Vortrag: “Popgeschichte als Zeitgeschichte” (Audio)

Muss sich die Zeitgeschichte stärker der Sphäre von Pop zuwenden — und wie lässt sich diese umschreiben? Welche etablierten Verfahren stehen bereits zur Verfügung und wo sind noch Blindstellen? Gibt es neue Methoden und Quellen, die zu Rate gezogen werden müssen? Etliche Initiativen haben sich in den vergangenen Jahren dieser Fragen angenommen. Der Vortrag gibt einen Überblick über diese Diskussion, führt in Grundbegriffe wie Volks- und Massenkultur, das Populäre und Pop ein und arbeitet anhand einer Musik-Aufnahme (aus urheberrechtlichen Gründen aus dem Audio herausgeschnitten) die Verschränkungen zwischen Pop und Geschichte beispielhaft heraus.

Eine Aufnahme der Beatles wird mit Schriftdokumenten aus unterschiedlichen Archiven gelesen. Anhand des Beispiels werden Zugänge der Protest-, Konsum-, Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte diskutiert. Popgeschichte wird im Kontrast zu diesen etablierten Verfahren als Perspektive vorgestellt, die ästhetische Ereignisse nicht als Nebensache oder „weicher Faktor” der Geschichte marginalisiert, sondern als relevantes Feld für die Zeitgeschichte der Massendemokratien und Mediengesellschaften des 20. Jahrhunderts versteht, das Differenzen konstituierte und Politiken und Ökonomien hervorbrachte.

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Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1997

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Autotypie: Fotos in der Massenvervielfältigung und fotografisches Bildgedächtnis

Neulich wurde an dieser Stelle über frühe Fotografien von historischen Ereignissen (1848, Krimkrieg) berichtet. Obwohl solche Fotos bereits seit den 1840er Jahren bekannt und überliefert sind, ist das kollektive historische Bildgedächtnis zum 19. Jahrhundert vornehmlich kein fotografisches. Der Grund ist einfach: Fotos konnten bis ins späte 19. Jahrhundert zwar aufgenommen, aber noch nicht massenvervielfältigt werden. Das historische Bildgedächtnis zur Reichsgründung beispielsweise hält Anton von Werner mit seinen Proklamations-Gemälden besetzt. Oder die Pariser Kommune: Das Ereignis findet sich zwar in eindrucksvollen Fotos überliefert (s. Kategorie “Pariser Kommune” bei Wikimedia), visuell kommuniziert wurde der Aufstand in den Illustrierten aber nur in zeitgenössischen Stichen, die bis heute noch oft zur Illustration herangezogen werden. Dass in Illustrierten oder (später) Tageszeitungen zu aktuellen Ereignissen zahlreich Fotos abgedruckt und sich auch stärker mittels solcher Fotos an sie erinnert wurden, ist eine mediengeschichtliche Entwicklung erst des 20. Jahrhunderts.

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Quelle: http://historischdenken.hypotheses.org/3428

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FES: Die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung digitalisiert den „Vorwärts“

http://www.vorwaerts.de/artikel/fes-digitalisiert-vorwaerts Der „Vorwärts“ kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Gegründet am 1. Oktober 1876, wurde er 1933 von den Nationalsozialisten verboten. Jetzt sollen alle Ausgaben aus dieser Zeit digitalisiert werden. Dabei wird die Hilfe der Leser benötigt. Via: https://twitter.com/FEShistory/status/682948259762028544

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2016/01/6299/

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»If you have to ask, you can’t afford it.« Pop als distinktiver intellektueller Selbstentwurf der 1980er Jahre

Diedrich Diederichsen und Rainald Goetz lesen am 16. Juni 1984 beim Festival “In der Hitze der Nacht” in der Markthalle Hamburg eigene Texte. Im Hintergrund ein Großbild von Michaela Melián. © Sabine Schwabroh 1984

Im Herbst 2007 beklagte Karl Heinz Bohrer, dass den Intellektuellen in Deutsch­land der Wille zur Macht fehle. Er diagnostizierte dem bundesrepublikanischen Bürgertum eine »kulturell und politisch schlaffe Bescheidenheit«1 und warf des­sen Geisteselite vor, sich selbst den Zugang zum politischen System zu versper­ren. Indirekt gab Diedrich Diederichsen trotz seiner dezidierten Anti-Bürgerlich­keit Bohrer im Herbst 2010 recht, als er zugab, dass seine intellektuelle Peer­group niemals an den »Elendsnummern« »Verantwortung« und »Kalkül« inte­ressiert gewesen sei. »Lyotards wahre Herren« zeichne ihr Außenseiterstatus aus, es handele sich bei ihnen um »experimentelle Maler, Popkünstler, Yippies und Eingesperrte«.2



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Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1841

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arthistoricum.net: Caricature. Satirezeitschriften und Karikaturen

http://www.arthistoricum.net/themen/portale/caricature/ Die Karikatur spiegelt wie kaum ein anderes Medium menschliche, gesellschaftliche und politische Themen der Zeit und macht sich über diese lustig, amüsiert, belehrt, klagt an oder übt Kritik. Aufgrund der Vielseitigkeit ihrer Themen dient sie unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen als Quelle oder Forschungsgegenstand, dazu gehören unter anderem Kunst-, Geschichts-, Medien-, Politik- und Sozialwissenschaft. Das Themenportal CARICATURE […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2015/03/5707/

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Reisefreiheit für die Fantasie: Eine Ausstellung über den DDR-Comic “Mosaik”

Die Kobolde Dig, Dag und Digedag brachten Generationen von DDR-Bürgern zum Lachen – und gingen dabei manchmal an die Grenzen des Erlaubten. Eine Ausstellung in der Berliner Dependance des Bonner Hauses der Geschichte widmet sich den knollennasigen Helden des DDR-Comics Mosaik.

Die Legionäre staunten nicht schlecht. Eben haben sie die Stadtmauern Roms noch gegen Angreifer gesichert, da tauchen am antiken Himmel seltsame Vögel auf: An adlerförmigen Fallschirmen segeln abtrünnige Kämpfer des verräterischen Julius Gallus auf die Verteidiger nieder. Die fliegenden Römer, die ihren fantasievollen Angriff auf den Seiten des DDR-Comics Mosaik starteten, ärgerten nicht nur die Verteidiger Roms, sondern auch die Zensoren. Anstoß erregte die Form der Fallschirme: Der römische Adler erinnere zu sehr an das Wappentier der verfeindeten Bundesrepublik.

Wie mit Feder und Retuschier-Pinsel die gezeichneten Fallschirme kurzerhand entpolitisiert wurden, lässt sich anhand von Skizzen nachvollziehen, die in der gerade eröffneten Ausstellung „Dig, Dag und Digedag“ zu sehen sind. Die Episode gilt als Treppenwitz der DDR-Zensur. In der Geschichte der wohl populärsten Helden der Republik ist sie eher eine Ausnahme. Die zeitreisenden Knollennasenkobolde wichen nicht nur äußerlich stark von der sozialistischen Heldennorm ab. Sie waren auch weitgehend ideologiefrei, wenngleich sie gelegentlich aneckten.

Dass es sie überhaupt geben durfte, ist erstaunlich. Comics galten einst als Schmutz und Schund. In Ost wie West verbrannten Jugendschützer und Bildungskonservative die Hefte demonstrativ auf Scheiterhaufen. Galten Comics im Westen als Ursache von Jugendkriminalität und Verrohung, so sah man sie in der DDR als „Gift des Amerikanismus“ vor dem die sozialistische deutsche Jugend bewahrt werden musste. Heute füllt der „Schund“ von einst Museumsvitrinen. Eben erst zog eine Ausstellung im Berliner Tiergarten-Museum eine kritische Bilanz des im DDR-Comic vermittelten Geschichtsbildes, nun widmet sich die Berliner Dependance des Bonner Hauses der Geschichte in der Alten Schmiede der Kulturbrauerei mit 320 Original-Zeichnungen, Dokumenten, unveröffentlichten und zensierten Entwürfen den Digedags.

Das erste “Mosaik”-Heft erschien im Dezember 1955
© Tessloff-Verlag, Nürnberg

Erfunden hatte sie 1955 der Zeichner Hannes Hegen. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der 1925 geborene Sudetendeutsche Johannes Hegenbarth. Der gelernte Glasmaler hatte ein Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig abgebrochen, als er Anfang der Fünfziger begann, Karikaturen im Dienste der DDR-Propaganda zu zeichnen. Sein erfolgreichstes Projekt, die Mosaik-Hefte im FDJ-eigenen Verlag Junge Welt waren dagegen erstaunlich unpolitisch. Die drei Kobolde Dig, Dag und Digedag reisten darin durch ferne Welten und vergangene Epochen. Sie begleiteten den mittelalterlichen Ritter Runkel von Rübenstein auf Schatzsuche, trafen Piraten in der Südsee, waren in London und Paris und sogar im verfeindeten Amerika – und boten damit wenigstens der Fantasie ein Stück Reisefreiheit. Statt Comics waren allerdings „sozialistische Bildgeschichten“ gewünscht und so wichen die anfänglichen Sprechblasen bald Bildunterschriften, die mitunter gereimt daherkamen.

Das “Mosaik”-Team, 1962 (von vorn): Lona Rietschel, Horst Boche, Edith und Johannes Hegenbarth, Egon Reitzel, Manfred Kiedorf, Gisela Zimmermann, Lothar Dräger.
© Privatarchiv Lona Rietschel

Die Ausstellung zeichnet die Produktion der Hefte vom getippten Storyboard über erste Konturen bis zum Endprodukt nach. Die Bleistiftskizzen fertigte Hegenbarth meist selbst an. Doch es werden auch seine künstlerischen Partner gewürdigt, wie die spätere Ehefrau Edith Szafranski oder der österreichische Hintergrundzeichner Egon Reitzl. Charakteristisch waren die oft doppelseitigen Wimmelbilder von Gisela Zimmermann. Eine interaktive Computeranimation illustriert Vorstufen des Vierfarbdruckes, den die auf Noten spezialisierte Leipziger Traditionsdruckerei C.G. Röder besorgte. Wie erzürnte Briefe an die Abteilung Literatur und Buchwesen belegen, ärgerten die „greulichen Zeichnungen“ immer wieder die Verteidiger der Hochkultur.

Kleine Abweichungen entgingen den Zensoren, etwa eine Zeichnung des Berliner Stadtschlosses, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon längst gesprengt worden war. Ob man allerdings in eine Geschichte zur Entdeckung der Kartoffel einen kritischen Subtext zur Lebensmittelrationierung hineinlesen kann, möchte man bezweifeln – hier schießen die Ausstellungsmacher interpretatorisch etwas über das Ziel hinaus. Ebenso zweifelhaft dürfte die als Frage formulierte Wegbereiter-These sein, die suggeriert, die international erfolgreichen Asterix-Comics seien eine Nachahmung der ostdeutschen Digedags gewesen, die schon einige Jahre vor den Galliern mit Römern rauften.

Trotz Rekordauflagen von bis zu 660.000 Exemplaren pro Heft blieb die Reihe nicht nur in Zeiten von Papierknappheit Bückware. Oft waren gute Beziehungen zum Kioskverkäufer nötig. Die rare erste Nummer gilt heute als die Blaue Mauritius der DDR-Comicsammler. In Audio-Interviews berichten Fans, wie sie lernten, Papier zu restaurieren und handgefertigte Kopien in Umlauf brachten, um Lieferengpässe auszugleichen.

Das plötzliche Verschwinden der Digedags nach 223 Episoden hatte keine politischen Gründe. Nach Streitigkeiten über die personelle Ausstattung und die Zahl der Ausgaben brach Hegenbarth mit dem Verlag. Ab 1975 trieben in den Mosaik-Heften die bis heute existierenden Abrafaxe ihren Schabernack. Obwohl er sich selbst bei westlichen Vorlagen bedient hatte, strengte Hegenbarth einen Urheberrechtsprozess gegen den Verlag an, der mit einem Vergleich endete. Der Zeichner arbeitete frei weiter. Die erste Wechselausstellung im neuen Museum zum Alltag in der DDR ist daher als späte Würdigung des Zeichners zu verstehen. Sie beruht auf dem Vorlass Hegenbarths, einer Schenkung von 35 000 Objekten, die nun für die Forschung und den internationalen Leihverkehr archivalisch aufbereitet werden.

Zwar bricht die Ausstellung mit dem Klischee, der Alltag der DDR sei gänzlich ideologisch durchherrscht gewesen, doch will sie auch keine Ostalgie aufkommen lassen. Sie bietet dennoch nur das halbe Bild. Zur Geschichte des DDR-Comics gehört auch die Heftserie Atze, die von Ideologie und Propaganda nur so durchtränkt war. Dies dokumentiert die weniger aufwendig gestaltete, aber ideologiekritische Ausstellung „Atze und Mosaik“ des Literaturwissenschaftlers Thomas Kramer, die man bis zum 22. Juni im Kunstmuseum Dieselkraftwerk in Cottbus sehen konnte. Nicht alle Wege in die Comicgeschichte der DDR führen nach Rom.

“Dig, Dad, Digedag” – DDR-Comic Mosaik
Ausstellung im Museum Kulturbrauerei,
Knaackstr. 97, Berlin Prenzlauer Berg,
noch bis 3. August 2014,
Di-So 10-18,
Do 10-20 Uhr.
Eintritt frei.

 


(Dieser Text erschien zuerst im Feuilleton des Tagesspiegels vom 24. April 2014.)

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1518

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Ein Fallbeispiel einer interkontinentalen Überfahrt oder: “I had no wish to raise dissension on board the ship“

Das Titelblatt der Schiffszeitung The Gull

Das Titelblatt der Schiffszeitung The Gull

Vor etwa einem Jahr habe ich das Thema meines Promotionsprojekts bereits auf diesem Blog vorgestellt. In der Zwischenzeit hat sich einiges getan: Die Fragestellung hat sich weiterentwickelt, neue Schwerpunkte und Ansätze haben frühere Ideen ersetzt. Doch in diesem Beitrag soll es weniger um das Projekt im Allgemeinen gehen. Vielmehr möchte ich mich mit einem Einzelfall beschäftigen, um die Forschungsfragen aus meinem letzten Blogbeitrag durch ein konkretes Beispiel anschaulicher zu machen.

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Auf ihrer viermonatigen Reise von Glasgow nach Brisbane im Jahr 1884 transportiert das Schiff Otago 358 Zwischendeckpassagiere, 45 Crewmitglieder sowie drei Passagiere, die in der ersten Klasse reisen. Einer von ihnen, Keith Cameron, gründet einen Monat nach der Abreise aus Glasgow die Schiffszeitung The Gull. Bereits im ersten Editorial kündigt er die spätere Veröffentlichung der Zeitung in Buchform an, was sowohl eine Verstetigung als auch eine Transformation der handgeschriebenen Texte, die während der Überfahrt auf dem Schiff zirkulieren, darstellt. Dies ist auch die Form, in der uns die Quelle heute zugänglich ist: Die Zeitung wurde zusammen mit zahlreichen anderen Dokumenten, die diese Überfahrt beschreiben (u.a. mit der Passagierliste, dem Logbuch des Schiffs, einer Weltkarte der Route etc.) gebunden und noch 1884 in Brisbane veröffentlicht. Die Hauptziele der Zeitung an Bord nennt der Herausgeber gleich zu Beginn: Sie soll den Passagieren während der Überfahrt die Zeit vertreiben und zum allgemeinen Amüsement beitragen. Auf diesen Charakter der Publikation weisen u.a. Gedichte, Wortwitze, Rätsel sowie die recht platzeinnehmenden Kurzgeschichten des Herausgebers hin.

Was bei dieser Publikation jedoch besonders interessant ist, ist die Form, wie sich innere Konflikte und Machtverhältnissen durch die Zeitung abbilden. Wie bereits erwähnt, reisen lediglich drei Kabinenpassagiere auf diesem Schiff, alle anderen Mitreisenden sind Zwischendeckpassagiere und zum größten Teil Emigranten. Dies ist ungewöhnlich, da Schiffszeitungen oftmals ausschließlich von und für die Kabinenpassagiere herausgegeben wurden. An Bord der Otago jedoch verläuft die Publikation anders: Zwar reist der Herausgeber Keith Cameron in der Ersten Klasse, aber einige Beiträge kommen aus dem Zwischendeck und auch mehrere Mitglieder der Crew sind beteiligt, sodass es sich bei The Gull um eine dem gesamten Schiff zugängliche Publikationsplattform handelt.

Die Route der Otago, gezeichnet auf einer Weltkarte von James Orr, einem Kabinenpassagier der Überfahrt

Während der viermonatigen Überfahrt (und auch darüber hinaus) entwickelt sich jedoch ein Konflikt, bei dem auf der einen Seite die Besatzung, allen voran der Schiffsarzt und der Kapitän, auf der anderen Seite die Zwischendeckpassagiere und ihr selbsternannter Wortführer, der Herausgeber der Schiffszeitung, Keith Cameron, stehen. Das Grundproblem war dabei ein altbekanntes: Die Versorgung der Zwischendeckpassagiere war während dieser Überfahrt alles andere als optimal. Sie beklagen u.a. die schlechte Qualität des Essens, den Mangel an Wasser und die Ignoranz des Schiffsarztes. Diese Beschwerden finden zunächst keinen Widerhall in der Schiffszeitung, da deren Herausgeber Cameron fürchtet, dass zu harsche Kritik am Führungsstil zu einem Verbot seiner Zeitung – die gleichzeitig auch die Bühne für seine literarischen Ergüsse ist – führen könnte. Nicht zu Unrecht, wie sich herausstellen sollte.

Nach einigen Wochen, am 17. April, kommt es an Bord zu einem Streit zwischen dem Kapitän und dem Schiffsarzt auf der einen und Cameron auf der anderen Seite. Letzterer spricht sich für eine bessere Versorgung der Zwischendeckpassagiere aus und kündigt vor allem an, seine Zeitung nach der Ankunft in Brisbane als Zeugnis der wahren Zustände an Bord der Otago zu veröffentlichen. Ihm wird daraufhin vom Kapitän vorgeworfen, die Zwischendeckpassagiere gegen die Besatzung und vor allem gegen den Schiffsarzt aufzuwiegeln.

Illustration der Schiffszeitun. "THE MUSTER. This was held after we were thirteen weeks on board, and immediately following on the doctor being informed that Mr. Cameron really intended exposing the true state of affairs."

Illustration der Schiffszeitung, Bildunterschrift :
“THE MUSTER. This was held after we were thirteen weeks on board, and immediately following on the doctor being informed that Mr. Cameron really intended exposing the true state of affairs.”

Zudem sei er beobachtet worden, wie er die Quartiere im Zwischendeck ausmesse, um zu beweisen, dass die Passagiere dort unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht seien (Cameron bestreitet diese Aktion jedoch). Die Zwischendeckpassagiere selbst haben zeitgleich eine Petition verfasst, die sie nach Ankunft in Brisbane dem Emmigration Board vorlegen wollen, um auf die schlechten Bedingungen an Bord der Otago hinzuweisen. Dies schreckt den Kapitän auf, und den Emigranten wird angedroht, ihre Koffer und sämtlichen Besitztümer nach der bereits von zahlreichen Passagieren unterschriebenen Petition zu durchsuchen (was jedoch letztendlich nicht umgesetzt wird).

Es herrscht also eine offene Konfliktsituation. Die Zwischendeckpassagiere sind aufgebracht ob ihrer schlechten Versorgung, Cameron inszeniert sich als ihr Fürsprecher und der Schiffsarzt sowie der Kapitän wollen sich nicht in ihrem Führungsstil beeinflussen lassen.

Dieser Konflikt an Bord des Schiffes, der auch ganz klar ein Interessenkonflikt ist, spiegelt sich in der Produktion der Schiffszeitung The Gull. Mit der neunten Ausgabe, die am 19. April erscheint, zwei Tage nach besagtem Streit, zieht sich der Schiffsarzt Dr. MacDonald von der Publikation zurück – er hatte zuvor kurze Berichte über den allgemeinen Gesundheitszustand der Passagiere darin veröffentlicht. Die zwei Vorleser, die dafür gesorgt hatten, dass die Zeitung publik wurde, treten gleichzeitig von diesem Amt ab: „to side with the reigning power on board“, wie Cameron vermutet. Zwar soll einer seiner Mitpassagiere der Ersten Klasse das öffentliche Vorlesen der Zeitung übernehmen, doch just in diesem Moment wird den Passagieren der Ersten Klasse verboten, sich jenseits des Hauptmasts aufzuhalten, was de facto heißt, dass sie keinen Kontakt mehr zu den Zwischendeckpassagieren haben. Ob dieses Vorgehens rechtens ist, bleibt unklar. Aber um weitere Unruhe auf dem Schiff zu verhindern („to avoid a disturbance“) halten sich die drei Kabinenpassagiere einschließlich Cameron an dieses Verbot. The Gull wird noch weitere vier Ausgaben lang „publiziert“ – nun mit offensichtlich sehr begrenzter Leserschaft – und die Otago erreicht am 24. Mai ohne weitere Vorkommnisse ihren Zielhafen Brisbane.         

Dieser Fall ist ein anschauliches Beispiel, welche Rollen Machtverhältnisse, soziale Abhängigkeiten und Klassenunterschiede für das Erlebnis einer interkontinentalen Überfahrt spielen. Auch wird deutlich, wie sich Schiffszeitungen als bisher unerforschtes Quellenmaterial nicht nur eignen, solche Konflikte nachzuzeichnen, sondern diese auch selbst in ihrem Produktions- und Publikationskontext abbilden. Dabei ist bei diesem Beispiel das jeweilige Verhalten der Passagiere bzw. Passagiergruppen auffallend: Der sich wortgewaltig ereifernde Cameron gehorcht stillschweigend, als er im wahrsten Sinne des Wortes in seine Schranken verwiesen wird, wohingegen die „hilflosen“ Emigranten den „rücksichtlosen“ Schiffsarzt und den Kapitän nach der Ankunft mit ihrer Petition in Bedrängnis bringen. Denn die Geschichte ist mit der Ankunft des Schiffes in Brisbane ganz offensichtlich noch nicht vorbei. Wie sich Cameron als Retter der Hilflosen und als begnadeter Autor inszeniert (unter anderem durch erboste Briefe an die Lokalpresse), was die Emigranten in ihren Beschwerdebriefen beklagen und wie die offizielle Untersuchung dieses Falls beim Emmigration Board ausging, kann ausführlich im Digitalisat der Quelle in der National Library of Australia nachgelesen werden.

Alle Abbildungen: National Library of Australia.

Bibliographische Angabe:  Keith Cameron (Hrgs.): The Gull: A weekly newspaper published on board the „Otago“ during a four months’ voyage from Glasgow to Brisbane, Brisbane, Woodcock, Powell & Mellefont, 1884.

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/1832

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Auf den Spuren der Filmgeschichte

Wenn ich mich zur Zeit nicht mit meiner Dissertation beschäftige, dann bin ich in meiner Freizeit auf den Spuren der Filmgeschichte unterwegs. Für ein Schulbuch bearbeite ich den Bereich Kino und Film. Jetzt im Februar und März beschäftige ich mich intensiv damit und passend dazu bin ich letzte Woche in das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt/Main gegangen, um mir u.a. die Objekte über die ich schreibe nochmal in natura anzuschauen.

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Das Deutsche Filmmuseum ist erst vor zwei Jahre nach einem großen Umbau neu eröffnet worden und ich war kurz nach der Eröffnung schon einmal in den Ausstellungsräumen unterwegs. Damals war ich von dem Neuansatz in der Ausstellung begeistert. Mir erschien die Konzeption der Dauerausstellung zeitgemäß.
Die alte Ausstellung kannte ich in- und auswendig. Hier habe ich mehrere Jahre für die Museumspädagogik Besucherführungen gegeben. Während mir beim ersten Durchgang die Konzentriertheit in der Ausstellung gefiel, vermisste ich dieses Mal so manchen Erzählstrang, der der notwendigen Reduktion zum Opfer gefallen war.

Die neue Ausstellung ist auf zwei Stockwerke aufgeteilt:

Etage 1

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In der ersten Etage befindet sich die frühe Filmgeschichte, die mit den Optischen Apparaturen beginnt und bis zum Stummfilm reicht.

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Die Räume sind dunkel gehalten, die Objekte werden in den Vitrinenbauten durch Licht hervorgehoben. Insbesondere in der ersten Etage spielt die Architektur mit der Kreisform, die man mit Linse oder Guckloch assoziiert.

Etage 2

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Die zweite Etage zeigt die Filmproduktion ab dem Tonfilm bis zur Gegenwart. Hier wird auch die “Hollywoodisierung” des Kinos und der Filmproduktion im 20. Jahrhundert deutlich.

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Chronologisches Erzählen bricht in der zweiten Etage sehr viel stärker auf als noch in der ersten Etage. Auch wenn in beiden Teilen sichtbar versucht wurde nicht nach Jahren, sondern mit thematischen Schwerpunkten Film zu vermitteln, bleibt als Nebenerzählung immer auch die historische Entwicklung präsent.

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Filmische Mittel, wie Ton, Licht, Kameraführung oder Tricktechniken werden fokussiert inszeniert. Genauso begeistert wie beim ersten Durchgang bin ich von den Medienstationen, die es möglich machen verschiedene Filmtechniken direkt im Vergleich auszuprobieren. An der Medienstation unten können Tonspuren zu Szenen von Matrix hinzugefügt werden oder stummgestaltet werden, so dass die dramatisierende Wirkung der Töne deutlich wird.

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Für all jene, die noch nie im Deutschen Filmmuseum waren, das Frankfurter Museum bietet zudem:

Die verschiedenen Projekte und Abteilungen, die – wie das Filmmuseum – zum Deutschen Filminstitut gehören, sind auch auf verschiedenen Sozialen Online Netzwerken vertreten.

Quelle: http://mobilvideo.hypotheses.org/46

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durchsichten: Graduiertenkolleg transnationale Medienereignisse der Justus-Liebig-Universität Gießen

http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/dfgk/tme Das Graduiertenkolleg Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart untersucht Formen und Funktionen der medialen Inszenierung von Schlüsselereignissen von der Erfindung des Buchdrucks bis ins globalisierte Internet-Zeitalter. Soziale Kommunikation bedient sich seit der Frühen Neuzeit in zunehmendem Maße technischer Medien. Die hier stattfindenden Diskussionen, Debatten und Kontroversen stellen für die Gesellschaft in […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/09/4676/

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Nur Samstag Nacht: “Saturday Night Fever” 1977, ein spätmoderner Entwicklungsroman

 

„Spiegel“-Titel vom 16.10.1978

Den Spielfilm „Saturday Night Fever“ umgab nicht nur hierzulande lange ein hartnäckiges Missverständnis. Er feiere, so hieß es, eine glitzernde Scheinwelt, in der narzisstische Mitmacher konsumierten statt kritisierten. Er repräsentiere den neukonservativen Wertehimmel der „Lord-Extra-Generation angepaßter Jungen und Mädchen“.1 Andere sahen eher Resignation und Flucht vor bedrückenden Gegenwartsproblemen. 1978, auf dem Höhepunkt der so genannten Disco-Welle, waren sich westdeutsche Beobachter aber darin einig, das massenhafte Tanzen zu elektronisch reproduzierter Musik als Anpassung und Entpolitisierung der jungen Generation deuten zu dürfen.2

Auch nachdem die Welle und die mit ihr verbundene Kulturkritik abgeflaut waren, blieb „Saturday Night Fever“ als belangloses „Sozialaufsteigerfilmchen“ gespeichert.3 Poststrukturalistisch gewendet lässt sich der Streifen als Auftakt zu einer Reihe international erfolgreicher Tanzfilme wie „Fame“ (1980), „Flashdance“ (1983) oder „Footlose“ (1984) verstehen, die in den neoliberalen 1980er-Jahren dem Publikum ein unternehmerisches Verhältnis zum eigenen Körper nahebrachten.4

So eindeutig liegen die Dinge jedoch nicht. Zwar ist Arbeit am Selbst in „Saturday Night Fever“ ein zentrales Motiv. Es wird aber im Rahmen eines Entwicklungsnarrativs auf mehrdeutige Weise inszeniert. Die folgende Wiederbesichtigung versucht keine abschließende Einordnung. Da die Zeit um 1980 zunehmend in den zeithistorischen Horizont rückt, soll der Beitrag dazu anregen, sich mit diesem ikonischen Kulturprodukt erst einmal näher zu beschäftige

„Saturday Night Fever“ ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die mit Elementen einer Sozialreportage durchsetzt ist. Die Tanzszenen sind realistischer Teil der Handlung.5 Das Drehbuch orientierte sich an einer – größtenteils fingierten – Reportage des Journalisten Nik Cohn, die 1976 unter dem Titel „Tribal Rites of the New Saturday Night“ erschienen war und von einem Tanzlokal in Bay Ridge im New Yorker Stadtteil Brooklyn erzählte.6 Dass Cohn von den „Stammesriten“ der Discogänger sprach, exotisierte deren Lebenswelt7 – was als neuer, anthropologisch verfremdeter Blick auf die eigene Kultur verstanden werden kann, genauso aber als langlebiges Stereotyp des primitiven süditalienischen Migranten.

 

Die von John Travolta dargestellte Hauptfigur Tony Manero ist 19 Jahre alt, arbeitet als Verkäufer in einem Farbengeschäft, ist beliebt bei seinem Chef und den Kunden. Bei seinen arbeitslosen Eltern trifft er dagegen nur auf Vorwürfe und Unverständnis. Sie bevorzugen seinen älteren Bruder, der Priester werden soll. Nach Feierabend ist Tony Anführer einer Jungsclique und Star der lokalen Diskothek. Zwar wird er glaubwürdig als bezaubernder Tänzer in Szene gesetzt; abseits der Tanzfläche erscheint sein Verhalten nach den Maßstäben einer progressiven Entwicklungspsychologie aber als problematisch. Das szenische Psychogramm zeigt Tony und seine Peers als halbstarken Männerbund, der seine familiäre und gesellschaftliche Unterlegenheit mit aggressivem Verhalten gegen Frauen, rivalisierende ethnische Gangs und Homosexuelle kompensiert.

Eine Alternative lernt Tony in Gestalt von Stephanie Mangano kennen, die auch aus Brooklyn kommt, aber in Manhattan nach Besserem strebt. Bis Tony ihr auf diesem Weg folgen kann, muss er durch tiefe Krisen gehen: unversöhnlichen Familienstreit, einen Vergewaltigungsversuch, den Tod eines Freundes. Zudem wird ihm und Stephanie bei einem Tanzwettbewerb als Lokalmatadoren der erste Preis zugesprochen, obwohl ein Latinopaar besser war – dies erlebt Tony als Verrat an dem, was ihm heilig ist: dem Tanzen. Durch diese existenziellen Erfahrungen geläutert, lässt er am Ende die Diskothek und das perspektivlose Leben in Brooklyn hinter sich, um aus sich etwas zu machen. Wiederkehrende Einstellungen auf Brücken und rollende Stadtbahnen visualisieren das romantische Motiv der Reise als Lebenspassage, der Identitätsfindung in der Konfrontation mit der Welt.8

In der Bundesrepublik Deutschland lief „Saturday Night Fever“ am 13. April 1978 unter dem Titel „Nur Samstag Nacht“ an. 1,16 Millionen Mal wurde bis zum Ende des Jahres in westdeutschen Kinos Eintritt für diesen Film bezahlt – das machte ihn zum Kassenschlager der Saison (in der DDR wurde der Film nicht gezeigt).9 Rekordverdächtig waren auch die Verkaufszahlen des zugehörigen Soundtrackalbums, das in erster Linie das englische Brüdertrio The Bee Gees mit der typischen Falsettstimme von Barry Gibb bestritt. Dieser Erfolg verdankte sich nicht zuletzt dem neuartigen Einsatz von Crossmarketing, bei dem sich die Werbung für Tonträger (Singles und LP) und Kinofilm wechselseitig Aufmerksamkeit zuspielten. Dass der Soundtrack nicht auf die Filmhandlung zugeschnitten war, erschien dabei nebensächlich. Einige zentrale Tracks stammten aus anderen Zusammenhängen, und keiner der Beteiligten arbeitete auf einen Disco-Sound hin. Dennoch funktionierte die eingängige Mischung aus tanzbaren, funkig angehauchten Stücken, Balladen und dramatischen Einsprengseln wie einer discofizierten Variante des ersten Satzes aus Ludwig van Beethovens Fünfter Symphonie.10

Anders als manche westdeutsche Kritiker meinten, steht die Diskothek in „Saturday Night Fever“ keineswegs für Leistung, Zielstrebigkeit und Aufstiegsorientierung im bürgerlichen Sinn. Tony ist, wie seine Freunde sagen, der „King“. Aus der Fülle seiner Macht heraus kann er die eine Frau zurückweisen und mit der anderen gönnerhaft eine Runde tanzen. Als Herrscher seiner Clique regelt er, wann Speed eingeschmissen wird und wer als nächster die Autorückbank belegen darf. Diese Duodezsouveränität steht jedoch an einem Abgrund der Planlosigkeit. „Ich scheiß auf die Zukunft“, antwortet Tony seinem Chef, als dieser ihm den erbetenen Vorschuss abschlägt und ihn zu Vorausschau und Sparsamkeit anhält (im Original: „Fuck the future“, 05:07). Die Lebenswege der Älteren, das macht der Film deutlich, führen nur in Sackgassen – aber auch das Tanzen ist kein Zukunftsmodell (45:05). Dabei ist Tony durchaus jemand, „der lernt, der sich bildet, sein Pensum verrichtet“, wie es in Freddy Quinns Anti-Gammler-Song „Wir“ von 1966 hieß.

Wenn es ums Tanzen geht, arbeitet Tony mit Ernst und Lust, ist ehrgeizig und kompetitiv, hat eigenen Stil. Eingestreut in Boy-meets-girl-Händel gewinnt ein autodidaktisches Subjekt an Kontur, das seine Begabung im Training entfaltet hat. Tonys Selbstgestaltung orientiert sich dabei nicht an einem schulischen Wissenskanon, sondern nutzt das Bildungsangebot der Massenmedien. So erfahren wir, dass er Tanzfiguren im Fernsehen gesehen und diese selbstständig variiert hat (51:55).

Weitere Impulse kommen von den neuen Helden des 1970er-Jahre-Kinos. In Tonys Zimmer hängen Poster von Silvester Stallone als Rocky Balboa und Al Pacino als moralischer Cop Frank Serpico. Die italoamerikanischen Underdogfiguren verbinden Härte und Geschmeidigkeit ebenso wie Bruce Lee, die Ikone der Asian Martial Arts, dessen Kampfposen Tony vor dem Spiegel nachahmt. In dieser vielfach zitierten Szene fallen zudem weiblich besetzte Praktiken der Selbstpflege ins Auge. Tony, der zunächst nur einen schwarzen Slip trägt, fönt und kämmt sich, legt Schmuck an, kleidet sich in schimmerndes Rosa (06:25 – 07:35). Der selbstbewusste Zugriff auf unterschiedliche kulturelle Register zeigt sich auch in den von Lester Wilson choreographierten Tanzszenen, insbesondere in einem Solo auf halber Strecke des Films (59:20 – 1:01:34).

Für diesen Auftritt gilt die Aussage eines zeitgenössischen Ratgebers, Disco schöpfe die Vielfalt des „dance heritage“ aus.11 Neben Elementen der Ballett- und Jazzdance-Tradition enthält der Film unter anderem Anleihen bei der russischen Folklore, Armwellen (wie sie zeitgleich beim so genannten Breakdance zu finden sind) und pantomimische Kommentare zur Körperarbeit (Hemd zuknöpfen, Schweiß abwischen). Was im Leben nicht gelingt – dem Disparaten eine Ordnung zu geben –, funktioniert hier mit Leichtigkeit. Aber dieses Können, so die Botschaft, hat noch keine sinnvolle Richtung gefunden.

Die Diskothek repräsentiert eine letztlich unproduktive Sphäre der Selbstverschwendung, die Tony in der Tretmühle einer kapitalistischen Verliererexistenz gefangen hält. Seine Wandlung vollzieht sich erst, als er sich von der Welt der Diskothek abwendet, und zwar nach dem Sieg im erwähnten Tanzwettbewerb, bei dem zu Tonys maßloser Enttäuschung das Leistungsprinzip hinter den falsch verstandenen Zusammenhalt der Peergroup und der ethnischen Solidarität zurücktreten musste. Sein Zorn gegen die Unaufrichtigkeit seiner Fans weitet sich zu der Einsicht, das bedrückte Leben in den unteren Zonen der Gesellschaft korrumpiere die zwischenmenschlichen Beziehungen.

Zugleich schreibt der Film dem Weg nach oben nur begrenzt utopischen Charakter zu. Die Aufsteigerin Stephanie fällt durch angestrengte Distinktionsmanöver und bornierte Bildungsbeflissenheit auf. Die Kosten ihrer Aufwärtsmobilität sind Überforderung, Einsamkeit sowie die Abhängigkeit von einem älteren Kreativarbeiter, der sie ausnutzt und bevormundet. Zu Tonys Vorbild kann sie werden, weil sie entschlossen nach dem eigenen Lebensplan sucht und Risiken dabei nicht scheut. Am Ende des Films ist völlig offen, ob Tony die neue Situation bewältigen wird, auch ob er seine Körperbildung in einen Lebensunterhalt wird ummünzen können. Die erste Etappe ist erreicht, weil er Grenzen überwunden hat; weil er es zugelassen hat, ein anderer zu werden und sich selbst dadurch näher zu kommen.

In der Zeitgeschichtsschreibung erscheinen popkulturelle Phänomene allzu häufig nur als Symptome sozioökonomischer und politischer Großwetterlagen. Ein Beispiel ist die Annahme, Punk habe die Hoffnungslosigkeit einer krisengeschüttelten Jugend „nach dem Boom“ zum Ausdruck gebracht. Solche Verkürzungen verzichten darauf, ästhetische Praxis als „erstrangige Sinnressource in der Massendemokratie“ ernst zu nehmen.12 Damit bringen sie sich um Einsichten – etwa in Techniken der Selbstführung, die Michel Foucault als zentrales Handlungsfeld moderner Gesellschaften herausgearbeitet hat.13

Im Fall von „Saturday Night Fever“ geht es nicht darum, ein deutlich konturiertes subversives Potenzial aufzudecken, das der Film in der Breite vermutlich nicht entfaltet hat. Aber unter dem kulturkritischen Deutungsballast kommt ein plurales Angebot möglicher Selbstverhältnisse zum Vorschein, das neue Perspektiven auf vermeintlich bekannte Prozesse eröffnen kann. Dazu müssten allerdings die konkreten Handlungskontexte historischer Disco-Akteure der 1970er- und 1980er-Jahre untersucht werden.14

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(Hier wird der erste Teil eines Artikels wiedergegeben. Der vollständige Text ist erschienen in der Zeitschrift Zeithistorische Forschungen. Zitierhinweis: Alexa Geisthövel, Ein spätmoderner Entwicklungsroman: „Saturday Night Fever“/„Nur Samstag Nacht“ (1977), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013), H. 1,
URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geisthoevel-1-2013)

 

  1. Horst F. Neißer/Werner Mezger/Günter Verdin, Jugend in Trance? Diskotheken in Deutschland, Heidelberg 1979, S. 76.
  2. Alexa Geisthövel, Anpassung: Disco und Jugendbeobachtung in Westdeutschland, 1975–1981, erscheint 2013 in: Pascal Eitler/Jens Elberfeld (Hg.), Zeitgeschichte des Selbst. Die „Disco-Welle“ zwischen 1975 und 1979 (in der Bundesrepublik eher 1978/79) machte die zuvor subkulturelle Tanz- und Ausgehpraxis des „partying“ mehrheitsfähig, begleitet von der Etablierung des Disco-Genres in der Musik- und Filmindustrie.
  3. Dagegen Michael Heim, Saturday Night Fever: Der Messias tanzt bügelfrei, 4.11.2007, URL: http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/659/der_messias_tanzt_buegelfrei.html (dort auch zahlreiche Abbildungen).
  4. Sherril Dodds, Dance on the Screen. Genres and Media from Hollywood to Experimental Art, Basingstoke 2001, S. 37.
  5. Dorothee Ott, Shall we dance and sing? Zeitgenössische Musical- und Tanzfilme, Konstanz 2008, S. 79.
  6. Nik Cohn, Tribal Rites of the New Saturday Night, in: New York, 7.6.1976.
  7. Stelios Christodoulou, ‚A straight heterosexual film‘: Masculinity, Sexuality, and Ethnicity in Saturday Night Fever, in: Networking Knowledge. Journal of the MeCCSA Postgraduate Network 4 (2011) H. 1, URL: http://ojs.meccsa.org.uk/index.php/netknow/article/view/60, hier S. 7, S. 19f.
  8. Joseph Kupfer, „Stayin’ Alife“: Moral Growth and Personal Narrative in Saturday Night Fever, in: Journal of Popular Film and Television 34 (2007), S. 170-178.
  9. http://www.hdg.de/film/class125_id1000680.html (siehe dort auch das deutsche Filmplakat).
  10. Richard Buskin, Classic Tracks: The Bee Gees Stayin’ Alive, August 2005, URL: http://www.soundonsound.com/sos/aug05/articles/classictracks.htm.
  11. Jack Villari/Kathleen Sims Villari, (The Official Guide To) Disco Dance Steps, Secaucus 1978, S. 61.
  12. Kaspar Maase, Der Banause und das Projekt schönen Lebens. Überlegungen zu Bedeutung und Qualitäten alltäglicher ästhetischer Erfahrung, in: Kulturation. Online-Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 1/2004, URL: http://www.kulturation.de/ki_1_text.php?id=25, Abschnitt II.
  13. Vgl. dazu Maren Möhring, Die Regierung der Körper. „Gouvernementalität“ und „Techniken des Selbst“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 284-290.
  14. Hinweise geben, auf unterschiedliche Weise, Anleitungen, Ratgeber und spärliche autobiographische Zeugnisse: Lernt tanzen wie John Travolta, in: Bravo, 22.6.1978; Kitty Hanson, Disco Fieber. Alles über die Disco-Welle, München 1979; Peter Cornelsen, John Travolta. Mit Tanzkurs, Film- und Diskographie, Bergisch Gladbach 1978; Thomas Hermanns, Für immer d.i.s.c.o., München 2009. Zu den USA vgl. neuerdings Alice Echols, Hot Stuff. Disco and the Remaking of American Culture, New York 2010.

 

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/709

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