Edition der Schatullrechnungen Friedrichs II.
Abkindern – von Kaiser Augustus bis Kristina Schröder
Abkindern – von Kaiser Augustus bis Kristina Schröder
Wie kürzlich zu lesen war, schlägt die Bundestagsfraktion der CDU/CSU in einem Positionspapier zur demographischen Entwicklung vor, Mitarbeiter im öffentlichen Dienst bevorzugt einzustellen und zu befördern, wenn diese Kinder erziehen. Dies soll Nachteile ausgleichen, die Väter und Mütter nach einer Rückkehr aus Kindererziehungszeiten erführen. Neben das Gerechtigkeitsargument tritt ein funktionales, verbunden mit einer Erweiterung des Leistungsbegriffes: Wer Kinder erziehe, müsse gut organisiert sein, beständige Prioritäten setzen und generell belastbar sein – alles gute Voraussetzungen, auch den Beruf erfolgreich zu bewältigen. Das auf die Tätigkeit bezogene Leistungsprinzip will man durchaus nicht außer Kraft setzen; bei gleicher Qualifikation sollte aber das Elternsein als „Hilfskriterium” herangezogen werden. Man entscheidet sich also nicht offen, ob die Begründung eine sozialpolitisch-kompensatorische oder eine gleichsam systemimmanente sein soll, letzteres, um eben das Leistungsprinzip im Spiel halten zu können. Und dann ist da noch das Gespenst der Bevölkerungsentwicklung, mit der hidden agenda, daß in Deutschland nicht nur zu wenige Kinder geboren werden, sondern auch relativ zu viele von den falschen Eltern.
Der Kommentar in der FAZ (27. Sept. 2012, 11) ist alarmiert: „Das Gehalt und die Position sollten gerade im steuerfinanzierten öffentlichen Dienst davon abhängen, was ein Mitarbeiter auf seinem Arbeitsplatz leistet – und nicht in seinem Privatleben.” Daran schließt sich die rhetorische Frage, ob der Staat tatsächlich dafür sorgen solle, daß ein Qualifizierter wegen Kinderlosigkeit eine Stelle nicht bekomme.
Wieder einmal prallen Erwägungen grundsätzlicher Art und die Wahrnehmung der alltäglichen Wirklichkeit in der Gesellschaft und Arbeitswelt dieses Landes aufeinander, und das Feld ist zusätzlich vermint, weil nicht wenige Zeitgenossen reflexhaft sarkastisch werden (oder gar in Webkommentaren Kübel verbalen Unrats ausgießen), wenn die Wörter „Leistungsprinzip” und „öffentlicher Dienst” in einem Atemzug genannt werden – ohne zu erkennen, daß dabei weniger die (immer anzutreffende) Diskrepanz zwischen Norm und Praxis problematisch ist als vielmehr die denkbaren Alternativen, die über Jahrhunderte den Zugang zu und die Praxis in den Vorläufern des öffentlichen Dienstes bestimmten: Ämterkauf, Nepotismus, Bezahlung einzelner Amtshandlungen und so weiter.
Wenig ermutigend für den aktuellen Vorstoß erscheint jedenfalls eine antike, freilich sehr viel robustere Initiative in die gleiche Richtung. Als Augustus als Monarch in Rom fest im Sattel saß, packte er etwas an, was offenbar so etwas wie ein Herzensprojekt war: Die Lebensführung der aristokratischen Oberschicht sollte verändert, konkret die Bereitschaft gesteigert werden, ernsthafte, auf Nachwuchs zielende Ehen einzugehen, Kinder zu bekommen und sie aufzuziehen. Jeder Römer im ehefähigen Alter – Männer von 25 bis 60, Frauen von 20 bis 50 Jahren – mußte verheiratet sein; nach Tod eines Ehepartners oder Scheidung hatte ein Mann binnen hundert Tagen wieder zu heiraten, eine Frau innerhalb von zwei Jahren. Erreichte eine Ehe nach angemessener Zeit nicht die Norm von drei Kindern, sollte sie aufgelöst und eine neue geschlossen werden. Neben anderen Bestimmungen gab es auch solche, die sich mit dem aktuellen Vorstoß parallelisieren lassen. Hatte ein Senator weniger Kinder als gefordert, mußte er in der Ämterlaufbahn Nachteile hinnehmen; Kinderreiche wurden hingegen privilegiert. Sie genossen Rangvorteile, durften sich ihre Provinz aussuchen und sich um so viele Jahre früher um das nächsthöhere Amt bewerben, als es eigentlich vorgesehen war, wie sie Kinder hatten. Wer hingegen unverheiratet war oder nur ein Kind hatte, durfte von außerhalb der eigenen Verwandtschaft keine Erbschaft und kein Legat annehmen – eine empfindliche Strafe angesichts der gegenseitigen Vernetzung der Oberschicht in ihren Testamenten.
Der 2005 verstorbene Althistoriker Jochen Bleicken geißelt in seiner (zum Glück wieder im Handel erhältlichen) Augustus-Biographie aus liberaler Perspektive die „Ungeheuerlichkeit dieses Eingriffs in die Privatsphäre”:
„Ein Mann hatte vor den Drangsalen der Gesetze eigentlich erst Ruhe, wenn er 60, eine Frau, wenn sie 50 geworden war oder drei Kinder geboren hatte, wobei es allerdings noch zu berücksichtigen galt, daß als Kinder im Sinne des Gesetzes nur diejenigen zählten, die lebend geboren und nicht vor einem bestimmten Alter gestorben waren. Bis dahin hatten sich alle um die Erfüllung der gesetzlichen Gebote zu bemühen, doch suchten viele sich an der Fülle der Bestimmungen auf irgendeine Weise vorbeizumogeln. Das war den einfachen Römern und gewiß auch den meisten Rittern ohne weiteres möglich, denn es fehlte eine alle Menschen lückenlos erfassende Aufsichtsbehörde, welche die Übertretung oder Nichtbeachtung der gesetzlichen Vorschriften hätte vermerken können. Zwar gab es den Denunzianten, den man, gegebenenfalls durch Belohnung, dazu bringen konnte, Verstöße zu melden, und da es keine Staatsanwaltschaft gab, die bei gesetzwidrigem Verhalten von Amts wegen hätte tätig werden können, war er in der Tat eine wichtige und viel benutzte Hilfe, um die Effektivität der Gesetze zu steigern, und er war in dieser Funktion natürlich auch von den Ehegesetzen vorgesehen. Aber wirklich erfaßbar war nur der übersichtliche Kreis der Senatoren, auf den die Ehegesetzgebung ja auch abgestellt war.”
Bleicken unterstreicht die vom Gesetzgeber ignorierte Ungerechtigkeit: Manche Paare konnten ja aus verschiedenen Gründen tatsächlich keine Kinder bekommen, und Augustus selbst hatte nur eine leibliche Tochter; dem Gesetz nach hätte er sich von seiner geliebten Frau Livia scheiden lassen müssen. Es gab heftigen Widerspruch im Senat, was zu einigen Abmilderungen führte. Den Erfolg der Gesetze schätzt der Göttinger Gelehrte gering ein: „Statt der erhofften Ehefreudigkeit der hohen Herren machte sich Heuchelei breit; es wurden Scheinehen geschlossen, und Männer im heiratsfähigen Alter gingen Verlöbnisse mit kleinen Kindern ein, die dem Verlobten eine Schonfrist verschafften und bei Bedarf wieder gelöst werden konnten, um so die Heirat auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Es gab Dispense, so das bekannte „Dreikinderrecht”, das einem Mann alle Privilegien einräumte, die ein echter Vater dreier Kinder hatte. Bleickens Fazit fällt vernichtend aus: Die Gesetzgebung – die auch Ehebruch unter Strafe stellte – bedeutete demnach „eine tiefe Zäsur in der Geschichte des Verhältnisses von öffentlicher und privater Sphäre: Der private Bereich wurde durch sie dem staatlichen Zugriff zugänglicher. Das ist für die Einordnung des Ehebruchs unter die öffentlichen, das heißt durch ein staatliches Gericht verfolgten Delikte ganz offensichtlich, aber nicht weniger für die Reglementierung der inneren Einstellung zur Ehe, wurde doch hier das sozialethische Verhalten im privatesten Bereich des Menschen zum Gegenstand der Gesetzgebung und damit auch der öffentlichen Diskussion gemacht. Nun war überall in den Häusern der Vornehmen unter dem ehrbaren Mantel der Gesetzestreue dem Eheklatsch Tür und Tor geöffnet, ja, man sprach das Thema sogar ungeniert im Senat an. (…)
An dem staatlichen Eingriff in einen bisher der privaten Initiative vorbehaltenen Bereich ist indessen nicht nur der Tatbestand als solcher, sondern auch seine besondere gesetzgeberische Behandlung bemerkenswert. Erstaunlich, ja geradezu abstoßend erscheint die ausgefeilte Kasuistik der Gesetze, welche die einzelnen Verhaltensbereich pedantisch genau analysiert und klassifiziert und sie dem Verbot, Gebot, der Belohnung oder Bestrafung zuordnet.”
Bei allen Unterschieden – gemeinsam ist den Vorschlägen der Abgeordneten und den Gesetzen des Augustus die Vorstellung, Entscheidungen im Raum der Familie mit Belohnungen und Bestrafungen zu belegen und so eine als wünschenswert erachteten Verhaltensweise – daß mehr Kinder in die Welt gesetzt werden – zu befördern. Ausgedehnt wird aktuell nur der Bereich der Belohnung bzw. Bestrafung: von der Besteuerung nun auch auf Karriereoptionen. Das erscheint nicht weiter auffällig, gilt Kinder zu haben doch verbreitet als Karrierekiller. Warum also keine Kompensation?
Was aus dem Vorschlag wird, liegt in der Ungewißheit der Zukunft. Aber man sollte ihn auf seine Voraussetzungen und Implikationen hin überprüfen. Dabei kann das Studium des augusteischen exemplum wohl hilfreich sein.
Jochen Bleicken: Augustus. Eine Biographie (1998). Neuausgabe rororo: Hamburg 2010. 816 S. Zahlr. s/w-Abb. Kt. € 15,-.
Angelika Mette-Dittmann: Die Ehegesetze des Augustus. Eine Untersuchung im Rahmen der Gesellschaftspolitik des Princeps. Stuttgart 1991.
p.s. Ein Vortragsgast aus Tübingen macht mich auf zwei vereinzelte griechische Nachrichten aufmerksam. So konnte in Massilia, dem antiken Marseille, nur Angehöriger des in der Verfassung dominierenden Ratsgremiums werden, wer über drei Generationen von Bürgern abstammte und selbst Kinder hatte. Offensichtlich ging es hier darum, die politische Macht allein solchen Massilioten zu übertragen, denen man ein besonderes Interesse am Wohlergehen und der Stabilität der Polis wie der Verhältnisse insgesamt (auch des Eigentums) zuschrieb. Das Zensuswahlrecht wurde noch im 19. Jahrhundert so gerechtfertigt. In der gleichen Fluchtlinie ist eine von dem Redner Dinarch überlieferte Bestimmung im Athen des 4. Jahrhunderts v.Chr. zu verstehen: Wer als Redner oder Stratege um das Vertrauen des Volkes wirbt, muß legitime (d.h. in der eigenen Ehe geborene) Kinder haben (paidopoieisthai) und Land besitzen; hier lag der Akzent freilich nicht auf dem Vorweisen von Kindern schlechthin, sondern auf deren legitimer Abkunft nach Maßgabe des Gesetzes von 451.
p.p.s. Falls jemand nach dem „abkindern” fragt: In der DDR bekamen Ehepaare zur Hochzeit einen Staatskredit. Bei der Geburt von Kindern wurde dann ein Teil der Summe erlassen. Wenn man also genügend Kinder zeugte, war der Kredit “abgekindert”. Die CDU in Sachsen-Anhalt hat das unter anderer Bezeichnung jetzt wieder aufgegriffen.
von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.
Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/11/05/abkindern-von-kaiser-augustus-bis-kristina-schroeder-403/
Vortrag: Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession
Am 29. Juni 2012 wurde am Historicum der LMU München der Sammelband „Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession“ präsentiert. Eingeladen hatten zu dieser Veranstaltung das am Institut für Geschichte der Universität Wien und am Institut für österreichische Geschichtsforschung angesiedelte FWF-Start-Projekt „Monastische Aufklärung und die Benediktinische Gelehrtenrepublik“, der Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte mit dem Schwerpunkt Spätmittelalter an der Ludwig-Maximilians-Universität München, die Monumenta Germaniae Historica sowie der Verlag De Gruyter. Es sprachen für den einladenden Lehrstuhl Prof. Dr. Claudia Märtl, für den Verlag Julia Brauch sowie zur [...]
Heinrich Bosse: Bildungsrevolution 1770-1830
Verlagsankündigung: Der gemeinsame Fluchtpunkt dieser Studien ist die deutsche Bildungsrevolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie betrifft die beiden wichtigsten Kulturtechniken, Lesen und Schreiben. In der Bildungsrevolution verändert sich der elementare, rhetorische, akademische Unterricht, darüber hinaus aber auch Schule, Autorschaft, Öffentlichkeit und sogar die Sozialgliederung der Gesellschaft. Das neue Konzept der Bildung wirkt über die Unterrichtsinstitutionen hinaus, indem es eine außerschulische Praxis scholarisiert, das Selberlernen. Die Unterrichtsverhältnisse ihrerseits werden unter dem staatlichen Zugriff neu strukturiert.
Dabei verschmelzen die lateinischen und die volkssprachlichen Bildungssysteme, die seit dem Mittelalter nebeneinander existierten, in einem umfassenden Bildungsapparat. Zugleich wandelt sich die ständische Öffentlichkeit der gelehrten Republik in ihr modernes Gegenstück, und der gelehrte Stand der Lateinkundigen verschwindet in der Formation der Gebildeten.
Bosse, Heinrich: Bildungsrevolution 1770-1830. (=Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur-, Sprach und Medienwissenschaft; 169). (Hg. mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari). Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2012. [Verlags-Info]
Streit um den Hühnermarkt – wenn Geflügel Konfessionen macht
Am Sankt-Veits-Tag (15. Juni) findet in Leipheim – einer zur Reichsstadt Ulm gehörenden Gemeinde im Schwäbischen Donaumoos – die traditionelle Kirchweih zu Ehren des Namenspatrons der Pfarrkirche statt. Teil des Kirchweihfests ist ein Markt, der entweder ganz oder in Teilen ein Geflügelmarkt ist – und in der Kirche stattfindet. Bisher war das kein Problem. Doch im Jahr 1529 wird der Hühnermarkt zu einem der distinktiven Kristallisationspunkte im reformatorischen Glaubensstreit.
Wiederstand gegen den Kirchweihmarkt kommt vom evangelischen Pfarrer Jakob Ritiman. Der offensichtliche Zwinglianer – erkennbar an seiner aggressiven Ablehnung der Realpräsenz und der Transsubstantiationslehre – ergreift im Frühjahr 1529 einige Maßnahmen zur, wie er betont, langsamen aber zielstrebigen Ausmerzung der (altgläubigen) Missstände in Leipheim. Dazu gehören auch das Einstellen des Glockenläutens vor den vielen Feiertage. Damit beginnt der Pfarrer – symbolisch wichtig – am Vorabend von Fronleichnam, trifft dabei aber auf den Wiederstand seines (mutmaßlich altgläubigen) Messmers, der die Sache beim Bürgermeister zur Anzeige bringt. Weiterhin versucht Ritiman, das Öffnen der “tafel” zu unterbinden – gemeint ist vermutlich das Retabel in der Pfarrkirche, das wahrscheinlich Heiligenrepräsentationen oder ähnliches enthält.
Das Auftreten und die Maßnahmen Ritimans erregen die Missbilligung des Bürgermeisters, der gemeinsam mit dem Gericht und dem Ulmischen Vogt den Gemeindepfarrer befragt, ermahnt und sich wegen Erfolglosigkeit in einem Beschwerdebrief an die Ratsherren von Ulm wendet. Der Bürgermeister ist laut Ritiman “ain großer bäbstler”. Auch Ritiman wendet sich an die Ratsherren. Durch diese Briefe (Stadtarchiv Ulm, A Ulmensien 279, fol. 51r-54r) sind wir über die Auseinandersetzungen informiert.
Besonders interessant ist dabei die Auseinandersetzung um den Hühnermarkt an Kirchweih. Es ist durchaus beachtenswert, wie so ein auf den ersten Blick wenig dafür geeignetes Ereignis zu einem konfessionellen Distinktions- und Kristallisationspunkt wird.

Kirchweih in Schelle (Jan Brueghel d. Ä., 1614. Kunsthistorisches Museum Wien)
Bürgermeister und Gericht erklären, worum sich der Hühner-Streit genau dreht:
“Zum drytten hat auch der pfarrer yetz uff zukunftigen Sannt veitz aubent und tag ain jarmarckt die kyrchen zu beschliessen und darein nemalz gaun laussen wollenn. Wie wol er darvon gestanden ist und die kyrchen offen staun laussen will, so will er doch Sant Veitz pfleger nit zugebenn und gestattenn, das sy inder kyrchen nemalz mit Sant Veitz hayltumb bestraichen und von hänen oder anders ain nemen, wie dann von alther her gescheen sey… [Wir werden] im das nit gestatten und neuwerungen laussen machen.”
Was der altgäubige Bürgermeister hier präzise anprangert, ist ist die Veränderung eines offensichtlich wichtigen Bestandteils des Kirchweihmarkts. Demnach wolle der evangelische Pfarrer die sonst zu diesem Anlass offene Kirche abschließen und den Kirchenpflegern nicht erlauben, eine in der Quelle nicht ganz klare Praktik des Bestreichens mit oder durch die Veits-Reliquie vorzunehmen oder vornehmen zu lassen. Zudem wolle der Pfarrer nicht gestatten, dass die Pfarrkirche von Hühnern oder anderem Geflügel eingenommen wird. Ritiman kann diesen Plan am Ende nicht durchsetzen – womöglich auch aufgrund des Drucks der Bevölkerung oder zumindest des altgläubigen Teils.
Der evangelische Pfarrer rechtfertigt das Vorhaben in seinem Brief an den Rat:
“It[e]m ich hab auch mitt meinem meßmar verschafft, das er uff Sant Veittz tag die kierchen vor unnd nach, so man das wort gottes geprediget hatt, zuschliessen sol. Dann ich wöll nitt haben, das man furterhin mer ain hunermarck[t] da uffricht und also uß dem huß des herren ain kauffhuß mach…” Dass er dies nun doch zugelassen hat, beschwere sein Gewissen “größlich”.

Bäuerin mit Henne und Glucke, in: Buch der Natur. Lauber-Werkstatt, Hagenau, 1442-48.
Ritiman fokussiert sich ganz auf den Hühnermarkt, der in der Kirche stattfindet. Die alte Praktik mit der Veits-Reliquie erwähnt er nicht extra, vielleicht weil sie selbstverständlicher Bestandteil des Hühnermarkts ist, vielleicht weil der Hühnermarkt in den Augen der Ulmer Ratsherren skandalöser wirken könnte als eine der noch so verbreiteten Heiligenpraktiken.
Das Vorgehen gegen den Jahr-/Hühnermarkt und die unklare Veits-Reliquienpraktik ist Teil des Reformationsprogramms des Pfarrers. Er setzt das selbst in diesen Kontext. Kirchweihfeste mit ihren Märkten und Festivitäten zu regulieren (oder zu versuchen, sie ganz abzuschaffen) war allgemein schnell ein Ziel reformatorischer Pfarrer und Obrigkeiten. In diesem Zusammenhang geht der Leipheimer Seelsorger gegen zwei Aspekte vor, die ihm ein besonderer Dorn im Auge sein müssen.
Das Geflügel in der Kirche, zusammen mit der Heiligenfrömmigkeit, gerät nun also in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen um die dörfliche Religionskultur. Schon bei anderen Gelegenheiten haben sich Risse und punktuell divergierende Lagerbildungen in Leipheim gezeigt. Als Ritiman wie berichtet das Glockenläuten vor Feiertagen abschafft, kommt es zu Murren und Wiederstand der Päpstlichen.
Der Geflügelmarkt in der Pfarrkirche zu Kirchweih provoziert erneut unterschiedliche Haltungen. Der Pfarrer und mit ihm wohl der eher evangelische Teil der Gemeinde, sind gegen diese alten Praktiken. Der Bürgemeister und das Gericht wollen, womöglich stellvertretend für andere Gemeindemitglieder, von diesem alten Brauch hingegen nicht ablassen.
So wird die Haltung zu einem Geflügelmarkt in der Kirche zu einem Moment, in dem in einer oberschwäbischen Landgemeinde grundsätzlichere religiöse Haltungen und Zugehörigkeiten sichtbar und verstärkt werden. Der Raum des sozial-religiös Möglichen soll deshalb durch den Ulmer Rat neu bestimmt werden. Und bis dahin macht Geflügel Konfessionen.
Gramophone Magazine nur noch als kostenpflichtige App
Quelle: http://geschichtsweberei.blogspot.com/2012/11/gramophone-magazine-nur-noch-als.html
Die Vision Humboldts in der Digitalen Welt: Start der Ringvorlesung Digital Humanities an der TU Darmstadt mit einem Vortrag von Gregory Crane über ‘Humanities in a Digital Age’
Gregory Crane von der Tufts University in Medford/Boston (Massachusetts), der in den nächsten Jahren eine Humboldt-Professur an der Universität Leipzig wahrnehmen wird, stellte sich der Aufgabe, für den Auftakt der Darmstädter Ringvorlesung einen Überblick zu geben, große Fragen zu stellen und große Linien zu ziehen und beeindruckte die ZuhörerInnen durch seine Offenheit, seine Energie, seine Leidenschaft für das Thema und den Respekt, mit dem er allen InteressentInnen begegnete.
Eines der großen Themen, das er ansprach, war beispielsweise die Frage danach, was der gesellschaftliche Auftrag und was die Ziele der Geisteswissenschaften seien. Für Greg Crane besteht ihre Rolle darin, das intellektuelle Leben der Menschen zu verbessern. Dazu hat man seiner Ansicht nach zwei Möglichkeiten: Bücher zu schreiben, die keiner mehr liest, oder den Menschen zu helfen, mehr über fremde Sprachen und Kulturen zu wissen und ihnen den Zugang dazu ohne Voraussetzungen, ohne Sprachenkenntnisse zu ermöglichen. Wer die Entwicklung und die Erfolgsgeschichte des Perseus-Projekts verfolgt hat, weiß, dass diese Vision eingelöst werden kann: Die antiken Texte sind so umfangreich erschlossen durch Wörterbücher und weitere Materialien, dass man einen Zugang findet – und dieser Zugang war und ist bei Perseus stets transparent und open access. Die intensive Erschließung der Materialien wird auch durch Crowd Sourcing-Aktivitäten erreicht: Studierende werden bei der Lemmatisierung, Kommentierung und Vernetzung eingebunden, jede entsprechende Leistung ist durch Identifier den BearbeiterInnen zugeordnet, so dass jeder Kommentar zu einer micropublication wird. Greg ist immer für unerwartete Vergleiche und Überraschungen gut: Wenn ein World-of-Warcraft-Spieler 500 Stunden Übung benötigt, um einen Charakter zu beherrschen, dann ist es genauso gut möglich, dass er in 500 Stunden Einsatz mit den digitalen Materialien eine antike Sprache besser beherrscht als nach einigen Semestern Studium an der Universität! Die Aufgabe der Lehrenden ist es, den Studierenden zu ermöglichen, digital citizens in der digitalen Welt zu werden. Auf diese Weise sieht er uns erstmals in die Lage versetzt, das alte Humboldtsche Ideal, dass Lehrende und Lernende dazu da sind, der Wissenschaft zu dienen, zu verwirklichen (“Wenn ich etwas neu und cool finde, stelle ich fest, dieser alte Preuße hat es schon geschrieben.”).
Einen Gedanken möchte ich noch herausgreifen, denn er betrifft einen Punkt, der von vielen diskutiert wird. Greg leitete seine Vorlesung folgendermaßen ein: “Ich bin jetzt ein Professor für Digital Humanities, obwohl ich nicht an das Fach glaube.” Er betrachtet sich nach wie vor als Altphilologe, sein Haupt-Forschungsinteresse war und ist die antike Sprache und Kultur, deren Erforschung und Erschließung von ihm u.a. mit computergestützten Ansätzen und Methoden betrieben wird. Dieser Sichtweise würde ich mich anschließen, sie markiert auch mein Selbstverständnis und die Ausrichtung und Weiterentwicklung der Darmstädter Digital Humanities in einer spezifischen Ausprägung als Digital Philology. Unsere Forschungsgegenstände sind Sprache, Literatur und Kultur, wir integrieren hermeneutische und algorithmische Ansätze zu ihrer Erforschung. Wir dürfen also gespannt sein auf die weiteren Positionen und Beiträge zur Ringvorlesung und werden uns bemühen, an dieser Stelle weiter darüber zu berichten. Aufnahmen davon werden Dank einer Kooperation mit dem eLearning-Center der TU Darmstadt auch online zur Verfügung gestellt werden.
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Am 8.11.2012 ist Philip Schofield (University College London) zu Gast: “TRANSCRIBE BENTHAM – An experiment in scholarly crowdsourcing”.
Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1009
Zwischen Aufklärung und Ratlosigkeit – Der Fall NSU
Fast genau ein Jahr ist es her, dass die neonazistische Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" aufgeflogen ist. Seither ermitteln die Behörden mehr schlecht als recht.
Quelle: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Online-Lernen/content/10826