Frankreich im centenaire 2014: 100 Jahre Erster Weltkrieg

 

Der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs wirft seine Schatten voraus. Das gilt selbstverständlich nicht nur für Frankreich. Auch in Deutschland bereitet sich eine Interessenkoalition der „üblichen Verdächtigen“, bestehend aus Museen, Medien und Wissenschaft mit Ausstellungen, Fernseh-Dokus, Tagungen, Publikationen etc. auf den großen Moment vor, dem die Logik eines runden Jahrestages in der Aufmerksamkeitsökonomie der Öffentlichkeit einen besonderen Platz verschafft.

Doch in nur wenigen Ländern sind die Jahre 1914–1918 so im kollektiven Bewusstsein verankert wie in Frankreich, wo der Erste Weltkrieg nicht einfach nur histoire, sondern viel stärker noch mémoire ist und damit eine diskursive Sinnressource darstellt, die für Gegenwart und Zukunft gleichermaßen Orientierung gibt.

Verschiedene Faktoren haben dazu beigetragen, dass sich der Erste Weltkrieg in den letzten 30 Jahren geradezu zum Ursprungsmythos des modernen Frankreich entwickelt hat: Im Kontext des alle westlichen Länder betreffenden memory booms, in dessen Folge „Erinnerung“ – mit den Worten Martin Sabrows – die „Pathosformel der Gegenwart“ geworden ist, entstand vor allem, wenngleich keinesfalls nur in den dreizehn vom Krieg betroffenen départements im Nordosten des Landes, ein regelrechter „activisme 14–18“ (Nicolas Offenstadt), der sich aus ganz unterschiedlichen Motivationen heraus dem Erhalt der Spuren des Krieges verschrieb. Ebenfalls eine Rolle spielte das ansteigende Interesse an der Familiengeschichte (Genealogie-Forschung), die den Ersten Weltkrieg mit seinen in Frankreich signifikant höheren Opferzahlen als stärkeren Einschnitt erscheinen ließ als die Jahre 1939–1945. Parallel dazu schwächte sich durch die sich durchsetzende kritischere Sicht auf das Verhalten der Franzosen in den Jahren des Zweiten Weltkriegs die Bindekraft des résistance als französische Master-Erzählung ab.

Demgegenüber zeichnet sich das Erste-Weltkriegs-Gedenken durch eine weitgehende Anschlussfähigkeit aus. Das gilt einerseits für tendenziell eher linke Diskurse, die z. B. um die fusillés pour l’exemple, d. h. die von der Militärjustiz während des Krieges hingerichteten französischen Soldaten, kreisen und auf einer allgemeinen Ebene die vollkommene Unterwerfung des Individuums unter den totalen Staat der Kriegsjahre beklagen. Ebenso lassen sich andererseits eher rechte Deutungen integrieren, welche die cohésion nationale der Kriegsjahre, also den solidarischen Zusammenhalt der Nation in den langen Jahren des Kriegs grundsätzlich positiv bewerten. Unabhängig von diesen Differenzen lässt sich aber festhalten, dass eine opferzentrierte Sicht bei weitem dominiert. Der Krieg gilt als nationale und europäische Katastrophe und nicht das Ende, d. h. der Sieg, steht im Vordergrund, sondern das Gedenken an seine Schrecken, stets verbunden mit einem emotionalen Plädoyer für Frieden und Völkerverständigung und – auf der politischen Ebene – einem klaren Bekenntnis zur europäischen Integration.

Der centenaire ist also wichtig, er ist nicht einfach nur ein runder Jahrestag wie in Deutschland, er ist ein Schlüsselmoment, an dem sich lokale, regionale wie auch nationale Identitäten kristallisieren. Ein Moment der Selbstreflexion, an dem die großen Fragen gestellt (und idealerweise beantwortet) werden, was es eigentlich heißt, citoyen in Frankreich und Franzose in Europa zu sein. Der häufige Vergleich des centenaire 2014 mit dem bicentenaire der Französischen Revolution von 1989 illustriert jedenfalls eindringlich den zentralen Stellenwert des Ersten Weltkriegs in der politischen Kultur im Frankreich der Gegenwart.

Es überrascht daher nicht, dass die französischen Planungen für das kommende Jahr schon seit einiger Zeit auf Hochtouren laufen. Bereits im März 2011 gab Präsident Nicolas Sarkozy den Auftrag, mit den Programmüberlegungen zu beginnen, und ein daraufhin entstandener, nach seinem Verfasser Joseph Zimet benannter Bericht definierte im September des gleichen Jahres die großen Linien der Gedenkfeierlichkeiten. Im „Rapport Zimet“ werden die folgenden Weichenstellungen vorgenommen: Zum einen erfolgt eine grundsätzliche Einteilung der Gedenkfeierlichkeiten in verschiedene Phasen. Während im Jahr 2014 der (Zentral-)Staat die Federführung übernimmt, sollen in den ja ebenfalls mit zahlreichen centenaires gesättigten Jahren 2015–2017 collectivités territoriales (régions, départements) und Zivilgesellschaft die Initiative übernehmen, um z. B. der symbolisch wichtigen Schlachten von Verdun, der Somme und dem Chemin des Dames zu gedenken. Zum Ende des Gedenkzyklus, 2018/2019, soll dann Paris wieder das Heft in die Hand nehmen, wobei es für diese Phase noch keine konkreteren Vorstellungen gibt. Diese Arbeitsteilung ist sicher auch vor dem Hintergrund einer angespannten Kassenlage zu verstehen. In erster Linie spiegelt sie aber die Tatsache wider, dass der centenaire keinesfalls eine von oben verordnete Angelegenheit ist, sondern dass es ganz im Gegenteil auf der lokalen wie regionalen Ebene eine Vielzahl von Initiativen und Projekten gibt, die in der Summe das Engagement des Zentralstaats bei weitem überschreiten.

Zum anderen setzt der Rapport Zimet sehr stark auf die Internationalisierung des Gedenkens im Allgemeinen und auf einen deutsch-französischen Schwerpunkt im Besonderen. So wird ein „solider erinnerungskultureller deutsch-französischer Sockel“ geradezu zur Voraussetzung des Gelingens des centenaire stilisiert – ein angesichts des vollkommenen Fehlens eines öffentlichen Weltkriegs-Gedenkens in Deutschland wohl nicht unproblematisches Postulat, das gleichwohl die hohe symbolpolitische Bedeutung des Kriegsgedenkens verdeutlicht: Vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzkrise stellt der centenaire  aus französischer Sicht eine hervorragende Gelegenheit dar, die Solidität und Dynamik der deutsch-französischen Beziehungen in Szene zu setzen.

Gedenkstätte auf dem Militärfriedhof Notre- Dame-de-Lorette in Ablain-Saint-Nazaire.Gedenkstätte auf dem Militärfriedhof Notre-Dame-de-Lorette in Ablain-Saint-Nazaire.

Zur operativen Umsetzung dieser Überlegungen wurde im April 2012 mit der Mission du centenaire de la Première Guerre mondiale 1914–2014 eine interministerielle Struktur ins Leben gerufen, die den Auftrag hat, die verschiedenen pädagogischen, kulturellen, wissenschaftlichen und im engeren Sinne gedenkpolitischen Aktivitäten zu koordinieren und in Abstimmung mit dem Élysée die großen Gedenkveranstaltungen des Jahres 2014 zu organisieren. Aktuell sieht das Programm, das Anfang November 2013 vom Staatspräsidenten offiziell verkündet werden wird, vier Großveranstaltungen auf französischem Boden vor: Einen 14-Juillet im Zeichen des Ersten Weltkriegs, dezentrale Gedenkfeierlichkeiten zur  Mobilmachung vom 1.–3. August, eine eher klassisch, d. h. militärisch gefasste Veranstaltung zum Gedenken an die Marne-Schlacht (12. September) und als Höhepunkt den 11-Novembre, mit der Einweihung eines großen Denkmals in Notre-Dame-de-Lorette (siehe Bild), das die Namen der im Nord-Pas-de-Calais gefallenen Soldaten aller Nationen, soweit sie bekannt sind, alphabetisch auflistet. Darüber hinaus ist die Mission du centenaire eine der treibenden Kräfte hinter dem europäischen Projekt „Sarajevo, coeur de l’Europe“, das um den Jahrestag des Attentats von Sarajevo im Juni vor Ort ein umfangreiches Kulturprogramm vorsieht.

Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Allein für 2014 haben 900 Einzelprojekte (Tagungen, Konzerte, Ausstellungen etc.) das offizielle Label der Mission, eine Art Gütesiegel, erhalten und es ist zu erwarten, dass sich diese Zahl in weiteren Labellisierungs-Runden noch deutlich erhöht. Schließlich sind so manche für 2016 bzw. 2017 geplante Projekte noch nicht in die konkrete Planungsphase eingetreten.

Für das Deutsche Historische Institut (DHI) Paris ist die hohe Intensität des centenaire eine spannende Herausforderung und eine willkommene Gelegenheit, seine Expertise als zentraler deutschfranzösischer Mittler im Bereich der Geisteswissenschaften einzubringen. Dabei ist klar, dass trotz der kultur- oder gedenkpolitischen Relevanz des Themas eine ausschließlich wissenschaftliche Agenda verfolgt wird. Seit gut zwei Jahren gibt es einen Forschungsschwerpunkt zum Ersten Weltkrieg und das Institut ist hervorragend in die französische wie internationale Forschungslandschaft integriert. Die Tatsache, dass das DHI Paris u. a. im Wissenschaftlichen Beirat der Mission du centenaire, des Mémorial de Notre-Dame-de-Lorette und im comité directeur des Centre de recherche de l’Historial de la Grande Guerre Péronne vertreten ist, spricht eine deutliche Sprache. Im kommenden Jahr wird es neben einer Reihe von kleineren Veranstaltungen fünf große Tagungen geben, an denen sich das DHI Paris federführend oder als Partner beteiligt. Genannt seien hier lediglich eine in Zusammenarbeit mit den Universitäten Paris-Est Créteil und Marne-la-Vallée organisierte Tagung zum Thema „Les défenseurs de la paix 1898–1917“ und eine einwöchige Sommeruniversität, die gemeinsam mit dem Centre de recherche de l’Historial de la Grande Guerre, der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) und den Universitäten von Amiens und Clermont-Ferrand durchgeführt wird. Darüber hinaus arbeitet das Institut zusammen mit der Mission du centenaire an einer Sammlung besonders aussagekräftiger deutscher und französischer Quellen zum Ersten Weltkrieg, die von jeweils einem deutschen und französischen Historiker kommentiert und kontextualisiert werden und die auf der Webseite der Mission (centenaire.org) einem interessierten Publikum den Mehrwert einer deutsch-französischen histoire croisée demonstrieren.

 

 

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1437

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Warum sollten Archive worüber wie bloggen? Oder: Die Herausführung der Archive aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit.

 

(Ein Beitrag zur Blogparade anlässlich des zweiten Geburtstages von siwiarchiv)

Natürlich ist es vermessen, für das Thema Archive und Bloggen einen der ganz großen Sätze der deutschen Geistesgeschichte zu bemühen. Einerseits. Andererseits lässt sich mit Blick auf den digitalen Auftritt der Archive durchaus eine selbstverschuldete Unmündigkeit von Kant’schen Dimensionen konstatieren: Unmündigkeit meint hier das Unvermögen, sich der immensen Möglichkeiten der digitalen Welt zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, weil die Ursache derselben nicht am Mangel der Möglichkeiten, sondern an der Entschließung und dem Mut liegt, sich dieser Medien zu bedienen. Wir erleben gegenwärtig einen derartig allumfassenden Medienbruch, wie er wohl zuletzt mit der Erfindung des Buchdrucks zu erleben gewesen war, aber so richtig ist das bei den Archiven nicht angekommen. Gut, die Mail hat weithin den Brief ersetzt und die Homepage (wenn auch keineswegs allerorten) die gedruckten Flyer und Beständeübersichten. Und die ganz Mutigen sind jetzt sogar schon bei Facebook dabei. Aber die Konzepte hinter diesen neuen, den sozialen Medien sind kaum einmal rezipiert, geschweige denn umgesetzt worden: Interaktivität, Kommunikation, Offenheit, Vernetzung. Archive haben es geschafft, ihren analogen Arbeits- und Denkstrukturen ein digitales Mäntlein umzuhängen ohne aber ihre Arbeit digital zu definieren. Das ist misslich, langfristig wird daran aber kein Weg vorbeiführen. Und allerspätestens dann wird es eine Basis in der digitalen Welt brauchen. Und an dieser Stelle kommt die obige Frage ins Spiel: Warum sollten Archive worüber wie bloggen?

Archive sollten bloggen, um wahrgenommen zu werden.

Archive sind wie schwarze Löcher. Man weiß wenig über sie. Das gilt für den Großteil der Bevölkerung, die in einem Archiv allenfalls eine bibliotheksähnliche Einrichtung mit alten Dokumenten in unzugänglichen Kellerräumen vermutet. Das gilt für Behörden, denen häufig genug nicht klar ist, dass ihre eigenen Altakten nicht in den Papiermüll, sondern in ein Archiv gehören. Das gilt selbst für fortgeschrittene Nutzer, die wohl eher das vorhandene Archivgut als quasi gottgegeben nutzen als die Überlieferungsbildung nachzuvollziehen. Alle diese Gruppen müssen Archive als hermetisch abgeschlossene Räume wahrnehmen, deren Innenleben ihnen nur soweit offenbart wird, wie es für das sporadische Miteinander unvermeidlich ist. Das gilt aber auch für die Archivarinnen und Archivare, also für die Fachöffentlichkeit. Natürlich nicht in dem Sinne, dass man nicht weiß, was Archive im Allgemeinen machen, sondern in dem Sinne, dass man nicht weiß, was denn die Archivarinnen und Archivare andernorts im Speziellen denn so machen. Ich habe als nordrhein-westfälischer Archivar keine Ahnung, was denn die Kolleginnen und Kollegen in, sagen wir, einem bayerischen Staatsarchiv oder einem mecklenburg-vorpommerischen Kommunalarchiv machen. Und das, obwohl ich mir sehr sicher bin, dass wir vielfach vor ähnlichen Fragen und gleichen Problemen stehen. Wir haben aber kein reguläres Medium, um unsere Fragen publik zu machen, unsere Überlegungen zu teilen, unsere Lösungen zu entwickeln. Selbst als Kollege kann ich nicht hinter die fensterlose Mauer schauen, mit der sich Archive nicht nur physisch umgeben. Ein Blog löst diese hermetische Abschottung auf. Mit einem Blog können Archive ihre Arbeit begleiten und transparent machen. In einem Blog könnte man – zumindest ausschnittsweise – verfolgen, was Archive umtreibt. Über ein Blog lassen sich Zielgruppen erreichen, die vielleicht Interesse an Arbeit und Beständen eines Archivs haben, gegenwärtig aber keine Informationen vermittelt bekommen. Archive sind einzigartige Einrichtungen am Schnittpunkt von Verwaltung, Kulturpflege und Wissenschaft und verfügen (nach Prantl) sogar über „Systemrelevanz“. Ihre Bedeutung steht und fällt mit ihrer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Wahrgenommen aber wird man zunehmend über soziale Medien – und Blogs sind das soziale Medium schlechthin, um Inhalte in den digitalen Raum zu vermitteln.

Archive sollten bloggen, um digital sprachfähig zu sein.

Das Internet ist ein gigantischer universaler Diskursraum. Im Internet bewegen sich Millionen von Menschen, die über Millionen von Themen diskutieren. Natürlich gehört auch Geschichte dazu und damit sind auch Archive berührt. Partizipieren können Archive aber nicht an einer einzigen dieser Diskussionen. Archive sind nämlich digital nicht sprachfähig. Ihre einzige Möglichkeit, ihren Interessenten im virtuellen Raum etwas mitzuteilen, ist die Homepage – ein hierarchisches und statisches Medium, dessen Struktur jeglichen Kommunikationsakt auf das einseitige Verkünden sakrosankter Verlautbarungen reduziert. Eine Homepage ist damit für die Präsentation persistenter Informationen prädestiniert, etwa für E-Texte oder Online-Findmittel inkl. Digitalisate. Ein soziales Medium ist sie allerdings nicht, sie erlaubt kein Miteinander, keinen Austausch, keinen Diskurs. Will man mit seinen Nutzern in einen Dialog eintreten, so kann nicht die Homepage das Medium der Wahl sein, wohl aber das Blog. Ein Blog verkündet keine unveränderlichen Fundamentalinformationen, sondern ist Teil eines allgegenwärtigen kontinuierlichen Diskurses, etwa über archivische, historische und kulturelle Themen. Mit einem Blog kann ein Archiv aktuelle Arbeiten, markante Themen oder spezifische Probleme an einen interessierten Adressatenkreis vermitteln. Mit einem Blog macht ein Archiv ein Gesprächsangebot: Es berichtet von seinen Aufgaben und Projekten, die Nutzer reagieren auf die gebotenen Informationen. Blogbeiträge werden rezipiert und mit Blogbeiträgen andernorts beantwortet. Manches wird Zuspruch ernten, anderes Widerspruch. Nutzerinteressen werden ersichtlich, Nutzerressourcen erschlossen, Nutzerbindungen geschaffen. Ein Blog führt Archiv und Nutzer in einem gemeinsamen Diskursraum zusammen. Wo die Homepage der Balkon ist, von dem ein Ausrufer die wichtigsten Informationen verkündet, da ist das Blog der Tisch, an dem Gesprächspartner auf Augenhöhe zusammenfinden und über ihre Anliegen diskutieren.

Archive sollten bloggen, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

Niemand kann ernsthaft annehmen, dass das Internet, das Social Web, das Semantic Web nur eine Zeiterscheinung sein werden. Ganz im Gegenteil: Digitalisierung und Virtualisierung werden weiter zunehmen. Geschehen wird das auch und gerade dort, wo Archive tätig sind: im Bereich der Informationsdienstleistung. So werden bereits in den nächsten Jahren Millionen von Digitalisaten online vorliegen und die Nutzung von Archiven auf eine neue Grundlage stellen. Nutzer werden Archiven zunehmend virtuell begegnen. Solche veränderten Nutzungsgewohnheiten werden aber auch neue Strukturen bedingen, um miteinander zu kommunizieren. Archive brauchen nicht nur leistungsfähige Präsentationsplattformen (z.B. Archivportale), sie brauchen auch Kommunikationskanäle, um ihren Nutzern begleitende Informationen näher zu bringen. Die sozialen Medien eignen sich wunderbar, um den Kontakt zwischen Archiven und Nutzern herzustellen. Manche von ihnen sorgen für die Vernetzung (z.B. Facebook, Twitter), andere aber transportieren die Inhalte, insbesondere nämlich Blogs. Wer dieses Prinzip heute nicht versteht, wird es schwer haben, morgen seine Adressaten zu erreichen. Dabei sind Blogs (wie auch allen anderen soziale Medien) keineswegs die Zukunft, sie sind bereits die Gegenwart. Zukunft sind sie lediglich für die deutschen Archive, die sich ihrer Möglichkeiten bis jetzt noch nicht gewahr worden sind. Gerade deshalb sind die Pioniere gar nicht genug zu loben, die einer konservativen Branche den Weg zu neuen Medien und Möglichkeiten bereiten – alles Gute, siwiarchiv, auf viele weiter Jahre!

Und natürlich: Sapere aude!

 

 

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1244

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585 Bücher der Stralsunder Archivbibliothek fehlen – der Kepler-Band wird jetzt in New York für eine Viertelmillion Dollar angeboten

 

Anlass der Gründung dieses Weblogs im Dezember 2012 waren die skandalösen Vorkommnisse im Stadtarchiv Stralsund, die ich in Archivalia umfassend dokumentiert habe (über 270 Beiträge zu Stralsund; Best of). Nach einem Hinweis von Falk Eisermann am 22. Oktober 2012 auf eine von mir überlesene Passage einer Stralsunder Pressemitteilung konnte ich die Fachwelt im Herbst 2012 soweit mobilisieren, dass sich ein Sturm der Entrüstung erhob und nach einem Gutachten von Nigel Palmer und Jürgen Wolf die Hansestadt Stralsund sich veranlasst sah, die für 95.000 Euro an einen bayerischen Antiquar verscherbelte kostbare Gymnasialbibliothek mit über 6000 alten Drucken ab dem 16. Jahrhundert zurückzukaufen.

Im LISA-Portal hatte ich am 13. November 2012 zusammenfassend das Vorgehen der Stadt gegeißelt. Philipp Maaß, der Initiator der Stralsund-Petition, unterrichtete in einem Beitrag für die bibliothekarische Fachzeitschrift BuB, der hier nachgelesen werden kann über den Skandal, während der im Februar 2013 im Bibliotheksdienst erschienene Aufsatz des Speyerer Altbestands-Spezialisten Armin Schlechter erst jetzt kostenlos einsehbar ist. In LIBREAS stellte ich “Lehren aus der Causa Stralsund” vor.

Nun hat der NDR herausgefunden, dass der renommierte New Yorker Händler Jonathan Hill den Kepler-Druck aus der Gymnasialbibliothek für eine Viertelmillion Dollar anbietet. Wieso Margret Ott für diese bescheidene Recherche-Leistung (das Angebot ist online verfügbar) ein dickes Lob spendet, erschließt sich mir nicht. Im Nordmagazin des NDR-Fernsehens wird behauptet, es sei unklar, wie der Händler zu dem Druck gekommen sei. Wenig genauer auf der NDR-Website: “Bei einer ersten Auktion vor ein paar Monaten hatte das Werk 45.000 Euro erzielt.” Diese journalistische Fehlleistung fügt sich ins Bild: Die Journaille hatte sich in der Causa Stralsund nach meiner Einschätzung als unfähig und tölpelhaft erwiesen; meine Rechercheergebnisse als Blogger wurden entweder nicht zur Kenntnis genommen oder meist stillschweigend vereinnahmt.

Tatsache ist: In der Nacht vor der Bekanntgabe des Rückkaufs am Dienstag, dem 20. November 2012 hatte ich fieberhaft daran gearbeitet, einen umfangreichen Archivalia-Beitrag fertigzubekommen, nachdem ich am Sonntag zuvor einen anonymen Tipp von einem Käufer bekommen hatte, bei den Reiss-Herbstauktionen seien Bücher aus der Gymnasialbibliothek Stralsund versteigert worden. Ich ging den Reiss-Online-Katalog durch und kam zu dem Schluss: Die Einlieferungen der Reiss-Auktionen mit den Nummern 41, 95, 152, 177 und 169 setzen sich ausschließlich aus Stücken zusammen, die aus dem Stadtarchiv Stralsund stammen. Eine außerordentlich grobe Schätzung für den Gesamterlös ergab gut 140.000 Euro für etwa 190 Titel. Am 30. Oktober 2012 erbrachte der jetzt in New York angebotene Kepler-Druck von 1621 (mit Beibänden) als Nr. 4841 bei Reiss in Königstein 44.000 Euro.

Angesichts der Rückkauf-Meldung vom gleichen Tag verpuffte mein Scoop und wurde auch in der Folgezeit von der etablierten Presse nicht registriert. Vermutlich hat der New Yorker Händler den Kepler-Band und zwei weitere kostbare Werke aus Stralsund, die er für sehr viel weniger Geld anbietet, bei Reiss ersteigert oder über einen Zwischenhändler bezogen.

Die Stadt Stralsund mit ihrem Beauftragten Dr. Burkhard Kunkel hat nach der Rückkaufentscheidung vom November 2012 so gut wie nichts richtig gemacht, was die Rückführung weiterer Bestände angeht. 

Im Fernsehen sagt Kunkel, es fehlten 585 Bücher. Diese Zahl dürfte sich lediglich auf die Gymnasialbibliothek beziehen. Unklar ist, was der Antiquar Hassold vor dem Rückkauf bereits vertickt hatte. Eine nicht näher bezifferbare Anzahl von Büchern aus der Gymnasialbibliothek sind für immer verloren, da Hassold sie als unverkäuflich vernichtet hatte. Außer den Reiss-Auktionen kamen einige Stralsunder Werke  auch bei dem Münchner Auktionshaus Zisska und Schauer, dessen ehemaliger Geschäftsführer Schauer wegen seiner Verwicklung in die Causa Girolamini in Italien in Untersuchungshaft sitzt, unter den Hammer. Den dort erworbenen unikalen Türkendruck hat die Bayerische Staatsbibliothek immerhin zurückgegeben.

Absolut lächerlich ist, dass im Mai 2013 laut Meldung der Stadt Stralsund gerade einmal sieben (in Zahlen: 7) Titel zurückgegeben worden waren.

Dank einer Fehlentscheidung des BGH zum Hamburger Stadtsiegel-Fall sind auf öffentlicher Auktion verkaufte Bände rechtsgültig in das Eigentum des jeweiligen Erwerbers übergegangen. Für die anderen Bände kann man zumindest die Auffassung vertreten, dass sie nach wie vor Eigentum der Stadt Stralsund sind. Es ist ein Unding, dass die Stadt Stralsund weder einen öffentlichen Rückgabe-Aufruf (z.B. durch Anzeigen in Sammler-Organen wie “Aus dem Antiquariat”) gestartet hat noch eine mit der Kommunalaufsicht abgestimmte Stellungnahme zum Eigentums-Status des entfremdeten Bestands abgegeben hat. Nicht jeder Sammler verhält sich so abscheulich wie der Eigentümer des durch seine Einträge unersetzlichen Hevelius-Drucks, der ihn nicht zurückgeben will.

Wie in meinem Archivalia-Beitrag vom 20. November ausdrücklich angeregt, hätten durch rasches Handeln beim Auktionshaus Reiss wenigstens die unverkauften (also auch nicht rechtsgültig in anderes Eigentum übergegangenen) Stücke aus Stralsund gerettet werden können.  Geschehen ist aber: nichts.

Noch skandalöser als das denkbar unprofessionelle Vorgehen bei der Rückholung der Bestände der Gymnasialbibliothek ist die Untätigkeit, was die vor dem Sommer-Verkauf 2012 als angebliche Dubletten durch die damalige Archivleiterin Nehmzow und ihren nicht weniger abscheulichen Vorgänger rechtswidrig veräußerten Altbestände angeht. Nach wie vor können Hassold und seine Kumpane ungehindert seltene Pomeranica aus Stralsund verkaufen, von denen womöglich nicht wenige durch Besitzeinträge unikalen Charakter haben. In diesem Bereich hat die Stadt Stralsund offenkundig nichts unternommen, obwohl durch meine eingehenden Recherchen bewiesen wurde, dass auch unantastbare Bestände der Ratsbibliothek in die unfassbaren Verkäufe einbezogen waren.  Mindestens zwei Bücher wurden aus dem Barock-Ensemble der Löwen’schen Bibliothek von Hassold im Handel angeboten, eines davon noch am 30. November 2012! Ein weiteres Stück stammte aus der Kirchenbibliothek St. Nikolai.

Die perfide Strategie der Stadt Stralsund und ihres Dr. Kunkel besteht also darin, lauthals zu erklären, dass man die entfremdeten Teile der Gymnasialbibliothek zurückholen wolle. In Wirklichkeit agiert man aber völlig ineffizient und verschließt die Augen vor den nachgewiesenen Verkäufen wertvollen Buchguts vor dem Verkauf der Gymnasialbibliothek im Sommer 2012. Diese rechtswidrig veräußerten Bücher (durch Nehmzow, die Staatsanwaltschaft will sich im März 2014 zum Verfahrensstand äußern, und auch schon ihren Vorgänger Hacker) gehören nach meiner Rechtsauffassung ebenfalls nach wie vor der Stadt Stralsund und müssten mit aller Energie, zu der die Stadt und ihr Dr. Kunkel offenkundig nicht fähig sind, zurückgeführt werden!

 

 

 

 

 

 

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/334

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Vorankündigung: de.hypotheses Blogaward 2014 #dehypoAward

Blogaward 2014 SliderAm 9. März 2014 feiert de.hypotheses seinen zweiten Geburtstag – für uns Grund und Anlass, das Wissenschaftsbloggen und die Community von de.hypotheses ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken. Wie im letzten Jahr wollen wir das mit einem Blogaward tun.Wer jetzt an den ADAC denkt, dem sei versichert, dass auch uns das Archaische dieser Form der Auszeichnung bewusst ist. Wenn wir uns trotzdem dafür entschieden haben, dann aus zwei Gründen: Zum einen wollen wir damit für das Wissenschaftsbloggen werben und auf die Qualität, die Kreativität und die große Bandbreite der Blogs hinweisen. Zum anderen trauen wir uns zu, das mit der hoffentlich richtigen Mischung aus Spass, Ernst und Transparenz durchzuführen.

In den zwei Jahren ihrer Existenz hat die Community von de.hypotheses maßgeblich zur Verbreitung und zur Akzeptanz des wissenschaftlichen Bloggens im deutschsprachigen Raum beigetragen. Die stetig wachsende Community stellt anschaulich unter Beweis, dass es einen Bedarf an dieser ganz eigenen Form der Publikation und der Kommunikation gibt, und wie bemerkenswert dieses insgesamt doch noch junge Textgenre von den Bloggenden mit Leben gefüllt wird. Mit dem Blogaward 2014 wollen wir uns bei allen für ihr Engagement bedanken.

Die Wahl wird dieses Jahr nicht einfach: Unsere Plattform für geisteswissenschaftliche Blogs versammelt mittlerweile über 140 deutschsprachige Blogs, davon sind 93 in den Katalog von hypotheses aufgenommen. Die Bandbreite der Blogs reicht formal von dissertations- oder editionsbegleitenden Blogs, Blogs von Forschergruppen, thematischen Einzel- oder Gemeinschaftsblogs, Quellenblogs, Blogs von Einrichtungen etc. und inhaltlich von Archäologie, Geschichte, Kunstgeschichte, Didaktik und Digitales, bis Soziologie, Computerlinguistik, Medienbildung, Literaturwissenschaft sowie Archiv- und Bibliothekswesen.

Anders als im letzten Jahr wollen wir in diesem Jahr einen Award in vier Kategorien ausloben:

1.+2.) Top-5 der Blogs und Top-5 der Einzelbeiträge

Eine Jury bestehend aus Beirat, Redaktion und Community Management von de.hypotheses wählt in geheimer Abstimmung die Top-5 unserer Blogs und Beiträge für den Zeitraum März 2013 bis Februar 2014.  Zur Wahl stehen diejenigen Blogs, die in den Katalog von Hypotheses aufgenommen sind und die im letzten Jahr aktiv waren. Bei den Beiträgen stützt sich die Wahl auf die Artikel, die im Slider der Plattform-Homepage waren (insgesamt 45). Kriterien für die Bewertung sind Inhalt, Wissenschaftlichkeit, Stil der Beiträge, Beitrag zur Wissenschaftskommunikation und Vernetzung.

Anmerkung: Unser Redaktionsblog steht dabei nicht zur Wahl, wohl aber die einzelnen Blogs und Beiträge von Mitgliedern des Beirats und der Redaktion. Wie auch bei der Auswahl der Beiträge für Slider und Startseite wählen wir uns natürlich nicht selbst, das ist klar!

3.) Publikumsaward: Beliebtestes Blog

Hier ist die Community gefordert! Zur Wahl gestellt werden wie oben diejenigen Blogs der Plattform, die im Katalog von Hypotheses sind und die im letzten Jahr aktiv waren. Eine gesonderte Ankündigung für die Wahl folgt nächste Woche. Genug Zeit also, um das Blog noch schnell aufzuhübschen (siehe Beitrag “schöner Bloggen“).

Aber bitte: Die Wahl sollte nicht etwa Anlass sein, um das eigene Blog über verschiedene IP-Adressen mehrfach zu wählen oder sich in anderer Form unwürdig zu verhalten. Vielmehr stellt die Wahl eine Gelegenheit dar, über den Tellerrand des eigenen Blogs zu schauen und andere Blogs der Plattform wahrzunehmen. Wir hoffen auf rege Teilnahme!

4.) Spezialpreis der Redaktion

Der Spezialpreis der Redaktion geht an das Blog, das am häufigsten mit Beiträgen auf der Startseite und im Slider der Plattform vertreten war. Hier könntet Ihr bereits jetzt selbst auszählen, ob Euer Blog der Gewinner des Spezialpreises  ist. Wem das zu umständlich ist (denn das ist es!), der kann einfach das Ergebnis abwarten, das am 10. März 2014 bekannt gegeben wird.

Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Zu gewinnen gibt es vor allem neue Erkenntnisse über die anderen Blogs, eventuell ein bisschen Ruhm und Ehre sowie bei Gewinn einen schön gestalteten Button für das Blog (siehe den Sieger des letztes Jahres, das NordicHistoryBlog). Wir sind gespannt, wen wir am 10. März 2014 jeweils unter den Top-5 präsentieren können!

Hashtag: #dehypoAward

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/1971

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Die Magdalenenflut 1342 – ein unterschätztes Jahrtausendereignis?

 


an(no) m° ccc° xl ii do ver drank hermen goltsmet in der groten vlot to sentemargret(en) dage
.[1]

Vermutlich war es der wohlhabende Göttinger Goldschmied und Ratsherr Hans, der seinem 1342 verstorbenen Vater Hermann ein seiner Profession gemäßes Denkmal setzte.[2] Auf der Spitze der Göttinger Albanikirche ist die oben stehende Inschrift, auf einem Reliquienkreuz noch oberhalb der Wetterfahne angebracht, bis heute erhalten geblieben. Nun ist der niedersächsische Goldschmied nicht einfach ein Opfer eines beliebigen Hochwassers geworden, sondern in der mutmaßlich schwersten Flutkatastrophe Mitteleuropas in den letzten 1000 Jahren ertrunken: Der nach dem Festtag der Heiligen am 22. Juli benannten Magdalenenflut von 1342.

Als im letzten Sommer an Donau, Elbe und Saale die zweite Extremflut seit dem Milleniumswechsel tausende Menschen bedrohte, fand auch ein selbst unter Mediävisten oft wenig bekanntes Ereignis wie die Magdalenenflut 1342 erneute mediale Aufmerksamkeit. Dies steht in deutlichem Gegensatz zum (Des-)Interesse der Geschichtswissenschaft: Explizit mediävistische Auseinandersetzungen mit der Magdalenenflut 1342 finden sich so gut wie nicht[3], etwas besser ist es bei der Nachbardisziplin Archäologie bestellt.[4] Betrachtet man hingegen die Publikationen aus dem im weitesten Sinn naturwissenschaftlichen Bereich mit historischem Fokus, aber auch umweltgeschichtlichen Werken, fällt auf, dass durchaus viel auf das Flutereignis von 1342 verwiesen wird.[5] Dies bedeutet allerdings keineswegs in jedem Fall eine intensive Beschäftigung damit, v.a. nicht mit der schriftlichen Überlieferung.[6] Dabei ist die Quellenlage durchaus vielversprechend, wie im Folgenden kurz skizziert werden soll.

Die klimageschichtliche Datenbank tambora.org bietet ad ann. 1342 bereits einen ersten Eindruck von dem Ausmaß der Flut, wenn auch viel zu viele der Einträge nicht zeitgenössischen Ursprungs sind, so dass sie sich für historisches Arbeiten nicht verwenden lassen. Trotz der notwendigen Einschränkungen zur Benutzbarkeit der Datenbank aus historisch-quellenkritischer Sicht zeigt dieses verdienstvolle Projekt trotz allem die Entwicklungspotentiale kollaborativer Datenbanken gerade im Bereich der Klimageschichte auf. Doch in Kombination mit gedruckten Repertorien meteorologischer Ereignisse aus dem 20. Jahrhundert kann man sich schnell dem Ereignis nähern: Curt Weikinns nach historiographischen Maßstäben auch nicht durchweg verlässliche, aber äußerst materialreiche Quellensammlung zu hydrologischen Ereignissen[7] liefert eine komfortable Ausgangsbasis für die Erforschung der Magdalenenflut. In Kombination mit der Materialsammlung des nicht minder akribischen, aber doch quellenkritischeren Sammlers meteorologischer Nachrichten, Pierre Alexandre[8], zeigt sich, welcher große europäische Raum 1342 unter den Überschwemmungen zu leiden hatte: Ost- und Zentralfrankreich, die Provence, Norditalien, das ganze heutige Deutschland sowie Böhmen, Österreich und Ungarn waren von massiven Fluten betroffen. Im Einzelfall wäre freilich erst noch zu klären, ob es sich dabei um jeweils um ein- und dasselbe Flutereignis handelt. Doch die Ausgangsbasis von über 40 verschiedenen Extremwetterbelegen für 1342 in edierten Chroniken sollte die  weitere Untersuchung der Magdalenenflut deutlich erleichtern. Und dabei ist die Sammlung von Weikinn und Alexandre noch keineswegs vollständig.[9] Auch das eingangs aufgeführte Beispiel mit dem Göttinger Reliquienkreuz ist keineswegs die einzige Inschrift, die als Beleg der Magdalenenflut angeführt werden kann.[10]

Schriftquellen sind also in relativer Fülle vorhanden, und doch ist die Chronologie des meteorologischen Extremjahres 1342 noch lange nicht geklärt, wie ein rascher Blick in die bisherige Forschung und deren (knappe) Aussagen zu Vorgeschichte und Verlauf der Flutkatastrophe zeigt: Intensiver Schneefall im Winter 1341/42 soll zu einer starken Schneeschmelze mit ersten Hochwassern geführt haben, dann folgte ein regenreiches Frühjahr. Der im Sommer noch immer feuchte Boden konnte schließlich die Starkregenfälle Mitte Juni 1342 nicht mehr aufnehmen.[11] Andere Interpreten sehen keine nennenswerten, durch die Schneeschmelze propagierten Hochwässer im Frühjahr 1342.[12] Je nach regionalem Fokus wird auch von einem Eisstoß im späten Winter 1342, – dem der Vorgängerbau der Prager Karlsbrücke zum Opfer fiel –, dann einem Frühjahrshochwasser im April und dem eigentlichen Magdalenenhochwasser im Juli 1342 ausgegangen.[13] Ganz ausgeblendet wird bisher die Lage in Frankreich und Italien, aber auch in Ostmitteleuropa jenseits Böhmens. Warum es so wichtig ist, die Abfolge der Niederschläge und Flutereignisse möglichst sicher zu identifizieren, leuchtet spätestens dann ein, wenn wir die unvermeidliche Frage stellen, was der geophysikalische Hintergrund der Katastrophe von 1342 war.

Eine Vb-Wetterlage braut sich zusammen: Ein sog. Genuatief vom 7. Oktober 1996. (Quelle: Wikimedia Commons)Eine Vb-Wetterlage braut sich zusammen: Ein sog. Genuatief vom 7. Oktober 1996. (Quelle: Wikimedia Commons)

Verantwortlich für die extremen Niederschläge soll eine meteorologische Konstellation gewesen sein, die so auch 1997, 2002 und 2013 die extremen Hochwässer in (Ost-)Mitteleuropa hervorgerufen hat: Eine sogenannte Vb-Wetterlage, bei der ein Tiefdruckgebiet über Norditalien sich über der Adria oder dem Golf von Genua immens mit Feuchtigkeit auflädt und dann eine Zugbahn am Ostalpenrand entlang über das heutige Österreich, Ungarn und Tschechien bis nach Polen einnimmt. Im Kontakt mit wesentlich kälteren Luftmassen im Norden und Westen kommt es zu sehr ergiebigen Niederschlägen über dem skizzierten Teil Ostmitteleuropas bis hin nach Bayern.[14] Doch passt dieses Szenario schon geographisch nicht widerspruchsfrei zur Überschwemmungslage und den Extremniederschlägen des Jahres 1342. Ob noch andere Faktoren wie etwa Vulkanausbrüche[15] zu den Mitverursachern der Starkregen gehören, ist bisher kaum diskutiert worden.

Das meteorologische und klimahistorische Interesse an dem Ereignis liegt auf der Hand. Aber welchen breiteren historischen Erkenntnisfortschritt darf man sich von einer Beschäftigung mit der Magdalenenflut erwarten?
Zum einen natürlich ein besseres Verständnis der Häufung exogener Schocks, denen die mitteleuropäischen Gesellschaften in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ausgesetzt waren. Neben der Magdalenenflut wäre die Abkühlungstendenz seit ca. 1310, die Große Hungersnot von 1315-18, Einfälle von Heuschrecken 1338 und natürlich die Pest 1347ff. zu nennen. Die umweltlich-natürlichen Rahmenbedingungen müssten also zu einer Neubewertung der „Krise des 14. Jahrhunderts“ verstärkt herangezogen werden, ist doch eine letzten Endes sozialdeterministische Tendenz zur Relativierung der krisenhaften Momente im Spätmittelalter hin zu einem überwiegenden Reflex von Diskursen des 20. Jahrhunderts zu beobachten.[16] Vielleicht ist es daher an der Zeit im Zeichen eines material turn – obwohl diese Wende die Mediävistik bisher wenig tangiert – den natürlichen Rahmenbedingungen und konkreten Einflüssen von Umweltveränderungen auf den historischen Prozess auch im Spätmittelalter zu ihrem Recht zu verhelfen, ohne in platte Determinismen zu verfallen.
Eine klarere Vorstellung vom potentiellen Impact der Flut von 1342 liefern allerdings nicht die historischen Quellen allein: Vielmehr sind es die Überlegungen von historisch arbeitenden Geowissenschaftlern, die die Dimensionen des Ereignisses erst recht erahnen lassen, etwa durch Modellrechnungen der Scheitelabflussmenge – der Höchstmenge an Wasser, die in einem Moment einen bestimmten Punkt am Fluss passiert. So ist für den Main im Juli 1342 eine Zahl 3500 m²/s errechnet worden[17], während für das Sommerhochwasser 2013 in Würzburg eine Scheitelabflussmenge des Mains von ‘nur’ 900 m²/s erreicht wurde.[18] Die Konsequenzen für den modernen Hochwasserschutz und seine unterstellten historischen Maximalwerte sind enorm.[19]
Darüber hinaus sind es die Untersuchungen von Geoökologen wie Hans-Rudolf Bork und seinen Schülern, die die apokalyptischen Ausmaße der Erosion in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts vorstellbar und plausibel machen. [20] Ganz entgegen der allgemein vorherrschenden Vorstellung von Erosion als langsamem Prozess betonen die naturwissenschaftlichen Kollegen die massiven Veränderungen innerhalb kürzester Zeit und ordnen, gestützt auf zahlreiche Beispiele aus Mittel- und Nordostdeutschland, etwa die Hälfte des gesamten Erosionsabtrags in Mitteleuropa seit dem Frühmittelalter dem Zeitraum 1313 bis 1348 zu.[21] Dabei nimmt ein Einzelereignis – nach aller Plausibilität die Magdalenenflut von 1342 – eine beträchtliche Rolle ein. Diese Annahmen werden auch durch die Befunde aus Warvenchronologien unterstützt.[22]
Besonders betroffen zeigten sich von der Erosion landwirtschaftliche Nutzflächen in Höhenlagen, die oft erst im Zug des hochmittelalterlichen Landesausbaus erschlossen wurden. Sie verloren nach der geomorphologischen Einschätzung so viel fruchtbare Krume, dass ihre weitere Bewirtschaftung sinnlos wurde. Die Belege dafür lieferten markante, tobelartige Kerbtäler,

Die Wolfsschlucht bei Pritzenhagen/Oberbarnim, Brandenburg. Das Kerbtal ist wesentlich durch einige wenige Erosionsereignisse in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts geprägt. (Quelle: Wikimedia Commons)Die Wolfsschlucht bei Pritzenhagen/Oberbarnim, Brandenburg. Das Kerbtal ist wesentlich durch einige wenige Erosionsereignisse in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts geprägt. (Foto: Lienhard Schulz, Lizenz: CC-BY-SA, Quelle: Wikimedia Commons)

durch massive Erosion (‚Schluchtenreissen‘) geschaffen, an deren Ende das weggespülte Erdreich sog. Schwemmfächer bildet. Die genaue Analyse von deren Schichten belegt wenige, einzelne Starkregenereignisse, die über im Material enthaltene Holzkohlestückchen auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert werden können. Im Einzugsgebiet eines untersuchten Schwemmfächers, am Abhang einer Rodungsfläche zu einem See hin gelegen, muss es zu großflächigen Verlusten an fruchtbarem Ackerboden gekommen sein.[23] Ein ähnlicher Befund wurde für spätmittelalterliche Wölbäcker im Eichsfeld festgestellt, die von einem singulären Niederschlagsereignis im 14. Jahrhundert verändert wurden, wobei hier eine Datierung des erodierten Materials über spätmittelalterliche Keramik plausibel gemacht werden konnte.[24] Vor diesem Hintergrund sollten die Wüstungsprozesse des Spätmittelalters über die sozialen, politischen und ökonomischen Erklärungstheorien von Wilhelm Abel hinaus gedacht werden – die meteorologischen Extremereignisse mit ihren mutmaßlich verheerenden Folgen für die Landwirtschaft sind als Faktor unbedingt mit einzubeziehen.[25] Aber auch die ungeklärte Frage nach dem Erlahmen des Landesausbaus in Ostmitteleuropa noch vor der Pest könnte von einer Untersuchung der klimatischen Ungunstverhältnisse seit 1300 profitieren. Im Einzelfall bestätigen auch die Schriftquellen die hydrologisch-bodenkundlich begründeten Hypothesen, wie etwa im Fall des Kloster Loccum bei Hannover: Es ergossen sich vom Himmel nämlich Regenmassen, Gewässer brachen aus der Erde hervor, Flüsse zerstörten die Dämme, Quellen und Gießbäche strömten aus der Erde, die Flüsse erhoben ihre Wasser, so daß sie über ihre Ufer traten, nicht nur die Saaten und viele Pflanzen auf den Feldern, sondern auch die Äcker selbst und die Wege vernichteten, in Burgen, Städte, Dörfer und Kirchen eindrangen, bis über die Altäre anwuchsen, Mauern und Türme umstießen, zahlreiche Menschen und Zugtiere ertränkten und viele andere Schäden herbeiführten.[26]
Es scheint daher sinnvoll, nicht nur nach Hinweisen auf Wüstungsprozesse, sondern auch nach Berichten zu Infrastrukturschäden bzw. Baumaßnahmen zum Hochwasserschutz oder zur Wiederherstellung von Brücken in Rechnungs- und Urkundenbüchern zu suchen. Rainer Schreg etwa hat ein anschauliches Beispiel in einer Urkunde gefunden, das sich auf einen Rechtsstreit im Zusammenhang mit einer Hangrutschung in Esslingen im September 1342 bezieht.[27] Christian Rohr verweist auf eine Donaubegradigung größeren Umfangs beim Kloster Oberalteich.[28] Am 23. September 1342 gewährte Ludwig d. Bayer eine Erhöhung des Brückenzolls für Frankfurt am Main und umliegende Ortschaften für Wiederaufbaumaßnahmen.[29] Außerdem ist nicht ausgeschlossen, dass die Jahrtausendflut von 1342 der zentralen Katastrophe des 14. Jahrhunderts den Weg ebnete: Inwiefern die Ernteeinbrüche in der Folge von 1342 sowie die ebenfalls sehr feuchten, häufig von Nahrungsmangel gekennzeichneten Jahre unmittelbar vor Ausbruch der Pest zum verheerenden Impact des Schwarzen Todes in Europa beigetragen haben, müsste weiter erforscht werden.

Nach dieser tour de force durch viele denkbare Perspektiven auf die Magdalenenflut 1342 hört dieses Opusculum dort auf, wo sonst die eigentliche historische Arbeit erst einsetzen würde. Das aufgezeigte Panorama, und sei es noch so unvollständig und verkürzt, sollte m.E. Historiker/innen ermutigen, das Jahrtausendereignis von 1342 genauer in den Blick zu nehmen, um einerseits die relativ reichen Schriftquellen systematisch zu sammeln und zu analysieren und andererseits die wertvollen Anregungen benachbarter, aber auch fremder Disziplinen aufzugreifen und das Gespräch mit den Kollegen zu suchen. Erst mit ihrer Hilfe können wir die Tragweite der Magdalenenflut richtig einschätzen und ersehen, ob auch aus geschichtswissenschaftlicher Sicht von einem Jahrtausendereignis gesprochen werden sollte.

[2] Vgl. Urkundenbuch der Stadt Göttingen, Bd. 1: Bis zum Jahre 1400, hg. v. Karl Gustav Schmidt, Hannover 1863, Nr. 236

[4] Rainer Schreg: Die Krisen des Spätmittelalters: Perspektiven, Potenziale und Probleme der archäologischen Krisenforschung, in: Falko Daim; Detlef Gronenborn; Rainer Schreg (Hrsg.): Strategien zum Überleben. Umweltkrisen und ihre Bewältigung, Mainz 2011, S.197-214; Ders., Bodenerosion 1342 – ein Rechtsstreit in Esslingen, in: Archäologik, 19. Januar 2013 und Ders., Unwetterschäden im Raum Tübingen im Jahr 1342 (?), in: Archäologik, 28. August 2013; Udo Recker: Wüstungserscheinungen im Kontext mittelalterlicher Unweltkrisen und Risiken, in: Falko Daim; Detlef Gronenborn; Rainer Schreg (Hrsg.): Strategien zum Überleben. Umweltkrisen und ihre Bewältigung, Mainz 2011, S.197-214

[5] Josef H. Reichholf: Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends, Frankfurt/Main 2007, S.  53f.; Rüdiger Glaser: Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, 2. aktual. und erw. Auflage, Darmstadt 2008, S. 230f. Umwelthistorische Werke: Wolfgang Behringer: Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, Bonn 2007, S. 146; Christian Rohr: Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, Köln; Weimar; Wien 2007, S. 226-228.

[7] Curt Weikinn: Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitenwende bis zum Jahre 1850. Hydrographie, Teil 1 (Zeitenwende – 1500), Berlin 1958 sowie fünf weitere Bände bis 1850. Dass damit nur 20% der Weikinnschen Sammlung ausgewertet wurden, lässt sich der Website eines abgeschlossenen Projekts der Sächsischen Akademie der Wissenschaften entnehmen. Es bleibt nur zu hoffen, dass eine baldige Veröffentlichung der dadurch erschlossenen meteorologischen Daten von Weikinn kurz bevorsteht.

[8] Vgl. Pierre Alexandre: Le Climat en Europe au Moyen Age. Contribution à l’histoire des variations climatiques de 1000 à 1425, d’après les sources narratives de l’Europe occidentale, Paris 1987, S. 467-470.

[9] So z.B. ein zufällig durch den Autor gefundener Beleg für Kloster Corvey im Weserland: Anno Domini 1343 [sic!] fuit diluvium aque et inundavit monasterium et castrum istut et fecit dampnum magnum undique et fames diu erat in terra. (Corveyer Abtskatalog von 1467, in: Friedrich Philippi; Otto Grotefend: Neue Quellen zur Geschichte Westfalens in Handschrift 861 der Leipziger Universitätsbibliothek, in: Westfälische Zeitschrift 60 (1902), S. 108-156, hier S. 144). Die Jahresangabe muss korrekt natürlich 1342 lauten.

[10] Zu verweisen wäre auf eine Gedenkinschrift am Würzburger Hof ‚Zum großen Löwen‘: DI 27, Die Würzburger Inschriften bis 1525. Auf der Grundlage des Nachlasses von Theodor Kramer unter Mitarbeit von Franz Xaver Hermann, bearbeitet von Karl Borchardt, Wiesbaden 1988, Nr. 61 u. Abb. 34. Auch auf einem Steinquader der Kirche St. Blasius in Hann.-Münden findet sich ein eindrucksvoller Beleg: DI 66, Lkr. Göttingen, Nr. 9 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di066g012k0000901. Eine nur schriftlich belegte Flutmarke in derselben Stadt: DI 66, Lkr. Göttingen, Nr. 10† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di066g012k0001007.

[11] Vgl. Gauger, Hochwasser und ihre Folgen (wie Anm. 3), S. 100; Zbinden, Magdalenen-Hochwasser (wie Anm. 6), S. 200.

[12] Vgl. Glaser, Klimageschichte (wie Anm. 5), S. 230.

[13] Vgl. Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 5), S. 226.

[14] Vgl. Zbinden, Magdalenen-Hochwasser (wie Anm. 6), S. 200.

[15] Vgl. dazu die Datenbank Global Volcanism Program:  Denkbar wäre ein nur sehr grob auf 1340 datierter, massiver Ausbruch des Mont Pélee auf Martinique (Karibik) (Eruption No 12424) oder des isländische Hekla (Eruption No 12726).

[16] Vgl. nur ein Beispiel: Peter Schuster, Die Krise des Spätmittelalters. Zur Evidenz eines sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Paradigmas in der Geschichtsschreibung des 20 Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 269 (1999), S. 19-55

[17] Vgl. Zbinden, Magdalenen-Hochwasser (wie Anm. 6), S. 197f., verweisend auf Gerd Tetzlaff, Michael Börngen, Manfred Mudelsee, Armin Raabe: Das Jahrtausendhochwasser von 1342 am Main aus meteorologisch-hydrologischer Sicht, in: Wasser&Boden 54 (2002), S. 41–49

[19] Vgl. z.B. die Konsequenzen für die Schweizerischen Atomkraftwerke und deren Hochwasserschutz, die sich aus den Ergebnissen einer historischen Rekonstruktion seit dem Beginn des Spätmittelalters ergeben müssten: Oliver Wetter, Christian Pfister, Rolf Weingartner, Jürg Luterbacher, Tom Reist & Jürg Trösch (2011): The largest floods in the High Rhine basin since 1268 assessed from documentary and instrumental evidence, in: Hydrological Sciences Journal 56/5 (2011), S.733-758

[20] Hans-Rudolf Bork; Arno Beyer; Annegret Kranz: Der 1000-jährige Niederschlag des Jahres 1342 und seine Folgen in Europa, in: Falko Daim; Detlef Gronenborn; Rainer Schreg (Hrsg.): Strategien zum Überleben. Umweltkrisen und ihre Bewältigung, Mainz 2011, S. 231-242; Hans-Rudolf Bork u.a.: Spuren des tausendjährigen Niederschlags von 1342, in: Ders. (Hg.): Landschaften der Erde unter dem Einfluss des Menschen, Darmstadt 2006, S. 115–120;  Hans-Rudolf Bork; Markus Dotterweich: Jahrtausendflut 1342, in: Archäologie in Deutschland 4 (2007), S. 20-23; Hans-Rudolf Bork u.a.: Landschaftsentwicklung in Mitteleuropa. Wirkungen des Menschen auf Landschaften, Gotha 1998, hier v.a. S. 226-251.

[21] „Von 1313 bis 1348 wurden in Deutschland zusammen 34 Mrd. t Boden erodiert – etwa die Hälfte des gesamten mittelalterlich-neuzeitlichen Bodenabtrags. Die ackerbaulich genutzten, von Bodenerosion betroffenen Flächen Deutschlands wurden von 1310 bis 1350 im Mittel um etwa 25 cm tiefer gelegt.“ (Ebd., S. 230).

[22] So z.B. die Untersuchung des Schalkenmehrener Maars, vgl. Frank Sirocko (Hg): Wetter, Klima, Menschheitsentwicklung. Von der Eiszeit bis ins 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 167f.

[23] Das gut untersuchte Beispiel findet sich im ostelbischen Ausbaugebiet, in der sog. Wolfsschlucht bei Pritzhagen (Barnim, Brandenburg). Vgl. Bork, Landschaftsentwicklung (wie Anm. 20), S. 66-75. Ähnliche Kerbtäler sind etwa die sog. ‘Rummeln’ im Hohen Fläming, ebenfalls einer von massiven Wüstungsprozessen im Spätmittelalter veränderten Landschaft, die im Ausbauprozess v.a. durch große Getreideanbauflächen auf der Hochebene gekennzeichnet war.

[24] Die Grabung zwischen Rüdershausen und Gieboldeshausen war der Ausgangspunkt der Beschäftigung Borks mit den spätmittelalterlichen Erosionsphänomenen, vgl. Bork, Landschaftsentwicklung (wie Anm. 20), S. 93-102.

[25] Eine echte Beweisführung über Zusammenhänge zwischen klimatischen Veränderungen und Wüstungen hat bisher nämlich seitens der Historiker noch nicht stattgefunden, auch nicht im einschlägig betitelten Artikel von Werner Rösener: Die Wüstungen des Spätmittelalters und die Klimafaktoren, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 115 (2010), S. 57-77.  Ermutigende Befunde aber von archäologisch-naturwissenschaftlicher Seite: Markus Dotterweich;  Jochen Haberstroh: Bodenressourcennutzung und Klimawandel zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Barbara Scholkmann u.a. (Hg.): Zwischen Tradition und Wandel. Archäologie des 15. und 16. Jahrhunderts, Büchenbach 2009 (Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie 3), S. 501-510

[26] Nam pluvis a coelo descentibus et aquis de terra emergentibus ruinis aggerum ruptis, fontibus et torrentibus supereffluentibus, flumina levaverunt aquas suas ita, ut metas suas transcendentes non solum segetes et multa viventia in agris, verum etiam ipsos agros et vias dissiparent, castra, civitates, villas et ecclesias intrarent, super altaria ascenderent, muros, domos, turres everterent, plures hominess et jumenta submergando necarent et alia plura damna (De Origine et Abbatibus Monasterii Luccensis, in: Gottfried Wilhelm Leibniz (Hg.): Scriptores Brunsvicensiusm illustrationi inservientes. Bd. 3, Hannover 1711, S. 690-699, hier: 695). Übersetzung nach Christoph Erich Weidemann, Geschichte des Klosters Loccum, hg. v. Friedrich Burchard Köster, Göttingen 1822. Mit ganz ähnlichem Tenor, wenn auch weniger konkret Johann von Viktring, Liber certarum historiarum (MGH SSrG 36, 2) Buch 6, Kapitel 11, S. 225f.

[28] Vgl. Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 5), S. 227, 364f.; RI VII, H. 1,3, Nr. 591; RI VIII, H. 3, Nr. 533

[29] Vgl. Johann Friedrich Böhmer (Hg.): Codex diplomaticus Moenofrancofurtanus. Urkundenbuch der Reichstadt Frankfurt, Frankfurt /Main 1836, S. 578f. Den Hinweis auf die erste der beiden Urkunden verdanke ich Frau Ulrike Fliege (Darmstadt).

Citation: Martin Bauch: Die Magdalenenflut 1342 – ein unterschätztes Jahrtausendereignis?, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 04. Februar 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3016 (ISSN 2197-6120).

 

 

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3016

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Mentoring in der geisteswissenschaftlichen Studieneingangsphase? Zehn Thesen zu einem neuen Betreuungskonzept

Marc-Simon Lengowski Der Erfolgsautor Daniel Kehlmann skizzierte vor gut einem Jahr in seinem Theaterstück „Der Mentor“ die klassische Konstellation des Mentorings: Ein bekannter und erfahrener Schriftsteller soll einem jungen Nachwuchstalent den Weg zu beruflichem Erfolg zeigen. Was Kehlmann nach allen … Continue reading

Quelle: http://netzwerk.hypotheses.org/1916

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Mobile History – Apps für Geschichtsinteressierte, Apps für Historiker?

 

Nach drei Monaten ist endlich wieder Zeit für einen Blogbeitrag. Auch wenn mich in der letzten Zeit eher andere Dinge beschäftigt haben, – wissenschaftliche Theorie und fachjournalistische Praxis – sind dabei ein paar Blogideen entstanden, die mit dem Arbeitsalltag in beiden Bereichen zusammenhängen, mit Apps und Tools – und natürlich der Geschichte.

Apps für (Geschichts-)Museen gibt es in der Zwischenzeit in geraumer Zahl. Sie bieten meist entweder Informationen wie Öffnungszeiten und Grundlegendes über das Haus oder dienen als Guides zu Dauer- oder Sonderausstellungen. Davon abgesehen gibt es nur wenig andere mobile Anwendungen, wie mir Dorian Iris Gütt, Spezialistin für dieses Thema mit einem zugehörigen Blog, kürzlich auf einer Tagung erklärte. Individuellere digitale Aufbereitungen, etwa als virtuelle Museen mit Gamification-Aspekten oder interaktive Reisen zu antiken Stätten, stehen bisher eher als Websites zur Verfügung.

Apps für Geschichtsinteressierte

Auf Apps zur Geschichtsvermittlung außerhalb von Museen bin ich auf der re:publica im letzten Jahr das erste Mal auf aufmerksam geworden und seitdem auf einige spannende Beispiele gestoßen. Dort präsentierte Guido Brombach das Educaching – eine App, die die Bundeszentrale für Politische Bildung mitentwickelt hat und die auf Basis von Geocaching-Schnitzeljagden historische Informationen rund um die moderne Geschichte Berlins mit einer spielerischen Suche nach der Vergangenheit verbindet. Gedacht war die App ursprünglich für Schulklassen, ist aber genauso anwendbar für Familien oder Erwachsene, die historische Stätten und Zusammenhänge nicht mit Führungen oder Audioguides entdecken wollen. Bei dieser Gamification-Umsetzung spielt für das Lernpotenzial wohl die größte Rolle, dass die Inhalte selbst erarbeitet werden. Zudem lenkt der Spaßfaktor vom lernen müssen ab. Apps wie diese oder auch jene zum Jüdischen Köln von Pausanio oder zur Burg Katzenstein aus dem Haus Zentourio bauen auf multimediale Inhalte, auf Abwechslung und überraschende Wendungen. Auch diese App überträgt die wechselhafte Geschichte der Burg in eine spielerische Form. Sie verzichtet auf den location-based Ansatz und kann zuhause auf der Couch ebenso durchgespielt werden, wie vor Ort mit dem zugehörigen Audioguide. Da die App auf einer Idee der Herstellerfirma basiert, ist sie kostenpflichtig. Ob die Idee, einen historischen Ort mit einer App bekannter zu machen, sich in dieser Form schon rentiert, bleibt abzuwarten. Die Idee des Edu- oder Historycaching findet in der Zwischenzeit aber vielfach Verwendung, auch wenn bei den Verantwortlichen noch viele Zweifel bezüglich des Nutzens und der Rentabilität oder Angst vor möglichem Missbrauch der Informationen besteht, wie Tanja Praskes Nachbericht zur Podiusmdiskussion „Geschichte als App – Neue Weg der Vermittlung“ am 20. Juni 2013 in München zeigt.

Einen anderen Weg schlagen Apps wie Capsuling.me oder Zeitfenster ein (dessen Entwickler im letzten Jahr eine der Kreativ-Piloten-Awards gewonnen haben). Diese Apps wollen nicht vornehmlich belehren und Informationen liefern, sondern unterhalten. Dazu nutzen sie sowohl das Empfehlungsmarketing als auch Social- und location-based Faktoren. Hier sollen historische Orte in den verschiedenen Phasen und Epochen ihrer Geschichte greifbar werden. Dazu bieten die Entwickler für viele Stätten, wie das Brandenburger Tor, historische Fotos, die vor Ort den Unterschied zwischen damals und heute zeigen können. Aber auch die Nutzer können moderne oder alte Fotos oder Darstellungen hochladen und anderen zur Verfügung stellen. Bei Capsuling.me kann der Nutzer zudem Botschaften oder Bilder mit einem bestimmten Punkt verknüpfen, die von anderen nur an demselben Punkt abgerufen werden können.

Die historischen Outdoor-Apps, die es bisher gibt, widmen sich v.a. der Zeitgeschichte und dem Mittelalter, die Antike spielt eher bei den Museumsapps eine Rolle ­– wahrscheinlich, weil die Museen hier bereits einen entscheidenden Schritt weiter sind, als die archäologischen Landesämter, für die sich die Vermarktung ihrer unbekannteren Freiland-Fundstellen bisher schwieriger gestaltete und deswegen eher im Hintergrund stand. Auch hierfür gibt es aber durchaus nur Zielgruppen und immer stärker auch die Erwartung von Seiten der Touristen und Besucher, auf so etwas zurückgreifen zu können. Zudem können die immer wieder thematisierten Diskussionen um den Sinn archäologischer Ausgrabungen in Deutschland ein Grund sein, die Bedeutung solcher Orte und ihrer Erkenntnisse mehr zu präsentieren, als es bisher der Fall war.

Apps für Historiker

Bei diesen verschiedenen Ideen spielen neue Rahmenbedingungen für Marketing, Geschichtsvermittlung und Ansätze wie location-based-Services und augmented reality natürlich die grundlegende Rolle. Was zwischen den zahlreichen Apps jedoch fehlt, sind solche, die auch für den Arbeitsalltag hinter der Kamera, für Journalisten, Historiker, Archäologen oder Museumspädagogen anwendbar sind. Für Naturwissenschaftler wurde hier bereits einiges vorgelegt – Apps, die Formeln ausrechnen, Geigerzähler und Sternenkarten. Auch wenn die Zielgruppe Fachleute natürlich wesentlich kleiner ist, als die der Touristen, besteht hier eine Marktlücke, da sie hilfreiche Anwendungen wahrscheinlich regelmäßiger benutzen würden und eher bereit wären, aufgrund dieser Nutzbarkeit für gute Produkte Geld zu bezahlen. Spannend so z.B. Plagiatsfinder-Apps sein, inwieweit sie auf dem Tablet oder Smartphone Vorteile gegenüber der Anwendung auf einem Rechner bieten, ist offen. Spannender wären hier Anwendungen, die auch in der Bibliothek, im Archiv, bei Tagungen, längeren Bahnreisen oder auf einer Ausgrabung das Arbeiten erleichtern.

  • Ein echtes Desiderat ist so meiner Meinung nach eine Citavi-App, mit der man beispielsweise abfotografierte ISBN-Codes direkt in ein Projekt laden und mit Anmerkungen versehen kann.
  • Ähnliches gilt für Projektkoordinations-Tools, die neben interner Kommunikation die Möglichkeit bieten, gemeinsam erstellte Texte zu überarbeiten, Aufgaben zu verwalten, zu schauen, was dringend zu erledigen gilt usw.
  • Mit beiden eng in Verbindung steht entsprechend digital oder multimedial aufbereitete Fachliteratur, Tagungsprogramme oder -paper. Ein PDF hält hier längst nicht alle Optionen bereit, die ein E-Book-Format bieten kann. Dazu gehören exportierbare und mit einer Arbeitsgruppe teilbare Notizen, hinterlegte Quellenauszüge im Original, Bilder und Karten in guter Auflösung, inhaltliche Querlinks oder Verweise zu online verfügbarer Literatur.
  • Auch die Ausgrabungspraxis beinhaltet eine Vielzahl an Tätigkeiten, die mit einer App erleichtert werden könnten.
  • Eine erste Idee, auf die ich gestoßen bin, ist, das Smartphone als 3D-Scanner zu verwenden und Funde damit direkt in eine digitale datenbanktaugliche Form zu übertragen.

Im Online-Bereich gibt es in der Zwischenzeit eine Vielzahl an Tools und Websites, die die Arbeit des Historikers erleichtern können. Insgesamt fehlt es aber noch stark an Anknüpfungen an archäologische und historische Datenbanken – sowohl projektintern, als auch übergreifend. Im Museum, in der Bibliothek und auch auf der Ausgrabung könnte man damit schon vor Ort Vergleichsbeispiele oder Hinweise zur Bestimmung, aktuelle Literatur zum Thema oder Kollegen suchen, die in ähnlichen Bereichen forschen.

Viele Arbeitsbereiche des Historikers wurden speziell für Apps bisher sicher noch nicht entdeckt, vielleicht weil es uns selbst schwer fällt, die Einsatzmöglichkeiten in unserem Arbeitsalltag zu erkennen. Die wenigen Dinge, die mir dazu eingefallen, kamen vor allem durch Bahnfahrten und Tagungen, bei denen ich viele Ideen und to-dos vertagen musste, weil mir mit Tablet und Handy die Möglichkeiten fehlten. Wenn anderer weitere (und wahrscheinlich bessere) Ideen und Vorschläge dazu haben, würde ich sie gern in die Liste aufnehmen.

 

 

Quelle: http://kristinoswald.hypotheses.org/1038

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Unser neuer Call4Papers zum Thema “Emotionen: Wie sozial sind unsere Gefühle?” (bis 31.05.2014)

Wie soziologisch relevant ist es eigentlich, wenn wir uns freuen, lachen, weinen oder wütend sind? Wenngleich sich bereits einige soziologische Klassiker wie Max Weber, Émile Durkheim, Georg Simmel, Norbert Elias und Erving Goffman mit Emotionen beschäftigt haben, kann dennoch von … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5953

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Blogparade: Warum sollten Archive worüber wie bloggen?

 

Das siwiarchiv-Blog feiert gerade seinen zweiten Geburtstag. Am 16.1.2012 ging der erste Beitrag online. Die Redaktion von de.hypotheses gratuliert ganz herzlich und möchte hiermit die Community dazu anregen, sich an der Blogparade, die sich das siwiarchiv-Blog zum Geburstag gewünscht hat, teilzunehmen.

Eine Blogparade ist der Aufruf eines Bloggenden an andere Blogger, sich innerhalb eines bestimmten Zeitraumes mit einem vom Initiator der Blogparade gewählten Thema zu befassen. Das siwiarchiv möchte gerne wissen: Warum sollten Archive worüber wie bloggen?

Für das Geburtstagsgeschenk ist bis zum 28. Februar Zeit. Im Wunschzettelbeitrag des siwiarchiv-Blogs finden sich noch weitere Tipps von Tanja Praske, wie die Teilnahme an der Blogparade zu einem echten Erfolg werden kann. Und nun: in die Tasten hauen ;)!

 

 

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/1909

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Das Jahr 2014 wird schlimm (für die Geschichte)

Was jedoch nicht daran liegt, dass es ein Super-Erinnerungsjahr ist, sondern daran, dass die Geschichte sich allerlei fadenscheinige Vergleiche gefallen lassen muss.

In ihrer Neujahrsansprache schwor die Bundeskanzlerin die Bevölkerung auf das Super-Erinnerungsjahr 2014 ein. 100 Jahre Erster Weltkrieg, 75 Jahre Zweiter Weltkrieg, 25 Jahre Berliner Mauer sind die Eckpfeiler dieses Erinnerungsmarathons, der schon seit Monaten angekündigt wird.

Ich habe kein Problem damit, an runden Jahrestagen historischer Ereignisse zu gedenken. Die magische Anziehung dieser Zahlen bringt Menschen dazu, an Jubiläen ihr eigenes Leben zu feiern (Geburtstage, Hochzeitstage, Dienstjubiläen usw.) oder eben auch, sich einer übergreifenden und kollektiven Vergangenheit zu versichern. Diese Jahre wirken als erinnerungskulturelle Katalysatoren und sind imstande, das öffentliche Bewusstsein auf Ereignisse und Prozesse zu richten, die in “normalen” Jahren nur wenig Beachtung finden und in ihren “Ehrenjahren” notwendige Neubewertungen erfahren und Gegenstand größerer Debatten werden. [1]

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird das Erinnerungsjahr 2014 dominieren. Das liegt einerseits an der runden magischen Zahl 100, aber auch daran, dass dieses Ereignis (in Deutschland) vergleichsweise wenig öffentlich diskutiert wird. Zweiter Weltkrieg und Mauerfall hingegen werden auch außerhalb runder Jahrestage häufiger vergegenwärtigt. Dies alles finde ich in Ordnung. Eine möglichst breite Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg wird der Erinnerungskultur und auch der Geschichtswissenschaft gut tun.

Was mich allerdings monströs nervt, sind diejenigen, die die Erinnerungswelle ausnutzen und alles Mögliche, was im Jahr 2014 passiert oder nicht passiert, in Beziehung zu den Ereignissen des Jahres 1914 setzen. So bieten im Super-Erinnerungsjahr die Finanzkrise und die europäische Eurokrise wie selbstverständlich Parallelen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Nur: Hätte diese Parallele auch jemand bemüht, wenn die magischen 100 Jahre nicht im Spiel wären?

Ich möchte zwei Beispiele anführen, die mir in jüngster Zeit aufgefallen sind. Das erste ist extrem dreist, das zweite etwas intelligenter, aber nicht weniger falsch.

Der Spiegel-Online-Kolumnist Wolfgang Münchau schrieb im Dezember über die Eurokrise und argumentierte, dass die Krise sich weder über eine politische Integration noch über Markt-Anpassungsmechanismen lösen lasse, sondern nur über die Schaffung einer übergeordneten staatlichen Einheit auf europäischer Ebene, die über ein Mindestmaß an wirtschaftspolitischer Souveränität verfügen müsse, wozu unter anderem das Recht auf Steuererhebung und Verschuldung gehöre.

Mit dieser Analyse ist Münchau seiner Aufgabe als Wirtschafts- und Finanzexperte nachgekommen. (Vermutlich wird alles ganz anders kommen, aber dass sind wir von Wirtschaftsexperten ja gewöhnt, was uns hier aber nicht stören soll.) Da sich aber das Jahr 2013 zu Ende neigte und 2014 vor der Tür stand, musste noch der Erste Weltkrieg in die Kolumne hinein. Münchaus Argumentation ist folgendermaßen aufgebaut: Angela Merkel habe kürzlich Christopher Clarks Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog [2] gelesen und sogar daraus zitiert. Daraus könne geschlossen werden, dass die heutige europäische Politik etwas mit der des Vorkriegs-Europas gemeinsam haben. Das war gewissermaßen der Teaser des Artikels. Alle Leser, die erwartet haben, dass jetzt eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen 1914 und 2014 aufgelistet würden, wurden bitter enttäuscht. Es kommt kein einziges Argument, das sich auf 1914 bezieht. Lediglich am Schluss wird vage auf eine gegenseitige Blockade verwiesen, die als Parallele zum Ersten Weltkrieg zu verstehen sei: „Da sich jetzt alle Beteiligten perfekt gegenseitig blockieren, passiert gerade nichts. Das Schiff driftet. Irgendwann kommt es an das Ende vom Auge des Sturms. Was dann passiert, ist ergebnisoffen. Ohne den historischen Vergleich überzustrapazieren, es gibt in der Tat einige, spezifische Parallelen mit 1913/14.“

Und das ist die  Dreistigkeit des Artikels: Es wird nur eine fadenscheinige Mini-Verbindung zum Ersten Weltkrieg gezogen und die geht auch noch komplett am Ziel vorbei. Wenn Münchau schon Clark zitiert, warum schaut er nicht einfach mal in das Buch hinein. Es ist wirklich keine Qual. Im Gegenteil: Es ist bestechend, wie scheinbar mühelos Clark ein komplexes und fesselndes Narrativ entwirft, das an keiner Stelle platt, analytisch schwach oder anekdotenhaft wirkt. Nicht die gegenseitige Blockade der europäischen Mächte hat den Ersten Weltkrieg ermöglicht, sondern der Handlungsspielraum, der durch zwei voneinander getrennte und gegeneinander gerichtete Blöcke entstanden war. Im Jahr 1878 kann man hingegen von einer diplomatischen oder politischen Blockade durch das europäische Bündnissystem sprechen. Der Dreibund zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien hielt die Spannungen zwischen Wien und Rom unter Kontrolle, der Rückversicherungsvertrag zwischen Russland und Deutschland bewahrte Deutschland davor, in den Konflikt zwischen Russland und Österreich hineingezogen zu werden. Ebenfalls konnte so ein russisch-französisches Bündnis gegen Deutschland verhindert werden. Großbritannien war durch die Mittelmeerentente mit Österreich und Italien verbunden und somit indirekt auch mit Deutschland. Erst das Auslaufen des Rückversicherungsvertrags zwischen Deutschland und Russland ermöglichte ab 1890 die Bildung eines bipolaren Europas, das sich nicht blockierte, sondern trotz aller dynastisch-familiären Verbindungen gegeneinander in Stellung brachte. [3] Wenn Münchau sich schon nicht von einem historischen Vergleich abbringen lässt, dann wäre die Gefahr der erneuten Bildung eines bipolaren Europas doch eine viel plausiblere (wenn letztendlich auch ebenso falsche) Warnung an die heutigen Politiker: die Nordentete gegen den Südbund etwa oder die Reichmächte gegen die Armallianz.

Das zweite Beispiel ist von Jakob Augstein, der ebenfalls eine Kolumne auf Spiegel Online hat. Augstein geht in seinem Text 1914, 2014 und weiter? etwas ausführlicher auf den Ersten Weltkrieg ein als Münchau, bei dem es wirklich nur das Mäntelchen war (um vermutlich mehr Clicks zu generieren).

Augstein hat zwei Argumente. Er argumentiert, dass Angela Merkel die Zersetzung Europas betreibe. Dies führe dazu, dass die Mehrheit der Deutschen den Untergang Europas als Befreiung empfänden, ohne die ungeahnten Risken einer solchen Entwicklung zu sehen. Merkel mit Wilhelm II. zu vergleichen, ist wirklich kein feiner Zug. Von Augstein, der vor einem Jahr selbst Opfer eines abstrusen Vergleichs wurde, hätte ich mehr Takt erwartet. Sein zweites Argument ist völlig unabhängig vom ersten und betrifft den Konflikt zwischen China und den USA. Seines Erachtens mimt heute China das aufstrebende Deutschland zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts und die Vereinigten Staaten sind das Vereinigte Königreich, die sich mit ihrem schwindenden Status in der Welt nicht abfinden mögen. Es fehle also nur noch ein Auslöser wie damals die Ermordung des Kronprinzen in Sarajewo oder irgendeine loose cannon und die Welt stehe wieder in Flammen. Auf den ersten Blick ist dieser Vergleich interessant, da er sich auf den ewigen Konflikt zwischen dem Emporkömmling und dem Platzhirschen reduzieren lässt. Der zweite Blick zeigt jedoch, dass dies ein extremer Fall von Rosinenpickerei ist, der in keiner Weise der Komplexität der Julikrise oder der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs gerecht wird. Erstens gibt es in der Geschichte immer Auf- und Absteiger, was mal zu größeren Konflikten führt und mal nicht. Zweitens war Großbritannien nicht der erbitterte Gegner Deutschlands, sondern Frankreich. Das Vereinigte Königreich war viel stärker auf die Konflikte außerhalb Europas konzentriert. Den Ersten Weltkrieg auf einen Konflikt zwischen Großbritannien und Deutschland zu reduzieren, ist eine unzulässige Verkürzung, ähnlich wie der Versuch, die Weltpolitik heute lediglich als Auseinandersetzung zwischen den USA und China zu sehen. Trägt man den Vergleich auch nur einen Schritt weiter und versucht, die damaligen Interessen und das damalige Bündnissystem auf heute zu übertragen, führt er sich selbst ad absurdum. Denn wer ist heute in der Rolle von Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn, den Balkan-Ländern, dem Osmanischem Reich, den USA und so weiter? Ist Taiwan dann Serbien oder doch eher Japan?

Wenig überraschend wird Christopher Clark auch von Augstein angeführt, um die kruden Vergleiche zu rechtfertigen. Dieser habe die Akteure von 1914 schließlich als unsere Zeitgenossen bezeichnet, die gewusst hätten, dass sie mit dem Feuer spielten. Ja, Clark schreibt, dass die Zeitgenossen von damals moderne, heutige Züge trugen. Er schreibt aber auch: “Accepting this challenge does not mean embracing a vulgar presentism that remakes the past to meet the needs of the present, but rather acknowledging those features of the past of which our changed vantage point can afford us a clearer view.” [4]

Was in den besprochenen Kolumnen passiert, ist das Gegenteil der von Clark geforderten Anstrengungen, eine klare Sicht auf die Dinge zu bekommen. Es sind Nebelkerzen, die die Vergangenheit mit der Gegenwart einräuchern – und andersherum. Presentism eben, für das sich noch keine deutsche Übersetzung etabliert hat.

Bleibt die Hoffnung, dass nach all den Gedenkfeiern, Reden, Talkshows, Dokumentationen, Fernsehfilmen etc. die das Jahr 2014 noch bringen wird, so viel Wissen über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs kursiert, dass es schwieriger wird, weiterhin solche nebulösen, effekthascherischen Vergleiche anzustellen. Die Geschichtswissenschaft vermag diese nicht alleine zu verhindern, wie der falsche Gebrauch von Clarks Arbeit zeigt. In diesem Sinne: Happy New Memory Boom Year!

 

[1] Für eine Kritik an Gedenktagen siehe Achim Landwehrs Blog-Post Gedenken auf Teufel komm raus. 

[2] Christopher Clark, The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914, (London: Allen Lane, 2012).

[3] Ebd. 121ff.

[4] Ebd. xxvi.

Quelle: http://fyg.hypotheses.org/156

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