Ein Lernkonzept und seine Früchte

Heute mal ein wenig Off-Topic: Mit den Kindern der Aktiven Schule Petershausen habe ich für den Malwettbewerb der Deutschen Kinderhilfe gearbeitet. Das Thema lautete: “Für alle Kinder wünsche ich mir…”. Die Schülerinnen und Schüler waren mit Begeisterung dabei und ich konnte mehrere Bilder hinschicken. Dies hier war mein persönlicher Favorit:

Malwettbewerb

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Bild entstand in Gemeinschaftsarbeit zweier Schülerinnen, Yannika (9 Jahre) und Lili (10) Jahre. Ihre Idee war folgende: Im Frühling trägt der Baum Blüten, im Sommer wachsen darauf verschiedene Früchte, die man essen kann. Im Herbst bestehen die Blätter aus Geldscheinen, für die man etwas kaufen kann und im Winter wächst darauf warme Kleidung.

Ich selbst war von dieser Bildidee ganz begeistert. Leider ist die Abstimmung auf der Facebook-Seite der Deutschen Kinderhilfe schon vorbei.  Aber trotzdem wollte ich es mit diesem Artikel herausheben, denn ich habe mich aus mehreren Gründen über das Bild gefreut:

  • Die beiden Kinder haben absolut selbständig gearbeitet. Zu Beginn der Stunde fragten sie mich nach dem Thema, fragten, ob sie in einen anderen Raum gehen könnten und verschwanden mit Papier und Stiften. Am Ende der Stunde überreichen sie mir ihr Blatt.
  • Sie haben zusammen gezeichnet. Partnerarbeit ist in dieser Schule üblich. Dass die Kinder dies aber von sich aus auch in einer zeichnerischen Arbeit praktizieren ist nicht selbstverständlich. Vielleicht trug auch die Übung des dialogischen Zeichnens, die wir vor einiger Zeit im Malunterricht gemacht haben, dazu bei.
  • Die selbständige Entwicklung dieser schönen Bildidee hängt ebenfalls mit der Gemeinschaftsarbeit zusammen. “Vier Gehirnhälften wissen mehr als zwei”, pflegte ein Lehrer von mir zu sagen.
  • Die Kinder berücksichtigten die malerischen Hinweise, die ich ihnen gebe, wenn ich sage, dass sie kein Weiß stehen lassen sollen. Sogar auf dieser kleinen Din-A-4 Seite (das Format war vorgegeben) haben sie das beherzigt.

Das Verhalten und das Arbeitsergebnis der beiden Schülerinnen sprechen für das Lernkonzept dieser Schule. So macht Schule Spaß – den Schülern und den Lehrern!

 

 

Quelle: http://games.hypotheses.org/1370

Weiterlesen

Massive Open Online Courses

Bisher habe ich oft auf aktuelle Berichterstattung reagiert; heute möchte ich eher auf Kommentare eingehen, die ich zum Artikel “Der Online-Angriff auf den Unterricht” von Frank Kelleter (FAZ) gefunden habe. Kelleter selbst kritisiert vor allem die universitären Aktivitäten, die sich in Zielvereinbarungen, Optimierungskonzepten, Entwicklungsplänen verstecken, den akademischen Servicemarkt, der sich um diese Prozesseherum gebildet hat, und die Absurdität, dass gerade engagierte Hochschulangehörige sich bis zur Grenze der gesundheitlichen Zumutbarkeit in solchen absurden Prozessen aufreiben müssen. Insbesondere den letzten Punkt kann ich nachvollziehen, auch wenn ich lange nicht alles für absurd halte.

Er warnt dann aber auch vor MOOCs, den Massive Open Online Courses, die seit einiger Zeit durch die Online-Zeitschriften geistern. Meinem Eindruck nach – und vielleicht täusche ich mich – sind MOOCs eher ein Medienphänomen als eine real relevante Erscheinung. Mir ist nicht bekannt, dass bisher auch nur ein einziger Studiengang in Deutschland in erheblicher Weise durch MOOCs ausgestaltet ist.

Genau an diesem Punkt setzen aber die Kritiker des Artikels ein. So klagt ein Leser: “Die Universität war schon immer eine elitärere Institution, was in Deutschland noch immer sinnlos künstlich aufrecht erhalten wird mit Numerus Clausus und der Bafög-Schulden-Keule. Das widerspricht allein schon der Herkunft des Wortes ‘Universität’.” Universität meint aber nicht “für alle” im Sinne von universal oder Ähnliches, sondern nur die Gemienschaft von Lehrenden und Lernenden (ein Aspekt, den zu betonen heute sicher viel wichtiger wäre als viele andere, nur zum Teil “Bologna” geschuldete Fragen). Es ist eben nicht möglich, durch MOOCs Lehrende für Forschung freizustellen; das verbieten nicht nur die Deputatsverordnungen der Länder, sondern auch der gesunde Hochschulverstand, der in der Verbindung von Forschung und Lehre auch den Kern von Hochschule als besonderem Ort von Wissensgenerierung und -vermittlung sieht. Diese Wissensvermittlung steht allen frei, die die entsprechenden Voraussetzungen mitbringen; wer diese Voraussetzungen erfüllt, kann in Deutschland fast allerorten kostenfrei studieren, etwas, was die MOOC’s bisher nur versprechen, aber wohl kaum halten werden (wenn man das ökonomische Interesse hinter diesen Projekten berücksichtigt).

Dass die Universitäten sich dabei nicht hinter die eigenen Mauern zurückziehen, ist wohl selbstverständlich. Die Mainzer Historiker/innen, für die ich arbeite, haben sich in den letzten Jahren an vielfältigen Formaten der Universität beteiligt, in denen universitäre Wissenschaft in die Öffentlichkeit der Stadt Mainz und des Landes getragen wird.

Ein anderer Leser raunt: “Sicher, die Beamten-Uni muß sich bedroht fühlen. Unis, deren Studenten zu 1/3 nie einen Abschluß machen, deren Professoren maximal 12 Stunden wöchentlich im Hörsaal stehen, deren Lehrpläne keinen Bezug zur Arbeitsrealität haben. Unis, die vornehmlich die eigene Eitelkeit polieren und in Deutschland inzwischen über 16.000 (!) unterschiedliche Studiengänge anbieten – und jedes Jahr kommen fast 500 neue zum Wohle der Professoren dazu.” Auch hier überrascht die Wahrnehmung der Universität. Dass 1/3 der Studierenden eines Faches den Abschluss nicht machen, ist nicht weit von der Wirklichkeit entfernt, aber erstens kein Problem der Präsenzlehre und zweitens nicht wirklich schlimm; manches muss man eben ausprobieren, um herauszufinden, ob es auch der eigene Weg ist. Professoren, die im oben angesprochenen Sinne Forschung und Lehre verbinden sollen und möchten, sollten tatsächlich nicht 12 Stunden im Hörsaal stehen; wer auch nur eine ungefähre Vorstellung von den Zeiten für Vor- und Nachbereitung seriöser universitärer Lehre hat, wird wissen, dass die Woche dann allein mit Lehre schon fast ausgefüllt wäre. Und dass die Universität nicht 100% passgenau auf Berufe hin ausbildet – das ist ja gerade der Witz universitärer Bildung. Erst das erlaubt es, aus dem universitären Studium heraus in die unterschiedlichsten Berufsfelder mit Entscheidungsbefugnis, Leitungsfunktion oder Führungsaufgaben zu wechseln. Alles andere ist Berufsausbildung – genauso ehrenwert, aber eben anders.

Und ein letzter Gedanke: Ein Leser fordert, die Debatte “eine Nummer kleiner” zu führen, um dann doch e-Vorlesungen zu fordern: “Wenn Universitäten ihre ganz alltäglichen Vorlesungen einfach zum Nachhören ins Netz stellen, stellen sie mit geringstem zusätzlichen Aufwand eine ohnehin getätigte öffentlichen Bildungsleistung einem breiteren Publikum zur Verfügung. Hilfreich für die Studenten, wenn sie mal was verpasst haben. Eine Möglichkeit für Schüler, sich ein Bild zu machen, was in einem Studium auf sie zukommt. Und eine Gelegenheit für alle anderen, sich einfach aus Interesse akademisch in dem Fach weiterzubilden, das sie interessiert. Alles kein großes Ding. Aber nützlich, interessant und höchst demokratisch.” Das klingt pragmatisch, sympathisch, nicht überambitioniert. Wer aber ene konkrete Universität in den Blick nimmt, an der Woche für Woche eine drei- oder vierstellige Zahl von Vorlesungen gehalten wird, wird vielleicht eine Ahnung vom Kostenaufwand haben, den das bedeuten würde: an Material, aber auch an Personal. Die Kosten wären immens und müssten an anderer Stelle eingespart werden. Es würde mich interessieren, wo da noch gespart werden könnte; die Grundausstattung der Universitäten in ganz Deutschland ist in den letzten Jahren schon massiv heruntergefahren worden. Demokratisierung gerne, auch Öffentlichkeit und Transparenz – aber nicht für jede Vorlesung, die ihre Bedeutung zunächst einmal innerhalb eines Studiengangs und damit innerhalb eines bestimmten Programms entfaltet, das nur als Ganzes jenen Kompetenzerwerb und die Ausprägung einer soliden Fachlichkeit ermöglicht, die das eigentliche Ziel auch der Vorlesung sind.

Auf die Diskussion hierüber freue ich mich schon …

Quelle: http://geschichtsadmin.hypotheses.org/152

Weiterlesen

Archive und Twitter – einige selbstreflektive Gedanken

Ich muss bekennen: Meine eigene Aktivität auf Twitter ist noch recht jung. Lange habe ich geglaubt, 140 Zeichen dürften nicht annähernd ausreichen, um irgendeine Kommunikation zu führen, die auch nur ansatzweise fachlichen Standards genügen kann. Mit Facebook und einer Teil-Aktivität hier auf Archive 2.0 sah ich mich gut in den Sozialen Medien vertreten. Das war natürlich ein großer Irrtum. Eigentlich hätte ich es bereits bei der Offene-Archive-Tagung in Speyer ahnen müssen, der sich auch die Existenz dieses Blogs hier verdankt. Aber gut, damals war ich wohl irgendwie ein wenig schwer von Begriff. Jedenfalls war der Deutsche Archivtag 2013 für mich dann der Anlass, dieses Medium einmal näher auszuprobieren, insbesondere weil es mittlerweile mindestens eine gute Anleitung zum Twittern in der Wissenschaft im Netz gibt und gerade das Tagungstwittern nach spannendem Neuland klang. Und siehe da: Es hat nicht nur Spaß gemacht, sondern hat auch zum Entdecken einer völlig neuen Informationsebene und zum Kennenlernen vieler interessanter Leute geführt, deren Gedanken und Hinweise ich nicht mehr missen möchte. Und wir reden hier jetzt – um allen Kritikern zu begegnen – nicht vom morgendlichen Frühstück oder der abendlichen Partygestaltung, sondern von archivischen und geschichtswissenschaftlichen Fachinformationen. (Wie wenig „Spaß“ damit zwangsläufig verbunden sein muss, hat die ungemein intensive Nacherzählung der Pogromnacht unter @9nov38 gerade erst gezeigt.)

Tagungstwittern also, das war der Anfang. In Saarbrücken beim Deutschen Archivtag war so etwas noch nicht wirklich angekommen, auch wenn es doch eine kleine Gruppe von Kolleginnen und Kollegen gab, die munter die Vorträge dokumentierten und kommentierten. (Ungeachtet der seltsamen Blicke in der Zuhörerschaft ob des vermeintlichen Herumspielens mit dem Handy.)

TW01

TW03 TW04TW05

Auch wurde jüngst von der Bundeskonferenz der Kommunalarchive getwittert, ebenfalls sehr löblich, auch wenn ich mir hier doch mehr als die wenigen versprengten Tweets gewünscht hätte. (Ja, da draußen lesen tatsächlich Leute mit, also gebt uns Informationen!)

TW06

Vor diesem Hintergrund bleiben einem auf Twitter auch andere Tagungen nicht verborgen, die man nicht direkt im Blick hat, vielleicht weil es um historische Fragen geht, die einen allenfalls mittelbar interessieren, vielleicht weil es auch um Nachbarwissenschaften geht, die man nur mit halben Augen (wenn überhaupt) verfolgt. Schon bei kleinen Gruppen von Leuten, denen man auf Twitter folgt, kommt man aber recht schnell in Berührung mit solchen Themen, vielleicht weil die Leute, denen man folgt, selbst vor Ort sind, vielleicht weil sie entsprechende Vorträge kommentieren. Dabei bin ich auch in der kurzen Zeit, die ich auf Twitter dabei bin, auf zwei (nicht-archivische) Tagungen gestoßen, bei denen ich mich unweigerlich folgendes fragen musste:

TW07

Vielleicht war das etwas hart formuliert, aber wenn man das dortige Aufeinanderprallen von Archivaren und Nicht-Archivaren schmerzhaft direkt verfolgen konnte, dann möglicherweise doch verständlich. Das erste waren die EDV-Tage in Theuern, die mir bis dato überhaupt nicht bekannt waren, aber mein Interesse auf sich gezogen hatten, weil dort – neben zahlreichen Vortragenden aus Bibliotheken und Museen – ein Archivarskollege über den Einsatz von sozialen Medien vortragen sollte: „Allheilmittel Web 2.0 und Social Media?“ lautete der fragende Titel, der mich gerade auch vor dem Hintergrund des eigenen archivischen Facebook-Auftritts sehr reizte. Nach mehreren Vorträgen über die Bedeutung und Rolle von sozialen Medien für Kultureinrichtungen folgte hiermit dann allerdings ein rigoroses Gegenprogramm – man hätte es am Untertitel schon ablesen können („Kritische Nachfragen zum Einsatz in Gedächtnisinstitutionen“):

TW08

Da blieb nur ungläubiges Staunen über kuriose Vorschläge…

TW09

… oder Sarkasmus…

TW10

… oder der nicht unberechtigte Vorschlag, es doch gleich zu lassen:

TW11

Ein bedauerlicher Einzelfall? Scheinbar nicht, wie dann jüngst bei einer Tagung zum Gedenkbuch zu Münchner NS-Euthanasie-Opfern erahnbar wurde. Auch hier stieß archivischer Konservativismus manchem Teilnehmer bitter auf:

 TW12

Bei solchen Reaktionen bleiben manche Fragen: Haben Archive eigentlich derartig andere Rahmenbedingungen als Bibliotheken, Museen oder andere Kultureinrichtungen, dass sie sich solchermaßen zurückhaltend im Bereich der sozialen Medien zeigen müssen? Ist diese Abstinenz überhaupt von Interesse, weil der Adressatenkreis vielleicht nur aus ein paar vernetzten Hipstern und Nerds besteht, die breite Nutzerklientel aber überhaupt nicht erreicht? Und: Wissen wir Archivarinnen und Archivare eigentlich, wie wir uns nach außen präsentieren (und altbekannte Klischeebilder wiederbeleben)?

Für mich (und wahrscheinlich für die allermeisten, die dieses Blog hier lesen) sind diese Fragen rein rhetorischer Natur. Klar kennen wir Archivarinnen und Archivare Schutzfristen und müssen sie beachten, klar müssen wir ressourcenschonend arbeiten und nicht jedem neuen Hype hinterherlaufen und klar muss uns unser Standing in der Öffentlichkeit interessieren. Aber das Bild, das wir offenbar – zumindest mancherorts – abgeben, scheint nicht besonders schmeichelhaft. Vielleicht wäre das früher gar nicht sonderlich aufgefallen, aber dieser neue riesige Informationsraum, den soziale Medien schaffen, sorgt für eine neue Offenheit und einen neuen Informationsfluss. Gut so. Wenn die potentiellen Nutzer und auch Partner(-institutionen) von Archiven uns derartig hart angehen, dann sollte uns das zu denken geben. Facebook und Twitter sind auch wunderbare Evaluationstools, die uns verraten, was man von uns hält und wie man sich uns wünscht. Man muss vielleicht nicht alles erfüllen, was an uns herangetragen wird, aber letztlich müssen die Nutzer der zentrale Maßstab für unsere Arbeit sein. Hören wir auf Sie!

Ach ja, dafür muss man natürlich in den sozialen Medien vertreten sein. Also: mehr Archive rein in Facebook, auf Twitter, wohin auch immer. Unsere Nutzer haben uns dort etwas zu sagen!

 

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/993

Weiterlesen

Fachforum Online-Moderation – Netzgestützte Lernbegleitung in der Hochschullehre

Am 22.11.2013 findet an der Fachhochschule Frankfurt am Main das nächste Fachforum des Kompetenznetz E-Learning Hessen statt. Thema des Fachforums ist “Online-Moderation – Netzgestützte Lernbegleitung in der Hochschullehre”. Dabei wird es vor allem um die hohen Ansprüche von onlinegestützten Lehrveranstaltungen an Hochschulen hinsichtlich der Betreuung und Lernprozessbegleitung gehen. Die ansprechende Gestaltung des virtuellen Kursraumes und wie genau Inhalte online bereitgestellt werden sollten, sind gleichermaßen Thema. Zudem wird es Einblicke in Methoden zur Lerneraktivierung und die Möglichkeiten zur Lernermotivation geben. In dem Fachforum wird in verschiedene […]

Quelle: http://medienbildung.hypotheses.org/3541

Weiterlesen

Virtuelle Bibliothek der Kartause Gaming geplant

Die virtuelle Bibliothek der Kartause Gaming. Digitale Rekonstruktion des Bibliotheksbestandes der ehemaligen Kartause Gaming in Niederösterreich   “Gegenstand des Projektes ist die digitale Rekonstruktion der Bibliothek der Kartause Gaming in Niederösterreich, insbesondere des Handschriftenbestandes. Die seit dem Spätmittelalter historisch und theologisch bedeutende, in der Folge auf 20.000 Bände angewachsene Bibliothek wurde mit der Aufhebung des Klosters 1782 verstreut. Auf der Basis einer Datenbank sollen die teils bekannten, teils verschollenen und teils verlorenen Handschriften eruiert und virtuell zusammengeführt werden.” http://www.onb.ac.at/sammlungen/hschrift/handschriften_projekte.htm Zu anderen solchen virtuellen Bibliotheken: […]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/6333

Weiterlesen

Prag, den 19. November 1627: Ferdinand II. an Tilly

Es ist der 19. November des Jahres 1627, Kaiser Ferdinand II. wendet sich an den Feldherrn Tilly und weist ihn auf Nachrichten hin, denenzufolge die Holländer „dem König in Dennemarckh vnaussezlich haimblich vnd offentliche hülff vnd beÿstandt laisten, sonderlich aber nicht geringe anzahl kriegsuolckh (…) vndter dem Schein dennemarkchischer Kriegsdiennste, Jenseits der Weeser auf vnßerm vnd des Reichs boden vndterhalten, vnd dardurch vnnßer vnd des gemainen Vatterlandts hochnotwendige Kriegsübungen zuuerhündern (…) sich bemüehen thuen.“ Der Kaiser fordert den Generalleutnant daher auf, daß er sich, „weillen du [= Tilly] dich der zeit mit deinem vndterhabenden Kriegsuolckh in selbiger gegend befündest“, mit seinen Truppen nach Ostfriesland begibt und dort die wichtigsten strategischen Punkte besetzt. Dies mache die Not des Vaterlands nötig.

Die Sache erscheint sonnenklar: Dem Reich drohte Gefahr durch die militärische Einmischung seitens der Generalstaaten, dementsprechend sollte Tilly einschreiten und Schlimmeres verhindern. Allerdings war die Sachlage durchaus komplizierter. Denn daß der Kaiser direkt an Tilly Befehle erteilte, sah Maximilian von Bayern nicht gern. Tilly war sein Generalleutnant, er stand zunächst in bayerischen Diensten und befehligte hier die Armee der Katholischen Liga, die Maximilian als Haupt der Liga dem Kaiser zur Verfügung stellte. Tilly kämpfte damit durchaus für kaiserliche Belange, nur sah es der bayerische Kurfürst lieber, wenn Wien erst einmal bei ihm nachfragte und nicht direkt an den Kommandeur im Feld schrieb.

Abgesehen von der Frage nach dem korrekten Dienstweg gab es aber auch politische Divergenzen. Die kaiserliche Politik beargwöhnte schon seit Jahren die Generalstaaten und war daher willens, den Krieg auf die Niederlande auszudehnen – nicht zuletzt auch, weil es den spanischen Habsburgern gut ins Konzept gepaßt hätte. Doch Maximilian hielt von einer solchen Ausweitung des Kriegs überhaupt nichts: Einen Angriff auf die Generalstaaten lehnte er rundweg ab und wußte dabei auch die anderen in der Liga organisierten katholischen Reichsstände hinter sich. Die Liga wollte sich auf keinen Fall in einem Krieg verschleißen, der vor allem – zumindest stand dieser Verdacht im Raum – vor allem den habsburgischen Interessen diente; lieber nahm man einige politische und militärische Nachteile in Kauf.

Dabei sprach militärisch einiges für diese Option. Nicht zuletzt Tilly selbst leuchtete dieser Schritt sehr ein. Maximilian wußte von der Einstellung seines Feldherrn und wird sich eben genau deswegen sehr über die kaiserliche Initiative geärgert haben, direkt den Generalleutnant der Liga für diesen Schritt angegangen zu haben. Auch der Kaiser wußte, was er mit seinem Schreiben an Tilly tat. Und so ist diese Aufforderung Ferdinands ein Indiz für die immer stärker werdenden Spannungen innerhalb des kaiserlich-katholischen Lagers. Kaiser und Liga kämpften gegen gemeinsame Feinde, doch der wachsende Erfolg ließ eben auch die Differenzen zwischen München und Wien immer deutlicher zutagetreten.

Der Brief ist in Kopie überliefert im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Kasten schwarz 13467 fol. 67-67′, eine Kurzparaphrase findet sich auch in: Die Politik Maximilians I. von Bayern und seiner Verbündeten 1618-1651. 2. Teil, 3. Band: 1626–1627, bearb. v. Walter Goetz (Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Neue Folge), Leipzig 1942, Nr. 481.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/351

Weiterlesen

Attribution

Nicht nur Wissenschaftler wollen die Welt verstehen. Jeder Mensch denkt mit und nach, stellt über einzelne Ereignisse hinausgehende Zusammenhänge her, gibt dem Konkreten einen Platz in einem größeren Kontext. Und das funktioniert meistens auch so gut, dass wir es bis ins Jahr 2013 geschafft haben und uns nicht auf der Basis eines falschen Verständnisses von Gravitation aus dem Fenster unseres Zahnarztes im 4. Stock geschwungen haben. Unsere Köpfe stecken voller Modelle/Theorien/Annahmen/Überzeugungen, mit denen wir uns erklären, was um uns herum und in uns drin geschieht und die unsere Interaktionen mit der Umgebung steuern. Psychologen untersuchen sowohl das Zustandekommen von Ursachenzuschreibungen (=Attributionen) als auch die Folgen, die diese ursächlichen Erklärungen nach sich ziehen. Wenn ich in der Bahn angerempelt werde, ist es für mein weiteres Handeln entscheidend, ob ich dieses Ereignis auf eine böswillige Absicht oder auf ein Versehen zurückführe.

Wer nicht fragt, bleibt zwar dumm, aber im Alltag rennen wir trotzdem nicht die ganze Zeit ‘Wieso? Weshalb? Warum?’ fragend durch die Gegend. Das liegt daran, dass wir viele dieser Fragen in der Vergangenheit schon einmal gestellt und beantwortet haben, so dass wir heute nur dann bewusst auf Ursachensuche gehen, wenn etwas unseren Erwartungen Widersprechendes geschieht. Wir fallen nicht schockiert vom Stuhl, wenn am Abend das Tageslicht versiegt, weil dieses Phänomen ganz wunderbar in unser Modell von einem normalen Tagesablauf passt. Andererseits kostet es beim Sommerurlaub in Island schon erstmal ein bisschen Kraft und Schlaf, die Verwirrung über die um zwei Uhr nachts aufgehende Sonne abzuschütteln. Und wenn es etwas gibt, das im Alltag noch regelmäßiger unseren Erwartungen zuwiderläuft als Naturereignisse, dann sind das andere Menschen. Wir erkunden die kausalen Zusammenhänge, wenn Geschehnisse unser Selbstbild, unsere Weltsicht oder den Umgang mit unseren Mitmenschen in Frage stellen.

Drei Informationsdimensionen

Wie laufen diese Attribuierungsprozesse, diese Erkundungen kausaler Zusammenhänge ab?

Nehmen wir an, ich treffe zum ersten Mal die Eltern meiner Freundin und ihr Vater wirkt zeitweilig mürrisch und abweisend, während ich mich mit ihm unterhalte. Ich bin verunsichert. Mag er mich nicht? Ist das einfach seine Art? Hat er einen schlechten Tag? Schmeckt ihm das Essen nicht? Interpretiere ich zu viel in sein Verhalten hinein? Um diese für die Beziehungsgestaltung wichtigen Fragen zu beantworten, sammle ich weitere Informationen: Ich beobachte, wie er sich seiner Frau und seiner Tochter gegenüber verhält. Ich frage ihn, ob ihm das Essen schmeckt. Ich frage meine Freundin, ob sie meine Interpretationen teilt. Bei unserem zweiten Treffen achte ich darauf, ob er weniger mürrisch wirkt als beim ersten.

Psychologen benutzen drei Fachbegriffe, um diese beispielhaft dargestellten Informationsdimensionen zu beschreiben, die jeder Mensch oft in sozial mehrdeutigen Situationen einholt. Konsensus-Informationen bekomme ich, indem ich meine Freundin frage, ob sie ihren Vater auch als abweisend wahrnimmt. Ich gleiche meine Sicht der Dinge mit der anderer Personen ab. ‘Geht es Dir auch so?’ ist die prototypische Frage. Distinktheits-Informationen bekomme ich, indem ich den Vater im Umgang mit seiner Tochter und seiner Frau beobachte. Ich gucke, inwiefern sein Verhalten sich in Abhängigkeit des Menschen ändert, mit dem er interagiert. Dabei wird es umso interessanter, je unterschiedlicher die Interaktionspartner sind. Am erhellendsten wäre es für mich, ihn mit einem Arbeitskollegen, einem Bettler, seiner Frau, seiner Geliebten, einem Spiegel, Gott, seinen Eltern und mit einem chinesischen Einsiedler reden zu sehen. ‘Wie abhängig ist das Phänomen vom Interaktionsobjekt?’ könnte die prototypische Frage sein. Konsistenz-Informationen bekomme ich, indem ich den Mann ein zweites, drittes und siebtes Mal treffe. Ich nehme Veränderungen über die Zeit in seinem Verhalten wahr. ‘Wie tagesformabhängig ist das Phänomen?’ lautet die prototypische Frage.

Vier Attributionsdimensionen

Je mehr und je bessere Informationen bezüglich Distinktheit, Konsistenz und Konsensus ich einhole, umso genauer kann ich attribuieren. Am Ende des Prozesses können völlig unterschiedliche Ursachenzuschreibungen und ebenso unterschiedliche Schlussfolgerungen für mein eigenes Handeln stehen. Spielen wir mit dem Schwiegervaterbeispiel mal ein paar mögliche Muster durch:

Version 1 Meine Freundin erlebt ihren Vater überhaupt nicht als mürrisch und abweisend mir gegenüber, sondern als warmherzig und offen. Ich bemerke, dass er einige seiner mürrischen Verhaltensweisen auch im Umgang mit seiner Frau zeigt. Und bei unseren folgenden Treffen verhält er sich wieder genauso wie bei unserer ersten Begegnung. Ich schließe, dass dieser Mensch einfach so ist, dass er es nicht böse mit mir meint und ich stelle mich auf sein Freundlichkeitsniveau ein, so gut es geht.
Version 2 Meine Freundin teilt meine Wahrnehmung und wundert sich besonders, weil ihr Vater sich mit ihrem Ex-Freund immer so gut verstanden hat. Zu seiner Frau ist er ausgesprochen liebreizend. Und bei unseren folgenden Treffen verhält er sich wieder genauso wie bei unserer ersten Begegnung. Ich schließe, dass dieser Mensch mich einfach nicht mag und versuche, ihn für mich zu gewinnen, solange ich die Energie dafür habe und spreche mit meiner Freundin darüber, wie wir mit diesem angespannten Verhältnis zusammen umgehen wollen.
Version 3 Meine Freundin nimmt ihren Vater auch als mürrisch und leicht abweisend wahr. Ich bemerke, dass er einige seiner mürrischen Verhaltensweisen auch im Umgang mit seiner Frau zeigt. Und bei unserem zweiten Treffen ist er die Warmherzigkeit in Person und überschüttet alle Anwesenden inklusive mir mit seiner überschäumenden Liebe. Ich schließe, dass dieser Mensch starke Stimmungsschwankungen hat und stelle mich innerlich darauf ein, mir ein etwas dickeres Fell in Bezug auf ihn zuzulegen.

Auch Attribuierungsergebnisse ordnen Psychologen auf Dimensionen. Ich kann internal, auf in der Person liegende Faktoren oder external, auf situationale Faktoren attribuieren. Ich kann Phänomene auf eine über die Zeit stabile oder auf eine variable Ursache zurückführen. Ich kann auf eine für mich kontrollierbare oder unkontrollierbare Ursache attribuieren. Und ich kann einschätzen, inwieweit eine Ursache auch in mehr oder weniger ähnlichen Situationen wirksam ist, wie global bzw. lokal sie ist. In einer dicken Depression attribuieren Menschen schöne Ereignisse z. B. gerne external, variabel, unkontrollierbar und lokal, während sie für unschöne Ereignisse ein internales, stabiles, unkontrollierbares und globales Muster wählen. Das heißt, wenn sie auf der Straße spontan angelächelt werden, sagen sie sich, dass das auf keinen Fall an ihnen liegen kann, dass es morgen bestimmt nicht noch einmal vorkommt, dass die Ursache für das Lächeln außerhalb des Bereiches ihrer Kontrolle liegt und dass die Situation derart einzigartig war, dass sowas in anderen Situationen nicht wieder passieren wird. Und wenn sie auf der Straße spontan beleidigt werden, sagen sie sich, dass sie einfach ein fantastisch beleidigbares Gesicht haben, mit dem sie weiterhin leben müssen und das sie nicht ändern können, weil sie nun mal so geboren sind, und dass sie darunter bei jeder Begegnung mit anderen Menschen und Spiegeln leiden.

Attributionsfehler

Im Alltag gehen Attribuierungen nicht derart strukturiert von statten; ich arbeite mich nicht erst durch die Konsensus-, Distinktheits- und  Konsistenzinformationen hindurch, um am Ende ein inneres Statement abgeben zu können à la: “Unter Berücksichtigung aller vorhandenen Informationen entscheide ich mich dazu, das abweisende und mürrische Verhalten meines Schwiegervaters mir gegenüber internal, variabel, unkontrollierbar und global (Version 3) zu attribuieren.” Es ist jedoch beachtlich, wie sehr der intuitive Attribuierungsprozess dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnungsprozess ähnelt: Am Anfang steht eine Beobachtung, der einige Vermutungen folgen, die diese Beobachtung erklären könnten, und schließlich suche ich triftige Hinweise für und wider die verschiedenen Erklärungsalternativen. Dieser Vorgang kann in einsamer Reflexion oder auch im Gespräch stattfinden und er führt nicht zu finalen Weisheiten, sondern zu Übergangsergebnissen, die ggf. auf der Basis neuer Erfahrungen revidiert werden. Wegen dieser Ähnlichkeit des alltäglichen und des wissenschaftlichen Vorgehens sprechen Psychologen gerne von ‘Alltagspsychologie’ oder von ‘naiver Wissenschaft’. Und dann verbringen sie viel Zeit damit, die psychologischen Alltagsüberzeugungen tatsächlichen sozialwissenschaftlichen Befunden gegenüberzustellen. So tun sich Bereiche auf, in denen die im Großen und Ganzen gut geölte Erklärungsfindungsmaschine in unseren Köpfen von einer intersubjektiv teilbaren Realität abweicht und ihren eigenen Film schiebt.

Zum Beispiel tendieren Menschen dazu, den Einfluss von Persönlichkeitseigenschaften zu überschätzen, wenn sie andere Menschen beobachten. Wer einmal nicht ganz die Wahrheit sagt, ist ein Lügner. Wer mich in der Bahn anrempelt, ist entweder ein Tölpel oder ein Flegel. Und wer barfuß durch die Stadt geht, muss ein Hallodri sein. Das geht sogar so weit, dass selbst dann noch internal attribuiert wird, wenn der Persönlichkeitseinfluss auf ein Verhalten experimentell auf null reduziert wird. Beispielsweise kann man Leute zufällig einer von zwei Gruppen zuordnen, von denen die eine Essays pro und die andere contra Atomkraft schreiben soll. Und wenn man diese Essays Versuchspersonen vorlegt und um eine Einschätzung bittet, inwiefern die Essays den Standpunkt des jeweiligen Autors darstellen, attribuieren die Versuchspersonen immer noch ziemlich gerne internal, auf die Persönlichkeit, obwohl sie wissen, dass die Gruppenzuordnung per Münzwurf entschieden wurde. Diese kognitive Tendenz, das internale Attribuieren bei der Fremdbeobachtung zu übertreiben, nennt man den fundamentalen Attributionsfehler. Ähnliche Schwierigkeiten dem Schubladendenken zu entkommen haben Menschen, wenn sie Andere beobachten, die einer fremden Gruppe angehören. Wenn ich z. B. zum ersten Mal im Leben eine Kuwaiterin kennenlerne und sie beim Abendessen einen Spritzer Balsamico auf ihre Pizza tut, könnte ich verführt sein zu denken “Aha, das macht man in Kuwait also so”. Wenn mein Freund Christoph aus Detmold das gleiche tun würde, käme ich wohl nicht auf die Idee zu denken, dass alle Detmolder Balsamico-Pizzen lieben. Diese kognitive Tendenz, Eigen- und Fremdgruppen unterschiedliche Attributionen angedeihen zu lassen, nennt man den ultimativen Attributionsfehler.

Fazit

Jeder Mensch schreitet mit im Laufe des Lebens gewachsenen Modellen umher, die die äußere und innere Realität erklären sollen. Wenn diese geistigen Modelle durch neue Erlebnisse herausgefordert werden, betätigen wir uns als Alltagspsychologen und begeben uns in einen quasi-wissenschaftlichen Prozess der Informationssuche und der Ursachenzuschreibung. Dabei führen bestimmte Tendenzen – bei aller Effizienz des geistigen Attribuierungsapparates als Ganzem – nachweislich wiederholt zu Fehlern. So zum Beispiel, wenn wir im Verhalten Anderer ihre Persönlichkeit überstark durchscheinen zu sehen glauben oder wenn wir die Gruppenzugehörigkeit als handlungsbestimmendes Merkmal überbetonen.

Quelle: http://psych.hypotheses.org/81

Weiterlesen

Wissenschaft oder praktischer Nutzen? Botanische Gärten und Pflanzer auf Ceylon 1881

von Michael Offermann 

Im Frühjahr 2013 nutzte ich meinen Erasmus-Aufenthalt am Queen Mary College der University of London dazu, in den Londoner Archiven nach Quellen für meine Masterarbeit zu suchen. Schon länger war mir klar, dass ich etwas über das britische Netzwerk botanischer Gärten in Südasien schreiben wollte. Ein Hinweis meines Betreuers brachte mich dazu, mich auf Ceylon (Sri Lanka) zu konzentrieren. Seit 1830 waren dort Kaffeeplantagen entstanden, auf denen 1869 der Kaffeerost ausbrach, wodurch innerhalb von nur 15 Jahren der Kaffeeanbau auf Ceylon zusammenbrach. Der örtliche botanische Garten in Peradeniya und seine Londoner Zentrale Kew Gardens versuchten den Pflanzern zu helfen, doch konnten kein effektives Gegenmittel gegen die Pflanzenkrankheit entwickeln. Infolgedessen schwenkten die Pflanzer auf Tee um, für den Ceylon heute bekannt ist.

John Ferguson: Ceylon in the Jubilee Year. With an Account of the Progress Made Since 1803, and of the Present Condition of its Agricultural and Commercial Enterprises, 3. Aufl., Colombo 1887, S. 60, https://archive.org/details/ceyloninjubilee00ferggoog.

John Ferguson: Ceylon in the Jubilee Year. With an Account of the Progress Made Since 1803, and of the Present Condition of its Agricultural and Commercial Enterprises, 3. Aufl., Colombo 1887, S. 60, https://archive.org/details/ceyloninjubilee00ferggoog.

Mich interessierte ob und wie die Pflanzer und die botanischen Gärten angesichts der Krise, die der Kaffeerost auslöste, zusammenarbeiteten. Gab es eine einträchtige Kooperation, oder Konflikte zwischen Wissenschaftlern und Pflanzern? Im Archiv von Kew Gardens stieß ich auf eine Gruppe von Quellen, die mir die unterschiedlichen Interessen der britischen kolonialen Akteure vor Augen führten. Es handelt sich um Briefe, die der von Kew nach Ceylon gesandte Wissenschaftler Harry Marshall Ward an den Direktor Kews William Thiselton-Dyer sandte. Nach zwei Jahren auf Ceylon, äußert sich der Wissenschaftler genervt über die unwissenschaftlichen Spekulationen in der Presse und die Borniertheit der Pflanzer:

‘Coffee-leaf disease’ begins to stink in my nostrils! I cannot disguise the fact that I shall be very glad to get out of this; it will be no end of a relief to talk to a man with higher & better ideas than the usual Coffee planter or Colonial Civilian […] & I wonder if a newspaper can be possibly conducted on honourable principles, all of wh[ich] facts will convince you that it is not mere home-sickness that renders me sick of coffee.1

Kaffeerost

Kaffeerost verursacht durch den Pilz Hemileia vastatrix, in Rwanda 2001. Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Smartse, CC-BY-SA

Während Marshall Ward sich vorrangig für die wissenschaftliche Erforschung des Rostpilzes interessierte, verlangten die Pflanzer schnelle, effektive und günstige Mittel, die die Krankheit auf den Plantagen eindämmen sollten. Als klar wurde, dass die botanischen Gärten diese Hilfe nicht würden liefern können, waren die Pflanzer enttäuscht. Der Leiter des botanischen Gartens in Ceylon, Henry Trimen fasste die Lage auf der Insel so zusammen:

The planters expect to make enormous profits & when they are merely making reasonably ones, they are making a great outcry. As a class the planters, who will take anything that is given them, without thanks & as a right, will not act together except in opposing things given to any other class of the community. […] Here [Ceylon] it is against a pushing & energetic set of men who care for nothing else in life but making money as quickly as possible that they may leave the country. Against the most sordid & shortsighted jealousy of all that is not “practical” I have to keep up an attitude of steady persistence.2

Statt eines oft angenommenen reibungslosen Zusammenspiels von botanischer Wissenschaft und Kolonialismus, kam es während der Kaffeekrise auf Ceylon zu einem Interessenskonflikt zwischen den kolonialen Akteuren. Beide Gruppen hofften auf je eigene Weise vom „kolonialen Projekt“ zu profitieren: die Pflanzer durch Profite, die Wissenschaftler durch Forschung, die ihre wissenschaftliche Karriere befördern sollte und so nur in Ceylon möglich war. Ich habe durch dieses Beispiel erfahren, wie fragil und widersprüchlich koloniale Herrschaft sein konnte und wie häufig unerwartete Probleme „on the spot“ die Pläne der Akteure durchkreuzten.

Michael Offermann arbeitet momentan als Doktorand bei der SNF-Förderprofessur von Stephan Scheuzger “Die globale Produktion und Zirkulation des Wissens von Strafe und sozialer Kontrolle” am Historischen Institut der Universität Bern. In seinem Dissertationsprojekt geht es um transnationale Wissenszirkulationen über Strafen und Gefängnisse zwischen Großbritannien und Britisch-Indien im 19. Jahrhundert.
Er hat Geschichte und Politikwissenschaft in Heidelberg und London studiert. Seine Masterarbeit, die er 2013 in Heidelberg eingereicht hat, beschäftigte sich mit der Kooperation von Pflanzern und Botanikern auf Ceylon 1869-1885.

  1. Kew Gardens Archive, Miscellaneous Reports Ceylon 5.21, Coffee Diseases 1871–1887, fol. 306v., Harry Marshall Ward an William Thiselton-Dyer, 9.2.1881
  2. Kew Gardens Archive, Director’s Corespondence, vol. 163, fol. 246, Henry Trimen an William Thiselton-Dyer, 25.3.1881.

Quelle: http://openblog.hypotheses.org/63

Weiterlesen

Über ungelöste Rätsel und die Verantwortung der Wissenschaft für ein YouTube-Video

Momentan befinde ich mich in einer sehr mühsamen Phase der Dissertation. Tag für Tag wälze ich Handschriftenkataloge und Datenbanken, klicke mich durch unzählige Zahlenkolonnen einer Access-Datei. Kein Wunder also, dass ich von Zeit zu Zeit empfänglich bin für das moderne Medium der Zerstreuung, YouTube.

Natürlich kommt dabei für mich normalerweise nur der Arte Channel in Frage ;-) , gestern stieß ich allerdings auf folgende Perle: Der Experimentalarchäologe Dominique Görlitz stellt Ungelöste Rätsel der Entdeckergeschichte vor.

Herr Görlitz (“beschäftigt sich seit 20 Jahren mit der Experimentalarchäologie. Diese interdisziplinäre Forschung berührt auch das Studium der Kartographiegeschichte […].”) überraschte mich bei seinem ersten “Expertenbeitrag” zunächst äußerst positiv mit der Aussage, “dass diese Anschauung, dass die Erde eine Scheibe ist, eigentlich eine relativ junge Anschauung war”. Endlich mal einer der mit diesem Mittelalter = Erde = Scheibe-Quatsch aufräumt, dachte ich zufrieden – bis Görlitz seinen Satz mit den Worten beendete: “die sich eigentlich erst mit der Christianisierung ausgehen der Antike entwickelt hat.” Und weiter: Die Kugelgestalt der Erde “hat sich in der Antike auch so weitgehend durchgesetzt, bis man wieder den Schritt zumindest kulturell scheinbar zurück, mit dem Christentum genommen hat, wo man eben wieder in die alte flächige Gestalt der Erde umgeswitched war.”

Eigentlich hätte ich die “Doku” vergnügt ein bisschen weitergeschaut (Bonmots: “Wenn man sechzig Tage auf dem Ozean segelt, hat man viel mehr Freizeit als im normalen wirklichen Leben”; “Aber grade Phantasie und Spekulation sind wichtige Grundmethoden der Wissenschaft”) und verdrängt. Der Zufall wollte aber, dass ich abends einen ersten Blick in das kürzlich erschienene Buch Die Geschichte der legendären Länder und Städte von Umberto Eco warf. Gleich das erste Kapitel behandelt Die Erde als Scheibe und die Antipoden. Auf Seite 12 betont Eco: “Im Gegensatz zu vielen Legenden, auf die man immer noch im Internet stößt, wussten alle Wissenschaftler des Mittelalters, dass die Erde eine Kugel ist.” Wie könnte das ein bedeutungsloser Zufall sein! Nein, das war ein Zeichen, eine Aufforderung , die ungelösten Rätsel der Entdeckergeschichte zu lösen oder zumindest einen kleinen Artikel über eines davon zu schreiben. Dabei ist der Begriff Rätsel hier eigentlich falsch verwendet, Irrtümer trifft es besser, zum Beispiel die erwähnte Legende eines mittelalterlichen Scheibenweltbildes. Vor einiger Zeit hat Reinhard Krüger (hier in einem Beitrag von 2007) betont: “Nichts davon trifft zu. Vielmehr handelt es sich bei dieser Vorstellung um ein wissenschaftsgeschichtliches Gerücht, welches spätestens seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts sich aus zunehmender Unkenntnis der einschlägigen astronomischen, geographischen und kosmologischen Literatur des Mittelalters, hierunter vor allem auch der Texte der Kirchenväter, speist. Aus dem Gerücht vom mittelalterlichen Erdscheibenmodell, aus der überzogenen Interpretation der scheinbaren Wissenschaftsfeindlichkeit eines Kirchenvaters wie Augustinus beispielsweise, mit einer Vielzahl von nur noch schlecht memorierten Zitaten der patristischen Tradition und schließlich mit gefälschten und zeitlich um Jahrhunderte vordatierten Graphiken des ausgehenden 19. Jahrhunderts vom ‘Aufbruch des mittelalterlichen Menschen aus kirchlicher Bevormundung’ wurde der Mythos vom spätantiken Niedergang des Globusmodells und der daraus resultierenden mittelalterlichen Unwissenheit geschaffen.” (Siehe Link, S. 34).

Ich möchte nun nicht die ganze Forschungsgeschichte zum Thema wiederkäuen, wem der Krügerbeitrag nicht ausreicht, der findet auf der Wikipedia-Seite zur Flachen Erde einschlägige Literatur und auch bei Eco kann man mit Genuss darüber lesen (und auf vielen schönen Abbildungen sehen).

Vielmehr möchte ich kurz einen sehr cleveren, mittelalterlichen Beweis zur Kugelgestalt der Welt vorstellen, also nicht nur das geistige Endprodukt “Die erde ist ja eine Kugel!”, sondern auch einen dazu führenden Gedankengang.

Im frühen 12. Jahrhundert verfasste Wilhelm von Conches einen Lehrdialog, in dem ein Herzog mit einem Philosophen über den Aufbau des Kosmos diskutieren.

In Buch 6, Kapitel 2 des Dragmaticon’s[1] debattieren beide die Form der Erde. Einige Ignoranten, die wie die Tiere eher ihrem Gefühl anstatt ihrem Verstand vertrauen würden, behaupteten, die Erde sei eine Scheibe. Diesen Irrsinn widerlegt der Philosoph mit einer ganzen Reihe von Argumenten.

Eines dieser Argumente hat der Wissenschaftsgeschichte zwei schöne Diagramme beschert, das Argument der zwei Städte: Wäre die Erde eine Scheibe, so würde es in einer Stadt ganz im Osten der Scheibe fast gleichzeitig Morgen und Mittag sein, da die Sonne dann kurz nach dem Aufgehen ihren Zenit über der Stadt erreicht. Für eine Stadt ganz im Westen der Scheibe hingegen stellte sich die Situation genau andersherum da, hier würden Mittag und Abend zusammenfallen. Da das bekanntermaßen nicht der Fall sei, müsse die Erde eine Scheibe sein, so der Philosoph. “Damit Du das besser verstehen kannst, male ich eine Figur”:

Oxford, Bodley, MS. e Mus. 121, fol. 82v

Aus dem gleichen Grund erführen verschiedene Orte auch den Sonnenauf- bzw. Untergang zu unterschiedlichen Zeiten. Geht die Sonne für eine Stadt unter, geht sie gleichzeitig für eine andere auf der Rückseite des Globus auf. Auch hierfür gibt der Philosoph ein Diagramm, wobei die Städte in dieser Handschrift durch A, B, C und D ersetzt wurden.

Oxford, Bodley, MS. e Mus. 121, fol. 83v

Nicht nur wusste Wilhelm, dass die Erde eine Kugel war, er konnte dies auch begründen. Dabei war seine Begründung anders als etwa bei Pythagoras nicht rein philosophisch oder gar mystisch, sondern im Grunde geometrisch (also rational) und ein Stück weit sogar empirisch.

So viel zur Kugel.

Warum hat mich diese Dokumentation so nachhaltig verstört, dass ich sie nicht wie sonst ignoriert habe? Zum einen, weil ich bei meinen Internetrecherchen feststellen musste, dass so ein Unfug tatsächlich noch in einigen Schulbüchern verbreitet wird (das Beispiel ist zwar von 1998, dürfte im Schulunterricht aber noch Anwendung finden). Zum anderen, weil sich die Dokumentation im Vergleich zu “seriösen” Fernsehdokumentationen ganz gut schlägt. Ein professioneller Sprecher, “Experteninterviews” und eine (vergleichsweise) seriöse Aufmachung ­– auf den Laien dürfte das durchaus Eindruck machen. Mit den bizarren und skurrilen Auftritten des pseudowissenschaftlichen Gegendiskurses hat das jedenfalls nicht mehr viel zu tun. Vielmehr scheinen mir solche Produktionen durchaus geeignet zu sein, zunehmend im populärwissenschaftlichen Diskurs Fuß zu fassen, zumal im Internet kein Gatekeeping stattfinden kann. Hier ist sicher auch die seriöse Wissenschaft verantwortlich, die die Vermittlung ihres Wissens aus dem akademischen Subsystem in eben diesen populärwissenschaftlichen Diskurs und damit in die Gesellschaft sträflich vernachlässigt. Wer dort allerdings die Deutungshoheit verliert, der verliert gleichzeitig seine Relevanz und Legitimation. Wenn sich die Wissenschaft aber nicht allein auf die Schule als Vermittlerin ihres Wissens verlassen kann, dann muss sie sich selbst darum kümmern, etwa indem sie ihre Ergebnisse nicht nur als Fachartikel in Fachzeitschriften publiziert, sondern auch in leicht verständlicher, vielleicht sogar unterhaltsamer, vor allem aber auch für die Masse leicht zu erschließenden Form (nein, Latein gehört nicht mehr dazu). Soziale Medien bieten hierfür schon lange eine Fülle von Möglichkeiten (@9nov38 hat es vorgemacht), was noch fehlt, ist ein entsprechender Wandel in der Wissenschaftskultur, der ein solches “Runterbrechen” auch honoriert.

Die “Dokumentation” endet nachdenklich: “Was bringt Kulturen relativ schnell zur Blüte, was führt zu den unzählig vielen kulturellen Abstürzen in unserer Vergangenheit[?] Die Kulturgeschichte unserer heutigen Zivilisation zeigt, ja, dass es eigentlich eine Geschichte von unzähligen Abstürzen ist.” Vielleicht liegt es daran, “dass, während einige frühere Kulturen wirklich an eine flache Erde glaubten, viele unserer Zeitgenossen im Widerspruch zum Stand unserer historischen Kenntnisse immer noch meinen, die Menschen des Altertums und des Mittelalters hätten an eine flache Erde geglaubt. Daran sieht man, dass die Heutigen mehr zu Legenden neigen als ihre Vorfahren.” (Eco, S. 22).

Diesen Ignoranten wollte ich zum Abschluss des Beitrags eigentlich wütend die Mahnung eines solchen Vorfahren entgegenschleudern: “fatti non foste a viver come bruti, ma per seguir virtute e canoscenza” – Ihr seid nicht auf der Welt, um wie die Tiere zu leben, sondern um nach Tugend und Wissen zu streben!

Am Ende erscheint mir das aber zu wohlfeil und selbst ein bisschen ignorant. Ein anderer Protagonist der Dokumentation, Martin Waldseemüller (über den es unlängst eine schöne Ausstellung mit lobenswertem online Begleitprogramm gab) mahnt uns Wissenschaftler, dass wir Wissen nicht nur anhäufen, sondern auch “gemein” vermitteln sollten. Denn der wird “für ein neydigen vergünstigten menschen geachtet […], der das liecht der weißheit hat entpfangen, und es verbürget, vor seinem neben menschen”. Hier müssen wir noch kräftig an uns arbeiten. Ideen?

 

[1] Edition: Dragmaticon philosophiae, hg. von Italo Ronca, Corpus Christianorum Continuatio mediaevalis 152, Turnhout 1997. Italo Ronca hat auch eine englische Übersetzung nebst kleineren Erklärungen vorgelegt: Italo Ronca, A dialogue on natural philosophy : translation of the new Latin critical text with a short introduction and explanatory noteses. Notre Dame 1997.

 

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/122

Weiterlesen

Zur chinesischen Bezeichnung der “Verbotenen Stadt”

Der Kaiserpalast in Beijing – in diesem Blog bislang lediglich im Zusammenhang mit der Einführung moderner Kommunikation etwas näher erwähnt[1], mit den “goldenen” Dächern aber im Header prominent vertreten – wird nach wie vor gerne “Verbotene Stadt” genannt[2].

Wumen 午門 ("Meridian Gate"), seen from the north

Blick vom Taihemen 太和門 (“Tor der Höchsten Harmonie”) nach Süden auf das Wumen 午門 (“Mittagstor”) – Foto: Georg Lehner

Im Chinesischen wurde die Palastanlage mit dem Begriff zijincheng 紫禁城 (“Purpurne Verbotene Stadt”) bezeichnet (heute Gugong 故宮, d.i. “Alter Palast”). Man könnte meinen, dass diese Bezeichnung “Purpurne Verbotene Stadt” mit den roten Mauern des Palastes (im Bild rechts das imposante “Mittagstor”) zu tun hat. Tatsächlich bezieht sie sich auf den so genannten “verborgenen purpurnen Bereich” (ziweiyuan 紫微垣). Darunter versteht man jenen Ring aus fünfzehn Sternen, der den Polarstern (ziweixing 紫微星) umgibt. Der Polarstern stand nach althergebrachter Auffassung für das Zentrum des Himmels[3] und galt als Sitz des “Obersten Herrschers” (shangdi 上帝).[4]

In Sinne einer irdischen “Spiegelung” der im Universum herrschenden Ordnung symbolisiert der Kaiser den Polarstern und sein Palast den “verborgenen purpurnen Bereich.” Diese Deutung basiert auf der konfuzianischen Vorstellung, dass “der, der die Regierung durch seine Tugend führt, wie der Polarstern ist, der seinen Platz behält, während alle anderen Sterne sich ehrfurchtsvoll vor ihm neigen.”[5]

  1. Vgl.: “Ein Telefon im Kaiserpalast”.
  2. Zum ehemaligen Kaiserpalast und zum Palastmuseum Peking vgl. http://www.dpm.org.cn/index1024768.html.
  3. Zur Bedeutung vgl. etwa Grand Dictionnaire Ricci, Bd. 6, S. 409 (Nr. 11830). – Zur Bedeutung der Farbe Purpur vgl. Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Chinesen und ihre Schrift (München, 5. Aufl. 1996) 177 (“Lila”).
  4. Vgl. dazu J. J. M. de Groot: Universismus. Die Grundlage der Religion und Ehtik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas (Berlin 1918), 129 f. und Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Singapore 2008) 223 (“Purple”).
  5. Otto Franke: Geschichte des chinesischen Reiches, Bd. 1 (Berlin 1930) 79.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/874

Weiterlesen