Alles nur Spaß? Die Bedeutung des Stjob in den Texten und Auftritten von Graždanskaja Oborona

Ein gut erzogener Mensch spielt so, wie er erzogen wurde. Und wir unerzogenen Menschen können Jazz, Rock und Punk spielen. Wir können minimalistische und lärmende Musik spielen. (Egor Letov)

Egor Letov im November 2000 bei einem Konzert in Nürnberg, Foto: Alex Ex, CC BY-SA 3.0, via Wikmedia Commons

Egor Letov, der 1964 im russischen Omsk geboren wurde, gilt als Begründer des sibirischen Punkrocks und war bis zu seinem Tod 2008 einer der wichtigsten Musiker im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Mit seiner Band Graždanskaja Oborona prägte er drei Jahrzehnte der russischen Rockmusik. Gleichwohl ist Letov bis heute eine umstrittene Persönlichkeit, da er mit seiner stets unangepassten Haltung insbesondere den Unmut von staatlichen Autoritäten auf sich zog. Während andere sowjetische Rockmusiker bemüht waren, sich einen möglichst unpolitischen Anschein zu geben, versuchte Letov erst gar nicht, seine radikalen Ansichten zu verbergen.

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Quelle: http://erinnerung.hypotheses.org/1073

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Wie politisch war die Subkultur in Ost und West? Ein Streitgespräch (Podcast)


Cold War Nightlife – The Sound of Cold War Berlin

Podiumsdiskussion, Sage Club Berlin, 9. Juli 2015, 18-20 Uhr

Am Ende klang es fast wie Streit. Als Zeitzeugen aus Ost und West am Pool des Berliner Sage Clubs über die Sound-Geschichte des Kalten Krieges und das Nachtleben der geteilten Stadt diskutierten, lebten alte Gegensätze wieder auf. Einer Berichterstatterin erschien die Diskussion zeitweise wie “ein Wettbewerb zwischen Ost- und West-Punks”. “Der Osten war immer vorbereitet auf den Westen, der Westen aber – und das sieht man auch heute hier – nicht auf den Osten”, kritisierte etwa der Ost-Punk Henryk Gericke, verteidigte die DDR aber gleichzeitig gegen pauschale Kritik des West-Zeitzeugen Dr. Motte.

In einer ungewöhnlichen Kooperation haben der Sage Club gemeinsam mit der Berliner Humboldt-Universität, der University of North Carolina at Chapel Hill, dem Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und der Robert-Havemann-Gesellschaft ein Programm zusammengestellt, dass insbesondere interessierten Jung- und Neu-Berlinern einen Einblick in die aufregende Musikgeschichte der geteilten Stadt bieten sollte.



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Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1889

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Ohne Worte: Der Mittelfinger des Spitzenkandidaten. Zur Gegenwart einer körpergeschichtlichen Praxis der Provokation

Foto: Süddeutsche Zeitung Magazin 2013

Auf dem Cover des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“ prangt der Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und streckt dem Betrachter seinen Mittelfinger entgegen. Anlass zu der Geste war die provokative Suggestiv-Frage: „Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerlusconi – um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen, oder?“1Peer Steinbrück hatte sein Einverständnis zu einem „Interview ohne Worte“ gegeben und Fragen mit Gesten beantwortet — eine typische Magazin-Idee. Das als „Antwort“ auf die zitierte Frage entstandene Foto ist in jenem strengen Schwarz-Weiß gehalten, das normalerweise geeignet wäre, den in dieselben Farben gekleideten Kandidaten in das staatstragende Licht einer Foto-Historisierung zu entrücken. Sein Fingerzeig bewirkte das Gegenteil.

Schon die ersten Kommentare in der Halböffentlichkeit der sozialen Netzwerke zeugten von Erregung. Die obszöne Geste sei „eines Staatsmannes nicht würdig“, schrieb ein Kommentator. Steinbrück habe sein ohnehin berüchtigtes „cholerisches Naturell“ damit abermals unter Beweis gestellt, kommentierte ein anderer. „Steinbrücks Stinkefinger hat die Wahl entschieden“ – zu seinen Ungunsten, prophezeite gar die Zeitung „Die Welt“. Im Internet verbreitete sich das Bild mit der dem Medium eigenen Geschwindigkeit. Nachahmungstäter, darunter der Musikproduzent Tim Renner, fotografierten sich in eben jener “Rowdy-Pose” (“Stuttgarter Zeitung”). Montagen zeigen Steinbrück als E.T., den Außerirdischen mit dem Leuchtfinger, oder reduzierten die ohnehin schon wenig kontroverse Bundestagswahl 2013 auf eine zwischen zwei hohlen Gesten, dem erigierten Finger des Herausforderers und dem fromm wirkenden Merkel’schen Wai:

Sogar die ferne “New York Times” berichtete, traute sich aber nicht, das corpus delicti abzubilden und wich stattdessen auf ein Bild des Steinbrück’schen Zeigefingers aus. Dazu zitierte die NYT den deutschen Minister Philipp Rösler (FDP), der die „gesture“ für „unworthy“ befand. In der puritanisch geprägten Öffentlichkeit der USA ist die phallische Geste weit stärker tabuisiert als hierzulande. Warum aber provoziert die schlichte Handbewegung so sehr? Und in welche Traditionen schreibt sich Steinbrück hier ein? Die Körpergeschichte plädiert seit langem dafür, auch Haltungen und Gesten dieselbe Aufmerksamkeit wie Texten zu schenken. Die Steinbrück’sche Pose scheint ein Paradebeispiel für den Ausdruck einer langen körpergeschichtlichen Tradition der Pop- und Protestgeschichte in der unmittelbaren politischen Gegenwart.

In der universalen Gebärdensprache zur Herabwürdigung von Personen steht die Geste für die wenig freundlichen Worte “f*ck you” und ist daher volkstümlich auch als “Stinkefinger” bekannt. Der wohl bekannteste pophistorische Fall eines öffentlich vorgezeigten Fingers in der Popgeschichte ist der des Country-Sängers Johnny Cash. Gemeinsam mit Carl Perkins, Sleepy LaBeef und nicht zuletzt Elvis Presley war Cash in den fünfziger Jahren im Sun-Studio des Produzenten Sam Phillips bekannt geworden. Wie andere „Classic Rocker“ durchlitt er nach der kurzen Blütezeit des Rock’n’Roll eine weniger erfolgreiche Phase, in der er sich vom Rythm&Blues und Rockabilly auf Country-Musik umorientierte. Nachdem das Establishment der Country-Musik in Nashville ihn Jahre lang als Außenseiter behandelt hatte, “bedankte” sich Cash 1996 nach seinem mit einem Grammy gekrönten Come-Back mit einer ganzseitigen Anzeige im Billboard-Magazine. Darauf ist ein bei seinem berühmten Konzert im Gefängnis von St. Quentin entstandenes Foto zu sehen, dass ihn mit wutentbranntem Gesichtsausdruck und ausgestrecktem Mittelfinger zeigt. Dazu setze sein Management den bitter-ironischen Kommentar: „American Recordings and Johnny Cash would like to acknowledge the Nashville music establishment and country radio for your support.”

Ein aufmerksamkeitsökonomischer PR-Gag seines neuen Produzenten Rick Rubin, den man wohl nur vor dem Hintergrund der Prüderie der amerikanischen Gesellschaft versteht, die Four-Letter-Words mehr zu fürchten scheint, als den Privatbesitz von Schusswaffen. Einige Jahre später folgte der Country-Musiker Willie Nelson nach — indem auch er den Mittelfinger reckte. Als die Bekleidungskette „Urban Outfitters“ unlängst die Fotos von Cash und Nelson auf T-Shirts druckte, kam es zu einem Streit – um das Copyright.

Tatsächlich gehörte die Pose schon länger zum Pop. Der Sex Pistols-Musiker Johnny Rotten hatte sie als typische Handbewegung des Punk bekannt gemacht. Der Gestus gehörte bald zum Standard-Repertoire der Provokations-Kultur und prangte auf Schallplatten- und Fanzine-Covern.

Dass er aber bis heute keineswegs normal ist, bewies erst im Jahr 2012 die Sängerin M.I.A. Als sie gemeinsam mit der 53-jährigen Pop-Ikone Madonna beim Super Bowl in Indianapolis auftrat, zeigte M.I.A. einem Kamera-Mann ihren Finger und erntete dafür prompt einen Sturm der Entrüstung. Der Fernsehsender verpixelte das Bild nachträglich in einem Akt der Zensur und entschuldigte sich bei den Zuschauern, weil es nicht ganz gelang, „die unpassende Geste zu verdecken“. Da half es wenig, dass sich M.I.A. entschuldigend auf die lange Tradition des Punk berief: In den USA ist die sexualisierte Handbewegung noch nicht vorzeigbar.

In Deutschland mag sich dies nun ändern.

„In Gesten und Körperhaltungen, aber auch im Erfahren des Körpers und im Umgang mit ihm kommen [..] Verstehensweisen zum Ausdruck; sie sind geradezu in ihm eingeschrieben“, schreibt Hartmut Rosa.2 Derart verkörpertes Wissen, so der Soziologe im Anschluss an Taylor und Bourdieu, präge unseren Habitus. Inkriminierte Gesten und Körperpraktiken, das lässt sich anhand von vormals als obszön gebrandmarkten Tänzen wie dem Twist studieren, werden meist dann enttabuisiert, wenn sie von prominenten Personen der Zeitgeschichte medienwirksam inszeniert werden. Es mag zunächst schwer fallen, eine habituelle Linie von Johnny Rotten und Johnny Cash über M.I.A. zu Peer Steinbrück zu ziehen. Aus zeithistorischer Perspektive muss man aber wohl oder übel davon ausgehen, dass der deutsche Politiker seinen Körper mit einer einzigen Geste in eine lange popgeschichtliche Tradition eingeschrieben hat. Damit dürfte über kurz oder lang ein weiteres Tabu fallen, das jahrzehntelang zur Provokation taugte. What’s next?

  1. Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 37 vom 13. Dezember 2013.
  2. Hartmut Rosa: Identität und kulturelle Praxis.  Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt/Main, New York: Campus 1998, S. 147.

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/991

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Projektskizze: “Wütende Gemeinschaften. Die Kultivierung von Emotionen in der Musikkultur von Punk bis Grunge”

Mit dem Aufkommen der Punkmusik und -kultur Mitte der siebziger Jahre erhielt ein neues Phänomen Einzug in die Geschichte der Populärmusik: öffentlich zur Schau gestellte und intensiv ausgelebte Wut. Davon ausgehend lässt sich eine Entwicklung musikalischer Stilrichtungen erkennen, in denen das Transportieren und teils extrovertierte Ausleben ablehnender, anklagender Emotionen unerlässlicher, wenn nicht zentraler Bestandteil ist. Die Entstehung von Punk markiert damit, nicht allein musikhistorisch, einen Wendepunkt, von dem aus sich bis heute eine Vielzahl von Genres und KünstlerInnen der expressiven Darstellung von Wut, Zorn oder Hass als zentralem Element ihres Schaffens widmen (bspw. Punk, Hardcore, Heavy Metal oder Grunge).

Zusammenhängend mit der Entwicklung einer „wütenden Musikkultur“ bildeten und bilden sich Gemeinschaften, die auf verschiedene Weise und in verschiedenen Kontexten mit einer Vielzahl von Praktiken mit Musik und KünstlerInnen interagieren. Dabei ist davon auszugehen, dass in den Konstitutionsprozessen dieser Gemeinschaften, beispielsweise in Peer‐Groups, Emotionen eine tragende Rolle zukommt – unabhängig davon, ob sie situativen Charakter wie bei Konzerten haben oder langfristige Beziehungen darstellen. Die nähere Untersuchung dieses Zusammenspiels von Musik, Emotionen und Gemeinschaft im Kontext einer „wütenden Musikkultur“ in Deutschland und Großbritannien stellt den zentralen Aspekt dieses Projekts dar.

Empirisch richtet sich der Fokus des Projekts vor allem auf Selbsterzeugnisse der zu untersuchenden Szenen, darunter Fanzines, Interviews, Musikvideos oder Performances. Anhand der Identifizierung und Analyse von szenespezifischen Praktiken und Diskursen soll untersucht werden, wie bestimmte Formen von Emotionalität in diesen (sub-)kulturellen Kontexten geprägt beziehungweise hervorgebracht werden und welche Rolle diese Emotionen bei der Konstitution von Gemeinschaften spielen. Das theoretische Fundament der Arbeit bilden vor allem Auseinandersetzungen mit Fragen der Subjektivierung und neuere Ansätze der historischen Emotionsforschung.

Die zentralen Fragestellungen des Projekts lauten:

Wie wird aufgrund der musikalischen und performativen (Re‐)Präsentation von wütenden Emotionen die Entstehung von (emotionalen) Gemeinschaften initiiert? Welche Rolle spielen andere Emotionen, die im assoziativen Umfeld von Wut rangieren (Aggressivität, Hass, Zorn etc.) bei der Konstruktion von Gemeinschaften im Kontext einer „wütenden Musikkultur“?

Das Dissertationsprojekt wird im Rahmen der Forschungsgruppe “Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen im Musikleben Europas” am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung bearbeitet. Betreuer sind Dr. Sven-Oliver Müller (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung) und PD Dr. Jochen Bonz (Universität Bremen).

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/428

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Kurzer Prozess: Die Verfolgung von Jugendkulturen als “Rowdies” hat eine lange Geschichte

Das drakonische Urteil gegen die Musikerinnen der russischen Punk-Band Pussy Riot vom 17. August 2012 hat eine lange Vorgeschichte. Schon im Zarenreich und im Staatssozialismus diente der Vorwurf des “Rowdytums” der Unterdrückung von Jugendkulturen. 


Politische Urteile gibt es viele in Russland. Die Verurteilung der drei jungen Frauen des russischen Punk-Kollektivs Pussy Riot aber erregt weltweit Empörung. Menschen fühlen sich angesprochen, weil die Musik auch ihre eigene ist, das macht das Urteil für viele zu einer höchstpersönlichen Angelegenheit. Das Moskauer Urteil gegen die Musikerinnen wird nicht nur Geschichte machen, es hat auch eine. Die Entscheidung der Richterin steht in einer langen und unrühmlichen rechtshistorischen Tradition autoritären und antiliberalen staatlichen Handelns. Dies belegt schon der Tatbestand des „Rowdytums“, unter dem die Anklage stand. Der Vorwurf des „Chuliganstvo“ hat eine lange Vorgeschichte.

Bereits im Kommunismus spielte er eine wichtige Rolle bei der Verfolgung politischer Gegner, wie der Regensburger Rechtswissenschaftler und Osteuropa-Experte Friedrich-Christian Schroeder schon in den sechziger Jahren herausarbeitete. Schroeder fand Ursprünge in revolutionärer Zeit, etwa im Aufruf „An die Bevölkerung“ vom November 1917: „Errichtet strengste, revolutionäre Ordnung, unterdrückt gnadenlos die Versuche zur Anarchie von Seiten der Säufer, Rowdys, konterrevolutionären Junker, Kornilow-Leute und dergleichen“, hieß es da in revolutionärem Duktus. Der Autor des Manifestes war Wladimir Iljitsch Lenin.

Ein Mittel zur Rechtfertigung juristischer Willkür

Dass Lenins Formulierungen nicht nur Revolutionsrhetorik waren, bewies er zwei Monate darauf, als er sie in einer Schrift über den Wettbewerb wiederholte. Dort gelten die „Rowdys“ gemeinsam mit den Reichen, Gaunern und Schmarotzern als „Auswurf der Menschheit“, als „rettungslos verfaulte und verkommene Elemente“. Die „Seuche, diese Pest, diese Eiterbeule“ sei eine Hinterlassenschaft des Kapitalismus, die beseitigt werden müsse.

Ein Dekret vom Februar 1918 setzte die expressive Prosa in konkrete Handlungsanweisungen um: Danach waren Rowdys ebenso wie feindliche Agenten und deutsche Spione „am Ort des Verbrechens zu erschießen“. Worin genau das Rowdytum bestand, definierten immer neue Erlasse immer wieder neu. Dabei ging es nicht nur um den Kampf gegen Zerstörungen und Schlägereien unter Alkoholeinfluss, die traditionell als Problem galten. „Chuliganen“ waren nicht nur Gewalttäter. Eine Verordnung von 1923 definierte als Rowdytum jene „Handlungen, die von einer offensichtlichen Missachtung der Gesellschaft begleitet sind, insbesondere Unfug jeder Art, Ausschreitungen, grobes Schimpfen“. Für die Revolutionstribunale der jungen Sowjetmacht hatten derart dehnbare Definitionen die wichtige Funktion, kurzen Prozess mit all jenen machen zu können, die nicht ins gängige Raster staatlicher Verfolgung passten.

Schon Lenin verstand „Rowdys“ als „Auswurf der Menschheit“Auch in der postrevolutionären Phase der Stabilisierung des Sowjetsystems blieb der Rowdy-Paragraph ein wirksames Mittel zur Rechtfertigung juristischer Willkür. Zwar wurden tatsächliche oder vermeintliche Rowdys nun nicht mehr erschossen, sondern mit Geld- und Freiheitsstrafen oder mit Verbannung bestraft. Doch sieht der Sowjetrechtsexperte Schroeder in der unter Stalin vollzogenen Konsolidierung eine „frostige Erstarrung unter Beibehaltung fast aller kriegsbedingten Verschärfungen der Repression“. Nach Stalins Tod wurde 1956 unter Chruschtschow das Rowdytum in schwere und minderschwere Delikte unterteilt und letztere mit leichten Strafen, etwa kurzer Haft, belegt. Was wie eine Entschärfung aussah, war tatsächlich ein Mittel für massenhafte Einschüchterung.

„Liquidierung des Rowdytums“

Wie der Historiker Brian Lapierre vor einigen Jahren in den „Cahiers du Monde Russe“ analysierte, war die Kampagne gegen Rowdys nun nicht mehr ein Instrument, um vermeintliche Staatsfeinde mit schweren Strafen aus dem Verkehr zu ziehen. Nun konnten Menschen wegen minderschwerer Vergehen mit kurzen Strafen belegt werden, dies aber in großem Ausmaß. Die Verurteilungen überschritten in den fünfziger Jahren die Millionengrenze. Eine „minderschwere Strafe“ konnte etwa in zwei Wochen Arbeitslager bestehen. Die vage Beschreibung des Rowdytums umfasste auch Verstöße gegen Ruhe und Ordnung, „respektloses Verhalten gegenüber anderen Bürgern“ sowie „Obszönitäten und Ungehörigkeiten“ aller Art.

Diese Gummiparagraphen waren keineswegs neu. Zwar betonten die Gesetzgeber der Sowjetunion gern den radikalen Bruch zur Justiz des Zarenreiches, doch kannte bereits das zaristische Recht „Vergehen wider die Wohlanständigkeit, Ordnung und Ruhe“, das sich allerdings vom sowjetischen Recht durch minder drastische Strafen unterschied. Der Rowdyparagraph war nicht auf die Sowjetunion allein beschränkt. Jüngere Wissenschaftler wie der Prager Historiker Matej Kotalik erforschen derzeit, inwieweit sowjetisches Strafrecht auch die Bestimmungen anderer sozialistischer Staaten prägte.

In der DDR etwa galten die Anstrengungen der Volkspolizei um 1960 ebenfalls verstärkt der „Liquidierung des Rowdytums“ und der „Zersetzung“ jugendlicher Gruppen mit nachrichtendienstlichen Methoden. Gemeint waren damit jugendliche Fans amerikanischer Musik, die sich zu Clubs und Bands zusammengeschlossen hatten. Brigaden des SED-Zentralkomitees, zu denen lokale Partei- und FDJ-Funktionäre gehörten, gingen seit 1960 gegen Fanclubs und „halbstarke Verhaltensweisen“ vor, zu denen auch das Praktizieren westlicher Tänze oder Verstöße gegen die Bestuhlungsvorschriften auf Konzerten gehören konnten. Einen Höhepunkt hatten diese Restriktionen in der Zwangsauflösung von Gitarrenbands 1965, gegen die Jugendliche in Leipzig demonstrierten und darum zu teils drakonischen Strafen verurteilt wurden. Als Tatbestand ging das Rowdytum 1968 in das Strafgesetzbuch der DDR ein. Der Paragraph 215 ahndete Vergehen wie nächtliche Ruhestörung, Verstoß gegen die Veranstaltungsordnung und „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“. Er wurde als sogenannter Rowdy-Paragraph berüchtigt.

Wachsendes Unverständnis

Immer wieder wurde er zur Unterdrückung unerwünschter kultureller Aktivitäten genutzt. In den fünfziger Jahren waren es die Halbstarken, in den Sechzigern und Siebzigern jugendliche „Gammler“, die auch dann als „Arbeitsbummelanten“ verfolgt wurden, wenn sie über ein einträgliches Einkommen etwa als Musiker oder Gelegenheitsarbeiter verfügten. In der Sowjetunion ging man ähnlich vor, in Ungarn und Tschechien war die Jugendpolitik etwas toleranter. Doch auch im Westen erklang der Ruf nach „Arbeitslagern für Langhaarige“ nicht nur aus dem Volksmund der Nachkriegsgesellschaft. Ein Gutachten der Weltgesundheitsorganisation erwog um 1960 militärische Trainingscamps für „antisoziale“ Jugendliche, die rauchen und trinken.

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Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/389

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