Mobile History – Apps für Geschichtsinteressierte, Apps für Historiker?

 

Nach drei Monaten ist endlich wieder Zeit für einen Blogbeitrag. Auch wenn mich in der letzten Zeit eher andere Dinge beschäftigt haben, – wissenschaftliche Theorie und fachjournalistische Praxis – sind dabei ein paar Blogideen entstanden, die mit dem Arbeitsalltag in beiden Bereichen zusammenhängen, mit Apps und Tools – und natürlich der Geschichte.

Apps für (Geschichts-)Museen gibt es in der Zwischenzeit in geraumer Zahl. Sie bieten meist entweder Informationen wie Öffnungszeiten und Grundlegendes über das Haus oder dienen als Guides zu Dauer- oder Sonderausstellungen. Davon abgesehen gibt es nur wenig andere mobile Anwendungen, wie mir Dorian Iris Gütt, Spezialistin für dieses Thema mit einem zugehörigen Blog, kürzlich auf einer Tagung erklärte. Individuellere digitale Aufbereitungen, etwa als virtuelle Museen mit Gamification-Aspekten oder interaktive Reisen zu antiken Stätten, stehen bisher eher als Websites zur Verfügung.

Apps für Geschichtsinteressierte

Auf Apps zur Geschichtsvermittlung außerhalb von Museen bin ich auf der re:publica im letzten Jahr das erste Mal auf aufmerksam geworden und seitdem auf einige spannende Beispiele gestoßen. Dort präsentierte Guido Brombach das Educaching – eine App, die die Bundeszentrale für Politische Bildung mitentwickelt hat und die auf Basis von Geocaching-Schnitzeljagden historische Informationen rund um die moderne Geschichte Berlins mit einer spielerischen Suche nach der Vergangenheit verbindet. Gedacht war die App ursprünglich für Schulklassen, ist aber genauso anwendbar für Familien oder Erwachsene, die historische Stätten und Zusammenhänge nicht mit Führungen oder Audioguides entdecken wollen. Bei dieser Gamification-Umsetzung spielt für das Lernpotenzial wohl die größte Rolle, dass die Inhalte selbst erarbeitet werden. Zudem lenkt der Spaßfaktor vom lernen müssen ab. Apps wie diese oder auch jene zum Jüdischen Köln von Pausanio oder zur Burg Katzenstein aus dem Haus Zentourio bauen auf multimediale Inhalte, auf Abwechslung und überraschende Wendungen. Auch diese App überträgt die wechselhafte Geschichte der Burg in eine spielerische Form. Sie verzichtet auf den location-based Ansatz und kann zuhause auf der Couch ebenso durchgespielt werden, wie vor Ort mit dem zugehörigen Audioguide. Da die App auf einer Idee der Herstellerfirma basiert, ist sie kostenpflichtig. Ob die Idee, einen historischen Ort mit einer App bekannter zu machen, sich in dieser Form schon rentiert, bleibt abzuwarten. Die Idee des Edu- oder Historycaching findet in der Zwischenzeit aber vielfach Verwendung, auch wenn bei den Verantwortlichen noch viele Zweifel bezüglich des Nutzens und der Rentabilität oder Angst vor möglichem Missbrauch der Informationen besteht, wie Tanja Praskes Nachbericht zur Podiusmdiskussion „Geschichte als App – Neue Weg der Vermittlung“ am 20. Juni 2013 in München zeigt.

Einen anderen Weg schlagen Apps wie Capsuling.me oder Zeitfenster ein (dessen Entwickler im letzten Jahr eine der Kreativ-Piloten-Awards gewonnen haben). Diese Apps wollen nicht vornehmlich belehren und Informationen liefern, sondern unterhalten. Dazu nutzen sie sowohl das Empfehlungsmarketing als auch Social- und location-based Faktoren. Hier sollen historische Orte in den verschiedenen Phasen und Epochen ihrer Geschichte greifbar werden. Dazu bieten die Entwickler für viele Stätten, wie das Brandenburger Tor, historische Fotos, die vor Ort den Unterschied zwischen damals und heute zeigen können. Aber auch die Nutzer können moderne oder alte Fotos oder Darstellungen hochladen und anderen zur Verfügung stellen. Bei Capsuling.me kann der Nutzer zudem Botschaften oder Bilder mit einem bestimmten Punkt verknüpfen, die von anderen nur an demselben Punkt abgerufen werden können.

Die historischen Outdoor-Apps, die es bisher gibt, widmen sich v.a. der Zeitgeschichte und dem Mittelalter, die Antike spielt eher bei den Museumsapps eine Rolle ­– wahrscheinlich, weil die Museen hier bereits einen entscheidenden Schritt weiter sind, als die archäologischen Landesämter, für die sich die Vermarktung ihrer unbekannteren Freiland-Fundstellen bisher schwieriger gestaltete und deswegen eher im Hintergrund stand. Auch hierfür gibt es aber durchaus nur Zielgruppen und immer stärker auch die Erwartung von Seiten der Touristen und Besucher, auf so etwas zurückgreifen zu können. Zudem können die immer wieder thematisierten Diskussionen um den Sinn archäologischer Ausgrabungen in Deutschland ein Grund sein, die Bedeutung solcher Orte und ihrer Erkenntnisse mehr zu präsentieren, als es bisher der Fall war.

Apps für Historiker

Bei diesen verschiedenen Ideen spielen neue Rahmenbedingungen für Marketing, Geschichtsvermittlung und Ansätze wie location-based-Services und augmented reality natürlich die grundlegende Rolle. Was zwischen den zahlreichen Apps jedoch fehlt, sind solche, die auch für den Arbeitsalltag hinter der Kamera, für Journalisten, Historiker, Archäologen oder Museumspädagogen anwendbar sind. Für Naturwissenschaftler wurde hier bereits einiges vorgelegt – Apps, die Formeln ausrechnen, Geigerzähler und Sternenkarten. Auch wenn die Zielgruppe Fachleute natürlich wesentlich kleiner ist, als die der Touristen, besteht hier eine Marktlücke, da sie hilfreiche Anwendungen wahrscheinlich regelmäßiger benutzen würden und eher bereit wären, aufgrund dieser Nutzbarkeit für gute Produkte Geld zu bezahlen. Spannend so z.B. Plagiatsfinder-Apps sein, inwieweit sie auf dem Tablet oder Smartphone Vorteile gegenüber der Anwendung auf einem Rechner bieten, ist offen. Spannender wären hier Anwendungen, die auch in der Bibliothek, im Archiv, bei Tagungen, längeren Bahnreisen oder auf einer Ausgrabung das Arbeiten erleichtern.

  • Ein echtes Desiderat ist so meiner Meinung nach eine Citavi-App, mit der man beispielsweise abfotografierte ISBN-Codes direkt in ein Projekt laden und mit Anmerkungen versehen kann.
  • Ähnliches gilt für Projektkoordinations-Tools, die neben interner Kommunikation die Möglichkeit bieten, gemeinsam erstellte Texte zu überarbeiten, Aufgaben zu verwalten, zu schauen, was dringend zu erledigen gilt usw.
  • Mit beiden eng in Verbindung steht entsprechend digital oder multimedial aufbereitete Fachliteratur, Tagungsprogramme oder -paper. Ein PDF hält hier längst nicht alle Optionen bereit, die ein E-Book-Format bieten kann. Dazu gehören exportierbare und mit einer Arbeitsgruppe teilbare Notizen, hinterlegte Quellenauszüge im Original, Bilder und Karten in guter Auflösung, inhaltliche Querlinks oder Verweise zu online verfügbarer Literatur.
  • Auch die Ausgrabungspraxis beinhaltet eine Vielzahl an Tätigkeiten, die mit einer App erleichtert werden könnten.
  • Eine erste Idee, auf die ich gestoßen bin, ist, das Smartphone als 3D-Scanner zu verwenden und Funde damit direkt in eine digitale datenbanktaugliche Form zu übertragen.

Im Online-Bereich gibt es in der Zwischenzeit eine Vielzahl an Tools und Websites, die die Arbeit des Historikers erleichtern können. Insgesamt fehlt es aber noch stark an Anknüpfungen an archäologische und historische Datenbanken – sowohl projektintern, als auch übergreifend. Im Museum, in der Bibliothek und auch auf der Ausgrabung könnte man damit schon vor Ort Vergleichsbeispiele oder Hinweise zur Bestimmung, aktuelle Literatur zum Thema oder Kollegen suchen, die in ähnlichen Bereichen forschen.

Viele Arbeitsbereiche des Historikers wurden speziell für Apps bisher sicher noch nicht entdeckt, vielleicht weil es uns selbst schwer fällt, die Einsatzmöglichkeiten in unserem Arbeitsalltag zu erkennen. Die wenigen Dinge, die mir dazu eingefallen, kamen vor allem durch Bahnfahrten und Tagungen, bei denen ich viele Ideen und to-dos vertagen musste, weil mir mit Tablet und Handy die Möglichkeiten fehlten. Wenn anderer weitere (und wahrscheinlich bessere) Ideen und Vorschläge dazu haben, würde ich sie gern in die Liste aufnehmen.

 

 

Quelle: http://kristinoswald.hypotheses.org/1038

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Unser neuer Call4Papers zum Thema “Emotionen: Wie sozial sind unsere Gefühle?” (bis 31.05.2014)

Wie soziologisch relevant ist es eigentlich, wenn wir uns freuen, lachen, weinen oder wütend sind? Wenngleich sich bereits einige soziologische Klassiker wie Max Weber, Émile Durkheim, Georg Simmel, Norbert Elias und Erving Goffman mit Emotionen beschäftigt haben, kann dennoch von … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5953

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Blogparade: Warum sollten Archive worüber wie bloggen?

 

Das siwiarchiv-Blog feiert gerade seinen zweiten Geburtstag. Am 16.1.2012 ging der erste Beitrag online. Die Redaktion von de.hypotheses gratuliert ganz herzlich und möchte hiermit die Community dazu anregen, sich an der Blogparade, die sich das siwiarchiv-Blog zum Geburstag gewünscht hat, teilzunehmen.

Eine Blogparade ist der Aufruf eines Bloggenden an andere Blogger, sich innerhalb eines bestimmten Zeitraumes mit einem vom Initiator der Blogparade gewählten Thema zu befassen. Das siwiarchiv möchte gerne wissen: Warum sollten Archive worüber wie bloggen?

Für das Geburtstagsgeschenk ist bis zum 28. Februar Zeit. Im Wunschzettelbeitrag des siwiarchiv-Blogs finden sich noch weitere Tipps von Tanja Praske, wie die Teilnahme an der Blogparade zu einem echten Erfolg werden kann. Und nun: in die Tasten hauen ;)!

 

 

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/1909

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Das Jahr 2014 wird schlimm (für die Geschichte)

Was jedoch nicht daran liegt, dass es ein Super-Erinnerungsjahr ist, sondern daran, dass die Geschichte sich allerlei fadenscheinige Vergleiche gefallen lassen muss.

In ihrer Neujahrsansprache schwor die Bundeskanzlerin die Bevölkerung auf das Super-Erinnerungsjahr 2014 ein. 100 Jahre Erster Weltkrieg, 75 Jahre Zweiter Weltkrieg, 25 Jahre Berliner Mauer sind die Eckpfeiler dieses Erinnerungsmarathons, der schon seit Monaten angekündigt wird.

Ich habe kein Problem damit, an runden Jahrestagen historischer Ereignisse zu gedenken. Die magische Anziehung dieser Zahlen bringt Menschen dazu, an Jubiläen ihr eigenes Leben zu feiern (Geburtstage, Hochzeitstage, Dienstjubiläen usw.) oder eben auch, sich einer übergreifenden und kollektiven Vergangenheit zu versichern. Diese Jahre wirken als erinnerungskulturelle Katalysatoren und sind imstande, das öffentliche Bewusstsein auf Ereignisse und Prozesse zu richten, die in “normalen” Jahren nur wenig Beachtung finden und in ihren “Ehrenjahren” notwendige Neubewertungen erfahren und Gegenstand größerer Debatten werden. [1]

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird das Erinnerungsjahr 2014 dominieren. Das liegt einerseits an der runden magischen Zahl 100, aber auch daran, dass dieses Ereignis (in Deutschland) vergleichsweise wenig öffentlich diskutiert wird. Zweiter Weltkrieg und Mauerfall hingegen werden auch außerhalb runder Jahrestage häufiger vergegenwärtigt. Dies alles finde ich in Ordnung. Eine möglichst breite Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg wird der Erinnerungskultur und auch der Geschichtswissenschaft gut tun.

Was mich allerdings monströs nervt, sind diejenigen, die die Erinnerungswelle ausnutzen und alles Mögliche, was im Jahr 2014 passiert oder nicht passiert, in Beziehung zu den Ereignissen des Jahres 1914 setzen. So bieten im Super-Erinnerungsjahr die Finanzkrise und die europäische Eurokrise wie selbstverständlich Parallelen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Nur: Hätte diese Parallele auch jemand bemüht, wenn die magischen 100 Jahre nicht im Spiel wären?

Ich möchte zwei Beispiele anführen, die mir in jüngster Zeit aufgefallen sind. Das erste ist extrem dreist, das zweite etwas intelligenter, aber nicht weniger falsch.

Der Spiegel-Online-Kolumnist Wolfgang Münchau schrieb im Dezember über die Eurokrise und argumentierte, dass die Krise sich weder über eine politische Integration noch über Markt-Anpassungsmechanismen lösen lasse, sondern nur über die Schaffung einer übergeordneten staatlichen Einheit auf europäischer Ebene, die über ein Mindestmaß an wirtschaftspolitischer Souveränität verfügen müsse, wozu unter anderem das Recht auf Steuererhebung und Verschuldung gehöre.

Mit dieser Analyse ist Münchau seiner Aufgabe als Wirtschafts- und Finanzexperte nachgekommen. (Vermutlich wird alles ganz anders kommen, aber dass sind wir von Wirtschaftsexperten ja gewöhnt, was uns hier aber nicht stören soll.) Da sich aber das Jahr 2013 zu Ende neigte und 2014 vor der Tür stand, musste noch der Erste Weltkrieg in die Kolumne hinein. Münchaus Argumentation ist folgendermaßen aufgebaut: Angela Merkel habe kürzlich Christopher Clarks Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog [2] gelesen und sogar daraus zitiert. Daraus könne geschlossen werden, dass die heutige europäische Politik etwas mit der des Vorkriegs-Europas gemeinsam haben. Das war gewissermaßen der Teaser des Artikels. Alle Leser, die erwartet haben, dass jetzt eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen 1914 und 2014 aufgelistet würden, wurden bitter enttäuscht. Es kommt kein einziges Argument, das sich auf 1914 bezieht. Lediglich am Schluss wird vage auf eine gegenseitige Blockade verwiesen, die als Parallele zum Ersten Weltkrieg zu verstehen sei: „Da sich jetzt alle Beteiligten perfekt gegenseitig blockieren, passiert gerade nichts. Das Schiff driftet. Irgendwann kommt es an das Ende vom Auge des Sturms. Was dann passiert, ist ergebnisoffen. Ohne den historischen Vergleich überzustrapazieren, es gibt in der Tat einige, spezifische Parallelen mit 1913/14.“

Und das ist die  Dreistigkeit des Artikels: Es wird nur eine fadenscheinige Mini-Verbindung zum Ersten Weltkrieg gezogen und die geht auch noch komplett am Ziel vorbei. Wenn Münchau schon Clark zitiert, warum schaut er nicht einfach mal in das Buch hinein. Es ist wirklich keine Qual. Im Gegenteil: Es ist bestechend, wie scheinbar mühelos Clark ein komplexes und fesselndes Narrativ entwirft, das an keiner Stelle platt, analytisch schwach oder anekdotenhaft wirkt. Nicht die gegenseitige Blockade der europäischen Mächte hat den Ersten Weltkrieg ermöglicht, sondern der Handlungsspielraum, der durch zwei voneinander getrennte und gegeneinander gerichtete Blöcke entstanden war. Im Jahr 1878 kann man hingegen von einer diplomatischen oder politischen Blockade durch das europäische Bündnissystem sprechen. Der Dreibund zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien hielt die Spannungen zwischen Wien und Rom unter Kontrolle, der Rückversicherungsvertrag zwischen Russland und Deutschland bewahrte Deutschland davor, in den Konflikt zwischen Russland und Österreich hineingezogen zu werden. Ebenfalls konnte so ein russisch-französisches Bündnis gegen Deutschland verhindert werden. Großbritannien war durch die Mittelmeerentente mit Österreich und Italien verbunden und somit indirekt auch mit Deutschland. Erst das Auslaufen des Rückversicherungsvertrags zwischen Deutschland und Russland ermöglichte ab 1890 die Bildung eines bipolaren Europas, das sich nicht blockierte, sondern trotz aller dynastisch-familiären Verbindungen gegeneinander in Stellung brachte. [3] Wenn Münchau sich schon nicht von einem historischen Vergleich abbringen lässt, dann wäre die Gefahr der erneuten Bildung eines bipolaren Europas doch eine viel plausiblere (wenn letztendlich auch ebenso falsche) Warnung an die heutigen Politiker: die Nordentete gegen den Südbund etwa oder die Reichmächte gegen die Armallianz.

Das zweite Beispiel ist von Jakob Augstein, der ebenfalls eine Kolumne auf Spiegel Online hat. Augstein geht in seinem Text 1914, 2014 und weiter? etwas ausführlicher auf den Ersten Weltkrieg ein als Münchau, bei dem es wirklich nur das Mäntelchen war (um vermutlich mehr Clicks zu generieren).

Augstein hat zwei Argumente. Er argumentiert, dass Angela Merkel die Zersetzung Europas betreibe. Dies führe dazu, dass die Mehrheit der Deutschen den Untergang Europas als Befreiung empfänden, ohne die ungeahnten Risken einer solchen Entwicklung zu sehen. Merkel mit Wilhelm II. zu vergleichen, ist wirklich kein feiner Zug. Von Augstein, der vor einem Jahr selbst Opfer eines abstrusen Vergleichs wurde, hätte ich mehr Takt erwartet. Sein zweites Argument ist völlig unabhängig vom ersten und betrifft den Konflikt zwischen China und den USA. Seines Erachtens mimt heute China das aufstrebende Deutschland zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts und die Vereinigten Staaten sind das Vereinigte Königreich, die sich mit ihrem schwindenden Status in der Welt nicht abfinden mögen. Es fehle also nur noch ein Auslöser wie damals die Ermordung des Kronprinzen in Sarajewo oder irgendeine loose cannon und die Welt stehe wieder in Flammen. Auf den ersten Blick ist dieser Vergleich interessant, da er sich auf den ewigen Konflikt zwischen dem Emporkömmling und dem Platzhirschen reduzieren lässt. Der zweite Blick zeigt jedoch, dass dies ein extremer Fall von Rosinenpickerei ist, der in keiner Weise der Komplexität der Julikrise oder der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs gerecht wird. Erstens gibt es in der Geschichte immer Auf- und Absteiger, was mal zu größeren Konflikten führt und mal nicht. Zweitens war Großbritannien nicht der erbitterte Gegner Deutschlands, sondern Frankreich. Das Vereinigte Königreich war viel stärker auf die Konflikte außerhalb Europas konzentriert. Den Ersten Weltkrieg auf einen Konflikt zwischen Großbritannien und Deutschland zu reduzieren, ist eine unzulässige Verkürzung, ähnlich wie der Versuch, die Weltpolitik heute lediglich als Auseinandersetzung zwischen den USA und China zu sehen. Trägt man den Vergleich auch nur einen Schritt weiter und versucht, die damaligen Interessen und das damalige Bündnissystem auf heute zu übertragen, führt er sich selbst ad absurdum. Denn wer ist heute in der Rolle von Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn, den Balkan-Ländern, dem Osmanischem Reich, den USA und so weiter? Ist Taiwan dann Serbien oder doch eher Japan?

Wenig überraschend wird Christopher Clark auch von Augstein angeführt, um die kruden Vergleiche zu rechtfertigen. Dieser habe die Akteure von 1914 schließlich als unsere Zeitgenossen bezeichnet, die gewusst hätten, dass sie mit dem Feuer spielten. Ja, Clark schreibt, dass die Zeitgenossen von damals moderne, heutige Züge trugen. Er schreibt aber auch: “Accepting this challenge does not mean embracing a vulgar presentism that remakes the past to meet the needs of the present, but rather acknowledging those features of the past of which our changed vantage point can afford us a clearer view.” [4]

Was in den besprochenen Kolumnen passiert, ist das Gegenteil der von Clark geforderten Anstrengungen, eine klare Sicht auf die Dinge zu bekommen. Es sind Nebelkerzen, die die Vergangenheit mit der Gegenwart einräuchern – und andersherum. Presentism eben, für das sich noch keine deutsche Übersetzung etabliert hat.

Bleibt die Hoffnung, dass nach all den Gedenkfeiern, Reden, Talkshows, Dokumentationen, Fernsehfilmen etc. die das Jahr 2014 noch bringen wird, so viel Wissen über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs kursiert, dass es schwieriger wird, weiterhin solche nebulösen, effekthascherischen Vergleiche anzustellen. Die Geschichtswissenschaft vermag diese nicht alleine zu verhindern, wie der falsche Gebrauch von Clarks Arbeit zeigt. In diesem Sinne: Happy New Memory Boom Year!

 

[1] Für eine Kritik an Gedenktagen siehe Achim Landwehrs Blog-Post Gedenken auf Teufel komm raus. 

[2] Christopher Clark, The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914, (London: Allen Lane, 2012).

[3] Ebd. 121ff.

[4] Ebd. xxvi.

Quelle: http://fyg.hypotheses.org/156

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(Digital) Humanities Revisited – Challenges and Opportunities in the Digital Age. Oder: Wie man Gräben isst.

 

Konferenz 5.12.–7.12.2013, Hannover Herrenhausen, Volkswagen Stiftung

Die Initiative zur hochkarätig und international besetzten Konferenz ging von der Volkswagen-Stiftung aus, die mit dem eben wiederaufgebauten Schloss Herrenhausen in Hannover einen geradezu splendiden neuen Konferenzort bietet, an dem es sich im Wortsinne königlich tagen, speisen und diskutieren lässt – ganz zu schweigen von der hervorragenden technischen Infrastruktur im Saal, wo kein Device hungrig in den Stand-by gehen muss.

Gute Voraussetzungen, um über Digitales zu sprechen. Ebenso passend zum Thema wirkt die Idee, gezielt Wissenschaftsblogger einzuladen: Wo man früher Vertreter der klassischen Presse hofierte, wurde in Hannover ein „Bloggers‘ Corner“ eingerichtet, der all die, für die bloggen, twittern und kommentieren bereits zum Alltag gehört, in den Pausen mit Gleichgesinnten zusammenführte.

Und damit sind wir schon bei einem tiefen Graben, der sich durch die Konferenz zog: Die einen verstehen das Tagungsthema „Digital Humanities“ im Sinne von „computergestützten Analyseverfahren“, die den klassischen Geisteswissenschaften ganz neue Forschungsfragen und Datenbearbeitungsmethoden eröffnen. Lev Manovich („Looking at one million images:  How Visualization of Big Cultural Data Helps Us to Question Our Cultural Categories“) etwa stellte solche Themen vor, die überhaupt erst durch das Vorhandensein digitaler Analysemethoden entstehen.

Um es pointiert zu formulieren (was das Medium Blog ja durchaus erlaubt): Die andere Seite des Grabens langweilt sich. Denn auch jene Seite versteht sich als Vertreter der „Digital Humanities“, jene, die mehr oder weniger „klassische“ geisteswissenschaftliche Forschung betreibt, aber an digitalen Infrastrukturen, also etwa an neuen Formen der Kommunikation (untereinander und mit der Öffentlichkeit) und an neuen Formen der Publikation interessiert ist, und die all das meist schon munter praktiziert. Selbstverständlich hat auch dieses „Wie“ des Arbeitens weitreichende Folgen auf Methoden, Ergebnisse und Reichweite.

Dennoch verstehen jene auf der ersten Grabenseite, denen das „Was“ der Forschung als Kern der Digital Humanities gilt, dies als alten Wein in neuen Schläuchen und langweilen sich ihrerseits. So oder so ähnlich wird wohl die Rückschau von Michael Schmalenstroer zu verstehen sein.

Die Frage „Was sind die Digital Humanities?“ wurde letztlich – zu Recht – in Hannover nicht oder kaum thematisiert. Darauf gibt es im Augenblick keine Antwort.

Eleanor Selfridge-Field Professor of Music and Symbolic Systems, Felix Zahn für VolkswagenStiftung

Ich versuche es mit einem Schnelldurchlauf durch das Programm ohne Anspruch auf Vollständigkeit: „Digital Humanities – What Kind of Knowledge Can We Expect?“ titelte der erste Tag, der ein klares computerlinguistisches Übergewicht hatte und sich mit Big Data und Anwendungsbeispielen digitaler Analysemethoden beschäftigte, teils von Bild-, teils von Textmaterial.

Horst Bredekamp schloss einen fulminanten Vortrag an, der von einsetzender Ermüdung zeugte, denn natürlich sind digitale Forschungsansätze und -infrastrukturen (by the way könnte man die beiden benannten Grabenseiten mit diesen beiden Begriffen auf den Punkt bringen) inzwischen längst dem Windelalter entwachsen.

Tag zwei, der nach „From Art to Data – What‘s the Impact of Going Digital?” fragte, brachte z.B. den Vortrag von Julia Flanders: Datenmodelle miteinander sprechen zu lassen sei eine der größten Herausforderungen angesichts der bereits breiten Landschaft verschiedener Projekte und Ansätze. Big Data ohne Fragestellungen „einfach anzusehen“ und daraus Forschungsfragen entstehen lassen (nie umgekehrt…), war die Botschaft des schon erwähnten Lev Manovich, der sich damit einmal mehr als Vertreter der oben zuerst geschilderten DH-Grabenseite outete.

Das Format der „Lightning Talks“ mit anschließenden Postersessions durchzog alle drei Konferenztage: Schön war, dass die streng dreiminütigen Vorträge einen Einblick in die Diversität bestehender digitaler Projekte junger Wissenschaftler aus aller Welt ermöglichte. Zugleich war Mitleid mit den von Eile gequälten Rednern wohl ein verbindendes Gefühl im Publikum.

In positiver Erinnerung bleibt zumindest mir der Workshop des zweiten Tages. Zwar waren sicher nicht immer die mehr als 200 angemeldeten Gäste vor Ort, dennoch war es sinnvoll, die Schar für zwei Stunden in kleinere Diskussionsgruppen zu teilen. Diese beschäftigten sich parallel mit denselben (generischen) Fragen zu Entwicklung, Chancen und Bedürfnissen der DH und präsentierten einander anschließend ihre Überlegungen. Eine der Kernbotschaften unserer Arbeitsgruppe auf die Frage, wie man die zwei Welten „Informatiker“ und „Geisteswissenschaftler“ einander näherbringen könnte, fiel simpel und klar aus: gemeinsam essen gehen. Im selben Raum arbeiten.

Die öffentliche Podiumsdiskussion, zu der ich nur vom Hörensagen berichten kann, hat die Gemüter erregt und zumindest die Vertreter des „Bloggers‘ Corner“ kopfschüttelnd zurückgelassen. Von einem Niveauabsturz im Vergleich zu den Workshops und von einem „Katapult zehn Jahre zurück“ war da im Rückblick die Rede. Ein Diskutant fiel aus; es blieben der wohl provokant konservativ auftretende Jürgen Kaube (FAZ), der damit die Linie seines Hauses nahtlos weiterführt, im Verbund mit einem fortschrittskeptischen Moderator, dessen Fragen („Was bleibt von der Kultur im Digitalen Zeitalter?“) die beiden Damen des Podiums (Mercedes Bunz, Bettina Wagner-Bergelt) vor große Aufgaben stellten.

Der letzte Tag schwenkte in weiten Teilen zur zweiten Grabenseite über und fragte nach „Digital Humanities and the Public“. Luis von Ahn stellte seine (beeindruckenden) Projekte vor, die sich die Arbeitskraft der sogenannten Crowd im Win-Win zunutze machen. Kunde und Anbieter verschmelzen, beide Seiten geben und nehmen. Etwa, wenn der Sprachschüler dem Anbieter einer kostenlosen Lernplattform im Gegenzug Stück für Stück Texte übersetzt.

In der Abschlussdiskussion tauchten einige Chimären auf, etwa die Vermutung, dass wir es hinsichtlich der Akzeptanz von Methoden der DH mit einem Generationenproblem zu tun hätten (Christoph Cornelißen, Frankfurt), oder der etwas allgemeine Appell von Gregory Crane, man müsse die „vielen Herausforderungen einfach einmal angehen“ und habe dafür in Deutschland verglichen mit den USA geradezu hervorragende (Förder-)Bedingungen.

Wichtig erschien mir die Äußerung Manfred Nießens (DFG), der sich eindeutig gegen eine eigene Disziplin „Digital Humanities“ aussprach: Es gebe keine „Digitalen Natur- und noch nicht einmal Digitale Sozialwissenschaften“. Die Geisteswissenschaften hätten ein Problem mit ihrem Selbstbewusstsein und offensichtlich Schwierigkeiten, neue Instrumente ebenso nahtlos und selbstverständlich in ihren vorhandenen Werkzeugkasten einzubinden, wie es andere Disziplinen täten.

Immer wieder war von der bestehenden Kluft zwischen „den Fächern“ und den sogenannten „Digital Humanists“ die Rede, und von der damit verbundenen Gefahr einer „Ghettoisierung“. Als Schlusswort mag daher ein Kommentar aus dem Publikum dienen (Fotis Jannidis, Würzburg): Keine Sekunde sei es wert, ins Überzeugen von Zweiflern an den neuen Möglichkeiten der „Digital Humanities“ investiert zu werden. Wenn fachlich überzeugende Arbeiten vorlägen, die nur mit diesen Methoden in dieser Form hätten entstehen können, sei allen Zauderern der Wind aus den Segeln genommen.

Das wird dies- und jenseits des Grabens gelten. Apropos: Möglicherweise sollten nicht nur Informatiker und Forscher regelmäßig gemeinsam essen, sondern auch „Digital Humanists“ der beiden Fraktionen im oben beschriebenen Sinne (Verfechter von aus dem Digitalen generierten Forschungsansätzen vs. Infrastrukturvertreter mit tendenziell klassischen Themen). Das passierte bei der Tagung m.E. wenig – den beeindruckenden Büffets zum Trotz. Was für ein schönes Ziel, am Ende wirklich alle Gräben aufzuessen.

Schloss Herrenhausen Wiederaufbau Eberhard Franke für VolkswagenStiftung

 

 

Quelle: http://rkb.hypotheses.org/576

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Codices im Netz – Die Digitalisierung mittelalterlicher Handschriften und ihre Konsequenzen

 

Ende November 2013 fand in Wolfenbüttel eine kleine, vom Mittelalter-Komitee der Herzog August Bibliothek organisierte Tagung zum Thema “Konsequenzen der Digitalisierung” statt. Zur Einstimmung in die Tagungsthematik hatten die drei Organisatoren (Stephan Müller/Wien, Felix Heinzer/Freiburg und ich) kurze Statements vorbereitet, die aus der jeweils eigenen Perspektive inhaltliche und methodische Herausforderungen der fortschreitenden Digitalisierung von mittelalterlichen Bibliotheksbeständen und Konsequenzen für deren Erforschung reflektieren. Meine Eingangsüberlegungen können hier in leicht überarbeiteter Form nachgelesen werden. Auf der Tagung hielten ferner Erik Kwakkel (Leiden), Björn Ommer (Heidelberg), Manuel Braun (Stuttgart), Sonja Glauch und Florian Kragl (Erlangen) Vorträge zu laufenden Digital-Humanities-Projekten im Bereich der Analyse, Paläographie, Edition und Auswertung mittelalterlicher Handschriften. Die Ergebnisse der Tagung sollen in einem gemeinsamen Konzeptpapier zusammengefasst und als Blogbeitrag auf de.hypotheses publiziert werden.

Noch ein Turn

Von all den intellektuellen und technischen turns, die die Geistes- und Sozialwissenschaften im letzten Jahrhundert durchgeführt haben, ist der digitale zweifellos von einer anderen Natur und einer breiteren Wirkung, auch wenn nicht jeder in der akademischen Welt von uneingeschränkter Euphorie erfüllt ist. Die Entwicklung von Digitalität (digitality), im Sinne der Konzeptualisierung durch Nicholas Negroponte als ‘the condition of being digital’, ist nicht nur von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz, vielmehr birgt sie auch bedeutende Konsequenzen für die akademische Welt und die Art und Weise, wie wir forschen. Hierbei stellt sich, insbesondere auch bei dem Thema der Wolfenbütteler Veranstaltung die grundlegende Frage: Digitalität verändert zweifellos unseren akademischen Alltag, aber wie sind diese Veränderungen methodologisch, und wenn man es so formulieren will, epistemologisch zu begleiten?

Vor allem die Sicherung, Dokumentierung und Bereitstellung des kulturellen Erbes in seiner materiellen Vielfältigkeit und Heterogenität stellen uns vor neue Herausforderungen. Hier sind grundlegende methodische Konzepte nicht nur für die so genannten Digital Humanities, sondern für alle geisteswissenschaftlichen, insbesondere auch die historisch arbeitenden Disziplinen insgesamt zu entwickeln. Die Frage ist also eindeutig nicht mehr die Frage nach dem ob der Digitalität und der digitalen Wissensbestände, sondern die nach dem wie. Der Bogen an Möglichkeiten spannt sich von mittlerweile anerkannten Parametern wie der Entwicklung und Anwendung von internationalen Standards, der prinzipiellen Verfügbarkeit des digitalisierten Materials über den Open Access Gedanken und der langfristigen Sicherung dieses Materials über die systematische Dokumentation der digitalen Erschließungstools bis hin zur Herausbildung und Akzeptanz neuer Publikations-, Evaluations- und Anerkennungskulturen im Rahmen digital-gestützter, geisteswissenschaftlicher Forschungsprozesse.

Kulturelle Artefakte und Forschungsobjekte im Wandel

Insbesondere wird nicht nur das Verhältnis zwischen Objekt bzw. Artefakt und wissenschaftlichem Beobachter neu ausgerichtet, sondern auch die prinzipielle Daseinsform dieser beiden Akteure im wissenschaftlichen Prozess, der unter Umständen entkörpert, entzeitlicht und enträumlicht werden kann. Es geht auch darum, das Verhältnis auszuloten zwischen dem historischen (analogen) Objekt und dessen digitalen Repräsentanten bzw. Abstraktionen, oder wie es unsere Oxforder Kollegin Ségolène Tarte formuliert, deren digitalen Avataren, die durchaus ihre eigene Existenzformen haben und auch eigene Gefahren im wissenschaftlichen Umgang mit ihnen bergen. Ferner gibt es auch die so genannten “digital born objects”, die so intendiert, gezielt produziert und ausschließlich digital existieren, wie etwa die nur virtuell vorhandene 3D-Rekonstruktion einer Handschriftenseite aus einem heute völlig verkohlten Fragment oder die Rekonstruktion eines Artefakts, das nie existierte, dessen Planung jedoch aus schriftlichen Quellen bekannt ist. Und schließlich gibt es Formen der Hybridität, der unterschiedliche Existenzformen vereinen.

In diesem Spannungsfeld der Objektvielfalt sind Forschungsprojekte im Rahmen der digitalen Erschließung und Analyse von Handschriftenbeständen angesiedelt, welche entsprechende Erkenntnismöglichkeiten eben nur durch die Existenz der Digitalisate ermöglichen. Dies betrifft sowohl das Digitalisat im Sinne der Einzelüberlieferung (etwa die Analyse einer Handschrift bzw. kleinerer Quellengruppen) als auch der Möglichkeit der Analyse und Auswertung von sehr großem Datenmaterial, das nur mit computergestützten Methoden zu bewältigen ist (hierzu hat Björn Ommer einen spannenden Vortrag zur Computer Vision gehalten). Die Herausforderung im Bereich der Digitalisierung ist es aber auch, wie bereits vielfach und auch auf der Wolfenbütteler Veranstaltung unterstrichen wurde, nicht nur Antworten auf die Fragen von heute (die wir ja kennen und formulieren können) zu finden, sondern auch zukünftige Fragen, die wir unter Umständen heute noch gar nicht fassen können, zu ermöglichen. Dies erfordert eine teilweise unübliche, noch zu erlernende methodologische Offenheit, und eine über die Perspektiven der Einzelfächer hinausgehende grundlegende Bereitschaft zur Interdisziplinarität.

Im Hinblick auf historische Bibliotheksbestände ist die Ausgangslage eine auf den ersten Blick Erfreuliche: Früh hat sich das “digitale” Augenmerk auf diese einmaligen Kulturbestände gerichtet, so dass inzwischen solide Erfahrungswerte vorhanden sind, und vielfach auch entsprechende Digitalisierungsstandards entwickelt werden konnten. Die Anzahl der Digitalisierungsprojekte oder der virtuellen Rekonstruktionsprojekte zu mittelalterlichen Bibliotheken ist etwa bereits für den europäischen Raum kaum zu überschauen, ganz zu schweigen von Vorhaben zu nicht-europäischen Schriftkulturen. Teilweise entstehen – auch durch besondere Umstände bedingt und abhängig von der jeweiligen Fragstellung oder Schwerpunktsetzung – so genannte Insellösungen, die nicht immer mit gängigen Digitalisierungs- und Kodierungsstandards kompatibel sind, und die somit auch eine Vergleichbarkeit und eine Interoperabilität der unterschiedlichen Digitalisierungsprojekte bereits auf nationaler Ebene erschweren. Hier wird eine der wichtigen Herausforderungen der nächsten Zeit sein, Brücken zu schlagen und Austauschmöglichkeiten der Formate zu ermöglichen, um übergreifende Untersuchungsszenarien zu ermöglichen.

Verlässt man die reine Digitalisierungsebene der Bestände in Richtung wissenschaftliche Erschließung, so können einerseits ausgehend von bereits vorhandenen, digitalisierten und entsprechend annotierten Beständen weiterführende Forschungsprojekte angeschlossen werden. Aus dem Trierer DFG-Projekt „Virtuelles Scriptorium St. Matthias“, das die heute dislozierte, mittelalterlich Bibliothek von St. Matthias in Trier virtuell rekonstruiert, ist zum Beispiel das größere, vom BMBF geförderte Kooperationsprojekt „eCodicology“ entstanden, in dem u. a. Philologen, Buchwissenschaftler und Informatiker aus Darmstadt, Karlsruhe und Trier Algorithmen zum automatischen Tagging mittelalterlicher Handschriften entwickeln, die Makro- und Mikro-Strukturelemente einer Handschriftenseite im Hinblick auf Layout und Aufmachung automatisch erkennen und diese Informationen in die Metadaten zu jedem Image einpflegen. Das geht so weit gut, weil wir uns quasi ins gemachte Bett legen, sprich eigene, homogene Daten zu 500 mittelalterlichen Handschriften zu forschungsfragengetriebenen Analysen verwenden können.

Hybridität der Angebote in den digitalen Wissensräumen und Hürden im Forschungsalltag

Anders sieht es bezüglich der Quellengrundlage bei Vorhaben bzw. forschungsgetriebenen Einzelfragen aus, die man gerne als “traditionelle” Vorgehensweise bezeichnet (aber nicht ganz zutreffend, da diese doch eine zeitlose Daseinsform geisteswissenschaftlicher Forschung darstellt), und die auch nicht mit einem vorhandenen, homogenen digitalen Korpus etwa einer Bibliothek bzw. einem bereits fertigen Digitalisierungsprojekts zu einem bestimmten Thema zu bewältigen ist (bzw. es zur Zeit noch nicht ist). Ich möchte hier von einem eigenen Beispiel ausgehen: Im Rahmen einer Untersuchung zur Kulturgeschichte der Annotation habe ich an einer kleineren interdisziplinären Fallstudie, bei der der Ausgangsgedanke war, die Textgeschichte (und auch Texterfindung) des berühmten Architekturtraktates des antiken Autors Vitruvius durch die Überlieferung annotierter Exemplare vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit zu erforschen. Eine erste Stichprobe ergab, (u.a. auch dank der Existenz einer Online-Vitruv-Datenbank, die zumindest einen Teil der Zeitstrecke abdeckte), dass offenbar genügend Digitalisate entsprechender zentraler Handschriften, Inkunabeln und frühen Drucke für diese Fallstudie zugänglich sein müssten. Soweit die Theorie, die Praxis sah jedoch etwas anders aus: Viele Digitalisate, auch aus bekannten Bibliotheken bzw. auf der Europeana-Plattform, waren qualitativ so heterogen, dass zum Teil im schwarz-weißen Avatar der Buchrand selber und auch die eigentlich im Ausgangsobjekt vorhandenen Marginalien nicht mehr erkennbar waren. Ferner gab es regelmäßig Fehlverknüpfungen bzw. ungenaue Zuweisungen der Digitalisate einerseits innerhalb der Bibliothekskataloge selber und andererseits (wenn auch in geringerer Anzahl) in die vorhandene Vitruvdatenbank. Was hier unter Umständen für eine wissenschafts- oder architekturhistorische Fragestellung zu verschmerzen gewesen wäre (aber wahrscheinlich auch dort nicht), war aus philologischer Sicht methodisch deprimierend. Das Resultat war, dass ich die im Netz gewonnenen Daten zwar genauestens im Sinne einer Quellenkritik und auf dem Hintergrund eines Gesamtkorpus geprüft habe, aber dann entschieden habe, das digitale Angebot eher als Zusatzmöglichkeit zu nutzen und sonst gezielt wiederum das Original in der Bibliothek aufzusuchen. Trotz des vermeintlich überlieferungsgeschichtlich gut dokumentierten Vitruv, hat also das zur Zeit vorhandene, recht üppige digitale Angebot nicht gereicht, um (bereits jetzt) eine digital indizierte Einzelstudie durchzuführen, unter anderem eben wegen der unterschiedlichen Qualität der Digitalisate und deren Erschließung. In diesem Zusammenhang kommen die Historizität und Heterogenität der Bestandsdigitalisierung selber zum Vorschein, die im Laufe der letzten fünfzehn Jahre entsprechende Variabilitäten erzeugt hat. Insgesamt wäre es bestimmt interessant für Vitruv-Forschergemeinschaft, auf eine auch eine unkomplizierte, kollaborative Forschungsplattform zurückzugreifen, in der eigene zusätzliche Digitalisate und Erkenntnisse hätten eingepflegt werden können, und so langsam aus dem vorhandenen digitalen Angebot zu schöpfen bzw. diesen gezielt zu ergänzen.

Als Zwischenfazit bleibt im Bereich der einzelnen forschungsfragengetriebenen Analysen (die man auch als bottom-up-Prozesse verstehen kann) der Befund eines qualitativ hybriden Angebots im Bereich der Digitalisierung und der digitalen Erschließung mittelalterlicher Quellen, bei dem wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr genau darauf achten müssen, womit wir es zu tun haben (bzw. in anderen Worten: Prüfe, bevor du dich bindest). Dies sollte jedoch kein Grund sein, digitale Quellen nicht zu nutzen, sondern auch als Ermutigung verstanden werden, sich für eine Verbesserung des Angebots und dessen transparente Dokumentation zu engagieren, und sich auch konsequent für eine entsprechende heuristische Quellenkritik (“critique des sources”) einzusetzen, wie wir es ja sonst auch bei der “traditionellen” Quellenarbeit mit historischem Material tun.

Brainstorming für eine übergreifende Dokumentation einer bestands- und forschungsorientierte Digitalisierung

Die Frage ist ferner, wie man internationale Standards, offene Schnittstellen und Best Practice-Verfahren für die Digitalisierung und Erschließung dieser Bestände nicht nur entwickeln kann (denn die gibt es ja vielfach schon), sondern auch so propagieren kann, dass Insellösungen eher vermieden bzw. mit ihren Besonderheiten anknüpffähig werden, sowie Anforderungen der disziplinenindizierten Grundlagenforschung (wie etwa mit dem Vitruvbeispiel) aufgefangen werden können.

In dieser Hinsicht wäre der Gedanke eines internationalen Digital Documentation Platform of Manuscript Collections  überlegenswert (hier könnte dann Erik Kwakkel zum Beispiel nach allen digitalisierten, westeuropäischen Handschriften des 12. Jahrhunderts sammlungsübergreifend suchen, wie er es sich in seinem Wolfenbütteler Vortrag gewünscht hat). Sinnvoll wären in diesem Sinne auch grenzüberschreitende Zusammenschlüsse versierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die als interdisziplinär aufgestelltes Gremium auch methodologisch-infrastrukturell operieren und das Verhältnis von Digitalisat und analoger Vorlage sowie das Verhältnis zwischen digitalisiertem historischem Objekt und Wissenschaftlern theoretisch ausloten (im Sinne kollaborativer Zusammenarbeit, ohne top-down-Vorgehen). Dabei wären Synergien mit anderen Initiativen zu digitalen Forschungsinfrastrukturen (etwa Nedimah, Dariah u. a.) und Census-Vorhaben zur mittelalterlichen Überlieferung auszuloten und anzustreben.

Auch die Erarbeitung eines Kriterienkatalogs oder “Qualitätssigels” zur wissenschaftlichen Bewertung der digital zur Verfügung stehenden Handschriften bzw. Sammlungen sollte überlegt werden, anhand dessen die Benutzerin auf der jeweiligen Homepage übersichtlich und transparent über das Datenmaterial und dessen Aufbereitung informiert wird, und ihr auch die Möglichkeit eines direkten Feedbacks gegeben wird (etwas was ich mir schon lange für das VD16 und VD17 zum Beispiel wünsche). Notwendig sind ferner die Entwicklung und Auslotung von konkreten Benutzerszenarien und Benutzerstudien, mit deren Hilfe dokumentiert werden kann, welche Anforderungen an Digitalisate sowohl disziplinenorientiert als auch in übergreifender Sicht gestellt werden können und müssen.

Und schließlich sollten Studierende und der wissenschaftliche Nachwuchs frühzeitig für die Gesamtproblematik der Digitalisierung, dem Umgang mit dieser sowie ihrer Konsequenzen sensibilisiert und entsprechend ausgebildet werden – dies nicht nur in den neuen Studiengängen der Digital Humanities, sondern allgemein in den Einzeldisziplinen im Sinne einer traditionellen Heuristik und Quellenkunde im Umgang mit digitalisiertem Kulturgut.

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Für die Diskussion über und Anregungen zu meinem Eingangsstatement danke ich den Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmern sowie Vera Hildenbrandt (Trier Center for Digital Humanities), Falko Klaes (Universität Trier, Ältere Deutsche Philologie) und Georg Schelbert (Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Kunstgeschichte).

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Literatur (Auswahl)

Claudine Moulin, Multiples vies paratextuelles: Vitruve, De Architectura, 2013 (abrufbar unter: http://annotatio.hypotheses.org/222)

Nicholas Negroponte, Being Digital, New York 1996

Ségolène Tarte, Interpreting Ancient Documents: Of Avatars, Uncertainty and Knowldege Creation, ESF exploratory workshop on Digital Palaeography, Würzburg, Germany, http://tinyurl.com/esfDPwkshp, Talk given on 22d July 2011(http://oxford.academia.edu/SegoleneTarte/Talks/49627/Interpreting_Ancient_Documents_Of_Avatars_Uncertainty_and_Knowldege_Creation)

Virtuelles Skirptorium St. Matthias: http://www.stmatthias.uni-trier.de/ (DFG-Projekt

ECodicology:  Algorithmen zum automatischen Tagging mittelalterlicher Handschriften: http://www.digitalhumanities.tu-darmstadt.de/index.php?id=ecodicology (BMBF-Projekt)

 

 

Quelle: http://annotatio.hypotheses.org/353

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13. Sechs Tricks für eine gelingende Promotion

 

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an Ihrer Doktorarbeit. Sie haben vor sich folgende Komponenten: Drei Jahre Zeit, ein Thema, einen Laptop, schon etwas Ahnung von der Primär- und Sekundärliteratur, ein gutes Verhältnis zu Ihrem Doktorvater oder zu Ihrer Doktormutter, völlige Freiheit in der Gesteltung Ihrer Zeit.

Um nicht plötzlich in eine Sinnkrise zu verfallen und zu merken, dass dreiviertel ihrer Zeit schon vorbei ist, Sie plötzlich perfekt Spanisch und Lettisch können, alle Cafés und alle Bedienungen der Stadt kennen, einen noch neueren Laptop und ein Tablet besitzen, nichts von Weckern halten, aber noch keine Seite geschrieben haben, müssen Sie sich selbst austricksen. Mir fallen sechs Beispiels ein, wie ich mich ausgetrickst habe:

Trick 1: Melden Sie sich so häufig es geht für ein Doktorandenkolloquium an, um etwas vorzutragen. Sie werden sehen, dass Sie daran den Puls Ihrer Arbeit messen können werden. Es hat sich einiges getan seit dem letzten Referat im Studium, für das Sie maximal eine halbe Stunde Vorbereitungszeit aufgewendet haben, denn jetzt geht es nicht mehr um irgendeine von vielen Noten, sondern um Ihr Kunstwerk. Sie stellen nicht nur Ergebnisse dar, sondern auch sich selbst und Ihre Leistungen. Das baut so viel Druck auf, dass Sie ganz sicher den einen oder anderen Kaffee sausen lassen, um eine gute Präsentation vor Ihren Kommilitonen und Ihrem Professor zu halten. Und ehe Sie sich versehen, steht ein Kapitel oder ein Teil eines Kapitels Ihrer Diss.

Trick 2: Siehe Trick 1 und tausche “ein Doktorandenkolloquium” durch “eine Konferenz”.

Trick 3: Bilden Sie mit Ihren Freunden Präsentationskreise, in denen Sie Ergebnisse informell diskutieren können, die aber einen festen und regelmäßigen Rahmen bilden. – Achtung: Dies klassifiziert Sie als Streber. Aber das ist Ihnen egal, denn diese Auszeichnung haben Sie bereits durch den Wunsch zu promovieren ergattert.

Trick 4: Kaufen Sie sich keinen neuen Laptop. Um ein Schreibprogramm oder ein Literaturverwaltungsprogramm sowie Emails benutzen zu können, reicht Ihr alter Laptop. Wenn Sie einen neuen kaufen wollen, hängt das sicher damit zusammen, dass Sie zocken. Zocken ungleich Dissertation.

Trick 5: Reden Sie mit Ihren Freunden immer so über die Dissertation, als sei es eine feste Arbeitsstelle, wie Sie andere Menschen auch haben, mit Verwaltungsproblemen, Deadlines und Telefonaten. Die Sache mit den Telefonaten müssen Sie eben erfinden.

Trick 6: Ist mir leider entfallen. Es war der beste. Wissen Sie ihn noch?

Jedenfalls: wenn Sie sich an mindestens diese Tricks halten, ist es sicher, dass Sie mit Ihrer Arbeit vorankommen.

Genau.

Und was sagt es über ich aus, dass ich diesen Blogeintrag um etwa 13.00 Uhr poste? Hmmmm.

 

 

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/177

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Mehr Europa wagen? Willy Brandt, die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) und der Nahe Osten

Spätestens seit den Ereignissen in der arabischen Welt in den vergangenen Jahren wird der Ruf nach einem gemeinsamen Auftreten der Europäischen Union in internationalen Angelegenheiten immer lauter, auch wenn er nicht neu ist: Mit der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) etablierten … Continue reading

Quelle: http://netzwerk.hypotheses.org/1883

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Die Regierungspolitik des Königreiches Bayern gegenüber der Provisorischen Zentralgewalt von 1848/49: Forschungsprojekt Sabine Thielitz

 

Sabine Thielitz studierte seit dem Wintersemester 2005/06 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Deutsch, Geschichte und Sozialkunde für das Gymnasiallehramt. Im Winter 2011/12 legte sie in diesen Fächern das 1. Staatsexamen ab. Seit 2010 war sie am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte als studentische Hilfskraft und Tutorin tätig. Nach dem Abschluss ihres Studiums arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei dem DFG-Projekt „Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt von 1848/49“. In diesem Rahmen beschäftigt sie sich mit der Regierungspolitik Bayerns gegenüber der Provisorischen Zentralgewalt. Darüber hinaus ist sie seit 2012 als Lehrbeauftragte für Neuere und Neueste Geschichte an der KU tätig.

Als die Provisorische Zentralgewalt im Juni 1848 per Gesetz durch das Frankfurter Parlament dazu berufen wurde, in dem staatsrechtlichen Interim der Revolutionszeit die Regierungsgeschäfte zu übernehmen und für den Vollzug der von der Nationalversammlung erlassenen Gesetze zu sorgen, stellte der für die Regierungstätigkeit notwendige Umgang mit den fürstlichen Partikulargewalten eine grundlegende Voraussetzung dar. Dieser Aspekt soll im Rahmen des Forschungsprojektes im Hinblick auf das Königreich Bayern genauer untersucht werden.

König Maximilian II. von BayernKönig Maximilian II. von Bayern. Photographie von Franz Hanfstaengl, ca. 1860

Ein Blick auf die vielfältige Forschungsliteratur zur Revolution 1848/49 verdeutlicht die Forschungsrelevanz des Themas. Bei der regional- und lokalgeschichtlichen Aufarbeitung der Revolutionsjahre zeigt sich ein starkes Süd-Nord- und West-Ost-Gefälle. Der Revolution in Baden und Württemberg wurde vergleichsweise verstärkte Aufmerksamkeit zuteil, während die Untersuchungen über andere Staaten und Regionen des Deutschen Bundes überschaubar sind1. Hinsichtlich der bayerischen Regierungspolitik liefern für diese Zeit wenige ältere Forschungen einen ersten Einblick2. Das Verhältnis der Münchner Regierung zu der Provisorischen Zentralgewalt wurde dabei nur peripher behandelt. Demnach liegt für diesen Themenkomplex bisher keine modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Untersuchung vor. Das Forschungsprojekt versucht diese Forschungslücke zu schließen.

Mit der Politik des Königreiches Bayern wird das Vorgehen eines Bundesstaates untersucht, welcher sich besonders durch seine ablehnende Haltung in der Reichsverfassungsfrage auszeichnete und sich damit letztlich den revolutionären gesamtdeutschen Gewalten dezidiert und offen entgegenstellte. Es wird versucht, auf reziproker Basis, die Entwicklung der politischen Strategie der bayerischen Regierung gegenüber den revolutionären Institutionen von dem Ausbruch der Februarrevolution des Jahres 1848 in Frankreich bis zu dem Scheitern der Nationalversammlung und der Provisorischen Zentralgewalt im Jahre 1849 zu erhellen: In welchen Bereichen und unter welchen Umständen kooperierte Bayern mit den Frankfurter Institutionen und welchen Aspekten der Politik der Reichsregierung begegnete die bayerische Regierung mit Kritik und Ablehnung? Welche Motive und Ziele verfolgte die bayerische Staatsführung dabei mit ihrer jeweiligen Haltung und mit welchen Mitteln versuchte sie diese Ziele gegenüber der Provisorischen Zentralgewalt und der Paulskirchenversammlung durchzusetzen? Schließlich bleibt die Frage nach dem Erfolg der bayerischen Bemühungen und deren Folgen für das Scheitern der Revolution.

Neben der Erforschung des Verhältnisses der königlich-bayerischen Regierung zu den revolutionären Institutionen sollen auch die diplomatischen Beziehungen zu den anderen Bundesstaaten, vor allem zu den Königreichen Hannover, Sachsen und Württemberg sowie zu den Vormächten Österreich und Preußen, berücksichtigt werden. Dabei stehen besonders die Versuche Bayerns, in dieser revolutionären politischen Situation etwaige Bündnisse und Koalitionen im Sinne der eigenen Politik zu schließen, im Zentrum des Forschungsprozesses.

Das Forschungsvorhaben eröffnet neue Erkenntnisse im Hinblick auf die politischen Wechselbeziehungen der revolutionären gesamtdeutschen Institutionen in Frankfurt mit dem bayerischen Königreich. Den Einzelregierungen kam bei der etwaigen Umsetzung der auf der Gesamtreichsebene durch die Nationalversammlung beschlossenen und durch die Provisorische Zentralgewalt angeordneten Maßnahmen generell eine zentrale Funktion zu. Zudem war die Zentralgewalt in Frankfurt auf die Berichte aus den Einzelstaaten angewiesen, um die politische, wirtschaftliche und soziale Lage vor Ort beurteilen zu können. Daher stellten die bundesstaatlichen Exekutiven eine Schaltstelle zwischen National- und Regionalpolitik dar. Die Untersuchung der politischen Strategie der bayerischen Regierung gegenüber den Frankfurter gesamtdeutschen Institutionen und der Wahl der politischen Mittel zur Durchsetzung der einzelstaatlichen Interessen kann demnach wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der Effektivität der Tätigkeit der Gesamtreichsregierung liefern. Auf diese Weise dient eine solche Untersuchung auch der differenzierteren Herausstellung möglicher Gründe für das Scheitern der Revolution von 1848/49. Zudem ist mit weiteren Einsichten in die Bündnispolitik des Königreiches Bayern sowohl zu den deutschen Vormächten Preußen und Österreich als auch zu den übrigen Mittelstaaten zu rechnen.

Im ersten Jahr des Forschungsvorhabens stand zunächst die Erfassung der für die bayerische Regierungspolitik relevanten Quellensammlungen und der Darstellungsliteratur im Vordergrund. Zudem erfolgte die Recherche der privaten und offiziellen Aufzeichnungen der maßgeblichen politischen Akteure. Dabei standen besonders die bayerischen Bevollmächtigten bei der Provisorischen Zentralgewalt sowie die bayerischen Außenminister und Monarchen dieser Zeit im Fokus des Interesses. Derzeit nimmt die Recherche und Aufarbeitung der in München lagernden Gesandtenberichte und Ministerialakten der königlich-bayerischen Regierung breiten Raum ein.

 

  1. An diesem von Rüdiger Hachtmann Ende der 1990er Jahre festgestellten Befund hat sich bis heute kaum etwas geändert: HACHTMANN, Rüdiger: 150 Jahre Revolution von 1848: Festschriften und Forschungserträge, in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999) 447–493; 40 (2000) 337–401, hier Bd. 39, 465.
  2. DOEBERL, Michael: Bayern und Deutschland, Bd. 1: Bayern und die Deutsche Frage in der Epoche des Frankfurter Parlaments, München – Berlin 1922; DEUERLEIN, Ernst: Bayern in der Paulskirche. Reden und Tätigkeiten der bayerischen Abgeordneten in der ersten Deutschen Nationalversammlung 1848/49, Altötting 1948.

 

 

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/340

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„Creating Rurality from Below“

 

Ich hatte es vor einiger Zeit schon mal erwähnt: Am vergangenen Wochenende fand in Bamberg eine interdisziplinäre und internationale Tagung statt, organisiert von Marc Redepenning, Julia Rössel und Christoph Baumann, alle drei Sozial- und KulturgeographInnen.

Tagungsposter; http://www.blogs.uni-mainz.de/fb09cultural-geography/events-and-conferences/rurality-new-perspectives-and-themes/; alle Rechte dort.http://www.blogs.uni-mainz.de/fb09cultural-geography/events-and-conferences/rurality-new-perspectives-and-themes/

Diskutiert wurde, wie man mit einem relationalen Verständnis von Ländlichkeit diese diskutieren und analysieren kann. Ich war eingeladen und durfte netterweise erste Überlegungen zu einem Kapitel meiner Habilitation zu den „Übergangsgesellschaften“ vorstellen.

Die Tagung war für mich sehr interessant und in vielerlei Hinsicht anregend. Nicht nur, dass ich sehr nette Menschen kennengelernt und interessante Gespräche geführt habe, ich habe auch einen ganzen Haufen methodischer und theoretischer Anregungen bekommen und war ganz überrascht von dem Werkzeugkoffer, mit dem manche Geograph/innen so unterwegs sind – sehr beeindruckend! Dass darüber hinaus mein Vortrag gut angekommen ist, ist natürlich ganz besonders toll und gibt mir einen kräftigen Motivationsschub!

Im Folgenden gebe ich nun eine Kurzfassung meines Vortrages wieder; wer an einer ausführlicheren Fassung interessiert ist: Ich bin dabei, einen Aufsatz daraus zu machen und werde selbstverständlich Bescheid geben, wenn er irgendwo erscheint.

 

„Ländlichkeit“ ist ein Konzept, das in der Geschichtswissenschaft in der Regel nur vermittelt eine Rolle spielt. Untersucht die Geschichtswissenschaft agrarische Gesellschaften, wird in der Regel das Charakteristikum „Ländlichkeit“ als Kennzeichen der untersuchten Gesellschaft vorausgesetzt, nicht aber selbst zu einem Gegenstand der Untersuchung gemacht. Untersucht man jedoch – und das ist in der Vergangenheit bereits ausgiebig unternommen worden – die Konstruktion von Ländlichkeit, so rücken vor allem bürgerliche, städtische Akteure in den Blick, etwa die „Agrarromantiker“, von denen Bergmann 1971 schrieb. Ländlichen Gesellschaften selbst schienen von diesen Ländlichkeitskonstruktionen weitestgehend unberührt zu sein; sie existierten quasi in einer anderen Sphäre.

Ich habe im Rahmen des Vortrags diese Forschungen insofern erweitert, als dass ich ländliche Gesellschaften als „Kontaktzonen“ in bestimmten Prozessen sichtbar mache. Kontaktzone – das ist ein Konzept, das vor allem in der post-kolonialen Forschung zu Globalisierungsprozessen eine Rolle spielt und erst langsam, vor allem vermittelt über Emily Rosenberg, seinen Weg in die Geschichtswissenschaft findet. Kontaktzonen sind in diesem Zusammenhang soziale Räume, die durch die Konfrontation und den Kontakt heterogener Interessen bestimmt sind, vor allem aber durch Hierarchien, Machtverhältnisse und die unterschiedliche Verteilung von Handlungsspielräumen gekennzeichnet sind. So kann man auch ländliche Gesellschaften als Kontaktzonen der Konstruktion von Ländlichkeit sichtbar machen.

In zwei Schritten bin ich anschließend diesem Konstruktionsprozess vor Ort, am Beispiel von Bernried, nachgegangen: am Beispiel von Heimatschutz-Gesetzgebung und der Förderung des Tourismus. Bernried eignet sich hervorragend für die Analyse dieser Beispiele – oder andersrum: Die Beispiele sind abgeleitet vom Bernrieder Fall, sicherlich wären auch andere Situationen denkbar, in denen Ländlichkeitskonstruktionen sichtbar gemacht werden könnten. Aber Bernried als früher Sommerfrische-Ort und Sinnbild eines (vermeintlich) unberührten oberbayerischen Dorfes im Voralpenland zeigt genau an diesen Stellen, wo Kontakte über die Dorfgrenzen hinaus bestehen, die exemplarisch analysiert werden können.

1. Zu diesem ersten Abschnitt habe ich bereits einen kurzen Text geschrieben. Wenn man den Maßnahmen zur Pflege heimischer Bauweise genauer nachgeht, stellt man schnell fest, dass diese zunächst (mindestens im Zeitraum bis zum Ersten Weltkrieg) vor Ort keine Relevanz hatten – oder anders gesagt: Es gab keine Baugenehmigungen, die ausgehend von der Heimatschutzgesetzgebung zum Schutz heimischer Bauweise nicht genehmigt oder nur unter Auflagen genehmigt worden wären. Aber sichtbar wird auch: Gebaut haben in Bernried in dieser Periode fast nur Städter – vor allem Angehörige des Bürgertums (vermute ich; fast alle von ihnen trugen Doktortitel), und zwar vor allem repräsentative Sommervillen, die sich ziemlich stark von der örtlichen Bauweise unterschieden. Und in der Regel waren das Entwürfe, die von einem orthodoxen Heimatschützer sofort kassiert worden wären – historizistischer Stilmix aus Folklore und Türmchen und Erkerchen. Es passierte aber nichts. Was kann man daraus schließen?

Entweder geht man davon aus: Okay, Heimatschutzgesetzgebung hat keinen Effekt, sie versandet irgendwo auf dem Weg von oben nach unten. Oder aber man fragt sich: Warum hat denn die Gemeindeverwaltung, die zuständig gewesen wäre für die Einhaltung der ortspolizeilichen Vorschriften, nicht interveniert? Dann wird das Nicht-Intervenieren zu einer aktiven Handlung, die mit bestimmten Motivlagen verknüpft sein könnte: etwa der Abwägung von monetären Interessen der Gemeinde (neue Grundsteuer-Zahler) mit ideellen (Heimatschutz); oder aber auch das bewusste Ignorieren von Heimatschutzvorstellungen, die den eigenen widersprechen (auch hierfür gibt es Hinweise). Wichtig ist also: Anhand der Heimatschutz-Gesetzgebung und ihrer (Nicht-)Umsetzung kann analysiert werden, dass die Möglichkeiten, das architektonische Bild des Dorfes zu beeinflussen, sehr ungleich verteilt waren. Die Heimatschutz-Propheten waren nicht besonders erfolgreich. Wie „erfolgreich“ oder nicht hingegen die örtlichen Akteure waren, findet man nur heraus, wenn man ihre Zielsetzungen kennt. Und es scheint zumindest möglich, dass sie – gemessen etwa an der Zielsetzung, möglichst viele Steuerzahler nach Bernried zu holen und diese nicht etwa mit irgendwelchen Bauordnungen zu verschrecken – durchaus erfolgreich waren.

2. Beinahe gleichzeitig mit der Implementierung der Heimatschutzgesetzgebung begann man in Bernried damit, den Ort für Touristen attraktiver zu machen. Zwar war Bernried auch schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert ein Ort gewesen, an dem der eine oder andere prominente Münchner seine Sommerfrische verbracht hatte, schien es doch den örtlichen Verantwortlichen sinnvoll zu sein, einen Verein zu gründen, um Bernried attraktiver zu machen. Der „Dorfverschönerungsverein“ hatte es sich vor allem zur Aufgabe gemacht, Fußwege im Ortsbereich anzulegen, Baumalleen und schattige Wälder zu pflanzen sowie Parkbänke aufzustellen. Ganz offensichtlich war es also das zentrale Anliegen des Vereins, Bernried zu einem attraktiven Ort für eine zutiefst bürgerliche und touristische Aktivität zu machen: für den Spaziergang. Der erste Ansatz war, eine Promenade am Seeufer anzulegen. Dass dies letztlich am Widerstand des örtlichen Gutsbesitzers scheiterte, ist eine komplizierte Geschichte – offenbar befürchtete dieser, sein ländliches Gut werde an Wert verlieren, wenn ein öffentlicher Spazierweg darüber führte. Auch hier also waren die Chancen zur Gestaltung des Dorfes unterschiedlich verteilt; interessant erscheint darüber hinaus, dass der örtliche Verschönerungsverein nicht das architektonische (oder Kultur-)Bild des Ortes zu konservieren versuchte, sondern vor allem die „natürlichen“ Voraussetzungen des Ortes – die Naturnähe, den Ausblick etc. – durch Baumaßnahmen besonders hervortreten lassen wollte. Ländlichkeit wurde hier also vor allem über Natürlichkeit zu konstruieren versucht.

Es wird klar, dass man auch auf der Mikroebene die Herausbildung von Ländlichkeit beobachten kann – und sollte. Die Herausbildung war aber weder einfach durch städtische Akteure determiniert noch von den ländlichen Akteuren komplett steuerbar. Die Möglichkeiten, Ländlichkeit aktiv zu konstruieren und dauerhaft im Ortsbild zu verankern, waren sehr ungleich verteilt. Eine Analyse der „Kontaktzone Dorf“ nimmt also diese unterschiedlichen Vorstellungen und Verwirklichungschancen in den Blick, ohne bereits davon auszugehen, dass am Ende die „städtischen“, weil mit mehr Machtmitteln ausgestatteten Akteure als „Sieger“ aus der Schlacht hervorgingen. Zudem wurde sichtbar, dass nicht alle Formen der Ländlichkeits-Konstruktion schlichte Romantisierungen des Landlebens waren, sondern dass darüber hinaus auch eine instrumentelle Variante bedacht werden muss. Ein Beispiel ist die „ländliche Natürlichkeit“, die der Dorfverschönerungsverein forcierte, und die zumindest zu einem Gutteil dazu dienen sollte, Touristen nach Bernried zu holen.

 

 

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/227

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