Ausstellung: Geschichte und Politik zwischen 1914 und 1989 in DDR-Comics

In der DDR kannte sie jeder: die Comiczeitschriften ATZE und MOSAIK. Mit monatlichen Auflagen in Millionenhöhe gehörten sie zum Alltag von Generationen. Von 1955 bis 1975 zogen die MOSAIK-Helden der Digedags, später dann die Abrafaxe in jahrmarktsbudenbunten Abenteuern durch die Zeitalter und Kontinente. Dabei folgten ihre Schöpfer nicht nur der eigenen künstlerischen Fantasie, sondern waren einem erstaunlich bildungsbürgerlichen Anspruch verpflichtet. Das von 1955 bis 1991 erschienene Magazin ATZE hingenen wurde von Comics mit politischem Hintergrund dominiert.

aus: Atze 6/1988

Die Ausstellung im Kunstverein Tiergarten Berlin zeigt, wie Geschichte und gesellschaftliche Entwicklung in einem für kommunistische Diktaturen ungewöhnlichem Medium interpretiert wurden. Erstmals überhaupt wurde das Prinzip der angestrebten kompletten „Durchherrschung“ aller Lebensbereiche am Beispiel der kulturellen Sphäre diskutiert: Text und Bild der Comics hatten mit der Darstellung geschichtlicher oder zeithistorischer Ereignisse in allen anderen DDR-Medien übereinzustimmen. Entsprechend entfaltet sich anhand von Bildern, Objekten und Fotografien vor dem Besucher die Ikonografie des Sozialismus.

aus: ATZE 7/1977, S. 5

In der Ausstellung werden Motive aus den Comics neben die medialen Vorlagen der Grafiker gestellt. Im Fall von ATZE adaptierte man z.B. sowjetische Filme oder DEFA-Produktionen mit politischen Inhalten wie der Oktoberrevolution, führenden Politikern wie Ernst Thälmann oder historischen Ereignissen wie dem Mauerbau. Lebensgroße Figuren wie z.B. von DDR-Präsident Wilhelm Pieck machen die Orientierung an Heiligendarstellungen und religiöser Ikonografie deutlich.

Das „MOSAIK-Kollektiv“ orientierte sich dagegen vorwiegend an populärwissenschaftlichen Werken und Bildbänden beispielsweise zur Erdgeschichte, Geographie, Technik- und Industrieentwicklung. 1959/60 erleben die Digedags Abenteuer auf dem erdähnlichen Planeten Neos. Dort ist die schöne neue Zukunftswelt nach der Vollendung von Walter Ulbrichts ehrgeizigem Wirtschaftsprogramm bereits Wirklichkeit geworden.

aus: ATZE 12/1975, S. 5

Großformatige Comicpanels stehen in der Ausstellung in Korrespondenz zu Modellen ihrer prägnantesten Motive: Dazu gehören das erste und einzige in der DDR entwickelte Düsenpassagierflugzeug oder das ehrgeizige Projekt einer Einschienenbahn, das am Beispiel eines PIKO-Spielzeugmodells vorgestellt wird. Auch die doppelseitige Comic-Zukunftsphantasie des Flughafens Berlin-Schönefeld vom Februar 1960 wird manchen Besucher von heute nachdenklich stimmen.

Nach offizieller Kritik an zuviel Klamauk wandte sich MOSAIK der Technikgeschichte zu, wobei insbesondere die akribische Transformation historischer Bildvorlagen aus Geschichte und Kunst, z.B. nach Georgius Agricola oder William Hogarth, in ein zeitgenössisches Bildvokabular besticht. Auf vielfältige Weise öffnet die Ausstellung ein Panorama von historischen, kunstgeschichtlichen und wissenschaftlichen Referenzen und verdeutlicht, wie zentral auch die zunächst sich an junge Menschen richtenden Publikationen der DDR-Comics ATZE und MOSAIK im Kontext politischer Programmatik und Propaganda zu begreifen sind.

Die Ausstellung entstand in Kooperation mit dem Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus und der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und wurde kuratiert von Dr. Thomas Kramer (Berlin). Sie wurde ermöglicht aus Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Eröffnung:
Galerie Nord, Turmstraße 75, 10551 Berlin am 28. Februar um 19 Uhr.

Es sprechen:
Dr. Ralf F. Hartmann, Kunstverein Tiergarten
Dr. Matthias Rößler, Präsident des Sächsischen Landtags
Rainer Eppelmann, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Dr. Thomas Kramer, Kurator

Ausstellung: 29.2. – 29.3.2014, Di – Sa, 13-19 Uhr

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1175

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Popgeschichte wird Sektion auf dem 50. Deutschen Historikertag 2014

Das Jahr beginnt für uns mit einer guten Nachricht: Der 50. Deutsche Historikertag, der vom 23. bis 26. September 2014 unter dem Thema “Gewinner und Verlierer” in Göttingen tagen wird, hat eine Sektion zur Popgeschichte angenommen. Hier das Konzept der Sektion:

“The Winner Takes It All”.
Popgeschichtliche Narrative des 20. Jahrhunderts zwischen Ausbeutung und Emanzipation

Vom Lastwagenfahrer zum Welt-Star, vom Punk zur Modezarin, vom Ghetto-Kid zum Plattenproduzenten: Die Popgeschichte hat viele Erfolgsgeschichten hervorgebracht. Der Star ist der geradezu emblematische Akteur einer massenkulturellen Aufmerksamkeitsökonomie des 20. Jahrhunderts, denn wo die Bestätigung einer institutionalisierten Kultur fehlt, haben Siegergeschichten legitimatorische Funktion. Als moralisches Korrektiv dienen Verlierergeschichten: vom raschen Abstieg, frühen Drogentod oder dem Niedergang ganzer Branchen, etwa der Musikindustrie. Derartige Narrative spiegeln individuelle Auffassungen vom richtigen Leben und legitimen Streben wider und konstituieren auf überindividueller Ebene gesellschaftliche und wirtschaftliche moral economies.

Die Sektion möchte nicht nur solche populären Erzählungen von Erfolg und Scheitern auf den Prüfstand stellen, sondern auch etablierte akademische Narrative. Auch den wissenschaftlichen Diskurs über die Popkultur des 20. Jahrhunderts prägen Dichotomien, in denen die Rollen von Gewinnern und Verlierern je nach Denkschule klar verteilt sind: Mal erscheinen darin Jugendliche als widerständige Opponenten gegen eine Hegemonialkultur, mal sind sie willenlose Opfer der Manipulation einer kommerzialisierten Konsumindustrie. Die Fallstudien des Panels hinterfragen solche Zuschreibungen und stellen damit ein neues Themenfeld in den Mittelpunkt, das als eines der zentralen medialen, ökonomischen und politischen Handlungsfelder des 20. Jahrhunderts mehr Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung verdient.

Anhand von Fallbeispielen werden unterschiedliche Forschungsperspektiven vorgestellt, die sich teils ergänzen, teils aber auch im Widerspruch zu einander stehen. Seinen Schwerpunkt hat das Panel in der Zeitgeschichte nach 1945, schlägt aber einen Bogen in die erste Hälfe des 20. Jahrhunderts um Brüche und Kontinuitäten mit älteren Epochen zu thematisieren, etwa in einem ersten Beitrag mit dem „Jazz Age“. Solche Kontinuitäten lassen sich anhand von Tanz-Spektakeln nachverfolgen, die im späten 20. Jahrhundert die Form massenmedial vermittelter Wettbewerbe angenommen haben.

Diese “dance circles” im Streetdance wurzeln teils ebenso wie der urbane Cakewalk um 1900 im „Black Atlantic“ und ermöglichten Formen von Öffentlichkeit, in denen neben ästhetischen auch ethische Fragen verhandelt wurden, etwa von Anpassung und Widerstand. Alles zu geben, um zu gewinnen, ist bis in die Tanz-Fernsehshows der Gegenwart ein zentrales Narrativ, in dem eine Geschichte der Moderne präsent ist, die Freiheit nicht im Projekt der Selbstverwirklichung durch Arbeit suchte: Auch im “dance circle” gibt es Wettbewerb zwischen den Tänzern, er findet aber unter anderen institutionellen Bedingungen statt. (Astrid Kusser)

Nach diesem medien- und körpergeschichtlichen Einstieg öffnet das Panel in einem zweiten Schritt das Spannungsfeld zwischen Konsumption und Produktion indem es den Siegeszug anglophoner Popmusik in Westdeutschland seit den 1960er Jahren in den Blick nimmt. Bisher wurde dieser Erfolg zumeist mit dem Bedürfnis jugendlicher Konsumenten erklärt, die als wichtigste Käuferschaft für populäre Musik nach einem Sound verlangten, der ihren gewandelten Bedürfnissen Ausdruck gab und aus den USA und Großbritanniens importiert wurde.

Gegen dieses Narrativ, das dazu tendiert, die Eigendynamik der Musikproduktion und -vermarktung auszublenden, wird mit einem produktionsorientierten Ansatz argumentiert: Verglichen mit den USA stand die westdeutsche Musikwirtschaft der drei Nachkriegsjahrzehnte in einer personellen, kognitiven und stilistischen Kontinuität, die das heimische Pop-Produkt auf die Verliererstraße brachte. Eine Trendwende zeichnete sich erst um 1980 ab, als Strukturveränderungen auf globaler wie nationaler Ebene bis dahin unerprobten deutschen Produzenten, Musikern und Repertoires Vermarktungschancen eröffneten. Das Beispiel plädiert für das Thema „Kulturproduktion“ als neues Forschungsfeld für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. (Klaus Nathaus)

Dieser Interpretation steht, drittens, eine stärker auf die Konsumenten bezogene Perspektive gegenüber. Kulturindustrielle Produkte wurden auch in einer von den Produzenten nicht intendierten Weise zu Sinn-Konstruktionen herangezogen. Dies lässt sich etwa anhand der Mitte des 20. Jahrhunderts zahlreich entstehenden Star- bzw. Fanclubs beobachten, die Hundertausende überwiegend jugendliche Mitglieder auf die Figuren ihrer jeweiligen Stars einschworen, deren erfolgreiche Karrieren ihnen als Vorbild dienten.

Gegen diese organisierten Formierungen des Generationengeschmacks regte sich Protest von links und rechts über die „falschen Vorbilder“ – ein Narrativ, das teils auch den akademischen Diskurs prägt. Dabei wird zumeist die aktive kulturpolitische Rolle von Fan-Clubs übersehen: In Nachfolge bürgerlicher Geschmacksgemeinschaften des 19. Jahrhunderts (Wagner-Gesellschaften, Kunst- und Museumsvereine) betrieben organisierte Schlager- und Pop-Fans den Übergang von imagined zu organized communities und setzten zunehmend erfolgreich ihren Anspruch auf Repräsentation in der Medienöffentlichkeit durch. Dabei bildeten sie eigenen kulturellen Praxen im Sinne jenes „listenreichen“ Umgangs mit den Produkten (de Certeau) heraus, der einen „aktiven“ Konsum kennzeichnet, und trugen so zur Formierung einer zunehmend pluralistischen Popkultur bei. (Bodo Mrozek)

Mit deren Ausbreitung und Etablierung wandelten sich – viertens – auch biographische Entwürfe. Anhand der Erzählungen von (Auto-)Biographien in den Kategorien von Verlierern und Gewinnern lässt sich der Wandel in zeitgenössischen und retrospektiven Selbst- und Fremddeutungen der 1970er und 1980er Jahre thematisieren. Lange Zeit wurden vor allem negative Folgen von deviantem Verhalten beschrieben: soziales Außenseitertum, Abdriften in Kriminalität und Sucht, Versagen und Scheitern in einem Lebensabschnitt, in dem Bildung und Ausbildung sowie die Gewöhnung an Verantwortung und Pflichterfüllung im Vordergrund stehen sollten.

Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gewinnt ein anderes Narrativ an Bedeutung, das die „Verschwendung der Jugend“ als ein Gelingen interpretiert. Jugendkulturelle Lebensentwürfe renitenter Punks oder hedonistischer Beatniks, deren Wurzeln sich bis in die Romantik zurückverfolgen lassen, werden als erfülltes, weil intensiv und kompromisslos subjektiv gelebtes Leben interpretiert: Diese affirmativen (Selbst-)Beschreibungen der Popkultur als befreiend, individualisierend oder widerständig bedürfen der Historisierung und rücken die für die Popgeschichtsschreibung originäre Quellengattung der Selbstzeugnisse in den Mittelpunkt. (Alexa Geisthövel)

Mit diesen vier unterschiedlichen Fallbeispielen will das Panel Popgeschichte als ein breites Set von Methoden und Problemen vorstellen. Dabei wird weder für einen neuen „Turn“ plädiert, noch ein radikaler Bruch mit bewährten Methoden behauptet. Vielmehr geht es um den Ausblick auf ein junges Forschungsfeld, das inhaltlich zu etablierten Bereichen der Wirtschafts-, Protest- oder Konsumgeschichte anschlussfähig ist, aber neue Quellen erschließt und andere Forschungsperspektiven einnimmt. Die Sektion will somit den Gewinn popgeschichtlicher Ansätze und Fragestellungen für die Historiographie des 20. Jahrhunderts aufzeigen.

Liste der ReferentInnen und vorläufige Referatstitel:

1. Prof. Dr. Detlef Siegfried (Universität Kopenhagen):
Popgeschichte: Probleme und Perspektiven“ (Einleitung)

2. Dr. Astrid Kusser (Universidade Federal Rio de Janeiro):
“Dance Craze, dance circle. Wettbewerb in medialen Tanzspektakeln um 1900 und um 1980“

3. Dr. Klaus Nathaus (University of Edinburgh):
“Erfolgswege und Sackgassen: Pfadabhängigkeit als Erklärung für die anglo-amerikanische Dominanz der Popmusik in (West-)Deutschland 1900-1980“

4. Bodo Mrozek, M.A. (Freie Universität Berlin / ZZF Potsdam):
„Losers united: Fan-Clubs als Geschmacks-Avantgarden von den 1950er bis in die 1980er Jahre“

5. Dr. Alexa Geisthövel (Medizinhistorisches Institut der Charité, Berlin):
„Gelebtes Leben: Wie verschwendete Jugend wertvoll wurde“

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1134

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Workshop: Gender meets Generation and Pop in Europe. Göttingen, 18.-19. Juli 2013

45er, 68er, 89er: Es sind vor allem die sogenannten politischen Generationen, die in der Historiographie zur deutschen Zeitgeschichte prägnant skizziert worden sind. Konstituiert werden sie – nach dem klassischen Konzept von Karl Mannheim – durch das Erleben einer tiefgreifenden gemeinsamen Umbrucherfahrung bestimmter Alterskohorten, manifestiert zumeist in Kriegen, Revolutionen oder anderen gewaltsamen und politisch aufgeladenen Ereignissen. Weitere Möglichkeiten des prägenden Einflusses auf die Bildung von Generationen, z.B. durch konsumtorische, mediale oder lebensweltliche Erfahrungen werden demgegenüber häufig ignoriert bzw. banalisiert.

Die bisherige Vernachlässigung von populär- und alltagskulturellen Erfahrungswelten zeitigt zudem deutliche Folgen für die Analyse geschlechterspezifischer Generationenbildungen. Die meisten Protagonisten generationeller Formierungen im politischen Raum sind männlich. Generationelle Erfahrungen und Deutungen von Frauen werden mit Ausnahme herausragender Politikerinnen hingegen ignoriert oder allenfalls unter die von Männern subsummiert. Die bisherige Blindheit von generationellen Konstruktionen gegenüber der Kategorie Geschlecht einerseits und der Populärkultur andererseits möchte der Workshop überwinden, indem gezielt danach gefragt wird, welche geschlechterspezifischen generationellen Deutungen mit dem Bereich der Populärkultur – hier Mode und Musik – in Europa zwischen 1950 und dem Jahr 2000 verbunden waren. Dieser Zeitraum wird ausgewählt, weil sich in ihm zum einen die Ausprägung und Kommerzialisierung der Rock- und Popmusik vollzog und zum anderen die Mode – erstmals unabhängig von sozialen Schichten und Stadt-Land-Unterschieden – als Teil einer weitgefächerten Konsumgüterindustrie zum bedeutsamen Distinktionsmittel zwischen den Generationen avancierte.

Donnerstag, 18. Juli 2013

13.00 Uhr
Begrüßung und Einführung
Prof. Dr. Dirk Schumann (Georg-August-Universität Göttingen)
PD Dr. Lu Seegers (Humboldt-Universität zu Berlin)

13.30 Uhr
Keynote
Geschlechterspezifik und Generation in Mode und Musik im 20. Jahrhundert.
Prof. Dr. Uta Poiger (History Department, Northeastern University Boston)

14.15 Uhr – 16.00 Uhr
Sektion 1: Populärkultur, Konsum und generationelle Stile

Von männlicher Politik zu gegendertem Konsum? – Skeptische Anmerkungen zum Bemühen, das Generationskonzept für die historische Forschung zu retten.
Prof. Dr. Kaspar Maase (Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen).

Transnationale Subkultur? Gender und Generation als Probleme der Popgeschichte nach 1945.
Bodo Mrozek (Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam)

«Konservativ ist in!» Die „Lebenswelt der ‘anderen 68er’ im ‘Zeitalter der Uneleganz’.
Dr. Anna von der Goltz (History Department, Georgetown University)

16 Uhr – 16.30 Uhr Kaffeepause

16.30 Uhr – 18.15 Uhr
Sektion 2: Musik als Trigger für generationelle Verortungen

„Erst ma´ eins auf die Fresse’“ – Wut und Weiblichkeit in den frühen deutschen Punkszenen.
Henning Wellmann (Forschungsgruppe „Gefühlte Gemeinschaften“, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin)

Girls in the Gang: Constructing Violence in Urban Space in Budapest in the 1960s.
Dr. Sándor Horváth (Historisches Institut, Akademie der Wissenschaften Ungarn, Budapest)

Ab 19.00 Uhr gemeinsames Abendessen

Freitag, 19. Juli 2013

9.00 – 12.15 Uhr
Sektion 3: „Generationen-Kleider“: Mode als generationelle Aneignung und Imagination im Ost-West-Vergleich

Gender als interdependente Kategorie? Sich kleiden in Mutter-Tochter-Beziehungen.
Nadine Wagener-Böck (Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen)

Die Queen of Punk im Wunderland. Text-Gewebe im Werk Vivienne Westwoods.
Julia Hoffmann (DFG-Graduiertenkolleg Generationengeschichte, Georg-August-Universität Göttingen)

Kaffeepause

“Sowohl meine Oma als auch meine Mama nähten sich selbst die Kleider…”:
weibliches Nähen als generationsübergreifendes Überlebens- und Distinktionsmittel in der spätsowjetischen Konsumkultur .
Anna Tikhomirova (Abteilung Geschichtswissenschaften, Universität Bielefeld)

Zwischen Tradition und Beat. Junge Jugoslawinnen im Spannungsfeld neuer Körpererfahrung und alter Moral.
Nathalie Keigel, (Historisches Department, Universität Hamburg)

12.15 – 13.00 Uhr Mittagsimbiss

13.00 – 14.30 Uhr
Sektion 4: Generationelle Ästhetisierungen der Populärkultur in Europa

“For a Mother’s love”. Die Dialektik zwischen Melodrama und Generationen.
Vănia Morais (DFG-Graduiertenkolleg Generationengeschichte, Georg-August-Universität Göttingen)

„Ich sehe was, was Du nicht siehst und das ist anders!“ Alternative Lebensstile als habituelle Abgrenzung zur Elterngeneration in den 1970er Jahren in BRD und DDR.
Dr. Rebecca Menzel (Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam)

14.30 Uhr bis 15.30 Uhr
Schlussdiskussion

Veranstalter: DFG-Graduiertenkollegs 1083 “Generationengeschichte. Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert”, Georg-August-Universität Göttingen
Datum, Ort: 18.07.2013-19.07.2013, Göttingen, Heyne-Haus, Papendiek 16, 37073 Göttingen

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/971

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Nur Samstag Nacht: “Saturday Night Fever” 1977, ein spätmoderner Entwicklungsroman

 

„Spiegel“-Titel vom 16.10.1978

Den Spielfilm „Saturday Night Fever“ umgab nicht nur hierzulande lange ein hartnäckiges Missverständnis. Er feiere, so hieß es, eine glitzernde Scheinwelt, in der narzisstische Mitmacher konsumierten statt kritisierten. Er repräsentiere den neukonservativen Wertehimmel der „Lord-Extra-Generation angepaßter Jungen und Mädchen“.1 Andere sahen eher Resignation und Flucht vor bedrückenden Gegenwartsproblemen. 1978, auf dem Höhepunkt der so genannten Disco-Welle, waren sich westdeutsche Beobachter aber darin einig, das massenhafte Tanzen zu elektronisch reproduzierter Musik als Anpassung und Entpolitisierung der jungen Generation deuten zu dürfen.2

Auch nachdem die Welle und die mit ihr verbundene Kulturkritik abgeflaut waren, blieb „Saturday Night Fever“ als belangloses „Sozialaufsteigerfilmchen“ gespeichert.3 Poststrukturalistisch gewendet lässt sich der Streifen als Auftakt zu einer Reihe international erfolgreicher Tanzfilme wie „Fame“ (1980), „Flashdance“ (1983) oder „Footlose“ (1984) verstehen, die in den neoliberalen 1980er-Jahren dem Publikum ein unternehmerisches Verhältnis zum eigenen Körper nahebrachten.4

So eindeutig liegen die Dinge jedoch nicht. Zwar ist Arbeit am Selbst in „Saturday Night Fever“ ein zentrales Motiv. Es wird aber im Rahmen eines Entwicklungsnarrativs auf mehrdeutige Weise inszeniert. Die folgende Wiederbesichtigung versucht keine abschließende Einordnung. Da die Zeit um 1980 zunehmend in den zeithistorischen Horizont rückt, soll der Beitrag dazu anregen, sich mit diesem ikonischen Kulturprodukt erst einmal näher zu beschäftige

„Saturday Night Fever“ ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die mit Elementen einer Sozialreportage durchsetzt ist. Die Tanzszenen sind realistischer Teil der Handlung.5 Das Drehbuch orientierte sich an einer – größtenteils fingierten – Reportage des Journalisten Nik Cohn, die 1976 unter dem Titel „Tribal Rites of the New Saturday Night“ erschienen war und von einem Tanzlokal in Bay Ridge im New Yorker Stadtteil Brooklyn erzählte.6 Dass Cohn von den „Stammesriten“ der Discogänger sprach, exotisierte deren Lebenswelt7 – was als neuer, anthropologisch verfremdeter Blick auf die eigene Kultur verstanden werden kann, genauso aber als langlebiges Stereotyp des primitiven süditalienischen Migranten.

 

Die von John Travolta dargestellte Hauptfigur Tony Manero ist 19 Jahre alt, arbeitet als Verkäufer in einem Farbengeschäft, ist beliebt bei seinem Chef und den Kunden. Bei seinen arbeitslosen Eltern trifft er dagegen nur auf Vorwürfe und Unverständnis. Sie bevorzugen seinen älteren Bruder, der Priester werden soll. Nach Feierabend ist Tony Anführer einer Jungsclique und Star der lokalen Diskothek. Zwar wird er glaubwürdig als bezaubernder Tänzer in Szene gesetzt; abseits der Tanzfläche erscheint sein Verhalten nach den Maßstäben einer progressiven Entwicklungspsychologie aber als problematisch. Das szenische Psychogramm zeigt Tony und seine Peers als halbstarken Männerbund, der seine familiäre und gesellschaftliche Unterlegenheit mit aggressivem Verhalten gegen Frauen, rivalisierende ethnische Gangs und Homosexuelle kompensiert.

Eine Alternative lernt Tony in Gestalt von Stephanie Mangano kennen, die auch aus Brooklyn kommt, aber in Manhattan nach Besserem strebt. Bis Tony ihr auf diesem Weg folgen kann, muss er durch tiefe Krisen gehen: unversöhnlichen Familienstreit, einen Vergewaltigungsversuch, den Tod eines Freundes. Zudem wird ihm und Stephanie bei einem Tanzwettbewerb als Lokalmatadoren der erste Preis zugesprochen, obwohl ein Latinopaar besser war – dies erlebt Tony als Verrat an dem, was ihm heilig ist: dem Tanzen. Durch diese existenziellen Erfahrungen geläutert, lässt er am Ende die Diskothek und das perspektivlose Leben in Brooklyn hinter sich, um aus sich etwas zu machen. Wiederkehrende Einstellungen auf Brücken und rollende Stadtbahnen visualisieren das romantische Motiv der Reise als Lebenspassage, der Identitätsfindung in der Konfrontation mit der Welt.8

In der Bundesrepublik Deutschland lief „Saturday Night Fever“ am 13. April 1978 unter dem Titel „Nur Samstag Nacht“ an. 1,16 Millionen Mal wurde bis zum Ende des Jahres in westdeutschen Kinos Eintritt für diesen Film bezahlt – das machte ihn zum Kassenschlager der Saison (in der DDR wurde der Film nicht gezeigt).9 Rekordverdächtig waren auch die Verkaufszahlen des zugehörigen Soundtrackalbums, das in erster Linie das englische Brüdertrio The Bee Gees mit der typischen Falsettstimme von Barry Gibb bestritt. Dieser Erfolg verdankte sich nicht zuletzt dem neuartigen Einsatz von Crossmarketing, bei dem sich die Werbung für Tonträger (Singles und LP) und Kinofilm wechselseitig Aufmerksamkeit zuspielten. Dass der Soundtrack nicht auf die Filmhandlung zugeschnitten war, erschien dabei nebensächlich. Einige zentrale Tracks stammten aus anderen Zusammenhängen, und keiner der Beteiligten arbeitete auf einen Disco-Sound hin. Dennoch funktionierte die eingängige Mischung aus tanzbaren, funkig angehauchten Stücken, Balladen und dramatischen Einsprengseln wie einer discofizierten Variante des ersten Satzes aus Ludwig van Beethovens Fünfter Symphonie.10

Anders als manche westdeutsche Kritiker meinten, steht die Diskothek in „Saturday Night Fever“ keineswegs für Leistung, Zielstrebigkeit und Aufstiegsorientierung im bürgerlichen Sinn. Tony ist, wie seine Freunde sagen, der „King“. Aus der Fülle seiner Macht heraus kann er die eine Frau zurückweisen und mit der anderen gönnerhaft eine Runde tanzen. Als Herrscher seiner Clique regelt er, wann Speed eingeschmissen wird und wer als nächster die Autorückbank belegen darf. Diese Duodezsouveränität steht jedoch an einem Abgrund der Planlosigkeit. „Ich scheiß auf die Zukunft“, antwortet Tony seinem Chef, als dieser ihm den erbetenen Vorschuss abschlägt und ihn zu Vorausschau und Sparsamkeit anhält (im Original: „Fuck the future“, 05:07). Die Lebenswege der Älteren, das macht der Film deutlich, führen nur in Sackgassen – aber auch das Tanzen ist kein Zukunftsmodell (45:05). Dabei ist Tony durchaus jemand, „der lernt, der sich bildet, sein Pensum verrichtet“, wie es in Freddy Quinns Anti-Gammler-Song „Wir“ von 1966 hieß.

Wenn es ums Tanzen geht, arbeitet Tony mit Ernst und Lust, ist ehrgeizig und kompetitiv, hat eigenen Stil. Eingestreut in Boy-meets-girl-Händel gewinnt ein autodidaktisches Subjekt an Kontur, das seine Begabung im Training entfaltet hat. Tonys Selbstgestaltung orientiert sich dabei nicht an einem schulischen Wissenskanon, sondern nutzt das Bildungsangebot der Massenmedien. So erfahren wir, dass er Tanzfiguren im Fernsehen gesehen und diese selbstständig variiert hat (51:55).

Weitere Impulse kommen von den neuen Helden des 1970er-Jahre-Kinos. In Tonys Zimmer hängen Poster von Silvester Stallone als Rocky Balboa und Al Pacino als moralischer Cop Frank Serpico. Die italoamerikanischen Underdogfiguren verbinden Härte und Geschmeidigkeit ebenso wie Bruce Lee, die Ikone der Asian Martial Arts, dessen Kampfposen Tony vor dem Spiegel nachahmt. In dieser vielfach zitierten Szene fallen zudem weiblich besetzte Praktiken der Selbstpflege ins Auge. Tony, der zunächst nur einen schwarzen Slip trägt, fönt und kämmt sich, legt Schmuck an, kleidet sich in schimmerndes Rosa (06:25 – 07:35). Der selbstbewusste Zugriff auf unterschiedliche kulturelle Register zeigt sich auch in den von Lester Wilson choreographierten Tanzszenen, insbesondere in einem Solo auf halber Strecke des Films (59:20 – 1:01:34).

Für diesen Auftritt gilt die Aussage eines zeitgenössischen Ratgebers, Disco schöpfe die Vielfalt des „dance heritage“ aus.11 Neben Elementen der Ballett- und Jazzdance-Tradition enthält der Film unter anderem Anleihen bei der russischen Folklore, Armwellen (wie sie zeitgleich beim so genannten Breakdance zu finden sind) und pantomimische Kommentare zur Körperarbeit (Hemd zuknöpfen, Schweiß abwischen). Was im Leben nicht gelingt – dem Disparaten eine Ordnung zu geben –, funktioniert hier mit Leichtigkeit. Aber dieses Können, so die Botschaft, hat noch keine sinnvolle Richtung gefunden.

Die Diskothek repräsentiert eine letztlich unproduktive Sphäre der Selbstverschwendung, die Tony in der Tretmühle einer kapitalistischen Verliererexistenz gefangen hält. Seine Wandlung vollzieht sich erst, als er sich von der Welt der Diskothek abwendet, und zwar nach dem Sieg im erwähnten Tanzwettbewerb, bei dem zu Tonys maßloser Enttäuschung das Leistungsprinzip hinter den falsch verstandenen Zusammenhalt der Peergroup und der ethnischen Solidarität zurücktreten musste. Sein Zorn gegen die Unaufrichtigkeit seiner Fans weitet sich zu der Einsicht, das bedrückte Leben in den unteren Zonen der Gesellschaft korrumpiere die zwischenmenschlichen Beziehungen.

Zugleich schreibt der Film dem Weg nach oben nur begrenzt utopischen Charakter zu. Die Aufsteigerin Stephanie fällt durch angestrengte Distinktionsmanöver und bornierte Bildungsbeflissenheit auf. Die Kosten ihrer Aufwärtsmobilität sind Überforderung, Einsamkeit sowie die Abhängigkeit von einem älteren Kreativarbeiter, der sie ausnutzt und bevormundet. Zu Tonys Vorbild kann sie werden, weil sie entschlossen nach dem eigenen Lebensplan sucht und Risiken dabei nicht scheut. Am Ende des Films ist völlig offen, ob Tony die neue Situation bewältigen wird, auch ob er seine Körperbildung in einen Lebensunterhalt wird ummünzen können. Die erste Etappe ist erreicht, weil er Grenzen überwunden hat; weil er es zugelassen hat, ein anderer zu werden und sich selbst dadurch näher zu kommen.

In der Zeitgeschichtsschreibung erscheinen popkulturelle Phänomene allzu häufig nur als Symptome sozioökonomischer und politischer Großwetterlagen. Ein Beispiel ist die Annahme, Punk habe die Hoffnungslosigkeit einer krisengeschüttelten Jugend „nach dem Boom“ zum Ausdruck gebracht. Solche Verkürzungen verzichten darauf, ästhetische Praxis als „erstrangige Sinnressource in der Massendemokratie“ ernst zu nehmen.12 Damit bringen sie sich um Einsichten – etwa in Techniken der Selbstführung, die Michel Foucault als zentrales Handlungsfeld moderner Gesellschaften herausgearbeitet hat.13

Im Fall von „Saturday Night Fever“ geht es nicht darum, ein deutlich konturiertes subversives Potenzial aufzudecken, das der Film in der Breite vermutlich nicht entfaltet hat. Aber unter dem kulturkritischen Deutungsballast kommt ein plurales Angebot möglicher Selbstverhältnisse zum Vorschein, das neue Perspektiven auf vermeintlich bekannte Prozesse eröffnen kann. Dazu müssten allerdings die konkreten Handlungskontexte historischer Disco-Akteure der 1970er- und 1980er-Jahre untersucht werden.14

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(Hier wird der erste Teil eines Artikels wiedergegeben. Der vollständige Text ist erschienen in der Zeitschrift Zeithistorische Forschungen. Zitierhinweis: Alexa Geisthövel, Ein spätmoderner Entwicklungsroman: „Saturday Night Fever“/„Nur Samstag Nacht“ (1977), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013), H. 1,
URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geisthoevel-1-2013)

 

  1. Horst F. Neißer/Werner Mezger/Günter Verdin, Jugend in Trance? Diskotheken in Deutschland, Heidelberg 1979, S. 76.
  2. Alexa Geisthövel, Anpassung: Disco und Jugendbeobachtung in Westdeutschland, 1975–1981, erscheint 2013 in: Pascal Eitler/Jens Elberfeld (Hg.), Zeitgeschichte des Selbst. Die „Disco-Welle“ zwischen 1975 und 1979 (in der Bundesrepublik eher 1978/79) machte die zuvor subkulturelle Tanz- und Ausgehpraxis des „partying“ mehrheitsfähig, begleitet von der Etablierung des Disco-Genres in der Musik- und Filmindustrie.
  3. Dagegen Michael Heim, Saturday Night Fever: Der Messias tanzt bügelfrei, 4.11.2007, URL: http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/659/der_messias_tanzt_buegelfrei.html (dort auch zahlreiche Abbildungen).
  4. Sherril Dodds, Dance on the Screen. Genres and Media from Hollywood to Experimental Art, Basingstoke 2001, S. 37.
  5. Dorothee Ott, Shall we dance and sing? Zeitgenössische Musical- und Tanzfilme, Konstanz 2008, S. 79.
  6. Nik Cohn, Tribal Rites of the New Saturday Night, in: New York, 7.6.1976.
  7. Stelios Christodoulou, ‚A straight heterosexual film‘: Masculinity, Sexuality, and Ethnicity in Saturday Night Fever, in: Networking Knowledge. Journal of the MeCCSA Postgraduate Network 4 (2011) H. 1, URL: http://ojs.meccsa.org.uk/index.php/netknow/article/view/60, hier S. 7, S. 19f.
  8. Joseph Kupfer, „Stayin’ Alife“: Moral Growth and Personal Narrative in Saturday Night Fever, in: Journal of Popular Film and Television 34 (2007), S. 170-178.
  9. http://www.hdg.de/film/class125_id1000680.html (siehe dort auch das deutsche Filmplakat).
  10. Richard Buskin, Classic Tracks: The Bee Gees Stayin’ Alive, August 2005, URL: http://www.soundonsound.com/sos/aug05/articles/classictracks.htm.
  11. Jack Villari/Kathleen Sims Villari, (The Official Guide To) Disco Dance Steps, Secaucus 1978, S. 61.
  12. Kaspar Maase, Der Banause und das Projekt schönen Lebens. Überlegungen zu Bedeutung und Qualitäten alltäglicher ästhetischer Erfahrung, in: Kulturation. Online-Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 1/2004, URL: http://www.kulturation.de/ki_1_text.php?id=25, Abschnitt II.
  13. Vgl. dazu Maren Möhring, Die Regierung der Körper. „Gouvernementalität“ und „Techniken des Selbst“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 284-290.
  14. Hinweise geben, auf unterschiedliche Weise, Anleitungen, Ratgeber und spärliche autobiographische Zeugnisse: Lernt tanzen wie John Travolta, in: Bravo, 22.6.1978; Kitty Hanson, Disco Fieber. Alles über die Disco-Welle, München 1979; Peter Cornelsen, John Travolta. Mit Tanzkurs, Film- und Diskographie, Bergisch Gladbach 1978; Thomas Hermanns, Für immer d.i.s.c.o., München 2009. Zu den USA vgl. neuerdings Alice Echols, Hot Stuff. Disco and the Remaking of American Culture, New York 2010.

 

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/709

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Nur Samstag Nacht: “Saturday Night Fever” 1977, ein spätmoderner Entwicklungsroman

„Spiegel“-Titel vom 16.10.1978

Den Spielfilm „Saturday Night Fever“ umgab nicht nur hierzulande lange ein hartnäckiges Missverständnis. Er feiere, so hieß es, eine glitzernde Scheinwelt, in der narzisstische Mitmacher konsumierten statt kritisierten. Er repräsentiere den neukonservativen Wertehimmel der „Lord-Extra-Generation angepaßter Jungen und Mädchen“.1 Andere sahen eher Resignation und Flucht vor bedrückenden Gegenwartsproblemen. 1978, auf dem Höhepunkt der so genannten Disco-Welle, waren sich westdeutsche Beobachter aber darin einig, das massenhafte Tanzen zu elektronisch reproduzierter Musik als Anpassung und Entpolitisierung der jungen Generation deuten zu dürfen.2

Auch nachdem die Welle und die mit ihr verbundene Kulturkritik abgeflaut waren, blieb „Saturday Night Fever“ als belangloses „Sozialaufsteigerfilmchen“ gespeichert.3 Poststrukturalistisch gewendet lässt sich der Streifen als Auftakt zu einer Reihe international erfolgreicher Tanzfilme wie „Fame“ (1980), „Flashdance“ (1983) oder „Footlose“ (1984) verstehen, die in den neoliberalen 1980er-Jahren dem Publikum ein unternehmerisches Verhältnis zum eigenen Körper nahebrachten.4

So eindeutig liegen die Dinge jedoch nicht. Zwar ist Arbeit am Selbst in „Saturday Night Fever“ ein zentrales Motiv. Es wird aber im Rahmen eines Entwicklungsnarrativs auf mehrdeutige Weise inszeniert. Die folgende Wiederbesichtigung versucht keine abschließende Einordnung. Da die Zeit um 1980 zunehmend in den zeithistorischen Horizont rückt, soll der Beitrag dazu anregen, sich mit diesem ikonischen Kulturprodukt erst einmal näher zu beschäftige

„Saturday Night Fever“ ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die mit Elementen einer Sozialreportage durchsetzt ist. Die Tanzszenen sind realistischer Teil der Handlung.5 Das Drehbuch orientierte sich an einer – größtenteils fingierten – Reportage des Journalisten Nik Cohn, die 1976 unter dem Titel „Tribal Rites of the New Saturday Night“ erschienen war und von einem Tanzlokal in Bay Ridge im New Yorker Stadtteil Brooklyn erzählte.6 Dass Cohn von den „Stammesriten“ der Discogänger sprach, exotisierte deren Lebenswelt7 – was als neuer, anthropologisch verfremdeter Blick auf die eigene Kultur verstanden werden kann, genauso aber als langlebiges Stereotyp des primitiven süditalienischen Migranten.

Die von John Travolta dargestellte Hauptfigur Tony Manero ist 19 Jahre alt, arbeitet als Verkäufer in einem Farbengeschäft, ist beliebt bei seinem Chef und den Kunden. Bei seinen arbeitslosen Eltern trifft er dagegen nur auf Vorwürfe und Unverständnis. Sie bevorzugen seinen älteren Bruder, der Priester werden soll. Nach Feierabend ist Tony Anführer einer Jungsclique und Star der lokalen Diskothek. Zwar wird er glaubwürdig als bezaubernder Tänzer in Szene gesetzt; abseits der Tanzfläche erscheint sein Verhalten nach den Maßstäben einer progressiven Entwicklungspsychologie aber als problematisch. Das szenische Psychogramm zeigt Tony und seine Peers als halbstarken Männerbund, der seine familiäre und gesellschaftliche Unterlegenheit mit aggressivem Verhalten gegen Frauen, rivalisierende ethnische Gangs und Homosexuelle kompensiert.

Eine Alternative lernt Tony in Gestalt von Stephanie Mangano kennen, die auch aus Brooklyn kommt, aber in Manhattan nach Besserem strebt. Bis Tony ihr auf diesem Weg folgen kann, muss er durch tiefe Krisen gehen: unversöhnlichen Familienstreit, einen Vergewaltigungsversuch, den Tod eines Freundes. Zudem wird ihm und Stephanie bei einem Tanzwettbewerb als Lokalmatadoren der erste Preis zugesprochen, obwohl ein Latinopaar besser war – dies erlebt Tony als Verrat an dem, was ihm heilig ist: dem Tanzen. Durch diese existenziellen Erfahrungen geläutert, lässt er am Ende die Diskothek und das perspektivlose Leben in Brooklyn hinter sich, um aus sich etwas zu machen. Wiederkehrende Einstellungen auf Brücken und rollende Stadtbahnen visualisieren das romantische Motiv der Reise als Lebenspassage, der Identitätsfindung in der Konfrontation mit der Welt.8

In der Bundesrepublik Deutschland lief „Saturday Night Fever“ am 13. April 1978 unter dem Titel „Nur Samstag Nacht“ an. 1,16 Millionen Mal wurde bis zum Ende des Jahres in westdeutschen Kinos Eintritt für diesen Film bezahlt – das machte ihn zum Kassenschlager der Saison (in der DDR wurde der Film nicht gezeigt).9 Rekordverdächtig waren auch die Verkaufszahlen des zugehörigen Soundtrackalbums, das in erster Linie das englische Brüdertrio The Bee Gees mit der typischen Falsettstimme von Barry Gibb bestritt. Dieser Erfolg verdankte sich nicht zuletzt dem neuartigen Einsatz von Crossmarketing, bei dem sich die Werbung für Tonträger (Singles und LP) und Kinofilm wechselseitig Aufmerksamkeit zuspielten. Dass der Soundtrack nicht auf die Filmhandlung zugeschnitten war, erschien dabei nebensächlich. Einige zentrale Tracks stammten aus anderen Zusammenhängen, und keiner der Beteiligten arbeitete auf einen Disco-Sound hin. Dennoch funktionierte die eingängige Mischung aus tanzbaren, funkig angehauchten Stücken, Balladen und dramatischen Einsprengseln wie einer discofizierten Variante des ersten Satzes aus Ludwig van Beethovens Fünfter Symphonie.10

Anders als manche westdeutsche Kritiker meinten, steht die Diskothek in „Saturday Night Fever“ keineswegs für Leistung, Zielstrebigkeit und Aufstiegsorientierung im bürgerlichen Sinn. Tony ist, wie seine Freunde sagen, der „King“. Aus der Fülle seiner Macht heraus kann er die eine Frau zurückweisen und mit der anderen gönnerhaft eine Runde tanzen. Als Herrscher seiner Clique regelt er, wann Speed eingeschmissen wird und wer als nächster die Autorückbank belegen darf. Diese Duodezsouveränität steht jedoch an einem Abgrund der Planlosigkeit. „Ich scheiß auf die Zukunft“, antwortet Tony seinem Chef, als dieser ihm den erbetenen Vorschuss abschlägt und ihn zu Vorausschau und Sparsamkeit anhält (im Original: „Fuck the future“, 05:07). Die Lebenswege der Älteren, das macht der Film deutlich, führen nur in Sackgassen – aber auch das Tanzen ist kein Zukunftsmodell (45:05). Dabei ist Tony durchaus jemand, „der lernt, der sich bildet, sein Pensum verrichtet“, wie es in Freddy Quinns Anti-Gammler-Song „Wir“ von 1966 hieß.

Wenn es ums Tanzen geht, arbeitet Tony mit Ernst und Lust, ist ehrgeizig und kompetitiv, hat eigenen Stil. Eingestreut in Boy-meets-girl-Händel gewinnt ein autodidaktisches Subjekt an Kontur, das seine Begabung im Training entfaltet hat. Tonys Selbstgestaltung orientiert sich dabei nicht an einem schulischen Wissenskanon, sondern nutzt das Bildungsangebot der Massenmedien. So erfahren wir, dass er Tanzfiguren im Fernsehen gesehen und diese selbstständig variiert hat (51:55).

Weitere Impulse kommen von den neuen Helden des 1970er-Jahre-Kinos. In Tonys Zimmer hängen Poster von Silvester Stallone als Rocky Balboa und Al Pacino als moralischer Cop Frank Serpico. Die italoamerikanischen Underdogfiguren verbinden Härte und Geschmeidigkeit ebenso wie Bruce Lee, die Ikone der Asian Martial Arts, dessen Kampfposen Tony vor dem Spiegel nachahmt. In dieser vielfach zitierten Szene fallen zudem weiblich besetzte Praktiken der Selbstpflege ins Auge. Tony, der zunächst nur einen schwarzen Slip trägt, fönt und kämmt sich, legt Schmuck an, kleidet sich in schimmerndes Rosa (06:25 – 07:35). Der selbstbewusste Zugriff auf unterschiedliche kulturelle Register zeigt sich auch in den von Lester Wilson choreographierten Tanzszenen, insbesondere in einem Solo auf halber Strecke des Films (59:20 – 1:01:34).

Für diesen Auftritt gilt die Aussage eines zeitgenössischen Ratgebers, Disco schöpfe die Vielfalt des „dance heritage“ aus.11 Neben Elementen der Ballett- und Jazzdance-Tradition enthält der Film unter anderem Anleihen bei der russischen Folklore, Armwellen (wie sie zeitgleich beim so genannten Breakdance zu finden sind) und pantomimische Kommentare zur Körperarbeit (Hemd zuknöpfen, Schweiß abwischen). Was im Leben nicht gelingt – dem Disparaten eine Ordnung zu geben –, funktioniert hier mit Leichtigkeit. Aber dieses Können, so die Botschaft, hat noch keine sinnvolle Richtung gefunden.

Die Diskothek repräsentiert eine letztlich unproduktive Sphäre der Selbstverschwendung, die Tony in der Tretmühle einer kapitalistischen Verliererexistenz gefangen hält. Seine Wandlung vollzieht sich erst, als er sich von der Welt der Diskothek abwendet, und zwar nach dem Sieg im erwähnten Tanzwettbewerb, bei dem zu Tonys maßloser Enttäuschung das Leistungsprinzip hinter den falsch verstandenen Zusammenhalt der Peergroup und der ethnischen Solidarität zurücktreten musste. Sein Zorn gegen die Unaufrichtigkeit seiner Fans weitet sich zu der Einsicht, das bedrückte Leben in den unteren Zonen der Gesellschaft korrumpiere die zwischenmenschlichen Beziehungen.

Zugleich schreibt der Film dem Weg nach oben nur begrenzt utopischen Charakter zu. Die Aufsteigerin Stephanie fällt durch angestrengte Distinktionsmanöver und bornierte Bildungsbeflissenheit auf. Die Kosten ihrer Aufwärtsmobilität sind Überforderung, Einsamkeit sowie die Abhängigkeit von einem älteren Kreativarbeiter, der sie ausnutzt und bevormundet. Zu Tonys Vorbild kann sie werden, weil sie entschlossen nach dem eigenen Lebensplan sucht und Risiken dabei nicht scheut. Am Ende des Films ist völlig offen, ob Tony die neue Situation bewältigen wird, auch ob er seine Körperbildung in einen Lebensunterhalt wird ummünzen können. Die erste Etappe ist erreicht, weil er Grenzen überwunden hat; weil er es zugelassen hat, ein anderer zu werden und sich selbst dadurch näher zu kommen.

In der Zeitgeschichtsschreibung erscheinen popkulturelle Phänomene allzu häufig nur als Symptome sozioökonomischer und politischer Großwetterlagen. Ein Beispiel ist die Annahme, Punk habe die Hoffnungslosigkeit einer krisengeschüttelten Jugend „nach dem Boom“ zum Ausdruck gebracht. Solche Verkürzungen verzichten darauf, ästhetische Praxis als „erstrangige Sinnressource in der Massendemokratie“ ernst zu nehmen.12 Damit bringen sie sich um Einsichten – etwa in Techniken der Selbstführung, die Michel Foucault als zentrales Handlungsfeld moderner Gesellschaften herausgearbeitet hat.13

Im Fall von „Saturday Night Fever“ geht es nicht darum, ein deutlich konturiertes subversives Potenzial aufzudecken, das der Film in der Breite vermutlich nicht entfaltet hat. Aber unter dem kulturkritischen Deutungsballast kommt ein plurales Angebot möglicher Selbstverhältnisse zum Vorschein, das neue Perspektiven auf vermeintlich bekannte Prozesse eröffnen kann. Dazu müssten allerdings die konkreten Handlungskontexte historischer Disco-Akteure der 1970er- und 1980er-Jahre untersucht werden.14

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(Hier wird der erste Teil eines Artikels wiedergegeben. Der vollständige Text ist erschienen in der Zeitschrift Zeithistorische Forschungen. Zitierhinweis: Alexa Geisthövel, Ein spätmoderner Entwicklungsroman: „Saturday Night Fever“/„Nur Samstag Nacht“ (1977), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013), H. 1,
URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geisthoevel-1-2013)

 

  1. Horst F. Neißer/Werner Mezger/Günter Verdin, Jugend in Trance? Diskotheken in Deutschland, Heidelberg 1979, S. 76.
  2. Alexa Geisthövel, Anpassung: Disco und Jugendbeobachtung in Westdeutschland, 1975–1981, erscheint 2013 in: Pascal Eitler/Jens Elberfeld (Hg.), Zeitgeschichte des Selbst. Die „Disco-Welle“ zwischen 1975 und 1979 (in der Bundesrepublik eher 1978/79) machte die zuvor subkulturelle Tanz- und Ausgehpraxis des „partying“ mehrheitsfähig, begleitet von der Etablierung des Disco-Genres in der Musik- und Filmindustrie.
  3. Dagegen Michael Heim, Saturday Night Fever: Der Messias tanzt bügelfrei, 4.11.2007, URL: http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/659/der_messias_tanzt_buegelfrei.html (dort auch zahlreiche Abbildungen).
  4. Sherril Dodds, Dance on the Screen. Genres and Media from Hollywood to Experimental Art, Basingstoke 2001, S. 37.
  5. Dorothee Ott, Shall we dance and sing? Zeitgenössische Musical- und Tanzfilme, Konstanz 2008, S. 79.
  6. Nik Cohn, Tribal Rites of the New Saturday Night, in: New York, 7.6.1976.
  7. Stelios Christodoulou, ‚A straight heterosexual film‘: Masculinity, Sexuality, and Ethnicity in Saturday Night Fever, in: Networking Knowledge. Journal of the MeCCSA Postgraduate Network 4 (2011) H. 1, URL: http://ojs.meccsa.org.uk/index.php/netknow/article/view/60, hier S. 7, S. 19f.
  8. Joseph Kupfer, „Stayin’ Alife“: Moral Growth and Personal Narrative in Saturday Night Fever, in: Journal of Popular Film and Television 34 (2007), S. 170-178.
  9. http://www.hdg.de/film/class125_id1000680.html (siehe dort auch das deutsche Filmplakat).
  10. Richard Buskin, Classic Tracks: The Bee Gees Stayin’ Alive, August 2005, URL: http://www.soundonsound.com/sos/aug05/articles/classictracks.htm.
  11. Jack Villari/Kathleen Sims Villari, (The Official Guide To) Disco Dance Steps, Secaucus 1978, S. 61.
  12. Kaspar Maase, Der Banause und das Projekt schönen Lebens. Überlegungen zu Bedeutung und Qualitäten alltäglicher ästhetischer Erfahrung, in: Kulturation. Online-Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 1/2004, URL: http://www.kulturation.de/ki_1_text.php?id=25, Abschnitt II.
  13. Vgl. dazu Maren Möhring, Die Regierung der Körper. „Gouvernementalität“ und „Techniken des Selbst“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 284-290.
  14. Hinweise geben, auf unterschiedliche Weise, Anleitungen, Ratgeber und spärliche autobiographische Zeugnisse: Lernt tanzen wie John Travolta, in: Bravo, 22.6.1978; Kitty Hanson, Disco Fieber. Alles über die Disco-Welle, München 1979; Peter Cornelsen, John Travolta. Mit Tanzkurs, Film- und Diskographie, Bergisch Gladbach 1978; Thomas Hermanns, Für immer d.i.s.c.o., München 2009. Zu den USA vgl. neuerdings Alice Echols, Hot Stuff. Disco and the Remaking of American Culture, New York 2010.

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/709

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Pop als Zeitgeschichte


Der Pop ist tot – es lebe die Popgeschichte, so könnte eine voreilige Antwort auf die Frage lauten, ob der Pop nicht mehr Aufmerksamkeit als Gegenstand der zeithistorischen Forschung verdient hätte. Kaum hat man dieses Motto aus dem Feuilleton ausgesprochen, wird jedoch klar, dass es ein bequemes Klischee bedient. Die Popkultur ist bereits des Öfteren für tot erklärt worden. Als Indiz für den behaupteten Verfall dient dabei die Beobachtung, dass sich Pop nicht mehr als eine sichtbare Gegenwartskultur identifizieren lasse, die im sprichwörtlichen Sinne die Massen bewege. Beklagt werden die durch das Internet zusätzlich ausdifferenzierten und fragmentierten Öffentlichkeiten und Szenen, die sich nicht mehr wie in den „guten alten Tagen“ zu politisch relevanten Generationsrevolten aufschaukeln. Hinzu kommt dann noch das Staunen über die ewigen Retrowellen, jene von Simon Reynolds sezierte Besessenheit der Popkultur von ihrer eigenen Geschichte: „We live in a Pop age gone loco for retro and crazy for commemoration.“

Da hat man noch nicht zu Ende gedacht, wie man die 14 CDs der „Original Recording Remastered Edition“ von Pink Floyd im Discovery Boxset mit der eigenen begrenzten Lebenszeit in Einklang bringt, da folgen schon Nirvana mit der künstlich aufgeblähten „Nevermind“, Brian Wilson mit auch noch dem letzten Studiorauschen der Sessions seines grandios gescheiterten „Smile“-Projekts, die ewigen Weltverbesserer von U2 mit 20 Jahren „Achtung Baby“ oder The Who mit 40 Jahren „Quadrophenia“: Man kann getrost den ausgewaschenen Fishtail Parka mit dem Target Patch aus dem Schrank holen. Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Auch im aktuellen Popgeschäft dominieren Souldiven im Retrostyle und vergangenheitsverliebte Stilsymbiosen wie etwa jüngst Lana Del Rey, die gekonnt ihre Reminiszenzen an Nancy Sinatra und den Look von Hollywood mit einer Portion Gangsta Rap mixt.

Die Historiker können dieses Geschehen mit Gelassenheit beobachten. Dass die Popkultur ihre eigene Geschichte in immer höheren Dosen inhaliert, erleichtert ihnen vielleicht das Geschäft. Die Vermarktung der Vergangenheit des Pop bringt neben viel Erinnerungskitsch manch interessante Quelle hervor. Sicher ist die Frage, ob die Ära der Popkultur zu Ende geht, nicht völlig abwegig. Die Digitalisierung scheint zumindest einen Bruch zu markieren, der alte Modelle der Distribution radikal in Frage stellt und den Tod der Musikindustrie in ihrer bisherigen Form in den Bereich des Wahrscheinlichen rückt. Bis die Popgeschichtsschreibung sich aber an Erklärungen für das vermeintliche Ende machen sollte, sind noch viele andere Fragen zu beantworten.

Es wäre auch übertrieben, bereits von einer Konjunktur der zeithistorischen Popforschung oder gar ihrem Siegeszug zu reden. Im Gegenteil. Im Vergleich zur Blüte anderer Forschungsfelder der Zeitgeschichte fällt auf, welches Nischendasein die Popgeschichte noch immer führt. Insofern geht es zunächst um etwas ganz Elementares: die zahlreicher werdenden Pioniere der Pophistory zusammenzubringen, einen Gesprächs- und Verständigungsraum über die theoretischen und methodischen Grundlagen des eigenen Tuns zu schaffen und die Forschungsrichtung auf Dauer und Geltung zu stellen. In diesem Sinne wurde mit der vom ZZF gemeinsam mit dem Arbeitskreis Popgeschichte vom 3. bis 5. November 2011 im Roten Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz veranstalteten Tagung „PopHistory. Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären“ ein Forum zu einer ersten Bestandsaufnahme und Vernetzung verschiedener Ansätze geschaffen.

Dabei zeigte sich: Die Zeichen stehen insgesamt nicht schlecht. Diejenigen, die über Pop forschen, bringen eigene Sozialisationserfahrungen ein und können letztere als Resonanzboden voraussetzen. Was schon für die Nachkriegszeit und die umbruchslangen 1960er-Jahre gilt, trifft erst recht zu, wenn die „Wanderdüne“ Zeitgeschichte nun die 1970er, 1980er und 1990er Jahre erreicht: Ohne Popkultur geht da gar nichts mehr. Es gibt inzwischen keine Tabus bei den Themen, und das Verständnis von Pop hat sich deutlich geweitet. Die Zeiten sind gottlob vorbei, wo bestenfalls die Abenteuergeschichten von Rock ´n´ Roll und politischer Revolte oder der hochkulturfähige Jazz die Weihen von ernstzunehmenden Themen erfuhren. Inzwischen ist es schick, über Punk, Disco, Mode und die ganzen anderen habituellen und performativen Welten der Popkultur und deren Wandel zu forschen.

Bodo Mrozek hat in einem Beitrag für „Spiegel Online“ darauf verwiesen, dass die alten Gegensätze zwischen elitärer Hochkultur und Massenunterhaltung für die unteren Schichten schon seit längerem aufgeweicht sind, nicht zuletzt durch die Beschäftigung von Vordenkern wie Greil Marcus, Jon Savage oder Diedrich Diederichsen mit der Popkultur. Plattensammeln und Fanwissen hätten ein ähnliches Prestige erlangt wie vormals die Klavierstunde oder der Museumsbesuch. Am Pop könne man „den kulturellen Wandel ablesen – etwa die Liberalisierung und Nivellierung traditioneller Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Schichten“.[1]. Aus dieser Perspektive öffnet sich ein breites Terrain für eine zeithistorische Forschung, die solche überholten kulturellen Dichotomien hinter sich lässt.

Aus der Feststellung, dass es nicht mehr ohne den Pop geht, wenn man den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts untersuchen will, sollte man jedoch keine falschen Schlüsse ziehen. Den Pop in den Rang einer neuen Meistererzählung zu erheben wäre falsch. Vielmehr geht es darum, dass die neu gewonnene Forschungsperspektive in andere Bereiche der Zeitgeschichte diffundiert. Dies gilt natürlich auch in die umgekehrte Richtung. Blickt man auf die wachsende Zahl der popgeschichtlichen Arbeiten und Projekte, so werden diese Transfers sichtbar: Geforscht und publiziert wird über Pop und Politik, Pop und Konsum, über Popgenerationen, Pop und Dekolonisierung, Pop und Medien, Pop im Kommunismus oder über Pop und Subjektivierungsprozesse.

Um die Popkultur zu historisieren, müssen eigene Begriffe, Konzepte und methodische Zugänge gefunden werden. Dabei gilt es, zur Kenntnis zu nehmen, was in den Nachbardisziplinen an theoretischen Zugängen bereits erarbeitet wurde, etwa in der Ästhetik oder der Kritik. Hier hat die Geschichte definitiv Nachholbedarf. Konsequente Historisierung heißt aber auch, dass die In- und Exklusionen der popintellektuellen Agenda-Setter zur Frage, was Pop ist oder zu sein hat, wie auch die damit verbundenen Diskursrituale selbst zum historischen Quellenmaterial werden. Der Satz von Benjamin von Stuckrad-Barre, Pop sei für ihn, „dass es wahnsinnig darauf ankommt, wann hört man das, von wem hört man das und wie sieht denn der Typ aus, der das sagt“, wäre im Sinne einer intellectual history des Pop zu historisieren.

Das ist für diejenigen, die plötzlich zum Forschungsgegenstand werden, gewöhnungsbedürftig – das wissen wir schon aus der Begegnung einer gegenwartsnäheren Zeitgeschichte mit den Diagnosen der Politik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Für die Pophistorikerinnen und Pophistoriker auf der anderen Seite bedeutet dies, nicht den Fehler zu machen, jene feinen Unterschiede, die der Pop als intellektuelle Strömung mit seiner „sophistication“ (Nadja Geer) postuliert hat, unreflektiert bei der Wahl der eigenen Forschungsgegenstände zu übernehmen. Berührungsängste gegenüber dem Mainstream, dem allzu Kommerziellen oder dem Banalen im Pop sind aus einer historiographischen Perspektive unangebracht.

Darüber, wie der Pop zeitlich zu verorten ist und welche Phänomene darunter zu fassen sind, gib es unterschiedliche Positionen. Da wird dann auch schon mal Mozart zum Pop erklärt und das Phänomen weit in die Geschichte zurückprojiziert. Eine zweifache Eingrenzung erscheint jedoch sinnvoll. Erstens sollte zwischen Pop und populärer Kultur unterschieden werden. Letztere wäre das aus historiographischer Perspektive breiter zu fassende Gebiet. Pop als Forschungsfeld hingegen sollte zunächst enger gefasst werden. Hier kann man sich an einem Verständnis orientieren, das Diedrich Diederichsen und andere entwickelt haben. Es zielt im Kern auf eine spezifische Form der elektroakustischen Musikproduktion, ihre Performanz und Verbreitung über die modernen Massenmedien und ist nicht normativ angelegt. Pop wäre demnach über spezifische Bedingungen seiner Produktion und Reproduktion sowie über seine performativen und habituellen Dimensionen zu fassen. Hinzu käme die Verschmelzung des Pop als Praxis mit den Diskursen über das Phänomen.

Daraus ergibt sich, zweitens, eine zeitliche Verortung des Pop, die seine Anfänge in den 1950er Jahren und seine Blütezeit im Kontext der Entwicklung der westlichen und zeitversetzt auch der östlichen Gesellschaften zu modernen Konsum- und Freizeitgesellschaften und einer fortschreitenden Medialisierung sieht. Pop könnte so als ein Phänomen untersucht werden, das die gesellschaftlichen Krisen- und Transformationsprozesse der Zeit „nach dem Boom“ begleitet. Auch dies ließe sich angesichts der kulturellen Transferprozesse in einer Ost und West verklammernden Perspektive untersuchen. Dabei wäre auch zu fragen, welche Rolle der Pop für die Erosion der inneren Bindungskräfte der staatssozialistischen Gesellschaften und für den Umbruch von 1989 gespielt hat.

Neben der Gretchenfrage, was wir eigentlich unter Pop in einer historischen Perspektive verstehen und wie er zeitlich zu verorten wäre, gibt es noch einige praktische Probleme für die pophistorische Forschung. Damit sich Zeitzeugenschaft und Historiographie nicht gegenseitig im Wege stehen, müssen diejenigen, die auf dem Gebiet der Popgeschichte arbeiten, ihre eigenen Sozialisationserfahrungen mit Pop kritisch als vorwissenschaftliche Prägungen reflektieren, um sie nicht unter der Hand zum Maßstab für die historische Betrachtung zu machen. Sonst könnte die begrüßenswerte Affinität zum methodischen Problem werden.

Eine Popgeschichte sollte auch technisch informiert sein und sich mit den sich wandelnden Medien der Produktion, Reproduktion und des massenhaften Konsums von Pop beschäftigen. Was bedeuteten etwa das Kofferradio, die Möglichkeit populäre Musiksendungen auf Tonband aufzunehmen, die Mobilität des von Sony eingeführten Walkmen, die erschwingliche Hi-Fi-Anlage im Wohnzimmer oder der Vormarsch von Musikkassette und CD für den Wandel von Kulturtechniken und die Diffusion des Pop in alle Lebensbereiche?

Nachzudenken wäre ferner darüber, wie wichtige Quellen der Popgeschichte dauerhaft gesichert und wie die Archive dafür sensibilisiert werden könnten. Oft sind es private Sammler oder Vereine, die sich um die Erhaltung popkultureller Überlieferungen bemühen, und die bedürfen der Unterstützung. In diesem Zusammenhang wäre auch über Mindeststandards für die Präsentation insbesondere der audiovisuellen Zeugnisse der Popgeschichte in Vorträgen und Publikationen zu reden: Wie zitiert man Schallplatten, und mit welchen Kontextinformationen sollte ein Videoclip versehen sein? Hinzu kommen die Fragen des Urheberrechts und der ganze Komplex der Digitalisierung bis hin zur Frage nach der Zukunft des Pop im Zeitalter des Internet.

All dies sind Aspekte, die bei der wünschenswerten Konjunktur pophistorischer Forschungen mitgedacht werden sollten. Die damit verbundenen Schwierigkeiten werden jedoch den Trend nicht stoppen können. Im Gegenteil. Die Popgeschichte wird auf absehbare Zeit einen festen Platz im Arsenal der Zeitgeschichte erobern. Darauf darf man in jeder Hinsicht gespannt sein.

Cover des ZZF-Jahresberichts 2011

Dieser Beitrag resümiert grundlegende Überlegungen der Tagung “PopHistory – Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären“  des Arbeitskreises Popgeschichte und des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) im November 2011. Er basiert wurde im soeben erschienenen Jahresbericht 2011 des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) abgedruckt.

[1] Vgl. Bodo Mrozek, Neuer Trend in der Geschichtswissenschaft. Verschwindet Pop in den Archiven?“ – Artikel auf Spiegel.de, erschienen am 12. September 2011 (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,783978,00.html).

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/227

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