.

 Zweites Kapitel

Von den Gierigen und den Wucherern[29]

Obwohl Gott und den Menschen gefällig, waren Edelmut, Freigiebigkeit und Großzügigkeit aus der Öffentlichkeit verschwunden, weil die Wurzel allen Übels, nämlich die Pest der Habgier, fast alles besetzte und mit dem Gift der Begierde ansteckte: So sehr, dass, während das scheußliche Verbrechen der Zinsnahme fortwährend und gleichsam erlaubt die gierigen Wucherer in Besitz hielt, die Lehnsleute wegen dieses unersättlichen Blutegels die Güter und weiten Ländereien im Stich ließen. Die Armen wurden beraubt und die Kirchen geplündert, während die Pest des Zinses, die mit jedem Augenblick wuchs und keine Ruhe geben konnte, sie immer weiter durch Wucherer in Schulden drängte. Dieses unreine und verwerfliche Menschengeschlecht war jedoch überall so sehr erstarkt, dass die, die Zinsen und Überschüsse über das rechte Maß hinaus ohne Erbarmen eintrieben, nicht nur die Städte und Weiler, sondern auch die Landgüter erfüllten, während sie sowohl bei Tag als auch bei Nacht, stündlich und in jedem Moment Handel auf ihre eigene Verdammnis hin betrieben, obwohl doch der Herr sagt: „Gebt einander und erhofft euch davon nichts.“[30] Und weiterhin: „Ihr sollt nichts von einem Raubtier Zerrissenes essen.“[31] Die Söhne, die Töchter und alle die, von denen jenes unheilvolle und krankmachende Geld festgehalten wurde, zogen sie mit sich hinüber durch das Feuer, so dass sich erfüllen sollte, was geschrieben steht: „Sie opferten ihre Söhne und ihre Töchter den Dämonen.“[32] Die Pfänder aber, die sie gänzlich durch Glück empfangen hatten, weigerten sich die vermessenen Söhne der Verdammnis entgegen dem Gebot des Herrn zurückzugeben. Er sprach nämlich in Leviticus: „Wenn dein Bruder den Preis für den Rückkauf aufbringen kann, soll man die Früchte von der Zeit an rechnen, in der er verkauft hat, und was übrig bleibt, soll er dem Käufer zurückgeben. So kann er seinen Besitz wieder erwerben.“[33] Er [= Moses] nennt jedoch den ‘Käufer’, der gegen Geld Früchte und keinen Besitz kauft. Andere verkauften ihre Waren zum höchsten Preis, weil sich die Zeit des Loskaufs verzögern könnte, oder sie kauften Waren, die in Zukunft wertlos sein werden, weil sie die Zeit des Loskaufs schon vorhersahen, und verschrieben sich so selbst der Strafe des ewigen Todes und der Verdammnis.

[1] Vgl. Geschichte des Kardinalats im Mittelalter, hrsg. von Jürgen Dendorfer und Ralf Lützelschwab, Stuttgart 2012 (Päpste und Papsttum 39), S. 480.

[2] Vgl. Jacques de Vitry, Histoire Occidentale, trad. par Gaston Duchet-Suchaux, introd. et notes par Jean Longère, Paris 1997, S. 32-37.

[3] Neben seinen Zeitgenossen, dem Zisterzienser Casearius von Heisterbach und dem englischen Theologen Odo von Cheriton, war Jakob von Vitry einer der ersten Autoren, die exempla in ihre Predigten integrierten. Vgl. Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum / Dialog über die Wunder, 1. Teilbd., eingel. von Horst Schneider, übers. und komm. von Nikolaus Nösges und Horst Schneider, Turnhout 2009, S. 57. Ausführlich zu den exempla Jakobs hat zuletzt  Marygrace Peters, Speculum vitae et fidei. The exempla as an historical source in medieval preaching for understanding its context and audience, with emphasis on Jacques de Vitry’s “Sermones Vulgares”, Diss. Boston 1993 gearbeitet.

[4] Franz J. Felten: Geschichtsschreibung cum ira et studio. Zur Darstellung religiöser Gemeinschaften in Jakob von Vitrys Historia occidentalis, in: Christliches und jüdisches Europa im Mittelalter, hrsg. von Lukas Clemens, Trier 2011, S. 83-120, hier S. 118.

[5] Ebda., S. 117. Weitere Kritik übt Felten etwa an der vagen Chronologie innerhalb des Werkes (S. 88 f.) und zumindest mit Verwunderung und leichtem Befremden konstatiert er die Vernachlässigung der Frauengemeinschaften einiger Orden (S. 108-111).

[6] Ebda., S. 118.

[7] John Frederick Hinnebusch, The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A Critical Edition, Fribourg 1972 (Spicilegium Friburgense 17), Kapitel II-V; VII, X, XXX-XXXI. Die Kapiteleinteilung in der Edition von Hinnebusch geht auf eine moderne Strukturierung des Textes zurück, die schon vom Editor (S. 20-24, 62-64) selbst kritisiert wurde, zuletzt auch von Felten, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 87 f.

[8] Hinnebusch, Historia (wie Anm. 7), VI, VIII, IX. Zitat aus Kapitel IX, Z. 9-10.

[9] Ebda., Kapitel XIIII-XXIX, XXXII.

[10] Ebda., Kapitel XXXIIII-XXXVIII.

[11] Hinnebusch, Historia (wie Anm. 7).

[12] Allerdings existiert eine Übersetzung ins Französische: Jacques de Vitry, Histoire Occidentale (wie Anm. 2). Als Beispiel für eine veröffentlichte englische Teilübersetzung ist Jessalynn L. Bird, Texts on hospitals. Translation of Jacques de Vitry, Historia Occidentalis 29, and edition of Jacques de Vitry’s sermons to Hospitallers, in: Religion and Medicine in the Middle Ages, ed. by Peter Biller and Joseph Ziegler, York 2001 (York studies in medieval theology 3), S. 109-134 anzuführen.  Des Weiteren wurden Übersetzungen von Briefen Jakobs: Jacques de Vitry, Lettres de la cinquième croisade, texte latin établi par G. Duchet-Suchaux. Trad. et prés. par R. B. C. Huygens, Turnhout 1998 (Sous la règle de Saint Augustin 5) und der Historia Orientalis: Jacques de Vitry, Histoire orientale, introd., édition critique et traduction par Jean Donnadieu, Turnhout 2008 (Sous la règle de Saint Augustin 12) ins Französische veröffentlicht. Eine Übersetzung der von Jakob verfassten Vita von Maria von Oignies ins Deutsche ist bei Brepols im Druck: Jakob von Vitry, Thomas von Cantimpré, Das Leben der Maria von Oignies, übers. von Iris Geyer, Turnhout [2014] (Corpus Christianorum in Translation 18).

[13] Vgl. etwa Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen des Mittelalters. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, 4. unveränd. Aufl., Darmstadt 1977, S. 171, Alfred John Andrea, Walter, archdeacon of London, and the Historia occidentalis of Jacques de Vitry, in: Church History, 50 (1981), S. 141-151, hier S. 141 f. und Felten, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 118.

[14] Vgl. Pascale Bourgain, Art. “Jakob von Vitry”, in: Lexikon des Mittelalters 5, Sp. 295. Grundmann, Religiöse Bewegungen (wie Anm. 13), S. 172 vermutete schon für 1216 eine Begegnung der beiden Männer in Perugia, wo zu dieser Zeit Papst Innocenz III. gestorben war.

[15] Überhaupt fällt die Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen zur Historia Occidentalis im Vergleich zur Historia Orientalis und zum Predigtwerk Jakobs auffallend gering aus, konsultiert man den RI-Opac. Als Standardwerk zum Autor und seinem Gesamtwerk ist immer noch Philipp Funk, Jakob von Vitry, Leben und Werke, Leipzig 1909 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 3) zu betrachten. Da seit dieser Studie jedoch über ein Jahrhundert vergangen ist, kann mit Spannung die Dissertation von Michael de Nève erwartet werden, der das Thema “Jacobus de Vitriaco. Wirken, Werk und Wirkung zwischen ‘cura animarum’ und ‘Curia Romana’” bearbeitet.

[16] Eine Übersetzung ist freilich immer nur als Übersetzungsangebot zu betrachten, da sie zwangsläufig bereits interpretiert, sobald sie sich aus oft vielfältigen Möglichkeiten für eine Wortbedeutung entscheidet. Nochmals sei der Griff zum lateinischen Text für eine detailliertere Beschäftigung mit der Quelle empfohlen.

[17] Angabe wie folgt: Hist. Occ. [Kapitelnummer], ed. Hinnebusch, S. [Seitenzahl(en)].

[18] Hist. Occ. I, ed. Hinnebusch, S. 73-77.

[19] Jes 1,30.

[20] Ps 93,1 (Ps 94,1).

[21] 2 Kor 11,26.

[22] Ps 43,25 (Ps 44,26).

[23] Klgl 1,10.

[24] Zef 3,3.

[25] Jes 1,5.

[26] Klgl 2,21.

[27] Klgl 1,5.

[28] Nah 1,10.

[29] Hist. Occ. II, ed. Hinnebusch, S. 78 f.

[30] Lk 6,35.

[31] Lev 22,8.

[32] Ps 105,37 (Ps 106,37).

[33] Lev 25,25-27.

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Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2529

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Chinesische Namen für europäische Staaten: Wie entstehen “Tugend-Land”, “West-Klasse-Zahn” etc.?

Manches geistert monatelang durchs Netz – wie eine Landkarte, die am 25. April 2013 im blog haonawshaokao auftauchte und die es zuletzt sogar unter die The world explained: Maps revealing everything you need to know[1] schaffte.
In dieser Karte werden die im Chinesischen geläufigen Bezeichnungen für die Staaten Europas ‘übersetzt’, indem die/eine wörtliche Bedeutung der zur Wiedergabe der Namen verwendeten Schriftzeichen angegeben wird. So wird aus 英國 Yīngguó [England] in der Karte “Braveland” – denn 英 yīng bedeutet (unter anderem) ‘Held/Heldin’ und 國 guó ‘Land, Staat’, aus 挪威 Nuówēi [Norwegen] “Move Prestige” – denn 挪 nuó bedeutet (u.a.) ‘rücken, verrücken’ und 威 wēi ‘Autorität’, aus 芬蘭 Fēnlán [Finnland] “Fragrant Orchid” – denn 芬蘭 fēn bedeutet ‘Duft’ und 蘭 lán ‘Orchidee’ etd. etc.
Die wörtlichen Übersetzungen sind beim Vokabellernen vielleicht eine brauchbare Eselsbrücke, gesammelt auf einer Karte scheinen sie eine (weitere) skurrile Facette dieser rätselhaften Sprache aufzuzeigen.[2]

Wie werden fremde Name und speziell Ländernamen im Chinesischen wiedergegeben?
Der Silbenbestand des chinesischen ist begrenzt, viele der in anderen Sprachen gebräuchlichen Silben existieren im Chinesischen nicht – also braucht es kreative Läsungen: Bei Ländernamen erscheint mitunter die Übersetzung als einfachste Möglichkeit – z.B.: Island = 冰島 Bīngdăo, wörtlich “Eis-Insel”: 冰 bīng= Eis,  島 dăo= Insel. In der Regel wird eine lautliche (oder lautmalende) Annäherung versucht – z.B.: Dänemark = 丹麦 Dānmài, Malta = 馬爾他 Máèrtā, Rumänien = 羅馬尼亞 Luómǎníyà, Schweden = 瑞典 Ruìdiǎn[3]

Aber warum heißen die Niederlande im Chinesischen weiterhin 荷蘭 Hélán?

Häufig werden die chinesischen Namen westlicher Staaten mit 國 guó [Staat, Nation, Land, Reich] gebildet. Dabei wird aus einer lautlichen Annäherung an den Namen die erste Silbe genommen und mit 國 guó kombiniert:

  • 德國 Déguó ‘Deutschland’ – 德 =’Tugend’, ‘Moral’ – aber eigentlich ist 德 eine Abkürzung von 德意志 déyìzhì, einer lautmalenden Annäherung an ‘deutsch’.
  • 俄國 Éguó bezeichnet, wobei 俄 é als Abkürzung für 俄羅斯 éluósī ‘russisch’ aufzufassen ist. Die Russische Föderation wird mit 俄羅斯聯邦 Éluósī liánbāng “Russische Föderation” bezeichnet.[4]
  • 法國 Făguó ist Frankreich – 法 =’Recht’, ‘Gesetz’[5]

Diese Wortbildungen sind jüngeren Datums und kamen im 19. Jahrhundert in Gebrauch für Staaten, die in China nun vermehrt auftraten und mit den chinesischen Behörden wiederholt in Kontakt traten.

Üblicher war (und ist) die lautliche Annäherung bzw. lautmalende Wiedergabe von Namen – wovon schon die früheste bekannte chinesische Weltkarte im europäischen Stil Zeugnis gibt: die so genannte “Ricci-Weltkarte” gibt1602 in Beijing gedruckte Kūnyú Wànguó Quántú 坤輿萬國全圖 [wörtlich ‚Gesamtkarte der 10.000 Länder der Welt‘, ital. "Carta Geografica Completa di tutti i Regni del Mondo'][6], die im Auftrag des Wanli 萬曆-Kaisers[7] 1602 gedruckt wurde.[8]

坤輿萬國全圖》左部 (1602)

坤輿萬國全圖》左部 (1602)
[Wikipedia-Montage der Panele 1-3 (Ausschnitt, bearbeitet)]
Quelle: Library of Congress, Geography and Map division g3200 ex000006Za

Einige Beispiele (in dem Ausschnitt markiert):

  • Spanien heißt auf der Ricci-Karte 以西巴尼亞 yǐxībāníyà, modern 西班牙 Xībānyá[9] – lautmalend von lat. ‘Hispania’/span. ‘España’/ital. ‘Spagna’
  • Frankreich  heißt auf der Ricci-Karte 拂郎察 fúlángchá, lautmalend von span. ‘Francia’/ital. ‘Francia’/frz. ‘France’
  • die Apeninnen-Halbinsel wird mit 意大利亞 yìdàlìyà bezeichnet – die Bezeichnung des Staates Italien ist heute 意大利 Yìdàlì.

Jedes der bei der Wiedergabe fremder Namen verwendeten Schriftzeichen hat eine Bedeutung, die jedoch bei der Wiedergabe von geographischen Namen in der Regel zurücktritt.[10] Erkennt man also nicht, dass hier ein Land gemeint ist, könnte beim Übersetzen man durchaus blumige, aber wenig sinnvolle Bedeutungen finden …

 

 

  1. Sara Malm/Daily Mail: “The world explained: Maps revealing everything you need to know, from the longest straight line you can possibly sail, to where rubber ducks wash up if you dump them in the sea” (PUBLISHED: 10:13 GMT, 15 November 2013 | UPDATED: 11:48 GMT, 15 November 2013; Online: http://www.dailymail.co.uk/news/article-2507719/The-world-explained-maps-revealing-need-know.html <Zugriff: 14.11.2013>.
  2. Das Thema wird immer wieder aufgegriffen, z.B. DIE WELT, 24.4.2011: “Gestatten, mein Name ist ‘Kurze  Hose’!” <Zugriff: 16.11.2013> oder CRIonline 2011-03-09 16:47:37:  “Namen sind Schall und Rauch? Hallo, ich heiße Kiwi.”<Zugriff: 16.11.2013>.
  3. Die Beispiele Malta und Scheden illustrieren ziemlich deutlich, dass die Behauptung, Chinesen kennen kein ‘r’ – die das Beispiel Rumanänien zu bestätigen scheint – , unsinnig ist … aber das ist ein ganz anderes Thema.
  4. 聯邦 liánbāng = Bund, Staatenbund, Föderation.
  5. BTW: Die gängige Bezeichnung für die Vereinigten Staaten von Amerika ist  美國 Měiguó,  美 měi =’schön, hübsch, anmutig.
  6. Zur Entstehung s. Benjamin A. Elman: On Their Own Terms. Science in China, 1550-1900 (Cambrdige, Mass./London: Harvard University Press 2005), 123-133.
  7. Míng Shénzōng 明神宗, persönlicher Name Zhū Yijun 朱翊鈞, 1563-1620, regierte 1572-1620 unter der Devise 萬曆.
  8. Ricci hatte, wie John Day herausgearbeitet hat, vor 1603 vier Versionen chinesischer Weltkarten vorgelegt, die Augabe von 1602 war die größte und detaillierteste Version. Vgl. John D. Day, “The Search for the Origins of the Chinese Manuscripts of Matteo Ricci’s Maps”, Imago Mundi 47 (1995), pp. 94–117. DOI: 10.1080/03085699508592815; http://www.jstor.org/stable/1151306.
  9. 西 ‘Westen’, 班 bān ‘Klasse’, ‘Gruppe’, ‘Zahn’
  10. Anders ist das bei manchen Firmen- und Markennamen, wo mitunter versucht wird, neben einer lautlichen Annäherung auch eine sinnvolle Bedeutung zu finden, die dem Image der Marke zuträglich ist -  wie z.B. 可口可乐 Kĕkŏu Kĕlè ['wohlschmeckend-erfreulich'] oder auch der chinesische Name für die Schreibwaren von Montblanc, 万宝龙 wànbǎolóng ['10.000-Schätze-Drache'] etc.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1144

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Hausarbeit angefertigt, abgegeben und korrigiert. Nächster Schritt: Wikipedia-Artikel ? Bericht einer experimentalen Wikipedianerin.

 

Setzt man sich an den Computer, um einen Wikipedia-Artikel anzulegen oder zu ergänzen, so muss eine überzeugte Motivation die treibende Kraft eines solchen Unternehmens sein. In meinem Fall liegt Letztere bereits in den ausklingenden Jahren der Sekundarstufe vor.

Mit dem starken Appell der Lehrer an die fortgeschrittenen Schüler, sich vor allem bei der Referatsvorbereitung eines wissenschaftlich basierten Recherchierens anzueignen, ging der Hauptkritik-Punkt gegen Wikipedia einher; nämlich der auf die Frage der Autorität bezogene: Der Inhalt der jeweiligen Artikel sei höchst unzuverlässig, denn jedermann könne ohne Sanktion alles Mögliche veröffentlichen. Diese allgegenwärtige Sentenz gegen die Online-Enzyklopädie nahm ich schon damals nicht so einfach hin.

Die Tatsache, dass jedermann bei Wikipedia mitwirken könnte, weckte mein Interesse, wirkte sogar verlockend auf mich ein. Somit würde die Vorstellung, irgendwann in der Zukunft, einen eigenen Wikipedia-Artikel zu schreiben, bei mir als Hintergedanke bleiben. Ich spielte von nun an mit der Idee, mich zu einer Art Expertin in einem Thema zu entwickeln und dazu meinen Beitrag für Wikipedia zu leisten. Zur Herangehensweise eines solchen ambitionierten Planes wusste ich als Neuntklässlerin nichts Weiteres.

Erst, als ich mich in den einleitenden Universitätssemestern mit einer tiefgreifenden, kritisch-reflektierten Form der Recherche konfrontiert sah, erschloss sich mir die Methode zur Erlangung wissenschaftlicher Expertise: in der Form der Planung und Verfertigung von Hausarbeiten. So geschah es, dass meinem ersten Beitrag für die Online-Enzyklopädie das Thema einer wissenschaftlichen Hausarbeit zugrundelag.

Bevor ich mich mit der englischen Schriftstellerin Anna Barbauld im Rahmen ihrer theoretischen Schriften zur literarischen Ästhetik im 18. Jh. beschäftigte, war mir der Name vollkommen unbekannt. Der ganze Prozess zur Gestaltung der Arbeit, die Sichtung von Bibliographien, Quellenauswahl und die darin investierte Einlesezeit, ergänzt durch meine eigenen Auslegungen zum Thema, bildeten nicht nur die Grundlage meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung, sondern rüsteten mich mit einer beträchtlichen Menge an biographischen Informationen zu der Autorin aus, welche ich nun für den besagten ersten Wiki-Artikel gut gebrauchen konnte.

Abgesehen von der Tatsache, dass ich diesen Erkenntniszuwachs zum Leben Barbaulds erlangt hatte, waren mir die unterschiedlichen Meinungen und Interpretationen der in der Sekundärliteratur vertretenen Autoren geläufig geworden. Ich konnte sie alle als Referenzen heranziehen und dies verlieh mir das Sicherheitsgefühl, das beim eigenen Wikipedia-Debüt – besonders in Bezug auf das Einhalten vom Grundprinzip der Überprüfbarkeit – so entscheidend ist.

Nichtsdestotrotz bestanden noch gewisse Vorbehalte und Sorgen im Zusammenhang mit dem Schreiben.

Das Erste war die Frage nach der Relevanz des Themas für die deutsche Version der Wikipedia. Zwar lag bereits ein kleiner Eintrag zu Barbauld auf Deutsch vor, ich konnte mir allerdings nicht sicher sein, ob sie als für die deutsche Literatur ausreichend relevant betrachtet werden würde. Die kargen Bemerkungen, die einen knappen Lebenslauf Barbaulds wiedergaben, schienen bereits dafür eine Antwort parat zu haben. Eindeutig fehlten Verweise im Text und die Quelle des einzigen Bildes im Artikel wurde nicht angegeben. Ich fragte mich sogar, warum dieser Artikel wegen der fehlenden Relevanz nicht bereits gelöscht worden war.

Verbunden mit diesen Defiziten war mein Zögern, den bereits vorhandenen Text zu ändern bzw. zu korrigieren. Ich hatte nämlich den Eindruck, ich würde aggressiv wirken oder den Autor des Artikels beleidigen, wenn ich in seinen Text eingreifen würde. Dabei schwirrte immer noch die Frage um mich herum: Hatte ich überhaupt einen wissenschaftlich fundierten Anspruch, der mich dazu berechtigte, inhaltliche Änderungen vorzunehmen?

Dazu kam noch der sprachliche Aspekt zum Tragen. Da Deutsch nicht meine Muttersprache ist, und ich mich meines allzu komplizierten Ausdrucks bewusst bin, war ich mir nicht sicher, inwiefern mein Text den enzyklopädischen Kriterien der Verständlichkeit und Sachlichkeit  entsprechen würde.

In Anbetracht der aufgelisteten Aspekte entschied ich mich dazu, meinen ersten Wikipedia-Artikel als ein Experiment zu betrachten. Unabhängig davon, wie er in die Wiki-Community ankam, ob er gelöscht werden würde oder nicht, alles mögliche Feedback würde für mich produktiv sein, denn ich würde so oder so die Funktionsweise der Online-Enzyklopädie aus der Perspektive eines Mitwirkenden kennenlernen. Daran lag es mir am meisten.

Die Motivation, mich endlich an das Schreiben zu machen, nahm beim Gedanken, ich könnte nicht bloß meine Kenntnisse im Bereich auf die Probe stellen, sondern auch mit Experten und anderen Interessenten am Thema in Kontakt treten, deutlich zu. Außerdem bedeutete diese Aufgabe eine praktische Umsetzung des sonst theoriebehafteten akademischen Arbeitens. Es handelte sich hier nicht mehr um eine persönliche Leistungserbringung, welche nach der Benotung ihre Bedeutung einbüßte, sondern um eine Möglichkeit, langhaltende, qualitative Informationen für eine breite Leserschaft zur Verfügung zu stellen. In diesem Sinne stellte ich mir einige Ansprüche, nach denen ich mich für einen pflichtbewussten Umgang beim Schreiben richten wollte.

Ich hatte bereits festgestellt, dass die spanische Version des Artikels, welcher, wie der  englische auch, ausgezeichnet wurde, eine direkte Übersetzung des englischen ist. In dem Moment überlegte ich, dasselbe für den deutschen Artikel zu versuchen, entschied mich aber dagegen. Es würde mir wenig bringen, eine reine Übersetzung zu schreiben, wenn ich mich eigentlich als unabhängige Verfasserin versuchen wollte.

Mit dieser Entscheidung musste ich eine Komplikation in Kauf nehmen: den dadurch erhöhten Zeitaufwand. Obwohl ich die thematischen Unterkategorien des englischen Artikels übernahm, legte ich den eigentlichen Inhalt fest. Dies bedeutete, dass ich mir zuerst der Informationssammlung widmen und eine Auswahl treffen sollte, bevor ich zum eigentlichen Schreiben kommen konnte. Zwar hatte ich mit der Hausarbeit gewisse Vorarbeiten geleistet, es bestand aber, wie eigentlich zu erwarten war, keine direkte Entsprechung zwischen beiden Texten, denn die jeweiligen Ansprüche waren völlig andere.

Wenn ich dem Grundprinzip der NOR (Keine Theoriefindung) folgen sollte, so musste ich den ganzen argumentativen Teil meiner Hausarbeit ausschließen. Nur die Absätze, welche mit der historischen Einbettung und mit dem allgemeinen Kontext zu tun hatten, konnte ich teilweise übernehmen. Im Grunde erwies sich mein Artikel als ein völlig neu konzipierter Text, der nur das Thema mit der Hausarbeit gemeinsam hatte. In diesem Sinne fungierte Letztere als eine Zwischenhaltestelle auf dem Weg zur Expertise in meinem Themenbereich.

Die Tatsache, dass ich das Recherchieren fortsetzen musste, entpuppte sich bald als ein Vorteil, denn bald konnte ich auf wichtige Bezüge auf die deutsche Literatur verweisen, die in der englischen Version nicht vorhanden waren und die zur Relevanz des deutschen Artikels beitrugen. So zum Beispiel konnte ich die These von einem Kritiker aufführen, der in Nietzsches Werk Also sprach Zarathustra Parallelen zu Barbaulds erfolgreichem Kinderbuch Hymns in Prose for Children vermutet.

Was die technischen Aspekte der Textgestaltung angeht, so fand ich die Formatierung etwas gewöhnungsbedürftig. Oft war es mir nicht klar, wie einige Absätze – zum Beispiel, wo ein langes Zitat aufgeführt werden sollte – genau zu gestalten waren, oder ob die Übersetzung vom Zitierten einer besonderen Markierung bedurfte. In solchen Fällen habe ich aus anderen Beispielartikeln die Formatierung übernommen oder wenn ich keine Beispiele fand, richtete ich mich nach eigenem Urteil.

Wenn es um das Übersetzen der Gedichte ging, so musste ich es selber übernehmen, denn ich fand keine deutsche Übersetzungen vor. Hier musste ich mich fragen, ob es in solchen Fällen Regelungen gibt, oder ob man einfach die volle Übersetzungsfreiheit hat.

Auch wusste ich manchmal nicht, welche Begriffe zu verlinken waren und welche als eindeutig genug galten. Dies war beim Begriff  „Vernunft“ der Fall. „Vernunft“ hat bei Wikipedia einen eigenen Artikel, aber der Terminus schien mir so selbstverständlich zu sein, dass ich auf die Verlinkung verzichten wollte. Wiederum ergaben sich mehrmals Fälle, in denen ein Verweis nötig und verständnisfördernd gewesen wäre, wo aber der deutsche Artikel dazu nicht vorhanden war.

Ich fürchte, hier bin ich etwas willkürlich vorgegangen und habe oft „leere“ Begriffe verlinkt, die dann in der veröffentlichten Version mit der roten Markierung gekennzeichnet wurden. An dieser Stelle nahm ich mir vor, die betreffenden Artikel zu ergänzen, sobald der Hauptartikel veröffentlicht und frei zugänglich war.

Zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, dass bis mein Beitrag freigeschaltet wird, es noch etwas länger dauern kann. Bei der Einsicht in die Versionsgeschichte merkte ich, dass mehr als ein Jahr vergangen war, bevor der angelegte Artikel gesichtet und freigeschaltet wurde. Im Nachhinein würde ich erfahren, dass dies dadurch zu erklären war, dass zur Zeit der Erstellung des Artikels in der deutschen Wikipedia keine Sichtung bzw. Freischaltung nötig war und dass viele der ersten Beiträge erst nachträglich freigeschaltet wurden.

Hier fragte ich mich, woran es liegen kann, dass manche Artikel deutlich schneller als andere freigeschaltet werden, ob es nur auf den Umfang zurückzuführen ist oder ob gewisse Themen von den dafür Zuständigen bevorzugt werden. Dies würde in dem Sinne weitere Fragen zur Relevanz und Autorität aufwerfen.

Sehr schnell war allerdings das Feedback von Amygdala77, einer Expertin im Themenbereich Geburtshilfe, die auch viele Übersetzungen aus dem Englischen unternommen hat. Sie änderte knapp 21 Stunden nach Veröffentlichung den Begriff „Großbritannien“ in „Vereinigtes Königreich und Irland“ um, ergänzte die Verlinkung zu dem Namen William Congreve mit der Bezeichnung „Autor“, damit eine volle Entsprechung zu dem deutschen Artikel zu Congreve besteht und korrigierte einen Rechtschreibsfehler.

Obwohl ich für diese Korrekturen sehr dankbar war und davon lernen konnte, dachte ich in meinem experimentellen Vorhaben mit Wikipedia nicht so weit gekommen zu sein wie ich mir es gewünscht hatte. Da Vieles davon abhängig war, ob mein Beitrag zugelassen wurde oder nicht, ließ die anstehende Sichtung die meisten Fragen, die ich am Anfang hatte, offen.

Dies würde sich mit der Hilfe von Wikipedia-Administrator Marcus Cyron ändern. Nachdem er meinen Erfahrungsbericht zum Artikelschreiben gehört hatte, beschäftigte er sich mit meinem Beitrag und erklärte mir, welche Aspekte ich noch beachten sollte – darunter der Nachimport der englischen Versionsgeschichte, da ich den ersten Absatz im Artikel direkt aus dem Englischen übersetzt hatte, und weitere Details wie die Jahreslinks für deutschsprachige Literaturseiten.

Eine besonders schöne Überraschung war es, als ich in der Woche nach meinem Vortrag meinen Artikel freigeschaltet fand. Ohne Zweifel hatte ich das Herrn Cyron zu verdanken, der mich in der Korrekturphase meines Artikels so stark unterstützt hatte. Sobald ich auf ein Hindernis kam, oder meine Arbeit am Verlinken unterbrechen musste, stellte ich fest, dass Herr Cyron bereits bescheid wusste und selbst weitermachte, wo ich aufgehört hatte. Eine bessere Betreuung als Wikipedia-Debütant kann man sich gar nicht wünschen. Er machte uns allen im Seminar Mut, weitere Artikel bei Wikipedia zu schreiben und erinnerte uns daran, wie nützlich solche Beiträge selbst für andere Artikelverfasser im selben Themenbereich sein können. Damit wurde meine anfängliche Angst, in bereits verfasste Texte einzugreifen, erheblich gemindert.

Nach dem aufwendigen Verfassen des Artikels ist mir auch klar geworden, dass diese Leistung keineswegs zu Ende geführt wurde, denn der Artikel selbst ist Teil eines langen Projektes, eines sogenannten „work in progress“, bei dem ich mir die Beteiligung von anderen Interessenten erhoffe, um zu einem virtuellen Gespräch zum Thema kommen zu können. Da ich mich in der Zukunft mit Barbaulds Wirken in der Literatur zu beschäftigen beabsichtige, fände ich einen regen Austausch anhand der Änderungsvorschläge an dem Artikel äußerst hilfreich.

Ich arbeite jetzt an meinem Artikel weiter und versuche die „leeren“ Links mit neuen Einträgen zu füllen. Ganz eindeutig fehlt mir noch Übung, aber dafür habe ich die Unterstützung vom Team der Wikipedianer, deren schnelles Reaktionstempo, umfassende Expertise und Hilfsbereitschaft den Aufwand erleichtern und Mut zum Weiterschreiben machen.

 


 

Quelle: http://wppluslw.hypotheses.org/448

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Ein Bild sagt mehr … (V): Confucius Sinarum Philosophus

Confucius sinarum philosophus, sive, Scientia sinensis latine exposit (1687) ist eine annotierte Übersetzung von drei der Vier Bücher (sishu 四書) ins Lateinische. Der Band fasst die Arbeiten zahlreicher europäischer China-Missionare zusammen, die zum Teil in separaten Ausgaben erschienen waren; das Vorwort ist von Philippe Couplet (1623-1693) unterschrieben, stammt allerdings zumindest teilweise aus der Hand von Prospero Intorcetta (1626–1696), die Übersetzungen sind unter anderem von Christian Wolfgang Herdtrich (1625–1684) und François de Rougemont (1624-1676). [1]

Der Band enthält

Confucius Sinarum Philosophus

Confucius sinarum philosophus, sive, Scientia sinensis latine exposita (1687)
Internet Archive

  • eine Widmung an Ludwig XIV in Briefform
  • eine Karte von China (die 15 Provinzen der Ming-Zeit)
  • eine umfangreiche Einleitung, die Angaben zur Entstehung des Werkes enthält
  • eine Vita des Kong Qiu 孔丘 (vermutlich  551-479 v. Chr.) der Meister Kong (Kongzi 孔子) genannt wurde – woraus im Westen Konfuzius/Confucius wurde
  • die Übersetzungen von drei der “Vier Bücher”
    • eine Übersetzung von Daxue 大學 (“Das große Lernen”)
    • eine Übersetzung der Lunyu 論語 (“Gespräche”)
    • eine Übersetzung von Zhongyong 中庸 (“Mitte und Maß”)[2]
  • Couplets Tabulae Chronologicae Monarchiae Sinicae, eine tabellarische Geschichte Chinas in 2 Teilen, Teil 1 von 2952 v. Chr. bis zur Zeitenwende, Teill 2 bis ins Jahr 1683.

Der Vita des Kong Qiu ist eine Illustration vorangestellt, die zum Archetyp westlicher ‘Konfuzius’-Abbildungen wurde. Die Darstellung zeigt eine überlebensgroße stehende Figur in Frontalansicht vor einer Bibliothek.

Die Figur wird durch die Legende unterhalb des Bildes als “孔伕子 CVM FU TSE” identifiziert – und für den des Chinesischen kundigen durch die Schriftzeichen an der Rückwand (s.u.). Sie ist in wallende Gewänder mit fast bis zum Boden reichenden Ärmeln gehüllt und hält in den Händen Hand ein hu 笏 (auch huban 笏板 oder shouban 手板), eine lange, schmale Bambustafel, die von Beamten bei Audienzen benutzt wurde. Die Gesichtszüge sind wenig asiatisch, besonders auffällig ist der üppige Vollbart.

Die Bibliothek entspricht der in Europa vertrauten Form, die dargestellten Bücher sind dicke, auf Bünde geheftete, in Leder gebundene Folianten, die teils in den Regalen stehen, teils liegen. Chinesische Bücher wirken auf den europäischen Betrachter weniger beeindruckend und wenig repräsentativ – es sind überwiegend kleinere Formate/Hefte in der seit dem 16. Jh. verwendeten sog. “Japanbindung” (xianzhuang 綫裝). Da die Hefte weiche Einbände haben, werden werden mehrere Hefte in einem steifen Umschlag (einfacher Wickel-Umschlag oder Schachteln – jeweils mit Knebelverschlüssen) zusammengefasst.

Auf dem Giebel wird diese Bibliothek bezeichnet – in Schriftzeichen 國學, mit Transkription ‘qúĕ hiŏ’ (guoxue) und Übersetzung “Gymnasium Imperii”. Hinter der Figur des Kong Qiu sind an einem langen Tisch Schreiber an der Arbeit. Einzelne Regalböden sind beschriftet, auf den Brettern in Transkription, über den Büchern ‘schweben’ Schriftzeichen.

Links von oben nach unten:

  • 書經 Xu-Kim  (Shūjīng - “Buch der Urkunden”)
  • 春秋 Chun Cieu (Chūnqiū – “Frühlings- und Herbst-Annalen)
  • 大學 ta hio (Dàxué – “Das große Lernen”)
  • 中庸 chum yum (Zhōngyóng – “Mitte und Map”)
  • 論語 Lun yu (Lùnyǔ – “Gespräche”)

Rechts von oben nach unten:

  • 禮記 Li Ki (Lǐjì – “Aufzeichnungen über die Riten”)
  • 易經 Ye Kim (Yìjīng – “Buch der Wandlungen”)
  • 繋辭  Hi Cu (Xici – “Abhandlungen zu den Urteilen”)
  • 詩經 Xi Kim (Shījīng – “Buch der Lieder”)
  • 孟子 mem cu (Mèngzǐ – “Menzius”)

Von dem erst in der Han-Zeit entstandenen Xici abgesehen, sind das die Sìshū Wŭjīng 四書五經, die “Vier Bücher und Fünf Klassiker”, vor 300 v. Chr. entstandenen Texte, die den konfuzianischen Kanon bilden.[3]

Unterhalb der Bücherregale stehen jeweils neun dreieckige Gedenktafeln (páiwèi 神位) mit den Großjährigkeitsnamen (zi 字) von einigen Schülern des Kongzi[4], die teilweise in den Schraffuren fast untergehen – zu erkennen sind u.a. links (von vorne): 子魯 Zilu (i.e. Ran Ru 冉孺), 孟子 Mengzi, 子貢 Zigong (i.e.  Duanmu Ci 端木賜) und 子遲 Zichi (i.e. Fan Xu 樊須).

An der Rückwand, die zu einem Garten geöffnet scheint, stehen große Schrifzeichen, die – zusammen gelesen – einen Hinweis auf den Dargestellten geben: 仲尼天下先師 Zhong Ni, tianxia xianshi (“Zhongni, der erste Lehrer der Welt”). Zhongni 仲尼 war der Großjährigkeitsname (zi) des Kong Qiu, xianshi 先師 “erster Lehrer” ist eine häufige Bezeichnung für ihn.[5]

Statue des Kong Qiu im Beijing Kongmiao 北京孔庙 Foto: Georg Lehner 2011

Statue des Kong Qiu im Beijing Kongmiao  北京孔庙 (2011)
Foto: © Georg Lehner

Von den Schriftzeichen abgesehen, hat die Darstellung wenig ‘Chinesisches’ – und doch ähnelt diese wohl früheste Darstellung des ‘Konfuzius’ der auch heute noch in China vertrauten Darstellung des Kong Qiu.

 

  1. Zum Entstehungskontext und zur Veröffentlichung vgl. das Kapitel “Printing Confucius in Paris” in: Nicholas Dew: Orientalism in Louis XIV’s France (Oxford: Oxford University Press 2009) 205-233. Digitalisate von Confucius Sinarum Philosophus → Bibliotheca Sinica 2.0
  2. Es fehlt somit das vierte der Vier Bücher,  Mengzi 孟子 (“Mencius”) – die Übersetzung von Mengzi erschien 1711 in den Sinensis Imperii Libri Classici Sex des François Noël. Dazu David E. Mungello: “The First Complete Translation of the Confucian Four Books in the West”. In: International Symposium on Chines e-Western Interchange in Commemoration of the 400th Anniversary of the Arrival of Matteo Ricci, S.J. in China (Taipei 515-1983), vgl. Werner Lühmann, Konfuzius in Eutin. Confucius Sinarum Philosophus – Die früheste lateinsiche Übersetzung chinesischer Klassiker in der Eutiner Landesbibliothek (=Eutiner Bibliothekshefte 7, Eutin: Eutiner Landesbibliothek 2003) 45 f.
  3. Vier Bücher: Daxue 大學 (“Das große Lernen”), Lunyu 論語 (“Gespräche”), Zhongyong 中庸 (“Mitte und Maß”),  Mengzi 孟子 (“Mencius”); Fünf Klassiker: Shijing 詩經 (“Buch der Lieder”), Shujing 書經 (“Buch der Urkunden”), Liji  禮記 (“Aufzeichnungen über die Riten), Yijing 易經 (“Buch der Wandlungen”), Chunqiu 春秋 (“Frühlings- und Herbstannalen”).
  4. Nach Sima Qian hatte Kongzi Tausende von Schülern, doch nur 77 meisterten die Lehren, einige dieser Schüler werden in den Lunyu genannt.
  5. Lühmann (2003) 35 übersetzt “Der mittlere Ni”.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/607

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