Tagungsbericht: Editionsreihen von Regierungsakten im internationalen Vergleich

Unter dem vielsagenden Titel „Zwischen Unverzichtbarkeit und Ungewissheit: Editionsreihen von Regierungsakten im internationalen Vergleich“ fand am 22. Oktober 2013 am Österreichischen Staatsarchiv in Wien ein Workshop statt, zu dem dieses zusammen mit dem Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung (INZ) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eingeladen hatte. Ziel der Veranstaltung war vor allem die Bestandsaufnahme und Bewusstseinsbildung zu Stand und Perspektiven der Regierungsakteneditionen in Österreich, wozu auch der Vergleich mit derartigen Unternehmen in Deutschland und der Schweiz beitragen sollte.

Das Programm der Veranstaltung finden Sie hier.

Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867, Bd. 2/4

Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867, Bd. 2/4

Nach Begrüßungsworten vom Direktor des INZ, Michael Gehler, wurde die Tagung mit einem Impulsreferat von Waltraud Heindl eröffnet. Die pensionierte Universitätsprofessorin, bekannt unter anderem für ihre Forschungen zur Geschichte der Bürokratie in Österreich1 und des Frauenstudiums, war auch lange Zeit Mitarbeiterin an der Edition der Ministerratsprotokolle der Habsburgermonarchie. Sie begann mit der Feststellung, Editionen seien „das ungeliebte Kind“ unter den wissenschaftlichen Großprojekten. Politische Ansprüche, die sich auf eine einseitig ökonomisch verstandene „Anwendbarkeit“ richteten, und organisatorische Paradigmen, die jede langfristige Bindung von Mitteln zu vermeiden suchten, hätten schon die Vorstellung von Langzeitvorhaben den Entscheidungsträgern „unbegreiflich“ gemacht. Demgegenüber stellte sie die kritische Textedition als wissenschaftliche Tradition heraus, die aus dem Historismus des 19. Jahrhunderts komme – einer Zeit, in der die Historie eine Leitwissenschaft der europäischen Gesellschaften und das allgemeine Bewusstsein der Gebildeten in weit höherem Maße historisch geprägt gewesen sei als gegenwärtig. Die damals entwickelten Standards und Methoden seien allerdings keineswegs ausschließlich für die Geschichtswissenschaft, sondern für den gesamten Bereich der Geistes-, Kultur- und Rechtswissenschaften gültig geblieben. Die Edition strebe einerseits danach, aus einer schwer zugänglichen Quelle einen leicht und zuverlässig abrufbaren „Wiedergebrauchstext“ zu machen, andererseits sei ein bloßer Abdruck keine Edition, sondern als unverzichtbarer Bestandteil gehöre zu dieser auch die wissenschaftliche Aufbereitung durch kritische Textgestaltung, Regestierung, Kommentierung und Einleitung. Das Vorgehen habe dabei nicht dem Ermessen zu unterliegen, sondern an Richtlinien gebunden zu sein, die im voraus festgelegt und auch den Benutzern deutlich gemacht werden. Dementsprechend, so Heindl, seien „nur die besten Historikerinnen und Historiker gut genug, um editorisch tätig zu sein“. Im Übrigen würden auch der cultural und der linguistic turn in der Geschichtswissenschaft das Bedürfnis nach solide ausgeführten Texteditionen keineswegs reduzieren, sondern im Gegenteil erhöhen – schließlich könne niemand Texte dekonstruieren, wenn keine zur Verfügung stehen. Sie schloss mit einem Plaidoyer erstens dafür, den Entscheidungsträgern in politischen Ämtern und Förderinstitutionen den Wert von Editionen verständlich zu machen, und zweitens dafür, auch an den Universitäten wieder mehr die Fähigkeiten in der Lehre zu berücksichtigen, die EditorInnen bräuchten.

Im Folgenden wurden zwei deutsche, ein schweizerisches und drei österreichische Großvorhaben jeweils von ihren Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern vorgestellt. Bärbel Holtz, Leiterin des Akademievorhabens „Preußen als Kulturstaat“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, sprach über die von 1994 bis 2003 durchgeführte Edition der Protokolle des Preußischen Staatsministeriums. Hier war eine durchgehende Überlieferung über mehr als ein Jahrhundert (1817–1934/38) zu bearbeiten, wobei die Vorgaben des Fördergebers – die Finanzierung erfolgte aus dem Akademienprogramm – von Beginn an klarstellten, dass eine limitierte Projektzeit einzuhalten und eine Volltextedition jedenfalls ausgeschlossen war. Zentral für die Lösung dieser Aufgabe war ein Editionskonzept, das eine Mischung aus überwiegend standardisierter regestenförmiger Wiedergabe und der Übernahme einzelner besonders signifikanter Ausdrücke aus dem Originalwortlaut vorsah. Dank dieser kompakten Präsentationsweise nimmt ein Protokoll in der Regel nur eine Druckseite ein. Der wissenschaftliche Wert liegt daneben aber auch in einem sehr eingehend gestalteten Anmerkungsapparat, der möglichst umfassend auf bezügliche Akten sämtlicher Ministerien verweist, und in den kommentierten Registern, wobei vor allem das Personenregister geradezu eine Prosopographie der bis dahin schlecht erforschten preußischen Beamtenschaft wurde und inzwischen gerne als solche benutzt wird. Die 12 Bände in insgesamt 17 Teilbänden sind heute vollständig und unentgeltlich online zugänglich.

Hanns Jürgen Küsters, Professor an der Universität Bonn und Hauptabteilungsleiter Wissenschaftliche Dienste bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, berichtete über die lange, aber keineswegs geradlinige Geschichte der Edition der „Dokumente zur Deutschlandpolitik“. Er hob hervor, wie unmittelbar dieses Unternehmen nicht nur in seiner Entstehung, sondern auch in Detailentscheidungen über Zielsetzungen und Editionsplan von konkreten politischen Darstellungs- und Legitimationsinteressen abhängig war und ist – ein Umstand, der zu einer (so Küsters wörtlich) „verkorksten“ Reiheneinteilung und Erscheinungsfolge der Bände geführt habe. Die Arbeitsgruppe unterstand direkt dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, später dem Bundesinnenministerium; andere Ministerien zeigten sich freilich nicht immer kooperativ bei der Bereitstellung amtlicher Schriftstücke. Küsters ging auch auf die großen Probleme der Auswahl der Dokumente ein, zumal auch ausländische Bestände nach Möglichkeit herangezogen werden; das „Zauberwort ‚Schlüsseldokumente‘ “, meinte er augenzwinkernd, stehe zwar in jedem Antrag und Projektbericht, eine Definition sei ihm aber noch nicht untergekommen.

Ursina Bentele präsentierte die Edition „Diplomatische Dokumente der Schweiz“. In den 1970er Jahren zunächst als interuniversitäre Initiative entstanden, ist sie heute ein Unternehmen der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften. Die erste Reihe mit 15 Bänden zum Zeitraum 1848–1945 ist abgeschlossen; die Edition der Dokumente ab 1945 erfolgt parallel in Form der Datenbank DODIS und gedruckter Bände, in die freilich nur ein Teil der in der Datenbank bearbeiteten Stücke im Volltext eingeht – die Bücher erhalten so die Funktion von „Wegweisern“ zur Datensammlung. Die Forschungsleistung der Editionsgruppe, so Bentele, bestehe aber auch noch unter diesen Umständen zu einem beträchtlichen Teil in der Reduktion des verfügbaren Materials auf die präsentierte Auswahl: Für einen Band, der drei Jahre Schweizer Außenpolitik abdeckt, würden etwa 600 Laufmeter Akten oder rund 1,5 Millionen Schriftstücke gesichtet.

Screenshot eines Rechercheergebnisses aus DODIS

Screenshot eines Rechercheergebnisses aus DODIS

Von österreichischer Seite wurde zunächst die Edition der Ministerratsprotokolle der Habsburgermonarchie von Stefan Malfèr und Thomas Kletečka vorgestellt. Als Gemeinschaftsunternehmen österreichischer und ungarischer HistorikerInnen nahm sie ihren Anfang in den späten 1960er Jahren; die erste Serie, enthaltend die Ministerratsprotokolle der Jahre 1848 bis 1867, ist heute mit insgesamt 26 Bänden nahezu abgeschlossen, die letzten zwei sind bereits in Vorbereitung. Ähnlich steht es um die in Ungarn edierten Protokolle des gemeinsamen österreichisch-ungarischen Ministerrats von 1867 bis 1918. Die dritte Serie mit den Protokollen des „cisleithanischen“ Ministerrats aus der Zeit der Doppelmonarchie ist auf lediglich elf Bände kalkuliert, weil ein erheblicher Teil der Vorlagen beim Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 zerstört oder beschädigt wurde. Malfèr hob hervor, dass der hohe Standard – er bekannte sich insbesondere zur Volltextedition und zum ausführlichen wissenschaftlichen Kommentar einschließlich Verweisen auf Bezugsakten und Forschungsliteratur – zwar für die lange Bearbeitungsdauer mitverantwortlich sei, die immer wieder der Verteidigung bedurft habe, aber auch ein entscheidendes Kriterium für den Wert und die sehr positive Aufnahme der Edition in Fachkreisen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung liefere unvermeidlich auch bereits erste Ergebnisse hinsichtlich einer Interpretation des Regierungshandelns, in diesem Fall etwa für eine Neubewertung der Leistungen und Versäumnisse des „Neoabsolutismus“ der 1850er Jahre oder des Oktoberdiploms von 1860. Die Arbeit der Gruppe verstehe sich damit auch als Beitrag zu einer von ideologischen Verzerrungen und Ressentiments „entrümpelten Erinnerungskultur“ zur Habsburgermonarchie, so Kletečka.

Gertrude Enderle-Burcel überschrieb den von ihr gemeinsam mit Hanns Haas und Alexandra Neubauer-Czettl vorgetragenen Bericht über die Ministerratsprotokoll-Edition zur Republik Österreich bewusst provokativ mit „Blick zurück im Zorn“. Bei Beginn des Unternehmens in den 1970er Jahren habe zwar seitens des Bundeskanzlers Bruno Kreisky und der Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg ein klares politisches Bekenntnis zur Notwendigkeit der Bearbeitung bestanden, die Finanzierung und Ausstattung der Arbeitsgruppe sei jedoch von Beginn an unzulänglich gewesen, und dies habe sich im Laufe der Zeit nur noch verschärft. Nie habe es mehr als einen festen Dienstposten für das Vorhaben gegeben; die zwischen Bundeskanzleramt und Wissenschaftsministerium geteilte Zuständigkeit habe es beiden Behörden immer wieder erleichtert, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Die Basisfinanzierung wurde schließlich nach jenem desaströsen Regierungsbeschluss von Oktober 2010, der zur Einstellung jeglicher Förderung des Bundes für außeruniversitäre Forschung führte, gestrichen. Derzeit gebe es noch eine Finanzierung durch die Gemeinde Wien in Form jährlicher (!) Förderverträge sowie eine Projektfinanzierung des Bundeskanzleramtes für die Digitalisierung und Transkription der Unterlagen. Dabei handle es sich – was im Grunde selbstverständlich sein müsste – um Quellen von höchster Wichtigkeit und großer Aussagekraft, deren Bearbeitung allerdings hohe Ansprüche stelle, da auch die Originalmitschriften zu berücksichtigen sind, in denen vieles enthalten ist, was in die Reinschriften keine Aufnahme fand. Diese Mitschriften freilich sind in Gabelsberger Kurzschrift aufgezeichnet worden, die heute nur noch von wenigen ExpertInnen gelesen wird. Die Zukunft des Unternehmens sei derzeit höchst ungewiss; nach den 23 erschienenen Bänden wären noch 29 weitere nötig, um auch nur die Erste Republik abzuschließen, eine zweite Reihe zur Zweiten Republik steht noch in den Anfängen.

Etwas versöhnlicher klang die Präsentation der „Außenpolitischen Dokumente der Republik Österreich“ durch Klaus Koch, Walter Rauscher und Elisabeth Vyslonzil. Dieses Gegenstück zu den „Diplomatischen Dokumenten der Schweiz“ wurde um 1990 – lange nach dem Einsetzen ähnlicher Projekte in vielen anderen europäischen Staaten2 – angestoßen. Der von Beginn an schlanke Editionsplan, der für den gesamten Zeitraum der Ersten Republik 12 Bände vorsah, ist durchgehalten worden; acht Bände sind erschienen, zwei im Druck, die letzten beiden in Vorbereitung.

Der durch diese Präsentationen geschaffene Überblick zeigte zwar, dass auch in Deutschland und der Schweiz für langfristige Editionsprojekte der Himmel nicht immer voller Geigen hängt, dass aber doch die Situation in Österreich besonders unbefriedigend ist. Während die preußischen Staatsministeriumsprotokolle von fünf Promovierten bearbeitet wurden und DODIS acht wissenschaftliche MitarbeiterInnen beschäftigt, kann keine der genannten österreichischen Unternehmungen darauf zurückblicken, jemals mehr als drei Dienstposten besessen zu haben. Fördermodelle mit zehn- oder zwölfjähriger Laufzeit gibt es in Österreich schlichtweg nicht. Ein Großteil der Finanzierung erfolgte in allen drei Fällen über Jahrzehnte hinweg in Form aneinandergereihter dreijähriger Projekte, bei jeweils neuer Beantragung und Begutachtung. Die Zukunft aller drei Editionen ist völlig offen; für keine gibt es derzeit eine Finanzierung über das Jahr 2014 hinaus.

Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Geschäftsführerin Dorothea Sturn), der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Brigitte Mazohl, Präsidentin der Philosophisch-historischen Klasse) und des Österreichischen Staatsarchivs (Gertrude Enderle-Burcel) sowie einer Beamtin des Wissenschaftsministeriums (Ursula Brustmann), die freilich bereits eingangs erklärte, nicht für die politische Ebene des Ressorts sprechen zu können, sondern nur den Standpunkt der dortigen FachbeamtInnen zu repräsentieren. Als Leitfragen wurden ausgegeben: „Wie kann politisches Interesse für Editionen gefördert werden? Welche Wünsche der Öffentlichkeit an Editionen sind zu berücksichtigen? Wie kann die nötige Finanzierung eingeworben und verstetigt werden?“

Ein niederschmetternd einmütiger Befund war zunächst der, dass es um das politische Interesse für Wissenschaft im Allgemeinen, Geisteswissenschaften im Besonderen und speziell für Editionen in Österreich derzeit schlecht bestellt respektive dieses überhaupt nicht vorhanden sei. Hinsichtlich der derzeit laufenden Verhandlungen über eine Regierungsbildung nach den Nationalratswahlen im September wurden zudem von mehreren Seiten Befürchtungen laut, dass eine Zusammenlegung des Wissenschaftsministeriums mit anderen Ressorts, vielleicht auch eine Trennung der Universitäts- von den Forschungsagenden zu befürchten sei. Dass von Seiten der Wissenschaft mehr Arbeit zur Bewusstseinsbildung nötig sei, blieb angesichts dessen unbestritten. Dazu wurden von verschiedenen Seiten Vorschläge vorgebracht, teils organisatorischer Natur – Vernetzung laufender Editionsvorhaben zu einer Plattform zwecks gegenseitiger Information und koordinierter Medien- und Lobbyarbeit (Mazohl; von vielen Seiten begrüßt) –, teils inhaltlicher Art, etwa die Idee einer Betonung des Werts von Staatsakteneditionen als Instrument der Demokratieerziehung (Küsters). Manches war wohl auch eher sarkastisch gemeint, etwa die Frage von Waltraud Heindl, ob es zielführend sei, die Namen politischer Entscheidungsträger ähnlich groß und sichtbar außen auf Editionsbände zu schreiben, wie die Namen der Bürgermeister auf Wiener Gemeindewohnbauten stehen.

Gedenktafel Bieler Hof

“Ediert aus den Mitteln der Republik Österreich in den Jahren 2017–2020 unter der Bundeskanzlerin X und dem Bundesminister für Wissenschaft Y”? (Photo: Bauinschrift des Bieler-Hofes in Wien 21. Quelle: Wikimedia Commons/Herbert Josl)

In institutioneller Hinsicht waren sich die Diskutierenden einig, dass die bestehenden Fördermodalitäten des FWF (als inzwischen nahezu einzig verbliebener Agentur zur Förderung der Geisteswissenschaften in Österreich) für langfristige Editionsprojekte wenig geeignet sind. Ob es Aufgabe des FWF sei, eine derartige Förderschiene in sein Programm aufzunehmen3, war hingegen umstritten. Von manchen wurde dies mit Nachdruck gewünscht, die FWF-Vertreterin sah eine solche Ausweitung der Tätigkeit angesichts der aktuellen Ressourcenausstattung des Fonds jedoch für die absehbare Zukunft als nicht diskutabel an4. Als Trägerinstitution größerer Vorhaben sahen fast alle, angesichts der weiterhin sehr ungünstigen Bedingungen für die Schaffung neuer außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, in erster Linie die Akademie der Wissenschaften gefragt. Nach den Worten ihrer Vertreterin wäre diese dazu gerne bereit – entsprechende Budgetmittel vorausgesetzt, womit natürlich wieder die politische Ebene angesprochen war.

Diskutiert wurde auch, inwiefern sich die Rahmenbedingungen auf editorische Tätigkeit selbst auswirken müssten. Von außen ist immer wieder der bloße Abdruck von Texten ohne wissenschaftlichen Apparat empfohlen, nicht selten auch gefordert worden, wie etliche Anwesenden berichten konnten. Allen Teilnehmenden der Veranstaltung war jedoch klar, dass hierin keine Lösung liegen kann, sondern gerade die wissenschaftliche Aufarbeitung den Mehrwert der editorischen Arbeit ausmacht: Indexierung schafft erst die Möglichkeit einer Benutzung zu vorgegebenen Themen, der Nachweis der bisherigen Literatur führt an den Forschungsstand heran und Verweise auf weitere Akten ermöglichen weiterführende Forschung. Ein Textabdruck oder auch eine Sammlung von Digitalisaten ohne alles dieses ist dagegen ein unbenutzbarer Datenwust. Dies müsste freilich auch außerhalb von Fachkreisen klar gemacht werden. Gertrude Enderle-Burcel gab unerquickliche Anekdoten aus ihren Verhandlungen mit Beamten des Bundeskanzleramts zum Besten: Es sei von ihren Gesprächspartnern als unverständlich bezeichnet worden, wie jemand ein oder gar zwei Jahre an einem Editionsband „herumnudeln“ könne; es sei nach den Kosten pro Seite, ja nach Kosten pro Anmerkung gefragt worden; schließlich erscheine die (bereits erwähnte) Finanzierung für die Digitalisierung und Transkription der Protokolle zwar ihr und ihren KollegInnen als Vorarbeit für eine Edition, dem Fördergeber jedoch anscheinend als abschließende Erledigung des Anliegens. Selbst die Anlage eines Registers sei für überflüssig befunden worden, denn wenn die Transkripte online verfügbar seien, gebe es ja die Möglichkeit der Volltextsuche – in ungefähr 13.000 Seiten …

Die neuen technischen Möglichkeiten der Bearbeitung und Präsentation wurden von allen als unverzichtbar eingestuft, etliche Stimmen riefen allerdings nach einer differenzierten Abwägung von Kosten und Nutzen. Auf Online-Präsenz ganz zu verzichten und nur auf gedruckte Editionsbände hinzuarbeiten, wurde allgemein als weder wissenschaftlich vertretbar noch gegenüber einem außerwissenschaftlichen Publikum entgegenkommend abgelehnt. Hingegen wurde darauf verwiesen, dass Online-Editionen, gerade solche in Datenbankform, vor allem erweiterte Zugangs- und Suchmöglichkeiten brächten, nicht jedoch die von uninformierter Seite häufig vermutete Kostenreduktion; im Gegenteil, spätestens bei der Absicht einer langfristigen Nutzung auf Jahrzehnte hinaus sei mit viel höheren Kosten zu rechnen. Gerade die lange Nutzungsdauer ist jedoch ein besonderes Merkmal von Editionen; Bände der „Monumenta Germaniae Historica“ oder der „Acta Borussica“ aus dem 19. Jahrhundert werden heute noch geläufig zitiert. Dies wurde mehrfach als gewichtiges Argument für den Druck gewertet, dessen Langzeit-Speicherfähigkeit von keinem elektronischen Medium ohne vielfache Datenmigration erreicht wird. Die meisten Diskussionsbeiträge liefen darauf hinaus, dass sich Kombinationslösungen empfehlen, bei denen die Kapazität, Zugänglichkeit und Suchmöglichkeiten einer Online-Edition mit den Speichereigenschaften einer parallelen Druckausgabe verbunden werden. Selbst bei dem in dieser Hinsicht zukunftsweisend erscheinenden DODIS-Projekt steht „die Abschaffung des gedruckten Bandes nicht zur Debatte“ (Bentele).

Gibt es ein Fazit, das auch für die Belange unseres weit kleiner definierten Eichstätter Editionsprojekts zur Zentralgewalt anwendbar wäre? Deutlich wurde durch die Veranstaltung zunächst, dass Editionen keineswegs bloße Kärrnerarbeit sind, sondern geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung, die eine vielfache Weiternutzung ermöglicht. Dass dies außerhalb enger Fachzirkel den Wenigsten klar zu sein scheint, ist ein wesentliches Problem, und es steht allen an Editionen beteiligten ForscherInnen gut an, jede Gelegenheit zur Bewusstseinsbildung zu ergreifen. Überaus klar wurde auch, dass Editionen hohe Ansprüche an eine gediegene und konsequente Bearbeitung stellen und dementsprechend Schwerarbeit sind. Letzteres wussten wir bei der Zentralgewalt-Edition schon; Ersteres auch, aber das Workshop bestärkt uns darin, den Blick stets darauf gerichtet zu halten, dass unsere Produktion nicht nach der Zahl der Dokumente bewertet wird, die wir abgetippt haben, sondern nach der zielführenden Auswahl derselben und der Güte der Bearbeitung. Jene Standards in Textgestaltung, Erschließung und Präsentation, die sich bei einem solchen Erfahrungsaustausch als unverzichtbar und unhintergehbar über die verschiedensten Projekte hinweg erweisen, sind auch in unserer Edition zu berücksichtigen. Aber davon wird an anderer Stelle mehr zu schreiben sein.

  1. HEINDL, Waltraud: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848 (Studien zu Politik und Verwaltung 36), Wien – Köln – Graz 1990; HEINDL, Waltraud: Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich 1848–1918, Wien 2013.
  2. Ein solches Verspätungsempfinden im internationalen Vergleich hatte Ursina Bentele bereits als Motivation für die 1972 erfolgte Initiative zu den „Diplomatischen Dokumenten der Schweiz“ angesprochen, was von Klaus Koch mit ironischem Lächeln aufgegriffen wurde.
  3. Dies war 2007/08 unter dem Programmtitel NIKE bereits geplant, fiel jedoch der Wirtschaftskrise und den daraus folgenden Budgetkürzungen zum Opfer.
  4. Dorothea Sturn verwies hierbei darauf, dass etwa der Schweizerische Nationalfonds, pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, über viermal so viele Mittel verfüge wie der FWF.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/385

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Provisorische Zentralgewalt und Mikrofilm, oder: Digitalisierung unserer Arbeitsgrundlagen abgeschlossen


Die 60 Filmrollen (hier jeweils zweifach hintereinander gestapelt) entsprechen knapp 20 Laufmetern Akten – oder einer Festplatte. 

Während des ersten Projektjahres hat sich die Arbeit an der Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt auf die zentrale Serie von Quellen, die Sitzungsprotokolle des Gesamt-Reichs-Ministeriums, konzentriert. Die insgesamt 185 Protokolle wurden in diesem Zeitraum vollständig transkribiert, ihre zahlreichen Beilagen in Regestenform bearbeitet. Dieser Arbeitsgang ist inzwischen abgeschlossen und es steht bereits die Kollationierung der Transkripte an. Im zweiten Jahr geht es nun an die Aufarbeitung der wesentlich umfangreicheren Sachakten aus den Registraturen der einzelnen Ministerien. Zum einen sind jene Aktenstücke nachzuweisen, auf die in den Protokollen ausdrücklich Bezug genommen wird; zum anderen werden auch weitere Stücke ausgesucht, die zu den Leitfragen unseres Projekts besonders interessante Informationen liefern können. Sie sollen als ergänzende Quellen in die Edition aufgenommen werden.

Arbeitsgrundlage sind für alle diese Tätigkeiten digitale Reproduktionen der Akten auf der Basis einer vom Bundesarchiv vor einigen Jahren durchgeführten Sicherheitsverfilmung der Bestände DB 52 bis DB 59. Dass diese Mikrofilme bereits vorhanden sind, hat uns ermöglicht, Reproduktionen in einem Ausmaß zu beziehen, das ansonsten mit den Mitteln eines verhältnismäßig bescheiden dotierten Projekts nicht zu bewerkstelligen gewesen wäre. Die kurze Lebensdauer der Provisorischen Zentralgewalt tut ein Übriges dazu, den Gesamtumfang beherrschbar zu halten; somit befindet sich unser Projekt in der vermutlich sehr seltenen Lage, fast den gesamten schriftlichen Niederschlag einer Regierung während der Dauer ihrer Existenz als Arbeitsmaterial unmittelbar zur Hand zu haben. (Nur „fast“ den gesamten, denn es gibt da auch etliche ganze Filmrollen, auf denen nur die beim Reichsministerium der Finanzen in gewaltigen Mengen gesammelten Abrechnungen und Einzelbelege für die Verpflegung, Unterbringung und Beförderungskosten der Reichstruppen reproduziert sind. Diese und noch einige weitere kleinere Serien, die für unser Forschungsinteresse nicht relevant erscheinen, blieben bei unserer Bestellung ausgespart, um ihre Bearbeitung künftigen Forschenden mit entsprechenden Fragestellungen vorzubehalten …)

Um von dem Ganzen eine Vorstellung zu vermitteln, ein paar Zahlen: Die genannten Bestände des Bundesarchivs, entsprechend den (rekonstruierten) Archiven des Gesamtministeriums und der insgesamt sieben Einzelministerien, haben laut den Verzeichnissen einen Gesamtumfang von etwa 26 Laufmetern, entsprechend 1033 Archiveinheiten (hier in der Hauptsache Aktenfaszikel von sehr unterschiedlicher Stärke). Diese Akten haben auf insgesamt 83 Rollen Mikrofilm Platz gefunden. Davon wurden insgesamt 60 Filme im Verlauf des vergangenen Jahres für unser Projekt dupliziert und im Dezember von einem privaten Anbieter für uns digitalisiert. Das Ergebnis sind ungefähr 107.000 Bilddateien, die bequem auf eine Festplatte passen respektive über einen Webspace allen Projektmitarbeitern zur Arbeit an verschiedenen Standorten verfügbar gemacht werden können. Da in der Regel zwei Seiten nebeneinander aufgenommen wurden, sind es also grob geschätzt etwa 200.000 Seiten Akten.

Selbstverständlich werden diese Materialmengen nicht vollständig ediert und auch sicherlich nicht jede Seite letztlich überhaupt von uns gelesen. Das alles in digitaler Form rasch greifbar zu haben, bedeutet allerdings eine enorme Erleichterung und Beschleunigung der Arbeit. Ein Beispiel: Das Protokoll der 82. Sitzung vom 22. Januar 1849 ist keines der besonders langen; es umfasst zehn Tagesordnungspunkte. Von den Aktenstücken, über die dabei verhandelt wurde, liegen fünf als Beilagen und Unterbeilagen in unmittelbarer Verbindung mit dem Protokoll vor. Verwiesen wird allerdings, nur zum Teil unter Nennung von Aktenzahlen, noch auf zwölf weitere Schriftstücke, die sich auf acht verschiedene Archiveinheiten in den Beständen von fünf Ministerien verteilen. Obwohl die Inventarisierung eine recht genaue ist, musste in einigen Fällen in mehreren Archiveinheiten mit verwandten Betreffen gesucht werden, um die fraglichen Stücke zu lokalisieren. Es kann getrost davon ausgegangen werden, dass diese Auffindung mehrere Tage gedauert hätte, wäre sie an Ort und Stelle im Bundesarchiv durch Bestellen, Ausheben und Durchsehen der Originalakten vorgenommen worden. Mit dem Fundus von 60 Filmrollen und einem Lesegerät ginge es deutlich schneller  aber die Zeitverluste für das Einlegen, Vor- und Rückspulen und Auswechseln der Rollen wären immer noch beträchtlich, und um mehr als ein Bild auf einmal anzusehen, müssten sie dann noch gescannt oder ausgedruckt werden. Mit dem Aktenbestand als Digitalisate auf der Festplatte hingegen war die Auffindung sämtlicher Stücke ohne Schwierigkeiten innerhalb eines Nachmittags zu bewältigen. Diese Überlegungen flößen erheblichen Respekt vor den Bearbeitern existierender Regierungsprotokoll-Editionen ein, die oft noch vor wenigen Jahren die geschilderten Aufgaben auf genau die Art und Weise erledigen mussten, von der wir jetzt froh sind, sie uns ersparen zu können.

Das bedeutet freilich nicht, dass mit dem Finden auch schon die editorische Bearbeitung erledigt wäre. Es gibt noch genug Dinge, die uns kein Computer abnimmt.

Und warum heißt der Beitrag nun nicht „Provisorische Zentralgewalt und Digitalisierung“? Auf dieser Plattform hat vor kurzem, angestoßen durch diesen Beitrag von Marc Mudrak, eine längere und teils recht kontroverse Diskussion über den Mikrofilm als Speichermedium stattgefunden und über die Forderung jenes Autors, dass „Mikrofilme endlich aus den Archiven verschwinden müssen“. Auch wenn dazu schon einiges nach beiden Seiten vorgebracht worden ist, können ein paar Sätze auf der Basis unserer jüngsten Erfahrungen vielleicht noch hilfreich sein. Die Erlebnisse, die Mudraks Äußerung veranlassten, sind wohl fast allen historisch Forschenden bekannt wer hat sich noch nicht darüber geärgert, eine Quelle nicht im Original, sondern auf Film benutzen und dabei die verschiedenen in jenem Beitrag aufgezählten Unannehmlichkeiten auf sich nehmen zu müssen? Und doch sei hier angemerkt, dass möglicherweise einige von diesen Ärgernissen dem Speichermedium Mikrofilm nicht ganz zu Recht angelastet wurden, weil sie mit ihm nicht unbedingt in ursächlichem Zusammenhang stehen.

Nicht zu leugnen ist, dass bei manchen Quellentypen schwerwiegende Informationsverluste schon durch die Schwarzweißaufnahme eintreten rubrizierte oder gar illuminierte Handschriften wären ein schlagendes Beispiel. Im Gegensatz dazu sind aber gerade die in besonders großen Quantitäten überlieferten Archivalien, das Massenschriftgut der neuzeitlichen Amtsstuben, in vielen Fällen auch in Schwarzweiß unproblematisch zu benutzen; so die Akten der Provisorischen Zentralgewalt.

Nur auf den ersten Blick einsichtig ist, dass gegen „den Mikrofilm“ gewettert wird, weil schlechte Erfahrungen mit verwischten, schlecht belichteten, zu kleinen, unvollständigen oder sonstwie mangelhaften Aufnahmen gemacht wurden. Das liegt in der Hauptsache nicht am Speichermedium, sondern entweder am Aufnahmegerät oder an der Sorgfalt der Person, die dieses bedient. Wer etwa schon in irgendeinem Umfang alte Druckwerke via Google Books benutzt respektive zu benutzen versucht hat, kann rasch bestätigen, dass unlesbare, verwischte oder an den Rändern beschnittene Aufnahmen, übersprungene Seiten, mangelhafte oder nicht stattfindende Qualitätskontrolle keineswegs eine ausschließliche Domäne des Analogen sind. Von den 185 Sitzungsprotokollen der Provisorischen Zentralgewalt fehlt im Übrigen eine einzige Aufnahme auf dem Mikrofilm, zwei weitere sind wegen Überbelichtung nur teilweise lesbar.

Ähnliches gilt für die Beschwerde über unsystematische oder willkürliche Auswahl der Stücke zur Verfilmung, ungenaue oder irrige Katalogisierung der Filme. Alles das gibt es natürlich, und natürlich ist es hinderlich, aber es hat mit Mikrofilm per se rein gar nichts zu tun. (Was oben über Google Books steht, ist hier sinngemäß anwendbar. Man vergleiche dann mit kompetent gemachter Digitalisierung alter Bücher z.B. durch die Staatsbibliotheken in München oder Göttingen.)

Beklagt wird weiters, Mikrofilm sei schwierig und teuer zu reproduzieren. Gemeint ist damit allerdings nur die händische Anfertigung von Papierabzügen durch den Benutzer am Lesegerät, für welche die Klage auch zutreffend ist. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass eine Digitalisierung größerer Mengen auf der Basis eines schon vorhandenen Mikrofilms maschinell weitaus schneller, billiger und weniger fehleranfällig ist als jene auf Basis der Originale siehe unsere oben geschilderten Erfahrungen. Eine brauchbare Qualität der Mikrofilmaufnahmen vorausgesetzt, kann deren Existenz ein großes Glück sein. Wir hätten, wie gesagt, jene 100.000 Bilder keineswegs bezahlen können, wenn sie erst neu zu machen gewesen wären.

Der größte unbestreitbare Nachteil des Mikrofilms ist die Mühseligkeit und Langsamkeit seiner Benutzung am Lesegerät. Unser Projekt hat genau aus diesem Grund die bezogenen Filmrollen gleich als erstes digitalisieren lassen. Wenn es in nicht allzu ferner Zukunft möglich wird, dass Mikrofilm zwar nicht aus den Archiven, wohl aber aus deren Lesesälen verschwindet, weil zur Benutzung digitale Versionen vorliegen, wäre das sicherlich zu begrüßen. Die Frage seiner Zweckmäßigkeit als langfristiges Speichermedium steht auf einem anderen Blatt. Sie wird erst dann entschieden sein, wenn sichergestellt ist, dass digitale Speicherung auf sehr lange Laufzeiten womit der Bereich von 50 bis 100 Jahren oder noch darüber gemeint ist analoge Medien an Sicherheit und Kostengünstigkeit erreicht. Bis dahin sind auch die beträchtlichen Mengen an Mikrofilmen, die in den Bibliotheken und Archiven im Laufe der vergangenen Jahrzehnte angelegt worden sind, eine Ressource, die nicht einfach abgeschrieben werden sollte.

 

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/82

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