Wenn nach 100 Jahren die Kriegstoten wieder ein Stimme bekommen

Annika Röttinger war eine der Organisatorinnen der bereits angekündigten Veranstaltung in Bückeburg am 13. März. Sie hat uns ihre Gedanken zur Vorstellung bereitgestellt und wir wollen diese mit euch teilen. 

„Die Schlacht dauert immerzu, dann mal stärker, dann mal schwächer, die Kugeln pfeifen Tag und Nacht.“, schreibt Ludwig Faudt am 10. November 1914, im Schützengraben liegend. Über 100 Jahre später erklingt seine Stimme im Museum Bückeburg. „Die Kugeln pfeifen Tag und Nacht.“ Mich hat dieser Satz aus seiner Feldpost schon von Anfang an berührt, seit wir die Briefe im Seminarraum der Uni das erste Mal gelesen haben. Aber heute Abend, da dieser Satz in die gespannte Stille der vielen Zuhörer hineingesprochen wird, wo er gleichermaßen der Titel der Lesung ist, da berührt er mich noch mehr.

Die lange Vorbereitung auf die Lesung, die gerade für ein kleines Orga-Team eine besondere Belastung darstellt, ist endlich zum Ende gekommen. Alles ist erledigt, jeder auf seiner Position und es kann losgehen. Das Museum ist noch voller als erwartet. In der ersten Reihe sitzt Hans Faudt, der Neffe der beiden Brüder Carl und Ludwig, deren Briefe wir heute vorlesen. Ich stehe an meinem Platz und frage mich, was er wohl empfinden mag. Wundere mich, welch glückliche Umstände es waren, unter denen wir die Briefe gefunden haben. Und sorge mich ein wenig, ob wir dem Ganzen gerecht werden können.

Eine engelsgleiche hohe Stimme stimmt „Ein feste Burg ist unser Gott“ an, sie singt jenen Kirchenchoral, welcher die Brüder 1914 bei der Mobilmachung begleitet hat. Heute leitet dieses Lied unsere Lesung ein und verfehlt seine Wirkung nicht. Der kleine Saal wird mucksmäuschenstill und verfolgt aufmerksam die Schicksale der beiden Bückeburger Brüder.

Bäckerei der Familie Faudt
Bäckerei der Familie Faudt

„Wenn ich nach Hause komme, kann ich euch noch unendlich viel erzählen.“, schreibt Ludwig, und mir wird es ganz anders. Bei der Generalprobe am Nachmittag hatte ich schon eine Gänsehaut, aber nun ist die Atmosphäre eine viel dichtere und ich empfinde alles viel intensiver.

„Bald mehr.“, schreibt auch Carl an seine Eltern, und ich weiß, dass dem nicht so ist. Mehr wird nicht kommen, mehr wird Carl nicht schreiben. Und sobald dieser Satz verstummt ist, erklingt ein weiterer Choral und eine weiße Grabkerze wird für ihn entzündet. Manche Zuhörer wischen sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Auch ich muss meinen Kloß, den ich im Hals habe, herunterschlucken.

„Teile euch mit, dass ich noch gesund und munter bin.“, schreibt Ludwig kurz darauf in seinem letzten Brief, drei Tage vor seinem Tod. Wieder ein Choral, noch eine Kerze und jedem wird in diesem Moment bewusst, dass die Eltern bereits im ersten Kriegsjahr beide Söhne verloren haben.

Zu jedem vorgelesenen Kondolenzbrief, den die Familie erhält, wird eine rote Grabkerze entzüdet und gesellt sich zu den beiden weißen. Als sich die Lesung dem Ende neigt, ist der kleine Sims, auf dem die Photos von Carl und Ludwig stehen, voller Kerzen.

Tosender Applaus. Auf meiner Seite überwiegen vor allem Erleichterung und Dankbarkeit.

Eine so herrliche, gespannte und aufmerksame Stimmung wünscht man sich für jede Veranstaltung, rechnet aber eigentlich nicht damit. Die Resonanz war durchweg positiv, egal, mit wem wir gesprochen haben. Wir hatten im Museum noch eine kleine Ausstellung zur Geschichte der Familie Faudt auf die Beine gestellt, welche auch sehr, sehr gut aufgenommen wurde.

Herr Faudt bedankte sich nach der Lesung noch einmal bei uns Studierenden und meinte, durch diese Lesung wären Carl und Ludwig wieder ein Stück weit zum Leben erweckt worden. Ein bewegender Gedanke, wie ich finde, da es sich für mich genauso anfühlt. Aus den Briefen ist so viel herauszulesen und wenn man sich so lange mit dem Leben der beiden beschäftigt, fühlt man doch arg mit, wenn sie dann „wieder“ sterben.

Heute Abend kam alles zusammen. Die Stimmen der Brüder, die Ausstellung zu deren Leben, die Anwesenheit ihrer Nachfahren. Es fühlte sich an, als würden sich einzelne Puzzlestücke zusammensetzen und die Geschichte einen Abschluss finden.

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/298

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Quo vadis digital History?

Der Artikel von Jan Heinemann “Aus der Sicht eines Skeptikers” hat letzte Woche für reichlich Gesprächsstoff auf unserem Blog gesorgt. Das ist gut, denn es zeigt, dass Blogs “still alive” sind. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, Jans etwas polemisch-kritischen Artikel so früh zu veröffentlichen, um die “Schmerzgrenze” auszuloten, mit der wir hier operieren können. Um so erfreuter bin ich über den sachlichen Charakter der Kommentardiskussion und hoffe, dass wir das noch viele Male so wiederholen können.

The Trend is your friend

Viele der Blogbeiträge, die ich bisher gelesen habe, loben das Digitale über den grünen Klee. Kaum ein kritisches Wort ist zu lesen, was letztlich auch zu der schreibenden Community von de.hypotheses.org passt. Menschen, die sich nicht vor der digitalen Revolution überrollen lassen wollen. Ich zähle mich auch dazu. Einer der absolut überzeugten “Digital Humanisten”. Trotzdem lese ich Beiträge wie den von Jan Heinemann gerne, da ich sie als wohltuendes Korrektiv verstehe, um das eigene Denkmuster reflektiv zu betrachten. Dennoch bin ich überzeugt: Wir stehen mit den Geisteswissenschaften vor einer wissenschaftlichen Revolution. Science 2.0, schon oft ausgerufen und doch nie so richtig angekommen, dürfte durch den Vormarsch der Digital Humanities nun tatsächlich bald auch in den Geschichtswissenschaften Einzug halten. Dieser Trend darf nicht verschlafen werden!
Mit großem Bedauern musste ich feststellen, dass es bisher größtenteils die Anglistik, Germanistik oder die Kommunikationswissenschaften sind, die sich den Methodenkoffer der Digital Humanities unter den Nagel reißen. Wo bleiben die Historiker?

Ohne in diesem Beitrag genauer auf die Definitionsproblematik der Digital Humanities einzugehen, sehe ich den größten Vorteil der Digital Humanities in den Möglichkeiten, quantitative Fragestellungen für die Geschichtswissenschaft zu entwickeln. War ein Großteil historischer Forschung bisher qualitativer Natur, so können nun durch digitale Methoden erstmals Quellen quantitativ ausgelesen und analysiert werden. Allerdings steckt diese Forschung noch in den Kinderschuhen. Warum?
Ich habe den Eindruck, dass sich viele Historiker nicht trauen, die neuen Hilfsmittel einzusetzen, da diese als zu modern und wenig erprobt gelten. Müsste es nicht auch ausreichen, wenn man wisse, wie man mittels Office Word ein Textdokument erstellt? Immerhin sind wir keine Informatiker! Diese Einstellung, mit der ich im Laufe meines Studiums immer wieder konfrontiert wurde, finde ich gefährlich. Sie führt dazu, dass die Geschichtswissenschaft zumindest methodisch das 21. Jahrhundert verschläft! Selbst in den Digital Humanities spricht niemand davon, dass Historiker ab sofort über die umfassenden Programmierkentnisse eines Informatikers verfügen müssten. Diese fälschliche Annahme kommt mir eher vor wie ein Schutzschild, hinter dem sich viele Kritiker verstecken.
Für mich zählt vielmehr das kreative Element. Neue Methoden bieten neue Möglichkeiten, neue Fragestellungen zu entwickeln und zu beantworten. Diesen Prozess kann die Geschichtswissenschaft nicht alleine gehen. Damit verbunden ist eine neue Interdisziplinarität. Ist das denn schlimm? Im Sinne des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns dürfte das eigentlich kein Grund zur Besorgnis sein. Immerhin möchte ich nicht, dass sich in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren die Informatik um einen Teil der historischen Fragestellungen kümmert und nicht mehr die Geschichtswissenschaft.

Historyblogging

Was verändert sich noch? Die Art und Weise des Wissenstransfers. Etwas überspitzt formuliert Jan Heinemann: “welchen Anreiz kann es noch geben, von Angesicht zu Angesicht wissenschaftliche Fragen zu debattieren, sich in Theorien zu graben und Satz für Satz mit seinen Kommilitonen zu zerlegen, zu hinterfragen und sich anzueignen, wenn alles irgendwo schon auf drei Seiten zusammengefasst, als gültige Wahrheit reproduziert und stets abrufbar ist?” Wer auch immer so denkt (und leider wurde ich mit genau diesen Bedenken schön des Öfteren konfrontiert), scheint das Konzept hinter der Blogosphere nicht verstanden zu haben! Niemand möchte ernsthaft eine Wissenschaft, welche sich ohne physische Interaktion lediglich vor den Bildschirmen der Computer abspielt. Die Befürchtung, dass Blogging früher oder später Seminare, Konferenzen oder gar universitäre Lehre ersetzen könnte, scheinen mir absolut haltlos. Nichts ist zielführender als Face-to-Face-Kommunikation.1 Auch die Digital Humanities werden weiterhin auf den Austausch außerhalb der digitalen Welt angewiesen sein. Die Bolgosphere bzw. das digitale Netzwerk bietet hier meiner Meinung nach eher eine diese Treffen ergänzende Plattform, auf der Themen vertieft behandelt und Diskussionen in breiterer Runde fortgeführt werden können.

Auch die Befürchtung des sinkenden Forschungsinteresses kann ich nicht teilen. Nur weil etwas im Netz veröffentlicht wird, bedeutet das nicht, dass man aufhören soll/muss, Fragen zu stellen. Kann es nicht sogar über kurz oder lang einen gegenteiligen Effekt auslösen?
Hier macht es sich die Kritik an Open Access und Digital Humanities etwas zu einfach und vergisst vor allem die immensen Vorteile, die die digitale Welt bietet.
Bleiben wir beispielsweise kurz bei der Zielgruppe. Auch darüber wurde bereits in den Kommentaren diskutiert. Sicherlich sind Wissenschaftsblogs nicht der Weisheit letzter Schluss, wenn es um die Vermittlung von Wissen bzw. Wissenstransfer geht. Allerdings sind sie ein Anfang. Oftmals wird bemängelt, wie elitär und hierarchisch universitäre Lehre aufgebaut ist. Blogs schaffen hier in mehrfacher Hinsicht Abhilfe. Sie tragen Debatten/Wissen nach außen und sind für interessierte Laien im Netz frei zugänglich abrufbar. Natürlich erreicht man nicht jeden, aber das wäre zum jetzigen Zeitpunkt sicherlich noch etwas vermessen anzunehmen. Wenn Karl-Heinz Schneider schreibt: “Ich war gerade drei Tage in Sachen “Angewandter Geschichte” unterwegs, in einer norddeutschen Kleinstadt, in der wir ein kleines Projekt zur Stadtgeschichte durchführen, aber in dem Dilemma stecken, das alle viel mehr von uns erwarten: Lösungen für Antworten, die schon lange niemand mehr gefunden hat, Unterstützung bei der alltäglichen Auseinandersetzung mit alten Herren, die keine Veränderung wollen, Aufklärung über Dinge, die niemand so richtig versteht, Abstand und Nähe zugleich. Aus der Perspektive dieser Akteure sind Debatten wie diese hier reinster Elfenbeinturm, das versteht “draußen” niemand. Muss es vielleicht auch nicht. Aber es zeigt die Grenzen des Bloggens auf. Für Laien ist das hier jedenfalls nichts“, dann hat er damit sicherlich zum Teil recht. Für Laien ist das hier nichts. Ich würde aber konstatieren, dass es für interessierte Laienhistoriker_Innen schon etwas ist, nämlich die Möglichkeit, an dieser hier geführten Debatte nicht in abgeschlossenen Elfenbeintürmen an der Universität, sondern offen zugänglich im Netz teilzuhaben!

Weiß der Blogger um die Wirkung seines Posts?

Aus der Sicht eines Skeptikers stellt Jan Heinemann in seinem Beitrag die Frage nach dem Bewusstsein über die Wirkung eigener Posts von Bloggern.
Auch dies ist eine berechtigte Frage, auf die eine Antwort gegeben werden muss. Aber wie und von wem?
Die Blogs, die den Beinamen “wissenschaftlich” bekommen wollen, müssen letztlich den selben Qualitäts- und Objektivitärsansprüchen standhalten, wie traditionelle wissenschaftliche Publikationsformen.
Müssen sie das uneingeschränkt? Gegenstimmen wie die von Klaus Graf sagen: “Wissenschaftliches Gammelfleisch bringt einen nicht um!“.2 Diese gewagte These setzt die Mär vom reflektierten und informierten Leser voraus. Diese könnten dann in den Kommentarzeilen auf inhaltliche Fehler hinweisen und bringen letztlich einen Erkenntnisgewinn für den Autor mit sich. Auch diese Methode hat etwas für sich, zeigt aber, in welcher Zwickmühle sich wissenschaftliches Bloggen momentan befindet. Das Konzept des “Publish first – filter later”3 beendet bewusst traidtionelle Denkmuster. Das Peer Review muss dabei kein zwangsläufig vorgeschalteter Prozess sein. Hubertus Kohle nennt die Alternative: “Eine Bewertung, die im Nachhinein stattfindet, kann ebenfalls ein Peer Review sein“.4 Dieses Vorgehen führt zwangsläufig zu mehr Content und mehr Content führt zwangsläufig zu einer wachsenden Unübersichtlichkeit die, wie Kohle abschließend konstatiert “nur über professionelle Recherchetechniken einigermaßen einzuhegen ist”.5

Die Chancen auf Gammelfleisch zu stoßen, sind aus den oben genannten Gründen höher als bei traditionellen Publikationsformen. Das kann dann zu einem Problem werden, wenn das Open-Peer-Review Verfahren auf unreflektierte Blog-Leser stößt. Hier muss für den Leser an einer transparenten Lösung gearbeitet werden. Nur so kann der von Jan Heinemann angesprochene “tendency to confuse quality or relevance with popularity” entgegengearbeitet und ein Trend hin zu Wissenschaftlichkeit im Netz gelegt werden. In Gänze nimmt es dem Leser das reflektierte Lesen jedoch nicht ab.

through the gates of heaven

Ich sehe das ganze Thema Digital History nicht so kritisch wie Jan Heinemann. Die Forschung darf sich nicht von der “Flut potenzieller Informationen und Quellen” verunsichern lassen. Was die Forschung braucht, sind neue Methoden zur Analyse und Filterung von Daten/Quellen. Hier sehe ich die Digital Humanities in der Pflicht. Ihre Aufgabe wird es sein, zukünftig dafür zu sorgen, dass die Flut an Quellen keinen Qualitätsverlust in der Forschung verursacht. Es muss in Forschung und Lehre bei allen Beteiligten ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass zukünftig neue “Softskills” vonnöten sind, um der Informationsflut Herr zu werden.
Aber allein die Tatsache, dass die Plattform Hypotheses stetig wächst und sogar Skeptiker wie Jan Heinemann doch lieber auf Blogs schreiben (wenn auch kritisch), als es ganz sein zu lassen, zeigt, dass wir dabei sind, eine neue Art des Wissenstransfers zu entwickeln.

add:

Kurz bevor ich diesen Artikel freigeben wollte, las ich ein Streitgespräch im Spiegel zum Thema: Wissenschaft in den Medien. Der letzte Abschnitt, der passenderweise den Titel: “Sind Blogs die Rettung?” trägt, zieht dabei für das Wissenschaftsblogging eine nüchterne Bilanz. Forscher hätten Angst, kritisch zu bloggen und fürchteten die Ausgrenzung durch Kollegen. Wenn das stimmt, ist das sicher ein Problem, dem sich die Wissenschaft annehmen muss. Damit hätten wir auch den einzigen Punkt des Gesprächs freigelegt, dem ich, sollte er stimmt, beipflichten würde.

Der Rest ist (vielleicht auch auf Grund der Intention des Spiegels) zu eintönig. Es wird schlicht bestritten, dass die Wissenschaft ohne Journalismus nicht in der Lage sei, Endnutzer zu erreichen. Dieser Vergleich hat leider etwas Schieflage, vergisst er doch die bisherigen Untersuchungen zu Blogs, die auf deren quasi-journalistischen Charakter abzielen.6   Natürlich kann keiner erwarten, dass Blogs die gleiche Reichweite besitzen wie anerkannte Journalistische Plattformen (zumindest noch nicht). Um aber auf den Titel des Streitgespräches zurückzukommen, wo denn die Wissenschaft in den “Medien”7 noch platz findet? Etwa auf den paar Seiten im Spiegel? Oder Seite 29 in der F.A.Z.? Anstatt zu bemängeln, dass einzelne Wissenschaftler und Studierende versuchen, das Interesse für Wissenschaft durch Blogs nach außen zu tragen, hätte ich mir von Herrn Wormer (lehrt Wissenschaftsjournalismus an der Uni Dortmund), Frau Lüthje (lehrt Kommunikationswissenschaften an der TU Dresden) und Herrn Fischer (lehrt Wissenschaftsgeschichte an der Uni Heidelberg) etwas mehr “Punch” gegenüber der Presse erhofft. Eines ist zuimdest für mich aus meiner eigenen Leseerfahrung her sicher:  Wissenschaftsjournalismus in der traditionellen Form gibt es in Deutschland nicht mehr!

 

  1. http://www.listeningway.com/rogers2-deu.html
  2. http://digigw.hypotheses.org/1063
  3. Shirky, Clay: Here Comes Everybody. The Power of Organizing Without Organizations2008 und Cognitive Surplus: Creativity and Generosity in a Connected Age2010.
  4. http://www.dguf.de/fileadmin/AI/ArchInf-EV_Kohle.pdf
  5. Ebda.
  6. Hecker-Stampehl, Jan: Bloggen in der Geschichtswissenschaft als Form des Wissenstransfers, in: Haber, Peter, Pfanzelter, Eva, hrg.: historyblogosphere. Bloggen in den Geschichtswissenschaften, München, 1013, S.37-51
  7. Gemeint sind damit alle Medien, die von Journalisten betrieben werden.

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/189

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Quo vadis digital History?

Der Artikel von Jan Heinemann “Aus der Sicht eines Skeptikers” hat letzte Woche für reichlich Gesprächsstoff auf unserem Blog gesorgt. Das ist gut, denn es zeigt, dass Blogs “still alive” sind. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, Jans etwas polemisch-kritischen Artikel so früh zu veröffentlichen, um die “Schmerzgrenze” auszuloten, mit der wir hier operieren können. Um so erfreuter bin ich über den sachlichen Charakter der Kommentardiskussion und hoffe, dass wir das noch viele Male so wiederholen können.

The Trend is your friend

Viele der Blogbeiträge, die ich bisher gelesen habe, loben das Digitale über den grünen Klee. Kaum ein kritisches Wort ist zu lesen, was letztlich auch zu der schreibenden Community von de.hypotheses.org passt. Menschen, die sich nicht vor der digitalen Revolution überrollen lassen wollen. Ich zähle mich auch dazu. Einer der absolut überzeugten “Digital Humanisten”. Trotzdem lese ich Beiträge wie den von Jan Heinemann gerne, da ich sie als wohltuendes Korrektiv verstehe, um das eigene Denkmuster reflektiv zu betrachten. Dennoch bin ich überzeugt: Wir stehen mit den Geisteswissenschaften vor einer wissenschaftlichen Revolution. Science 2.0, schon oft ausgerufen und doch nie so richtig angekommen, dürfte durch den Vormarsch der Digital Humanities nun tatsächlich bald auch in den Geschichtswissenschaften Einzug halten. Dieser Trend darf nicht verschlafen werden!
Mit großem Bedauern musste ich feststellen, dass es bisher größtenteils die Anglistik, Germanistik oder die Kommunikationswissenschaften sind, die sich den Methodenkoffer der Digital Humanities unter den Nagel reißen. Wo bleiben die Historiker?

Ohne in diesem Beitrag genauer auf die Definitionsproblematik der Digital Humanities einzugehen, sehe ich den größten Vorteil der Digital Humanities in den Möglichkeiten, quantitative Fragestellungen für die Geschichtswissenschaft zu entwickeln. War ein Großteil historischer Forschung bisher qualitativer Natur, so können nun durch digitale Methoden erstmals Quellen quantitativ ausgelesen und analysiert werden. Allerdings steckt diese Forschung noch in den Kinderschuhen. Warum?
Ich habe den Eindruck, dass sich viele Historiker nicht trauen, die neuen Hilfsmittel einzusetzen, da diese als zu modern und wenig erprobt gelten. Müsste es nicht auch ausreichen, wenn man wisse, wie man mittels Office Word ein Textdokument erstellt? Immerhin sind wir keine Informatiker! Diese Einstellung, mit der ich im Laufe meines Studiums immer wieder konfrontiert wurde, finde ich gefährlich. Sie führt dazu, dass die Geschichtswissenschaft zumindest methodisch das 21. Jahrhundert verschläft! Selbst in den Digital Humanities spricht niemand davon, dass Historiker ab sofort über die umfassenden Programmierkentnisse eines Informatikers verfügen müssten. Diese fälschliche Annahme kommt mir eher vor wie ein Schutzschild, hinter dem sich viele Kritiker verstecken.
Für mich zählt vielmehr das kreative Element. Neue Methoden bieten neue Möglichkeiten, neue Fragestellungen zu entwickeln und zu beantworten. Diesen Prozess kann die Geschichtswissenschaft nicht alleine gehen. Damit verbunden ist eine neue Interdisziplinarität. Ist das denn schlimm? Im Sinne des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns dürfte das eigentlich kein Grund zur Besorgnis sein. Immerhin möchte ich nicht, dass sich in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren die Informatik um einen Teil der historischen Fragestellungen kümmert und nicht mehr die Geschichtswissenschaft.

Historyblogging

Was verändert sich noch? Die Art und Weise des Wissenstransfers. Etwas überspitzt formuliert Jan Heinemann: “welchen Anreiz kann es noch geben, von Angesicht zu Angesicht wissenschaftliche Fragen zu debattieren, sich in Theorien zu graben und Satz für Satz mit seinen Kommilitonen zu zerlegen, zu hinterfragen und sich anzueignen, wenn alles irgendwo schon auf drei Seiten zusammengefasst, als gültige Wahrheit reproduziert und stets abrufbar ist?” Wer auch immer so denkt (und leider wurde ich mit genau diesen Bedenken schön des Öfteren konfrontiert), scheint das Konzept hinter der Blogosphere nicht verstanden zu haben! Niemand möchte ernsthaft eine Wissenschaft, welche sich ohne physische Interaktion lediglich vor den Bildschirmen der Computer abspielt. Die Befürchtung, dass Blogging früher oder später Seminare, Konferenzen oder gar universitäre Lehre ersetzen könnte, scheinen mir absolut haltlos. Nichts ist zielführender als Face-to-Face-Kommunikation.1 Auch die Digital Humanities werden weiterhin auf den Austausch außerhalb der digitalen Welt angewiesen sein. Die Bolgosphere bzw. das digitale Netzwerk bietet hier meiner Meinung nach eher eine diese Treffen ergänzende Plattform, auf der Themen vertieft behandelt und Diskussionen in breiterer Runde fortgeführt werden können.

Auch die Befürchtung des sinkenden Forschungsinteresses kann ich nicht teilen. Nur weil etwas im Netz veröffentlicht wird, bedeutet das nicht, dass man aufhören soll/muss, Fragen zu stellen. Kann es nicht sogar über kurz oder lang einen gegenteiligen Effekt auslösen?
Hier macht es sich die Kritik an Open Access und Digital Humanities etwas zu einfach und vergisst vor allem die immensen Vorteile, die die digitale Welt bietet.
Bleiben wir beispielsweise kurz bei der Zielgruppe. Auch darüber wurde bereits in den Kommentaren diskutiert. Sicherlich sind Wissenschaftsblogs nicht der Weisheit letzter Schluss, wenn es um die Vermittlung von Wissen bzw. Wissenstransfer geht. Allerdings sind sie ein Anfang. Oftmals wird bemängelt, wie elitär und hierarchisch universitäre Lehre aufgebaut ist. Blogs schaffen hier in mehrfacher Hinsicht Abhilfe. Sie tragen Debatten/Wissen nach außen und sind für interessierte Laien im Netz frei zugänglich abrufbar. Natürlich erreicht man nicht jeden, aber das wäre zum jetzigen Zeitpunkt sicherlich noch etwas vermessen anzunehmen. Wenn Karl-Heinz Schneider schreibt: “Ich war gerade drei Tage in Sachen “Angewandter Geschichte” unterwegs, in einer norddeutschen Kleinstadt, in der wir ein kleines Projekt zur Stadtgeschichte durchführen, aber in dem Dilemma stecken, das alle viel mehr von uns erwarten: Lösungen für Antworten, die schon lange niemand mehr gefunden hat, Unterstützung bei der alltäglichen Auseinandersetzung mit alten Herren, die keine Veränderung wollen, Aufklärung über Dinge, die niemand so richtig versteht, Abstand und Nähe zugleich. Aus der Perspektive dieser Akteure sind Debatten wie diese hier reinster Elfenbeinturm, das versteht “draußen” niemand. Muss es vielleicht auch nicht. Aber es zeigt die Grenzen des Bloggens auf. Für Laien ist das hier jedenfalls nichts“, dann hat er damit sicherlich zum Teil recht. Für Laien ist das hier nichts. Ich würde aber konstatieren, dass es für interessierte Laienhistoriker_Innen schon etwas ist, nämlich die Möglichkeit, an dieser hier geführten Debatte nicht in abgeschlossenen Elfenbeintürmen an der Universität, sondern offen zugänglich im Netz teilzuhaben!

Weiß der Blogger um die Wirkung seines Posts?

Aus der Sicht eines Skeptikers stellt Jan Heinemann in seinem Beitrag die Frage nach dem Bewusstsein über die Wirkung eigener Posts von Bloggern.
Auch dies ist eine berechtigte Frage, auf die eine Antwort gegeben werden muss. Aber wie und von wem?
Die Blogs, die den Beinamen “wissenschaftlich” bekommen wollen, müssen letztlich den selben Qualitäts- und Objektivitärsansprüchen standhalten, wie traditionelle wissenschaftliche Publikationsformen.
Müssen sie das uneingeschränkt? Gegenstimmen wie die von Klaus Graf sagen: “Wissenschaftliches Gammelfleisch bringt einen nicht um!“.2 Diese gewagte These setzt die Mär vom reflektierten und informierten Leser voraus. Diese könnten dann in den Kommentarzeilen auf inhaltliche Fehler hinweisen und bringen letztlich einen Erkenntnisgewinn für den Autor mit sich. Auch diese Methode hat etwas für sich, zeigt aber, in welcher Zwickmühle sich wissenschaftliches Bloggen momentan befindet. Das Konzept des “Publish first – filter later”3 beendet bewusst traidtionelle Denkmuster. Das Peer Review muss dabei kein zwangsläufig vorgeschalteter Prozess sein. Hubertus Kohle nennt die Alternative: “Eine Bewertung, die im Nachhinein stattfindet, kann ebenfalls ein Peer Review sein“.4 Dieses Vorgehen führt zwangsläufig zu mehr Content und mehr Content führt zwangsläufig zu einer wachsenden Unübersichtlichkeit die, wie Kohle abschließend konstatiert “nur über professionelle Recherchetechniken einigermaßen einzuhegen ist”.5

Die Chancen auf Gammelfleisch zu stoßen, sind aus den oben genannten Gründen höher als bei traditionellen Publikationsformen. Das kann dann zu einem Problem werden, wenn das Open-Peer-Review Verfahren auf unreflektierte Blog-Leser stößt. Hier muss für den Leser an einer transparenten Lösung gearbeitet werden. Nur so kann der von Jan Heinemann angesprochene “tendency to confuse quality or relevance with popularity” entgegengearbeitet und ein Trend hin zu Wissenschaftlichkeit im Netz gelegt werden. In Gänze nimmt es dem Leser das reflektierte Lesen jedoch nicht ab.

through the gates of heaven

Ich sehe das ganze Thema Digital History nicht so kritisch wie Jan Heinemann. Die Forschung darf sich nicht von der “Flut potenzieller Informationen und Quellen” verunsichern lassen. Was die Forschung braucht, sind neue Methoden zur Analyse und Filterung von Daten/Quellen. Hier sehe ich die Digital Humanities in der Pflicht. Ihre Aufgabe wird es sein, zukünftig dafür zu sorgen, dass die Flut an Quellen keinen Qualitätsverlust in der Forschung verursacht. Es muss in Forschung und Lehre bei allen Beteiligten ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass zukünftig neue “Softskills” vonnöten sind, um der Informationsflut Herr zu werden.
Aber allein die Tatsache, dass die Plattform Hypotheses stetig wächst und sogar Skeptiker wie Jan Heinemann doch lieber auf Blogs schreiben (wenn auch kritisch), als es ganz sein zu lassen, zeigt, dass wir dabei sind, eine neue Art des Wissenstransfers zu entwickeln.

add:

Kurz bevor ich diesen Artikel freigeben wollte, las ich ein Streitgespräch im Spiegel zum Thema: Wissenschaft in den Medien. Der letzte Abschnitt, der passenderweise den Titel: “Sind Blogs die Rettung?” trägt, zieht dabei für das Wissenschaftsblogging eine nüchterne Bilanz. Forscher hätten Angst, kritisch zu bloggen und fürchteten die Ausgrenzung durch Kollegen. Wenn das stimmt, ist das sicher ein Problem, dem sich die Wissenschaft annehmen muss. Damit hätten wir auch den einzigen Punkt des Gesprächs freigelegt, dem ich, sollte er stimmt, beipflichten würde.

Der Rest ist (vielleicht auch auf Grund der Intention des Spiegels) zu eintönig. Es wird schlicht bestritten, dass die Wissenschaft ohne Journalismus nicht in der Lage sei, Endnutzer zu erreichen. Dieser Vergleich hat leider etwas Schieflage, vergisst er doch die bisherigen Untersuchungen zu Blogs, die auf deren quasi-journalistischen Charakter abzielen.6   Natürlich kann keiner erwarten, dass Blogs die gleiche Reichweite besitzen wie anerkannte Journalistische Plattformen (zumindest noch nicht). Um aber auf den Titel des Streitgespräches zurückzukommen, wo denn die Wissenschaft in den “Medien”7 noch platz findet? Etwa auf den paar Seiten im Spiegel? Oder Seite 29 in der F.A.Z.? Anstatt zu bemängeln, dass einzelne Wissenschaftler und Studierende versuchen, das Interesse für Wissenschaft durch Blogs nach außen zu tragen, hätte ich mir von Herrn Wormer (lehrt Wissenschaftsjournalismus an der Uni Dortmund), Frau Lüthje (lehrt Kommunikationswissenschaften an der TU Dresden) und Herrn Fischer (lehrt Wissenschaftsgeschichte an der Uni Heidelberg) etwas mehr “Punch” gegenüber der Presse erhofft. Eines ist zuimdest für mich aus meiner eigenen Leseerfahrung her sicher:  Wissenschaftsjournalismus in der traditionellen Form gibt es in Deutschland nicht mehr!

 

  1. http://www.listeningway.com/rogers2-deu.html
  2. http://digigw.hypotheses.org/1063
  3. Shirky, Clay: Here Comes Everybody. The Power of Organizing Without Organizations2008 und Cognitive Surplus: Creativity and Generosity in a Connected Age2010.
  4. http://www.dguf.de/fileadmin/AI/ArchInf-EV_Kohle.pdf
  5. Ebda.
  6. Hecker-Stampehl, Jan: Bloggen in der Geschichtswissenschaft als Form des Wissenstransfers, in: Haber, Peter, Pfanzelter, Eva, hrg.: historyblogosphere. Bloggen in den Geschichtswissenschaften, München, 1013, S.37-51
  7. Gemeint sind damit alle Medien, die von Journalisten betrieben werden.

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/189

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Aus der Sicht eines Skeptikers | #WBHYP

Dieser polemische Kommentar aus der paradoxen Sicht eines bloggenden Digital Humanities-Skeptikers ist ein Beitrag zur Blogparade #wbhyp von de.hypotheses.org. Lasst euch nicht abschrecken, ich meine es gut…

Auf der Suche nach den digitalen Räumen – gefangen im digitalen Samsara

Alles muss digital werden, so ist nun mal der Fortschritt – und nützlich ist es ja auch (will nicht sagen bequem), die Welt zu sich bringen zu können, ohne den Schreibtisch neben der dampfenden Kaffeemaschine je verlassen zu müssen. Denn welchen Anreiz kann es noch geben, von Angesicht zu Angesicht wissenschaftliche Fragen zu debattieren, sich in Theorien zu graben und Satz für Satz mit seinen Kommilitonen zu zerlegen, zu hinterfragen und sich anzueignen, wenn alles irgendwo schon auf drei Seiten zusammengefasst, als gültige Wahrheit reproduziert und stets abrufbar ist? Im Zeitalter der Zeitlosen, wo alle getrieben, unstet, ja rasend sind, ob der Verpassens-, Versagensangst orientierungslos durch die Optionenflut wabern, scheint der Vormarsch der Digital Humanities, – die wie immer mit großer Verzögerung, auch Deutschland erreichen, beinahe als etabliert gelten können –  einen faden Beigeschmack zu haben.

In einem Beitrag zur Blogparade wird Bloggen bezeichnenderweise als „nichts weniger als die ‚Rettung‘ aus meinem (dunklen!) Elfenbeinturmzimmer” zelebriert und dies auch noch als „eine sehr schöne Begrüßung an die lesende Community“ bezeichnet. Ganz ähnlich geht es weiter, wenn frohen Mutes festgestellt wird, wissenschaftliches Bloggen helfe Studierenden ihren Schreibstil zu verbessern, Hierarchiedenken zu überwinden und einfach wissenschaftliche Erkenntnisse zu publizieren. Der Kommentar dazu, „wie wichtig es wäre, dass mehr Dozenten auf diesem Weg für Studierende erreichbar sind“, treibt es dann noch auf die Palme. Liebe Leute, ihr solltet euer Verständnis von Universität und euer studentisches (Selbst-) Bewusstsein überdenken, denn die Hierarchieüberwindung, den wissenschaftlichen Diskurs auf Augenhöhe stetig einzufordern, ist euer gutes Recht – schließlich sind Studierende wie Dozierende Kommilitonen im Dienste der Wissenschaft! Wenn Mareike König (richtigerweise) nach dem Nutzen des Bloggens, dem return of investment fragt – ist das dann Ausdruck einer Selbstkrise der Geisteswissenschaften? Haben wir (insbesondere auch die Studierenden) vergessen, warum wir Wissenschaft betreiben (oder dass wir es überhaupt tun)?!

Solche Aussagen sind darum in meinen Augen in erster Linie auch nicht Ausdruck des Mehrwertes der Digital Humanities, sondern trauriges Sinnbild für den Zustand der deutschen Universitäten, die nicht länger Ort der kritischen Wissenschaft und Reflexion, sondern produzierende Ausbildungsfabriken sind, in denen jede selbstbestimmte Forschung, jedes studentische Projekt, jede tiefgehende Diskussion bitter erkämpft werden muss.[1] Und in der Tat zeigt sich damit auch schon das Dilemma des wissenschaftlichen Bloggers: Er will die Diskussion, die ungezwungenen Gedankenstrukturierung, den wissenschaftlichen Austausch und ganz sicher auch die wissenschaftliche Anerkennung der Standesgenossen – erlangen aber kann er sie über einen Blog kaum bis gar nicht, denn in Zeiten der Beschleunigung werden Beiträge, die länger als drei A4-Seiten sind, weggeklickt, müssen leicht geschrieben sein, werden Beiträge kaum gelesen und noch weniger kommentiert und geht schlicht in der Flut der Posts unter.

Insofern beschränkt das Internet sogar den Wissenserwerb, denn suchen kann ich nur, wovon ich bereits weiß. In der Zeit des schnellen Zugriffs droht das Gedankengebäude zu einem gesetzten Informationsgebäude zu verkommen. Der flächendeckende Open Access entfremdet die Studierenden noch zusätzlich von der wissenschaftlichen Diskussion – dort geht es tendenziell nur um Wissensabfrage/Wissensakkumulation, die „Automatisierung des Kollationierens und Textvergleichs“[2] (ist das dann überhaupt noch Wissenschaft?) wird als Fortschritt gefeiert. Unter der reinen Quantität leidet jedoch die Qualität, wenn das Hinterfragen, Diskutieren, das Denkenlernen ausbleibt. Und schließlich: wie soll der Laie erkennen, welcher Post wissenschaftlich ist und welcher nicht? Gibt es bald den Blogging-TÜV?

Ich habe mich vor einiger Zeit auf der Plattform academia.edu angemeldet, auf der hauptsächlich „richtige“ Fachliteratur online zur Verfügung steht (und mittlerweile auch Diskussions-Sessions zu Papers möglich sind) und selbst dort kann ich kaum die Menge täglich hochgeladener Artikel und Beiträge bewältigen, die nur in den Themenbereichen liegen, die ich als meine Forschungsinteressen angegeben habe. Mit diesem Problem haben auch die Digital Humanities zu kämpfen: der Steigerungswahn (mehr Posts, mehr Leser, mehr digitale Quellen, mehr Querverweise) droht sie in die Belanglosigkeit hinab zu reißen, bevor sie überhaupt wissenschaftlich langfristig etabliert sind. Das Bloggen erscheint dann schon in weiten Teilen (wissenschaftliche Projektblogs vielleicht ausgenommen) fast als das ewige Treten im Hamsterrad, als Selbsttherapie einer verunsicherten, geängstigten, uneigenständigen Generation von Jungwissenschaftlern, die sich hinter dem Deckmantel der vermeintlichen Professionalität einigelt, als zwanghafte Selbstvergewisserung bzw. Selbstlegitimierung der Geisteswissenschaften unter der Fuchtel der ökonomisch verwertbaren MINT-Konkurrenten. Ob die Digital Humanities die „Krise der Geisteswissenschaften“ tatsächlich überwinden helfen, oder eher noch verstärken, steht eindeutig zur Disposition. Ich stimme Mareike König zu: Vergesst die wissenschaftliche Anerkennung von Blogs!

Vom Samsara zum Nirwana – wo bleibt der Erkenntnisgewinn?

Die Digital Humanities haben durchaus einen Nutzen, das will ich gar nicht bestreiten: „Digitale Informationen sind global verfügbar, und Nutzerinnen und Nutzer kommunizieren grenzüberschreitend miteinander. Methoden, Konzepte und Produkte der Digital Humanities sind daher nicht auf einen national definierbaren Raum begrenzt, sondern wirken durch das Medium grenzüberschreitend und stiften transnationales Wissen.“[3] Zu diesem Zwecke braucht es Plattformen wie hypotheses.org und H-Soz-Kult.[4] Denn ganz ähnlich wie die Mikrogeschichte, die sich in den 1980er/90er Jahren aus der Sozial- und Alltagsgeschichte entwickelt hat, verfügen die Digital Humanities über ein großes Potenzial, das sich aus der digitalen Erfassung von quantitativen Massenquellen ergibt, wenn diese zielführend auslesbar sind und vor allem qualitative Problemquellen zur Verfügung stehen, mit denen sie kombiniert werden können! Dieses komparatistische Element scheint jedoch noch lange nicht kategorisch implementiert zu sein: „In contrast to earlier work, digital history projects tend to be interdisciplinary and interactive, encouraging user participation and engagement with sources in multimodal and experimental ways. Much of the work is still, however, orientated towards single text based sources (e.g. corpora) and seldom ventures outside traditional disciplinary boundaries. As such, little advantage is taken of the increased possibilities for interdisciplinary science offered by digital techniques.“[5]

Die Ordnung des Diskurses – weiß der Blogger um die Wirkung seines Posts?

Zweifelsohne liefert das Bloggen eine hervorragende Möglichkeit, Projekte und Forschungsstände mitzuteilen, die Konzeption und Methodik zu erläutern, zu reflektieren und Menschen Einblicke zu gestatten, die sonst nie dazu kämen, diese zu erhaschen. Forschungsstände und -ergebnisse werden für jeden zugänglich: die Erfüllung des Aufklärungsideals!(?) Doch wie diese Ergebnisse präsentiert, die Beiträge geschrieben werden, hat sowohl einen massiven Einfluss darauf, ob, von wem und wie oft sie gelesen werden, aber auch welche Beiträge vom Leser präferiert werden. Hier zeichnet sich eine „tendency to confuse quality or relevance with popularity“[6] ab. Außerdem trägt die Art und Weise, wie gebloggt wird, dazu bei, wie die jeweilige Geisteswissenschaft öffentlich wahrgenommen wird – ohne Qualitätssicherung und mit dem Impetus „jeder kann’s“ untergräbt das allerdings die Legitimation akademischen Disziplinen immer weiter (jedenfalls aus der Sicht derer, die die Universitäten als ökonomische Betriebe betrachten). Damit scheint das Historyblogging sich der „Angewandten Geschichte“ anzuschließen und eben zu versuchen, Geschichte zu vermitteln und Wissenschaftler und Laien in den Erkenntnisprozess einzubeziehen. Es vertritt das von der Geschichtswerkstätten-Bewegung der 1980er Jahre postulierte „zivilgesellschaftliche Credo“, nachdem jeder etwas beizutragen habe und das im Zweifelsfall der historischen Selbstverortung der Subjekte zum Steigbügelhalter gereicht.[7]

Man soll mich nicht falsch verstehen: Ich bin ganz vorne mit dabei, wenn es darum geht, die gesellschaftliche Bedeutung der Geisteswissenschaften zu verdeutlichen und deren gesamtgesellschaftliche Interventionen voran zu treiben! Aber ist dem Blogger seine Rolle im Diskurs bewusst? Weiß er um die hegemonialen Verschiebungen, an denen er teilhat, ohne es zu ahnen oder zu wollen, weil er sich lediglich digital erproben möchte? Wenn aufgerufen wird, alles erst mal zu posten, denn der Rezipient könne dann filtern, was gut und was schlecht ist, dann vergisst man, in welchem Medium man schreibt und dass man tendenziell Objektivierungen von Wahrheiten produziert, die der weniger reflektierende und nicht wissenschaftlich (aus-) gebildete Laie nicht als solche zu enttarnen vermag. Der Historismus, als Dogma der historischen Gesetzmäßigkeiten, steigt aus dem Grab.

Und gleiches gilt auch für den Forschenden selbst, denn wer bestimmt welche Bestände ausgewählt und digitalisiert werden, wie sie verschlagwortet werden, was die Suchmaschinenalgorithmen wie ausgeben? All das bestimmt unweigerlich die Wissenschaftspraxis und determiniert den Ausgang der Forschung, ja definiert unmittelbar den (vermeintlichen) Erkenntnisgewinn. Gleichsam stürzt es den Forschenden in eine Objektivitätskrise, in der er schlechterdings nicht mehr erkennen kann, was Original und was Kopie oder gar Fälschung ist. Die Flut potenzieller Informationen und Quellen erstickt den freien Forschergeist.[8] Nochmal: Die Digital Humanities verkörpern gleichsam den gesamtgesellschaftlichen Steigerungswahn, der in der sozialen Beschleunigung schließlich zum „rasenden Stillstand“ führt.[9] Mit kritischer Wissenschaft hat das unter diesen Prämissen produzierte Ergebnis sicherlich nichts mehr gemein – in ihrem Drang nach Eigenlegitimation tritt die Wissenschaft auf der Stelle oder begnügt sich mit ihrer Rolle als Zulieferer.

Und wenn die aufgeführten Kritikpunkte (zumindest teilweise) zutreffem, was ist dann überhaupt das Ziel der Digital Humanities bzw. des Historybloggings: fachwissenschaftlicher Erkenntnisgewinn und Selbstvergewisserung via Networking (eben auch im Bezug auf die Beschleunigung von Quellenzugriff und -verwertung) oder fachdidaktische Vermittlung von Geschichte (also politische Bildung)? Und wie erreicht man womit den richtigen Adressaten?

Through the gates of hell – ein skeptischer Blogger

Warum blogge ich, wenn ich so viele Zweifel hege? Weil auch ich wissenschaftlichen Blogs etwas abgewinnen kann, weil ich die Möglichkeit schätze, in einer vernetzten Welt auf (in unserem Fall wohl hauptsächlich studentische) Arbeiten und Projekte hinzuweisen, die andernfalls nur von Dozierenden, manchmal im Kreise des Institutes, selten darüber hinaus wahrgenommen werden. Aber auch weil ich es schätze, mit diesem Beitrag zur Blogparade oder fachlichen Posts an einer Debatte zu partizipieren, die ggf. eine geisteswissenschaftliche Disziplin formt und den Geisteswissenschaften zu  neuer Popularität verhilft. Dazu aber müssen einige Bedingungen erfüllt sein (oder eben nicht?), die ich oben angerissen habe. Und vielleicht sind Plattformen wie de.hypotheses.org ein primo victoria für die digitalen geisteswissenschaftlichen Diskurs auch in Deutschland – der Weg zum Ziel jedoch scheint mir noch ein weiter zu sein. Vorerst drängt sich mir auf, dass es , wie Slavoj Žižek sagt, in erster Linie darum geht, die richtigen Fragen zu stellen, nicht Antworten zu geben.

[1] Zynisch wie amüsant (jedenfalls für den kritischen Studierenden) hat das zuletzt am treffendsten wohl Birger P. Priddat auf den Punkt gebracht. Vgl. Wir werden zu Tode geprüft! Wie man trotz Bachelor, Master & Bologna intelligent studiert, Hamburg 2014.

[2] Hans-Christoph Hobohm: Rezension zu: Terras, Melissa; Nyhan, Julianne; Vanhoutte, Edward (Hrsg.): Defining Digital Humanities. A Reader. London 2013 / Warwick, Claire; Terras, Melissa; Nyhan, Julianne (Hrsg.): Digital Humanities in Practice. London 2012, in: H-Soz-Kult, 05.01.2015,<http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22690>.

[3] Peter Haslinger: Digital Humanities und transnationale Geschichte, 07.05.2015 – 09.05.2015 Marburg, in: H-Soz-Kult, 22.10.2014,<http://www.hsozkult.de/event/id/termine-26158>.

[4] Vgl. H-Soz-Kult Redaktion: Editorial: The Status Quo of Digital Humanities in Europe, in: H-Soz-Kult, 23.10.2014,<http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-2375>.

[5] Thomas Nygren / Anna Foka / Philip Buckland: The Status Quo of Digital Humanities in Sweden: Past, Present and Future of Digital History, in: H-Soz-Kult, 23.10.2014, <http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-2402>.

[6] Thomas Nygren / Anna Foka / Philip Buckland.

[7] Vgl. Jürgen Bacia: Rezension zu: Nießer, Jacqueline; Tomann, Juliane (Hrsg.): Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit. Paderborn 2014, in: H-Soz-Kult, 03.02.2015,<http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22910>.

[8] Vgl. Hannah Janowitz: Tagungsbericht: „Wenn das Erbe in die Wolke kommt.“ Digitalisierung und kulturelles Erbe, 13.11.2014 – 14.11.2014 Bonn, in: H-Soz-Kult, 03.02.2015, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5817>.

[9] Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung.  Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2012; Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesell-schaftskritik, Berlin 2013.

 

Abbildung: I+C+i // Humanitats Digitals von Samuel Huron, Lizenz CC BY-NC-ND 2.0

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/134

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Aus der Sicht eines Skeptikers | #WBHYP

Dieser polemische Kommentar aus der paradoxen Sicht eines bloggenden Digital Humanities-Skeptikers ist ein Beitrag zur Blogparade #wbhyp von de.hypotheses.org. Lasst euch nicht abschrecken, ich meine es gut…

Auf der Suche nach den digitalen Räumen – gefangen im digitalen Samsara

Alles muss digital werden, so ist nun mal der Fortschritt – und nützlich ist es ja auch (will nicht sagen bequem), die Welt zu sich bringen zu können, ohne den Schreibtisch neben der dampfenden Kaffeemaschine je verlassen zu müssen. Denn welchen Anreiz kann es noch geben, von Angesicht zu Angesicht wissenschaftliche Fragen zu debattieren, sich in Theorien zu graben und Satz für Satz mit seinen Kommilitonen zu zerlegen, zu hinterfragen und sich anzueignen, wenn alles irgendwo schon auf drei Seiten zusammengefasst, als gültige Wahrheit reproduziert und stets abrufbar ist? Im Zeitalter der Zeitlosen, wo alle getrieben, unstet, ja rasend sind, ob der Verpassens-, Versagensangst orientierungslos durch die Optionenflut wabern, scheint der Vormarsch der Digital Humanities, – die wie immer mit großer Verzögerung, auch Deutschland erreichen, beinahe als etabliert gelten können –  einen faden Beigeschmack zu haben.

In einem Beitrag zur Blogparade wird Bloggen bezeichnenderweise als „nichts weniger als die ‚Rettung‘ aus meinem (dunklen!) Elfenbeinturmzimmer” zelebriert und dies auch noch als „eine sehr schöne Begrüßung an die lesende Community“ bezeichnet. Ganz ähnlich geht es weiter, wenn frohen Mutes festgestellt wird, wissenschaftliches Bloggen helfe Studierenden ihren Schreibstil zu verbessern, Hierarchiedenken zu überwinden und einfach wissenschaftliche Erkenntnisse zu publizieren. Der Kommentar dazu, „wie wichtig es wäre, dass mehr Dozenten auf diesem Weg für Studierende erreichbar sind“, treibt es dann noch auf die Palme. Liebe Leute, ihr solltet euer Verständnis von Universität und euer studentisches (Selbst-) Bewusstsein überdenken, denn die Hierarchieüberwindung, den wissenschaftlichen Diskurs auf Augenhöhe stetig einzufordern, ist euer gutes Recht – schließlich sind Studierende wie Dozierende Kommilitonen im Dienste der Wissenschaft! Wenn Mareike König (richtigerweise) nach dem Nutzen des Bloggens, dem return of investment fragt – ist das dann Ausdruck einer Selbstkrise der Geisteswissenschaften? Haben wir (insbesondere auch die Studierenden) vergessen, warum wir Wissenschaft betreiben (oder dass wir es überhaupt tun)?!

Solche Aussagen sind darum in meinen Augen in erster Linie auch nicht Ausdruck des Mehrwertes der Digital Humanities, sondern trauriges Sinnbild für den Zustand der deutschen Universitäten, die nicht länger Ort der kritischen Wissenschaft und Reflexion, sondern produzierende Ausbildungsfabriken sind, in denen jede selbstbestimmte Forschung, jedes studentische Projekt, jede tiefgehende Diskussion bitter erkämpft werden muss.1 Und in der Tat zeigt sich damit auch schon das Dilemma des wissenschaftlichen Bloggers: Er will die Diskussion, die ungezwungenen Gedankenstrukturierung, den wissenschaftlichen Austausch und ganz sicher auch die wissenschaftliche Anerkennung der Standesgenossen – erlangen aber kann er sie über einen Blog kaum bis gar nicht, denn in Zeiten der Beschleunigung werden Beiträge, die länger als drei A4-Seiten sind, weggeklickt, müssen leicht geschrieben sein, werden Beiträge kaum gelesen und noch weniger kommentiert und geht schlicht in der Flut der Posts unter.

Insofern beschränkt das Internet sogar den Wissenserwerb, denn suchen kann ich nur, wovon ich bereits weiß. In der Zeit des schnellen Zugriffs droht das Gedankengebäude zu einem gesetzten Informationsgebäude zu verkommen. Der flächendeckende Open Access entfremdet die Studierenden noch zusätzlich von der wissenschaftlichen Diskussion – dort geht es tendenziell nur um Wissensabfrage/Wissensakkumulation, die „Automatisierung des Kollationierens und Textvergleichs“2 (ist das dann überhaupt noch Wissenschaft?) wird als Fortschritt gefeiert. Unter der reinen Quantität leidet jedoch die Qualität, wenn das Hinterfragen, Diskutieren, das Denkenlernen ausbleibt. Und schließlich: wie soll der Laie erkennen, welcher Post wissenschaftlich ist und welcher nicht? Gibt es bald den Blogging-TÜV?

Ich habe mich vor einiger Zeit auf der Plattform academia.edu angemeldet, auf der hauptsächlich „richtige“ Fachliteratur online zur Verfügung steht (und mittlerweile auch Diskussions-Sessions zu Papers möglich sind) und selbst dort kann ich kaum die Menge täglich hochgeladener Artikel und Beiträge bewältigen, die nur in den Themenbereichen liegen, die ich als meine Forschungsinteressen angegeben habe. Mit diesem Problem haben auch die Digital Humanities zu kämpfen: der Steigerungswahn (mehr Posts, mehr Leser, mehr digitale Quellen, mehr Querverweise) droht sie in die Belanglosigkeit hinab zu reißen, bevor sie überhaupt wissenschaftlich langfristig etabliert sind. Das Bloggen erscheint dann schon in weiten Teilen (wissenschaftliche Projektblogs vielleicht ausgenommen) fast als das ewige Treten im Hamsterrad, als Selbsttherapie einer verunsicherten, geängstigten, uneigenständigen Generation von Jungwissenschaftlern, die sich hinter dem Deckmantel der vermeintlichen Professionalität einigelt, als zwanghafte Selbstvergewisserung bzw. Selbstlegitimierung der Geisteswissenschaften unter der Fuchtel der ökonomisch verwertbaren MINT-Konkurrenten. Ob die Digital Humanities die „Krise der Geisteswissenschaften“ tatsächlich überwinden helfen, oder eher noch verstärken, steht eindeutig zur Disposition. Ich stimme Mareike König zu: Vergesst die wissenschaftliche Anerkennung von Blogs!

Vom Samsara zum Nirwana – wo bleibt der Erkenntnisgewinn?

Die Digital Humanities haben durchaus einen Nutzen, das will ich gar nicht bestreiten: „Digitale Informationen sind global verfügbar, und Nutzerinnen und Nutzer kommunizieren grenzüberschreitend miteinander. Methoden, Konzepte und Produkte der Digital Humanities sind daher nicht auf einen national definierbaren Raum begrenzt, sondern wirken durch das Medium grenzüberschreitend und stiften transnationales Wissen.“3 Zu diesem Zwecke braucht es Plattformen wie hypotheses.org und H-Soz-Kult.4 Denn ganz ähnlich wie die Mikrogeschichte, die sich in den 1980er/90er Jahren aus der Sozial- und Alltagsgeschichte entwickelt hat, verfügen die Digital Humanities über ein großes Potenzial, das sich aus der digitalen Erfassung von quantitativen Massenquellen ergibt, wenn diese zielführend auslesbar sind und vor allem qualitative Problemquellen zur Verfügung stehen, mit denen sie kombiniert werden können! Dieses komparatistische Element scheint jedoch noch lange nicht kategorisch implementiert zu sein: „In contrast to earlier work, digital history projects tend to be interdisciplinary and interactive, encouraging user participation and engagement with sources in multimodal and experimental ways. Much of the work is still, however, orientated towards single text based sources (e.g. corpora) and seldom ventures outside traditional disciplinary boundaries. As such, little advantage is taken of the increased possibilities for interdisciplinary science offered by digital techniques.“5

Die Ordnung des Diskurses – weiß der Blogger um die Wirkung seines Posts?

Zweifelsohne liefert das Bloggen eine hervorragende Möglichkeit, Projekte und Forschungsstände mitzuteilen, die Konzeption und Methodik zu erläutern, zu reflektieren und Menschen Einblicke zu gestatten, die sonst nie dazu kämen, diese zu erhaschen. Forschungsstände und -ergebnisse werden für jeden zugänglich: die Erfüllung des Aufklärungsideals!(?) Doch wie diese Ergebnisse präsentiert, die Beiträge geschrieben werden, hat sowohl einen massiven Einfluss darauf, ob, von wem und wie oft sie gelesen werden, aber auch welche Beiträge vom Leser präferiert werden. Hier zeichnet sich eine „tendency to confuse quality or relevance with popularity“6 ab. Außerdem trägt die Art und Weise, wie gebloggt wird, dazu bei, wie die jeweilige Geisteswissenschaft öffentlich wahrgenommen wird – ohne Qualitätssicherung und mit dem Impetus „jeder kann’s“ untergräbt das allerdings die Legitimation akademischen Disziplinen immer weiter (jedenfalls aus der Sicht derer, die die Universitäten als ökonomische Betriebe betrachten). Damit scheint das Historyblogging sich der „Angewandten Geschichte“ anzuschließen und eben zu versuchen, Geschichte zu vermitteln und Wissenschaftler und Laien in den Erkenntnisprozess einzubeziehen. Es vertritt das von der Geschichtswerkstätten-Bewegung der 1980er Jahre postulierte „zivilgesellschaftliche Credo“, nachdem jeder etwas beizutragen habe und das im Zweifelsfall der historischen Selbstverortung der Subjekte zum Steigbügelhalter gereicht.7

Man soll mich nicht falsch verstehen: Ich bin ganz vorne mit dabei, wenn es darum geht, die gesellschaftliche Bedeutung der Geisteswissenschaften zu verdeutlichen und deren gesamtgesellschaftliche Interventionen voran zu treiben! Aber ist dem Blogger seine Rolle im Diskurs bewusst? Weiß er um die hegemonialen Verschiebungen, an denen er teilhat, ohne es zu ahnen oder zu wollen, weil er sich lediglich digital erproben möchte? Wenn aufgerufen wird, alles erst mal zu posten, denn der Rezipient könne dann filtern, was gut und was schlecht ist, dann vergisst man, in welchem Medium man schreibt und dass man tendenziell Objektivierungen von Wahrheiten produziert, die der weniger reflektierende und nicht wissenschaftlich (aus-) gebildete Laie nicht als solche zu enttarnen vermag. Der Historismus, als Dogma der historischen Gesetzmäßigkeiten, steigt aus dem Grab.

Und gleiches gilt auch für den Forschenden selbst, denn wer bestimmt welche Bestände ausgewählt und digitalisiert werden, wie sie verschlagwortet werden, was die Suchmaschinenalgorithmen wie ausgeben? All das bestimmt unweigerlich die Wissenschaftspraxis und determiniert den Ausgang der Forschung, ja definiert unmittelbar den (vermeintlichen) Erkenntnisgewinn. Gleichsam stürzt es den Forschenden in eine Objektivitätskrise, in der er schlechterdings nicht mehr erkennen kann, was Original und was Kopie oder gar Fälschung ist. Die Flut potenzieller Informationen und Quellen erstickt den freien Forschergeist.8 Nochmal: Die Digital Humanities verkörpern gleichsam den gesamtgesellschaftlichen Steigerungswahn, der in der sozialen Beschleunigung schließlich zum „rasenden Stillstand“ führt.9 Mit kritischer Wissenschaft hat das unter diesen Prämissen produzierte Ergebnis sicherlich nichts mehr gemein – in ihrem Drang nach Eigenlegitimation tritt die Wissenschaft auf der Stelle oder begnügt sich mit ihrer Rolle als Zulieferer.

Und wenn die aufgeführten Kritikpunkte (zumindest teilweise) zutreffem, was ist dann überhaupt das Ziel der Digital Humanities bzw. des Historybloggings: fachwissenschaftlicher Erkenntnisgewinn und Selbstvergewisserung via Networking (eben auch im Bezug auf die Beschleunigung von Quellenzugriff und -verwertung) oder fachdidaktische Vermittlung von Geschichte (also politische Bildung)? Und wie erreicht man womit den richtigen Adressaten?

Through the gates of hell – ein skeptischer Blogger

Warum blogge ich, wenn ich so viele Zweifel hege? Weil auch ich wissenschaftlichen Blogs etwas abgewinnen kann, weil ich die Möglichkeit schätze, in einer vernetzten Welt auf (in unserem Fall wohl hauptsächlich studentische) Arbeiten und Projekte hinzuweisen, die andernfalls nur von Dozierenden, manchmal im Kreise des Institutes, selten darüber hinaus wahrgenommen werden. Aber auch weil ich es schätze, mit diesem Beitrag zur Blogparade oder fachlichen Posts an einer Debatte zu partizipieren, die ggf. eine geisteswissenschaftliche Disziplin formt und den Geisteswissenschaften zu  neuer Popularität verhilft. Dazu aber müssen einige Bedingungen erfüllt sein (oder eben nicht?), die ich oben angerissen habe. Und vielleicht sind Plattformen wie de.hypotheses.org ein primo victoria für die digitalen geisteswissenschaftlichen Diskurs auch in Deutschland – der Weg zum Ziel jedoch scheint mir noch ein weiter zu sein. Vorerst drängt sich mir auf, dass es , wie Slavoj Žižek sagt, in erster Linie darum geht, die richtigen Fragen zu stellen, nicht Antworten zu geben.

  1. Zynisch wie amüsant (jedenfalls für den kritischen Studierenden) hat das zuletzt am treffendsten wohl Birger P. Priddat auf den Punkt gebracht. Vgl. Wir werden zu Tode geprüft! Wie man trotz Bachelor, Master & Bologna intelligent studiert, Hamburg 2014.
  2. Hans-Christoph Hobohm: Rezension zu: Terras, Melissa; Nyhan, Julianne; Vanhoutte, Edward (Hrsg.): Defining Digital Humanities. A Reader. London 2013 / Warwick, Claire; Terras, Melissa; Nyhan, Julianne (Hrsg.): Digital Humanities in Practice. London 2012, in: H-Soz-Kult, 05.01.2015,<http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22690>.
  3. Peter Haslinger: Digital Humanities und transnationale Geschichte, 07.05.2015 – 09.05.2015 Marburg, in: H-Soz-Kult, 22.10.2014,<http://www.hsozkult.de/event/id/termine-26158>.
  4. Vgl. H-Soz-Kult Redaktion: Editorial: The Status Quo of Digital Humanities in Europe, in: H-Soz-Kult, 23.10.2014,<http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-2375>.
  5. Thomas Nygren / Anna Foka / Philip Buckland: The Status Quo of Digital Humanities in Sweden: Past, Present and Future of Digital History, in: H-Soz-Kult, 23.10.2014, <http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-2402>.
  6. Thomas Nygren / Anna Foka / Philip Buckland.
  7. Vgl. Jürgen Bacia: Rezension zu: Nießer, Jacqueline; Tomann, Juliane (Hrsg.): Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit. Paderborn 2014, in: H-Soz-Kult, 03.02.2015,<http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22910>.
  8. Vgl. Hannah Janowitz: Tagungsbericht: „Wenn das Erbe in die Wolke kommt.“ Digitalisierung und kulturelles Erbe, 13.11.2014 – 14.11.2014 Bonn, in: H-Soz-Kult, 03.02.2015, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5817>.
  9. Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung.  Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2012; Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesell-schaftskritik, Berlin 2013.

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/134

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Historyblogging

Vor 20 Jahren entschloss sich der Bevölkerungshistoriker Arthur E. Imhof, die Herausforderungen des digitalen und multimedialen Zeitalters anzunehmen und fortan nur noch elektronische Publikationen vorzulegen, die immer einen starken multimedialen Anteil hatten. Das war damals und ist heute immer noch ein radikaler Schritt gewesen, den, wenn ich das richtig sehe, bislang niemand anderes vollzogen hat. Es waren Aufbruchjahre, in denen viele Hoffnungen in eine neue Art des Publizierens und des Forschens gesetzt wurden - allerdings nur von einer kleinen Minderheit.
Seitdem ist viel geschehen, die Zahl der wissenschaftlich anspruchsvollen Websites hat sich enorm erhöht. Und dennoch bleiben viele Historikerinnen und Historiker weiterhin dem gedruckten Papier treu. Bloggen ist ein erneuter Versuch, auf eine andere Art und Weise Wissenschaft zu betreiben, wobei das Bloggen nicht die tradierten Publikationsformen ersetzen, sondern sie lediglich ergänzen soll. Zwar gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Historikerblogs, fragt man aber Kollegen und Studierende, so lesen die wenigsten Blogs und noch weniger schreiben. Der Zeitaufwand scheint zu hoch, die Wirkung zu gering zu. Hyptheses stellt nun einen Versuch dar, zumindest institutionell Historikerblogs eine bessere Grundlage zu geben. Es gibt also Bewegung, viele Historiker entdecken nicht die Möglichkeiten von Blogs, sondern sie haben sie schon entdeckt!
Zeiträume ist allerdings ein besonderer Blog, handelt es sich doch um einen Gemeinschaftsblogs von Studierenden. Die Beiträge sollen Teil des Studiums sein und dieses damit nach außen hin öffnen. Ob das gelingt, hängt von vielen Faktoren ab. Aber wenn es gelingt, könnte hier eine Historikergeneration entstehen, für die das digitale Publizieren etwas ganz Normales wird. Sie könnten auch neue Adressaten erschließen wie interessierte Schüler, die wissen wollen, wie Geschichte "geschrieben" wird. Es kann ein faszinierender Ausbruch aus einem ansonsten immer noch weitgehend abgeschlossenen Studium sein, in dem sich Hausarbeit an Hausarbeit, Prüfung an Prüfung reiht. Das Leibniz’sche Motto „theoria cum praxi“ findet hier eine interessante Anwendung. Ich wünsche ihm viel Erfolg.

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/86

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