Die Nachlässe der Minister, oder: Was haben Memoiren in einer Aktenedition zu suchen?

Wie bereits berichtet, ist der Kernbestand der von uns geplanten Edition  die 185 Sitzungsprotokolle des Gesamtreichsministeriums und die Beilagen dazu  inzwischen vollständig transkribiert beziehungsweise regestiert. Die weitere Arbeit konzentriert sich einerseits auf Sachkommentare zu diesem Material, andererseits auf die Ermittlung weiterer, nicht unmittelbar beiliegender Bezugsakten aus den nunmehr digitalisierten Beständen der Ministerien.

Anton von Schmerling legte in hohem Alter nach seinem Ausscheiden aus der aktiven (österreichischen) Politik umfangreiche “Denkwürdigkeiten” an, die heute als Manuskript im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv verwahrt werden.

Daneben ist aber für die kommenden Monate noch eine weitere Reihe von Demarchen geplant. In einer erklecklichen Zahl von Bibliotheken und Archiven, über weite Teile Deutschlands (und Österreichs) verstreut, soll in Nachlässe der Minister und Unterstaatssekretäre der Provisorischen Zentralgewalt Einsicht genommen werden. Recherchen im Laufe des vergangenen Jahres haben ergeben, daß es zu mehr als der Hälfte der Regierungsmitglieder in größerem oder geringerem Umfang handschriftliches Material gibt. Besonders reichhaltig sind der Nachlass des Justizministers Robert von Mohl in Tübingen und Stuttgart  allein seine gesammelten Briefwechsel füllen 20 Bände , die Familienpapiere Gagern in Darmstadt, der Nachlass des Außen- und Marineministers August Jochmus in München sowie jener des Vorsitzenden des Ministerrats im Herbst 1848, Anton von Schmerling, in Wien. (Warum die aufeinander folgenden Leiter des Reichsministeriums manchmal Premierminister hießen und manchmal nicht, wäre eine eigene Geschichte.) Substantielle Bestände gibt es aber auch an etwas abgelegeneren Orten, etwa im Stadtarchiv Krefeld zum Finanzminister Hermann von Beckerath oder im Leiningenschen Schlossarchiv zu Amorbach zum ersten deutschen Premierminister, Karl zu Leiningen. Die fortschreitende Erschließung von Nachlässen und Autographen durch überlokale Datenbanken (genannt seien vor allem die ZDN sowie der Autographenkatalog KALLIOPE) hat außerdem erlaubt, kleinere Reste und Einzelstücke an einer Vielzahl von Standorten zu lokalisieren, die freilich gar nicht alle bereist werden können.

Andererseits sind auch Lücken festgestellt worden; von manchen Persönlichkeiten scheint überhaupt kein oder kein nennenswerter Nachlass jemals bekannt gewesen zu sein, so etwa von den beiden letzten Vorsitzenden Grävell und Sayn-Wittgenstein-Berleburg. In anderen Fällen sind Papiere, die im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert in Familienbesitz nachweisbar sind, heute unbekannten Verbleibs, etwa die in mehreren Arbeiten vor dem Zweiten Weltkrieg noch herangezogenen Materialien aus dem Besitz des letzten Justizministers Johann Hermann Detmold. Der umfangreiche Nachlass des kurzzeitigen Unterstaatssekretärs im Handelsministerium, Gustav Mevissen (der als Unternehmer und als Kölner Lokalpolitiker weit bekannter ist), ist dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln zum Opfer gefallen und auf absehbare Zeit nicht zu benutzen; und vom Grazer Nachlass des Erzherzog-Reichsverwesers selbst sind erhebliche Teile im Zweiten Weltkrieg zerstört worden.

Was aber wollen wir mit diesen Quellen? Ihre Einbeziehung in eine Aktenedition ist ausgesprochen ungewöhnlich. Dahinter steht vor allem die folgende Überlegung: Die Protokolle selbst sind in aller Regel sehr lapidar formuliert. Zu vielen Punkten liest man dort Formulierungen in der Art von: Das Reichsministerium des Krieges legt den in dessen Akten unter Numero 1628 eingetragenen Bericht des Reichs-Commißärs Stedmann vom 21ten dieses Monats und die demzufolge für den Befehlshaber der Reichstruppen in Schleßwig-Holstein, Generalmajor von Bonin, entworfene – unter Numero 756 vom 29ten dieses Monats ausgefertigte Instruktion vor. Es wird beschlossen: letztere zu genehmigen (73. Sitzung vom 27. Dezember 1848, § 8). Zum Inhalt der erwähnten Dokumente erfährt man hier nichts oder fast nichts, in einzelnen Fällen werden nicht einmal Betreffe genannt; viel weniger kommen Diskussionen oder Begründungen für die Entscheidungen zur Sprache. Allenfalls wird zu einem Beschluss erwähnt, er sei nach stattgehabter Erörterung gefallen. Diese lakonische Kürze ist durchaus nicht ungewöhnlich; von Protokollen als Quellengattung darf grundsätzlich nicht erwartet werden, dass sie etwas anderes als die rechtlich relevanten Aspekte eines Vorgangs festhalten, in diesem Fall eben die Beschlüsse. Der Umstand unterscheidet die Protokolle des Reichsministeriums aber doch von einzelnen ähnlichen Quellen derselben Zeit, namentlich von den Wiener Ministerratsprotokollen, in denen regelmäßig auch von den Ministern vorgebrachte Standpunkte und Argumente wiedergegeben werden. (Dies rechtfertigt im Falle der österreichischen Protokolle für sich bereits den Grundsatz der Edition im Volltext, auch wenn er angesichts des Umfangs des Bestandes an der langen Bearbeitungsdauer und dem gewaltigen Umfang der Edition einen gewichtigen Anteil hat.)

Die Aufarbeitung der Beilagen und sonstigen Bezugsakten sowie die Verwertung von Sekundärliteratur in den Sachkommentaren sind natürlich die Mittel erster Wahl, um die Kürze der Protokolle auszugleichen und den Benutzerinnen und Benutzern unserer Edition die unausgesprochenen Zusammenhänge zu erschließen. Manches aber, zumal Atmosphärisches, steht in aktenförmigem Schriftgut nirgends. Daher kommt die Idee, dass es einerseits wünschenswert, andererseits aber angesichts des überschaubaren Gesamtumfangs des zu bearbeitenden Materials auch hinsichtlich des Aufwands vertretbar ist, Quellen anderer Art ergänzend hinzuzuziehen. Zeitnahe Briefe oder persönliche Aufzeichnungen einerseits, später niedergeschriebene Erinnerungen andererseits erscheinen dazu gerade wegen der ganz anders als bei Akten gelagerten Berichts- und Selbstdarstellungsabsichten, die in ihnen wirksam sind, als besonders interessante Texte. Dass die Anlage und auch die Aufbewahrung solcher Schriften, welche die neuere Quellenkunde im Bereich der Selbstzeugnisse oder „Ego-Dokumente“ verortet, bei bürgerlichen wie adeligen Akteuren des öffentlichen Lebens im 19. Jahrhundert besonders verbreitet war, kommt unseren Absichten zustatten; im Übrigen auch insofern, als erhebliche Mengen derartiger Quellen bereits in publizierter Form vorliegen. Die Durchsicht dieser Veröffentlichungen und die Anbringung von Verweisen ist daher Teil der Kommentierung der Akten; zusätzlich sollen aber bisher ungedruckte Stücke ediert werden, wo sie von besonderem Wert für die Anliegen unseres Forschungsvorhabens sind.

Klar sein muss dabei, gerade angesichts des Umfangs des potentiell verwertbaren Materials dieser Art, dass es sich nur um eine Auswahl handeln kann. Die Protokolledition und der Nachweis der Bezugsakten sind und bleiben das Pflichtprogramm unserer Edition, die Ergänzung aus Selbstzeugnissen der Beteiligten gleichsam die Kür. Ein Vollständigkeitsanspruch, wie er hinsichtlich des ersteren Punktes selbstverständlich einzuhalten ist, kann hinsichtlich des zweiten nicht eingelöst und soll daher gar nicht erhoben werden: Dazu müssten wohl sämtliche Abgeordnete, Reichsgesandte, Reichskommissare, aber auch die Minister der einzelstaatlichen Regierungen, mit denen die Zentralgewalt verkehrte, einbezogen werden, darüber hinaus aber auch noch andere Zeugen und Zeuginnen, die in welcher Kapazität auch immer als Journalisten, als Beamte oder Militärs, als Ehefrauen von Politikern Einblick in das Geschehen hatten. Eine erste wesentliche Beschränkung betrifft daher den Personenkreis: Die handschriftlichen Nachlässe werden nur für die Mitglieder des Reichsministeriums, also Minister und Unterstaatssekretäre, aufgesucht. Auch aus ihnen kann aber gewiss nicht jede Stelle, die in irgendeiner Weise für die Tätigkeit der Zentralgewalt relevant und bisher ungedruckt ist, von uns veröffentlicht werden. Es ist daher eine Auswahl zu treffen, die sich an der Relevanz für die Leitfragen unseres Projekts orientiert.

Was dabei im Einzelnen herauskommen wird, ist aber jetzt noch nicht zu sagen. Da es ja gerade darum geht, bisher Unveröffentlichtes zu finden, wissen wir noch nicht, was der Blick in die Nachlässe liefern wird. Mit dem Schmerling-Nachlass hat vor kurzem dieser Arbeitsgang begonnen, Anfang März sind dann bereits die Mohlschen Papiere an der Reihe. Was sich dabei ergibt, wird an dieser Stelle zu erfahren sein, bevor es dann in den Editionsband Eingang findet.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/128

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Provisorische Zentralgewalt und Mikrofilm, oder: Digitalisierung unserer Arbeitsgrundlagen abgeschlossen


Die 60 Filmrollen (hier jeweils zweifach hintereinander gestapelt) entsprechen knapp 20 Laufmetern Akten – oder einer Festplatte. 

Während des ersten Projektjahres hat sich die Arbeit an der Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt auf die zentrale Serie von Quellen, die Sitzungsprotokolle des Gesamt-Reichs-Ministeriums, konzentriert. Die insgesamt 185 Protokolle wurden in diesem Zeitraum vollständig transkribiert, ihre zahlreichen Beilagen in Regestenform bearbeitet. Dieser Arbeitsgang ist inzwischen abgeschlossen und es steht bereits die Kollationierung der Transkripte an. Im zweiten Jahr geht es nun an die Aufarbeitung der wesentlich umfangreicheren Sachakten aus den Registraturen der einzelnen Ministerien. Zum einen sind jene Aktenstücke nachzuweisen, auf die in den Protokollen ausdrücklich Bezug genommen wird; zum anderen werden auch weitere Stücke ausgesucht, die zu den Leitfragen unseres Projekts besonders interessante Informationen liefern können. Sie sollen als ergänzende Quellen in die Edition aufgenommen werden.

Arbeitsgrundlage sind für alle diese Tätigkeiten digitale Reproduktionen der Akten auf der Basis einer vom Bundesarchiv vor einigen Jahren durchgeführten Sicherheitsverfilmung der Bestände DB 52 bis DB 59. Dass diese Mikrofilme bereits vorhanden sind, hat uns ermöglicht, Reproduktionen in einem Ausmaß zu beziehen, das ansonsten mit den Mitteln eines verhältnismäßig bescheiden dotierten Projekts nicht zu bewerkstelligen gewesen wäre. Die kurze Lebensdauer der Provisorischen Zentralgewalt tut ein Übriges dazu, den Gesamtumfang beherrschbar zu halten; somit befindet sich unser Projekt in der vermutlich sehr seltenen Lage, fast den gesamten schriftlichen Niederschlag einer Regierung während der Dauer ihrer Existenz als Arbeitsmaterial unmittelbar zur Hand zu haben. (Nur „fast“ den gesamten, denn es gibt da auch etliche ganze Filmrollen, auf denen nur die beim Reichsministerium der Finanzen in gewaltigen Mengen gesammelten Abrechnungen und Einzelbelege für die Verpflegung, Unterbringung und Beförderungskosten der Reichstruppen reproduziert sind. Diese und noch einige weitere kleinere Serien, die für unser Forschungsinteresse nicht relevant erscheinen, blieben bei unserer Bestellung ausgespart, um ihre Bearbeitung künftigen Forschenden mit entsprechenden Fragestellungen vorzubehalten …)

Um von dem Ganzen eine Vorstellung zu vermitteln, ein paar Zahlen: Die genannten Bestände des Bundesarchivs, entsprechend den (rekonstruierten) Archiven des Gesamtministeriums und der insgesamt sieben Einzelministerien, haben laut den Verzeichnissen einen Gesamtumfang von etwa 26 Laufmetern, entsprechend 1033 Archiveinheiten (hier in der Hauptsache Aktenfaszikel von sehr unterschiedlicher Stärke). Diese Akten haben auf insgesamt 83 Rollen Mikrofilm Platz gefunden. Davon wurden insgesamt 60 Filme im Verlauf des vergangenen Jahres für unser Projekt dupliziert und im Dezember von einem privaten Anbieter für uns digitalisiert. Das Ergebnis sind ungefähr 107.000 Bilddateien, die bequem auf eine Festplatte passen respektive über einen Webspace allen Projektmitarbeitern zur Arbeit an verschiedenen Standorten verfügbar gemacht werden können. Da in der Regel zwei Seiten nebeneinander aufgenommen wurden, sind es also grob geschätzt etwa 200.000 Seiten Akten.

Selbstverständlich werden diese Materialmengen nicht vollständig ediert und auch sicherlich nicht jede Seite letztlich überhaupt von uns gelesen. Das alles in digitaler Form rasch greifbar zu haben, bedeutet allerdings eine enorme Erleichterung und Beschleunigung der Arbeit. Ein Beispiel: Das Protokoll der 82. Sitzung vom 22. Januar 1849 ist keines der besonders langen; es umfasst zehn Tagesordnungspunkte. Von den Aktenstücken, über die dabei verhandelt wurde, liegen fünf als Beilagen und Unterbeilagen in unmittelbarer Verbindung mit dem Protokoll vor. Verwiesen wird allerdings, nur zum Teil unter Nennung von Aktenzahlen, noch auf zwölf weitere Schriftstücke, die sich auf acht verschiedene Archiveinheiten in den Beständen von fünf Ministerien verteilen. Obwohl die Inventarisierung eine recht genaue ist, musste in einigen Fällen in mehreren Archiveinheiten mit verwandten Betreffen gesucht werden, um die fraglichen Stücke zu lokalisieren. Es kann getrost davon ausgegangen werden, dass diese Auffindung mehrere Tage gedauert hätte, wäre sie an Ort und Stelle im Bundesarchiv durch Bestellen, Ausheben und Durchsehen der Originalakten vorgenommen worden. Mit dem Fundus von 60 Filmrollen und einem Lesegerät ginge es deutlich schneller  aber die Zeitverluste für das Einlegen, Vor- und Rückspulen und Auswechseln der Rollen wären immer noch beträchtlich, und um mehr als ein Bild auf einmal anzusehen, müssten sie dann noch gescannt oder ausgedruckt werden. Mit dem Aktenbestand als Digitalisate auf der Festplatte hingegen war die Auffindung sämtlicher Stücke ohne Schwierigkeiten innerhalb eines Nachmittags zu bewältigen. Diese Überlegungen flößen erheblichen Respekt vor den Bearbeitern existierender Regierungsprotokoll-Editionen ein, die oft noch vor wenigen Jahren die geschilderten Aufgaben auf genau die Art und Weise erledigen mussten, von der wir jetzt froh sind, sie uns ersparen zu können.

Das bedeutet freilich nicht, dass mit dem Finden auch schon die editorische Bearbeitung erledigt wäre. Es gibt noch genug Dinge, die uns kein Computer abnimmt.

Und warum heißt der Beitrag nun nicht „Provisorische Zentralgewalt und Digitalisierung“? Auf dieser Plattform hat vor kurzem, angestoßen durch diesen Beitrag von Marc Mudrak, eine längere und teils recht kontroverse Diskussion über den Mikrofilm als Speichermedium stattgefunden und über die Forderung jenes Autors, dass „Mikrofilme endlich aus den Archiven verschwinden müssen“. Auch wenn dazu schon einiges nach beiden Seiten vorgebracht worden ist, können ein paar Sätze auf der Basis unserer jüngsten Erfahrungen vielleicht noch hilfreich sein. Die Erlebnisse, die Mudraks Äußerung veranlassten, sind wohl fast allen historisch Forschenden bekannt wer hat sich noch nicht darüber geärgert, eine Quelle nicht im Original, sondern auf Film benutzen und dabei die verschiedenen in jenem Beitrag aufgezählten Unannehmlichkeiten auf sich nehmen zu müssen? Und doch sei hier angemerkt, dass möglicherweise einige von diesen Ärgernissen dem Speichermedium Mikrofilm nicht ganz zu Recht angelastet wurden, weil sie mit ihm nicht unbedingt in ursächlichem Zusammenhang stehen.

Nicht zu leugnen ist, dass bei manchen Quellentypen schwerwiegende Informationsverluste schon durch die Schwarzweißaufnahme eintreten rubrizierte oder gar illuminierte Handschriften wären ein schlagendes Beispiel. Im Gegensatz dazu sind aber gerade die in besonders großen Quantitäten überlieferten Archivalien, das Massenschriftgut der neuzeitlichen Amtsstuben, in vielen Fällen auch in Schwarzweiß unproblematisch zu benutzen; so die Akten der Provisorischen Zentralgewalt.

Nur auf den ersten Blick einsichtig ist, dass gegen „den Mikrofilm“ gewettert wird, weil schlechte Erfahrungen mit verwischten, schlecht belichteten, zu kleinen, unvollständigen oder sonstwie mangelhaften Aufnahmen gemacht wurden. Das liegt in der Hauptsache nicht am Speichermedium, sondern entweder am Aufnahmegerät oder an der Sorgfalt der Person, die dieses bedient. Wer etwa schon in irgendeinem Umfang alte Druckwerke via Google Books benutzt respektive zu benutzen versucht hat, kann rasch bestätigen, dass unlesbare, verwischte oder an den Rändern beschnittene Aufnahmen, übersprungene Seiten, mangelhafte oder nicht stattfindende Qualitätskontrolle keineswegs eine ausschließliche Domäne des Analogen sind. Von den 185 Sitzungsprotokollen der Provisorischen Zentralgewalt fehlt im Übrigen eine einzige Aufnahme auf dem Mikrofilm, zwei weitere sind wegen Überbelichtung nur teilweise lesbar.

Ähnliches gilt für die Beschwerde über unsystematische oder willkürliche Auswahl der Stücke zur Verfilmung, ungenaue oder irrige Katalogisierung der Filme. Alles das gibt es natürlich, und natürlich ist es hinderlich, aber es hat mit Mikrofilm per se rein gar nichts zu tun. (Was oben über Google Books steht, ist hier sinngemäß anwendbar. Man vergleiche dann mit kompetent gemachter Digitalisierung alter Bücher z.B. durch die Staatsbibliotheken in München oder Göttingen.)

Beklagt wird weiters, Mikrofilm sei schwierig und teuer zu reproduzieren. Gemeint ist damit allerdings nur die händische Anfertigung von Papierabzügen durch den Benutzer am Lesegerät, für welche die Klage auch zutreffend ist. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass eine Digitalisierung größerer Mengen auf der Basis eines schon vorhandenen Mikrofilms maschinell weitaus schneller, billiger und weniger fehleranfällig ist als jene auf Basis der Originale siehe unsere oben geschilderten Erfahrungen. Eine brauchbare Qualität der Mikrofilmaufnahmen vorausgesetzt, kann deren Existenz ein großes Glück sein. Wir hätten, wie gesagt, jene 100.000 Bilder keineswegs bezahlen können, wenn sie erst neu zu machen gewesen wären.

Der größte unbestreitbare Nachteil des Mikrofilms ist die Mühseligkeit und Langsamkeit seiner Benutzung am Lesegerät. Unser Projekt hat genau aus diesem Grund die bezogenen Filmrollen gleich als erstes digitalisieren lassen. Wenn es in nicht allzu ferner Zukunft möglich wird, dass Mikrofilm zwar nicht aus den Archiven, wohl aber aus deren Lesesälen verschwindet, weil zur Benutzung digitale Versionen vorliegen, wäre das sicherlich zu begrüßen. Die Frage seiner Zweckmäßigkeit als langfristiges Speichermedium steht auf einem anderen Blatt. Sie wird erst dann entschieden sein, wenn sichergestellt ist, dass digitale Speicherung auf sehr lange Laufzeiten womit der Bereich von 50 bis 100 Jahren oder noch darüber gemeint ist analoge Medien an Sicherheit und Kostengünstigkeit erreicht. Bis dahin sind auch die beträchtlichen Mengen an Mikrofilmen, die in den Bibliotheken und Archiven im Laufe der vergangenen Jahrzehnte angelegt worden sind, eine Ressource, die nicht einfach abgeschrieben werden sollte.

 

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/82

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Was war die Provisorische Zentralgewalt und warum sollten ihre Akten ediert werden?

Protokoll der 180. Sitzung des Gesamtreichsministeriums
Von Revolutionen bleibt meist dasjenige in Erinnerung, was sich am sichtbarsten aus dem politischen Alltag abhebt: Straßenkämpfe und Barrikaden. So verhält es sich auch mit den Revolutionen von 1848/49 im heutigen kollektiven Gedächtnis der deutschen Öffentlichkeit. Dass die Revolution schließlich zur Wahl einer Nationalversammlung führte, blieb auch noch im Bewusstsein. Anders verhält es sich hingegen mit der Einsetzung einer provisorischen Regierung für das noch nicht als Einheit existierende Reich. Eine Erinnerung an die erste parlamentarische, wenn auch provisorische Zentralgewalt für ganz Deutschland ist kaum vorhanden. Wem ist heute noch bekannt, dass ein österreichischer Erzherzog für rund eineinhalb Jahre als so genannter „Reichsverweser“ dieser Provisorischen Zentralgewalt vorstand und somit als erstes von einem Parlament gewähltes Regierungsoberhaupt über Deutschland fungierte?

Die Provisorische Zentralgewalt war die Exekutive der deutschen verfassunggebenden Nationalversammlung in der Revolution. Mit ihrer Gründung im Juni 1848 hat die im Frankfurter Parlament bereits institutionalisierte Revolutionsbewegung besonders gegenüber den staatlichen Gewalten in den Bundesstaaten ihren politischen Führungsanspruch mit Berufung auf die Volkssouveränität untermauert. Die Zentralgewalt bestand neben dem Reichsverweser Erzherzog Johann aus einem „Gesamt-Reichsministerium“ mit einem Ministerpräsidenten, Ressortministern und Unterstaatssekretären, hatte damit eine an das Vorbild der Ministerialregierungen der größeren deutschen Staaten angelehnte Form und versuchte auch ähnliche Aufgaben und Tätigkeiten wahrzunehmen. Insbesondere sorgte sie für die Publikation der von der Nationalversammlung beschlossenen „Reichsgesetze“ und versuchte deren Durchsetzung in den Einzelstaaten zu erreichen; beanspruchte die Führung gemeinsamer militärischer Operationen, namentlich im Krieg gegen Dänemark um den Status Schleswig-Holsteins; griff durch die Entsendung von „Reichskommissaren“ und fallweise auch den Einsatz von Truppen an den Schauplätzen revolutionärer Erhebungen ein; übernahm die Organisation der ersten deutschen Kriegsmarine, an deren Aufbau sich anfangs verbreitete nationale Begeisterung knüpfte; und versuchte zwischen Nationalversammlung und einzelstaatlichen Regierungen in der Frage der Annahme der von der Ersteren beschlossenen Verfassung zu vermitteln. Allerdings stieß sie wegen ihrer fehlenden beziehungsweise erst im Aufbau befindlichen Ministerialverwaltung, ihrer begrenzten realen machtpolitischen Möglichkeiten gegenüber den entscheidenden Mächten Preußen und Österreich sowie der ausbleibenden diplomatischen Anerkennung durch die außerdeutschen Staaten immer wieder an Grenzen ihrer Wirksamkeit. Nach der sukzessiven Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung im Frühjahr 1849 bestand die Provisorische Zentralgewalt noch bis zum Jahresende fort und spielte trotz ihrer beschränkten Mittel eine mitentscheidende Rolle im Machtkampf zwischen Preußen, Österreich und den deutschen Mittelstaaten um die künftige Ausgestaltung des deutschen Nationalstaats.

Sowohl die Kanzlei des Gesamtministeriums als auch die einzelnen Ressorts – auswärtige Angelegenheiten, Inneres, Justiz, Krieg, Finanzen, Handel und Marine – entwickelten rasch eine geordnete Aktenführung und richteten Registraturen ein. Die von ihnen angelegten Akten wurden nach Auflösung der Provisorischen Zentralgewalt im Dezember 1849 von deren Nachfolgerin, der Bundeszentralkommission, übernommen. In der Folge gelangten sie in das Archiv des Bundestags (des Entscheidungsgremiums des Deutschen Bundes) und wurden nach dessen Auflösung 1866 von der Stadtbibliothek Frankfurt am Main verwahrt, bis 1925 eine eigene Außenstelle Frankfurt des Reichsarchivs (später des Bundesarchivs) errichtet wurde. Als diese nach der Wiedervereinigung aufgelassen wurde, gelangten die Bestände zunächst in das Bundesarchiv Koblenz und 2010 schließlich in das Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. Der Bestand im Ausmaß von insgesamt etwa 25 Laufmetern Archivgut wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in aufwendigen Arbeiten nach dem ursprünglichen Registratursystem der Ministerien geordnet; er ist heute durch detaillierte Findbücher gut erschlossen und wurde vor einigen Jahren vollständig verfilmt.

Diese Quellenbestände sind von der Forschung erst nach dem Zweiten Weltkrieg in nennenswertem Umfang herangezogen worden, ihr Potential ist aber bei weitem nicht ausgeschöpft; insbesondere hat eine Edition der Ministerialprotokolle, wie sie für die Regierungen der größten deutschen Staaten seit längerem betrieben wird, bisher nicht stattgefunden. Die von unserem Projekt angestrebte Fondsedition wird nicht nur den Anteil einer bisher unterschätzten Kraft am Revolutionsgeschehen erhellen, sondern zugleich unter politikwissenschaftlicher Fragestellung Aufschluss über das Funktionieren der ersten parlamentarischen Regierung in Deutschland geben. Immerhin musste die Zentralgewalt aus dem Nichts heraus die Infrastruktur für ihr Regieren schaffen durch die Errichtung von Behörden, die Rekrutierung von Personal und die Sicherstellung der Finanzen – ein bisher kaum beachteter Umstand von besonderem verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichem Reiz.

Ziel unseres Unternehmens ist es, die Protokolle der insgesamt 185 Sitzungen des Gesamtministeriums, die einen „roten Faden“ zur Tätigkeit der Zentralgewalt liefern, vollständig im Wortlaut zu edieren; die umfangreichen Aktenbeilagen zu den Protokollen sowie ausgewählte weitere Aktenstücke aus den Registraturen der Ministerien sollen in Regestenform präsentiert werden. Da jedoch amtliches Schriftgut in der Regel nur teilweise den politischen Gehalt von Entscheidungen offenbart und selten Atmosphärisches spiegelt, sollen ergänzend auch die Publikationen und handschriftlichen Nachlässe der Mitglieder des Reichsministeriums ausgewertet werden. Die gesamte Edition wird durch detaillierte Register erschlossen. In Form eines (voraussichtlich mehrbändigen) Lesebuchs zur Organisation und Tätigkeit der Provisorischen Zentralgewalt sollen der Geschichtswissenschaft wertvolle Materialien vor allem im Hinblick auf die folgenden vier Fragenkomplexe leicht verfügbar gemacht werden:

1. Aufarbeitung von Einfluss und machtpolitischen Möglichkeiten der Provisorischen Zentralgewalt gegenüber der Nationalversammlung und den Regierungen der Bundesstaaten.

2. Erschließung der verfassungsgeschichtlichen Funktion und Praxis des im Juni 1848 errichteten Systems als Versuch einer Symbiose des parlamentarischen Regierens mit dem traditionellen Konstitutionalismus.

3. Eine institutionen- wie verwaltungsgeschichtliche Erforschung der politischen Probleme wie praktischen Herausforderungen des Aufbaus einer Regierung aus dem Nichts.

4. Ein mentalitäts- wie kulturgeschichtlicher Ansatz, um das Selbstverständnis der Mitglieder der ersten parlamentarischen Regierung in Deutschland, deren Motive, Formen der Entscheidungsfindung, Perzeption der Handlungsmöglichkeiten wie Außendarstellung offenzulegen.

Text von Karsten Ruppert und Thomas Stockinger

 

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/37

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