Filmproduktion im Museum – Wael Shawkys „Cabaret Crusades“

Wael Shawky bei Dreharbeiten

Wael Shawky bei den Dreharbeiten im K20 im Oktober 2014.
Foto: Kunstsammlung, © Kunstsammlung NRW

In der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (K20) ist zurzeit eine Einzelausstellung des Ägypters Wael Shawky zu sehen. Der 1971 in Alexandria geborene Künstler präsentiert dort sein Filmprojekt "Cabaret Crusades", das während der dOCUMENTA (13) im Jahr 2012 viel Beachtung erfahren hat und auf Amin Maaloufs Buch "Der heilige Krieg der Barbaren. Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht" von 1983 basiert.

In Shawkys dreiteiliger Arbeit sind Marionetten Akteure der historischen Geschehnisse der Kreuzzüge vom ausgehenden 11. bis ins frühe 13. Jahrhundert: Der erste, in Italien produzierte Teil "The Horror Show File" (2010) stellt die Geschichte des Ersten Kreuzzugs von 1095 bis zur Einnahme Jerusalems durch die Franken im Jahr 1099 dar. Die Protagonisten – in dem Fall kostbare Holzmarionetten aus dem 18. Jahrhundert – vertont Shawky wie auch in den beiden weitern Filmen in Hocharabisch. In dem zweiten, in Frankreich entstandenen Teil "The Path to Cairo" (2012) spielen detailreiche, handgefertigte Marionetten aus Keramik die Ereignisse der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts nach, in der den Muslimen mit der Einnahme von Edessa 1144 ein wichtiger Schlag gegen die europäischen Kreuzritter gelingt. Und in dem letzten, längsten und aufwendigsten der drei Filme – "The Secrets of Karbalaa" (2014) – führen eigens für das Projekt auf Murano produzierte Glasmarionetten den Zweiten und den Dritten Kreuzzug im 12. Jahrhundert auf. Die Trilogie endet mit der Zerstörung Konstantinopels durch venezianische Kreuzfahrer im Jahr 1204.

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Marionette aus Murano-Glas für den dritten Teil "The Secrets of Karbalaa".
© Achim Kukulies / © Kunstsammlung NRW

Shawky thematisiert mit seinen Filmen – und zwar bereits vor dem Ausbruch des Arabischen Frühlings 2010/11 – die Konflikte im Nahen Osten, deren Schauplätze damals, vor rund 1000 Jahren, wie heute Aleppo, Bagdad und Damaskus sind.Mit dem Perspektivenwechsel, nämlich der Schilderung der christlichen Kreuzzüge aus arabischer Sicht, wirft der Künstler Fragen nach den Mechanismen und Konstruktionen der Geschichtsschreibung auf. Auch die Darsteller, die an Schnüren geführten, ferngesteuerten Marionetten, unterstützen diesen Aspekt: Wer eigentlich sind die Fädenzieher?

Was interessiert nun uns, Mitglieder des GRK1678 an dieser Ausstellung? Das für uns Besondere an der Düsseldorfer, von Doris Krystof kuratierten Schau ist die Tatsache, dass der dritte Film "The Secrets of Karbalaa" während der Ausstellung im Museum produziert wurde – sichtbar für alle Besucher. Die Grabbehalle des K20 wurde dafür dreigeteilt: In einem Kinosaal sind die beiden ersten Teile der "Cabaret Crusades" zu sehen. Darüber hinaus sind einige der Keramikmarionetten aus dem zweiten Teil in Vitrinen präsentiert, und den größten Teil der Ausstellung nimmt das eigens für die Shawky-Produktion eingerichtete Filmstudio ein. Gut einen Monat lang hat ein etwa dreißigköpfiges Team – Künstler, Kulissenbauer, Beleuchter, Marionettenspieler, Kostümbildner, Techniker – dort akribisch an dem Projekt gearbeitet. Wer im Oktober das Museum besuchte, konnte durch eine Glasscheibe in das Studio blicken und den Betrieb beobachten: Manchmal wurde laut gehämmert, manchmal lag der Geruch von Weihrauch in der Luft, weil für die Filmhandlung Rauch benötigt wurde. Der Künstler gab seine Anweisungen, die Kulisse wurde umgebaut, Marionetten wurden angekleidet. Alles unter den Blicken der Besucher. Das Museum als Herstellungsstätte, als Ort der Produktion, als temporäres Künstleratelier. Der Herstellungsprozess, der kreative Akt als öffentliches, als ausstellungswertes Ereignis.

Inzwischen ist der Dreh abgeschlossen, das Studio aber bleibt weiter ausgestellt: Eine aufwendig gestaltete Drehbühne, technisches Equipment, Werktische, Regale voller Requisiten und vor allem die bizarren Glasmarionetten in ihren auf den Leib geschneiderten Kostümen sind weiterhin sichtbar und zeugen von einem einzigartigen Experiment.

Der Film befindet sich zurzeit in der Postproduktion, am 04.12.14 wird er im Düsseldorfer Schmela Haus uraufgeführt – wir sind gespannt!

Linda Walther & Anja Gottwaldt

Uraufführung: "The Secrets of Karbalaa", 04.12.14, 19:00 Uhr, Schmela Haus

Ausstellung: "Wael Shawky. Cabaret Crusades", bis 04.01.15, Kunstsammlung NRW (K20)

Konferenz: "The Art of Making History", 11. + 12.12.14, Schmela Haus

Ausstellungskatalog: "Wael Shawky. Cabaret Crusades", Kerber Verlag

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/243

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Rezensions-Digest November 2014

Christian Volkmar Witt: Rezension zu: Wolfgang Breul / Stefania Salvadori (Hgg.): Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus. Leipzig 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/21977.html

Andreas Weber: Two volumes of 'Low Countries Studies on the Circulation of Natural Knowledge' (Rezension), in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/22660.html

Christof Spannhoff: Rezension zu: Norbert Fischer / Ortwin Pelc (Hrsg.): Flüsse in Norddeutschland. Zu ihrer Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Neumünster 2013, in: H-Soz-Kult, 28.11.2014

http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22166

Claudia Curcuruto: Rezension zu: Irene Fosi / Alexander Koller (a cura di): Papato e Impero nel pontificato di Urbano VIII (1623-1644). Città del Vaticano 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/26321.html

Heinz Duchhardt: Rezension zu: Annette Gerstenberg (Hg.): Verständigung und Diplomatie auf dem Westfälischen Friedenskongress. Historische und sprachwissenschaftliche Zugänge. Köln/Weimar/Wien 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/24766.html

Nina Schweisthal: Rezension zu: Malte Griesse (ed.): From Mutual Observation to Propaganda War. Premodern Revolts in Their Transnational Representations. Bielefeld 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/25345.html

Helmut Zander: Rezension zu: Kristine Hannak: Geist=reiche Critik. Hermetik, Mystik und das Werden der Aufklärung in spiritualistischer Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2013, in: H-Soz-Kult, 26.11.2014

http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22712

Johannes Arndt: Rezension zu: Marjolein 'T Hart: The Dutch Wars of Independence. Warfare and Commerce in the Netherlands, 1570-1680. London/New York 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/25404.html

Hannes Ziegler: Rezension zu: Bent Jörgensen: Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen. Zur Terminologie der Religionsparteien im 16. Jahrhundert. Berlin 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/25726.html

Marco Cavarzere: Rezension zu: Natalie Krentz: Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500-1533). Tübingen 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/24990.html

Daniel Timothy Goering: Rezension zu: Darrin M. McMahon / Samuel Moyen (Hrsg.): Rethinking Modern European Intellectual History. Oxford 2014, in: H-Soz-Kult, 07.11.2014

http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22259

Herbert Jaumann: Rezension zu: Jean-Paul Oddos: Isaac de Lapeyrère (1596-1676). Un intellectuel sur les routes du monde. Paris 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/25689.html

Grażyna Jurewicz: Rezension zu:  Hans-Joachim Schwarz / Renate Schwarz: Moses Mendelssohn und die Krankheit der Gelehrten. Psychologisch-biographische Studie. Hannover 2014, in: H-Soz-Kult, 06.11.2014

http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-23297

Dietrich Blaufuß: Rezension zu: Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdener Zeit. Band 3: 1689. Herausgegeben von Udo Sträter und Johannes Wallmann, in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde. Tübingen 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/24883.html

Gabriel Almer: Rezension zu: Alexander Weber: Konfessionelle Konflikte nach dem Westfälischen Frieden. Die Religionsbeschwerden der katholischen Kirche des Herzogtums Kleve im 18. Jahrhundert. Hamburg 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/24912.html

Hillard von Thiessen: Rezension zu: Carmen Winkel: Im Netz des Königs. Netzwerke und Patronage in der preußischen Armee 1713-1786. Paderborn 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11, 15.11.2014

http://www.sehepunkte.de/2014/11/23825.html

Quelle: http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1832

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Lebendige Musikgeschichte: Ein Besuch im Archiv des IMD

Im letzten Monat hatte ich die Gelegenheit, eine Woche lang im Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt (IMD) zu recherchieren. Das IMD ist vor allem dafür bekannt, dass es die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik ausrichtet, die seit 1946 alle zwei Jahre in Darmstadt stattfinden und seit über 65 Jahren ein wichtiges Zentrum der zeitgenössischen Musikproduktion darstellen.1 Denken wir etwa an das Wirken von Boulez, Stockhausen, Nono, Cage und Adorno in den 1950er Jahren, so lässt sich mit Recht sagen: In Darmstadt wurde Musikgeschichte geschrieben. Und diese Geschichte wird im Archiv des IMD gründlich dokumentiert.

Internationales Musikinstitut Darmstadt (IMD)

Das IMD ist ruhig und recht unscheinbar am Rand der Innenstadt Darmstadts gelegen, gut erreichbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Bibliothek enthält eine beeindruckende Sammlung von (ca. 40.0000) Partituren und wissenschaftlichen Publikationen zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Das Archiv umfasst Zeitungsartikel, Fotos, Briefe (insbesondere von und an Wolfgang Steinecke), Programmhefte, Livemitschnitte von Vorträgen und Konzerten und viele weitere Dokumente zu den Darmstädter Ferienkursen und auch ganz allgemein zur (klassischen) Musik nach 1945. Anhand dieser Dokumente lassen sich eindrücklich Entwicklungen, Dynamiken und Konstellationen der Musikgeschichte nach 1945 nachvollziehen.

Im Rahmen meines Dissertationsprojekts (zur Idee des Fortschritts in der Musik in den 1950er Jahren) war die Pressesammlung von besonderem Interesse für mich. Hier verfügt das Archiv über eine beträchtliche und gut organisierte Zusammenstellung von Presseartikeln zu vielen wichtigen Komponisten des 20. Jahrhunderts sowie durchschnittlich einen Ordner pro Ferienkursjahrgang mit Artikeln aus unterschiedlichen deutschen (teils auch ausländischen) Zeitungen. Die chronologische Sortierung ist für einen Forscher äußerst ergiebig, denn sie bietet die Möglichkeit, die Schwerpunkte der einzelnen Jahre und die Entwicklungslinien in der Musikkritik über einen größeren Zeitraum herauszuarbeiten.

Besonders angetan war ich von dem groß angelegten Digitalisierungsprojekt (http://www.internationales-musikinstitut.de/archiv/digitalisierung.html), welches das IMD 2010 mit Unterstützung des Kulturfonds Frankfurt RheinMain in Angriff genommen hat. Bislang wurden Tondokumente, Briefe und Fotos digitalisiert, die nun in einer Datenbank vor Ort recherchier- und einsehbar sind. Eine Schlagwortsuche ermöglicht dabei das schnelle Auffinden von Dokumenten zu einem bestimmten Thema. So konnte ich zum Beispiel mit nur einem Klick eine Zusammenstellung aller Briefe aufrufen, in denen es um serielle Musik geht – eine Aufgabe, die ohne Digitalisierung mehrere Tage in Anspruch genommen hätte. Diese Datenbank soll zukünftig auch online verfügbar sein, sodass z.B. ein amerikanischer Musikwissenschaftler sich leicht über den Bestand des Archivs informieren kann, bevor er die weite Reise nach Darmstadt antritt. Dies erscheint mir insbesondere als eine gute Idee, da das Archiv unter Musikforschern eher weniger bekannt ist – was in einem gewissen Widerspruch steht zu seinem reichhaltigen und bedeutenden Bestand. Ein erklärtes Ziel des IMD bei dem Projekt ist auch die Ausbildung eines „Forschungsnetzwerkes zur Neuen Musik“ (Homepage), in Kooperation mit verschiedenen Universitäten. Während es auf Seiten der Komponisten, Musiker und Veranstalter schon ein elaboriertes Neue-Musik-Netzwerk gibt, ist das entsprechende Forschungsnetzwerk noch eher spärlich ausgebaut, daher kann man gespannt auf weitere Entwicklungen blicken.

Link zur Homepage des IMD: http://www.internationales-musikinstitut.de/

1Die Ferienkurse sind übrigens auch für Musikwissenschaftler offen und sehr lohnenswert, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Neben Vorträgen und Seminaren zu Kompositionstechniken, Ästhetik, Werkanalyse, Musikgeschichte etc. besteht die Möglichkeit, an einer musikjournalistischen „Schreibwerkstatt“ teilzunehmen.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/254

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DH-Videoclip Adventskalender – Tür 2

Hinter dem zweiten Türchen des DH-Videoclip Adventskalenders verbirgt sich heute die Vorstellung des Studiengangs “Digital Humanities MA / MSc” des University College London, veröffentlicht Mitte 2013.

“The UCL Centre for Digital Humanities brings together people from a wide range of disciplines to develop research and teaching in a vibrant multidisciplinary field.
Digital humanities research takes place at the intersection of digital technologies and humanities. It aims to produce applications and models that make possible new kinds of research, both in the humanities disciplines and in computer science and its allied technologies. It also studies the impact of these techniques on cultural heritage, memory institutions, libraries, archives and digital culture.” (Quelle: http://youtu.be/E2KzTPnU0Eo)

Achtung aufgemerkt, alle TextGrid-Fans, bei Minute 1:05 – ist da nicht der Text-Bild-Link-Editor im Einsatz?

Hier gehts nun zum Clip:

 

 

 

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4340

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Reisegeschichtliches Symposion in Limoges

Morgen breche ich gen Limoges auf und werde dort bei der Tagung Médiateurs et instances de médiation dans l’histoire du voyage zum Thema Les valets de place, vecteurs d’information pour les voyageurs en Europe, 1500 – 1900 referieren, schließlich sollen die Lohnlakaien auch in Frankreich Beachtung finden! Ich freue mich auch schon auf die Hausnummern von Raoul Hausmann, denn der in Wien 1886 geborene Dadaist lebte von 1944 bis zu seinem Tod 1971 in der Stadt an der Vienne.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022374947/

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Advent, Advent: Der TextGrid-Adventskalender ist online

TG-xMAS-eule

Vom 1. bis zum 24. Dezember jeden Tag ein TextGrid-Türchen öffnen! Es darf gerätselt, erforscht, gelesen und hinter so manchem Türchen auch mitgemacht werden – rund um Eulen, Codes und geheime Short Cuts…

Zum Kalender: http://textgrid.de/home/adventskalender/

Wird der Kalender (z.B. in Firefox) nicht angezeigt, bitte hier entlang.

Großen Dank an Mathias Göbel und Hannes Riebl für die Umsetzung!

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4368

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Datenschutz und Geschichtswissenschaften

An der infoclio-Tagung 'Datenschutz und Geschichtswissenschaften' wurde v.a. von Sacha Zala auf das Problem aufmerksam gemacht, dass zwar immer mehr Daten veröffentlicht werden, aber gleichzeitig der Zugriff darauf massiv eingeschränkt wird. Selbst Daten, welche offiziell der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssen (bspw. Bundesratsentscheide nach 30 Jahren), können im Archiv, aber nicht im Internet eingesehen werden. Dort sind sie noch immer geschützt.

Die aufgeworfenen Probleme zu Persönlichkeitschutz, Datenschutz und Forschungsfreiheit betreffen die Forschenden vor allem in der Heuristik. Wie sollen Datenbestände durchforstet werden? Wie kann man sicher sein, dass nicht doch ein Bestand aus irgendeinem (relevanten oder irrelevanten) Grund nicht digitalisiert zur Verfügung steht? Vielleicht digitalisiert wurde, aber hinter einer 'Zensurwand' steckt? Wie lange kann auf einen relevanten Bestand zugegriffen werden?

Der Fall vor dem EuGH bzgl. Google und das Recht auf Vergessen hat aufgezeigt, dass das Persönlichkeitsrecht als sehr hoch gewichtet wird. Der Aufschrei, dass damit 'Zensur' geübt wird und die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt wird, ist zu relativieren. Unerheblich davon, wie das Urteil umgesetzt wird oder werden kann, es muss jeder Person selbst überlassen sein, wie gläsern er sein will.

Hierzu scheint es sinnvoll zwischen einer 'ungerichteten' und einer 'gerichteten' Suche zu differenzieren:

  • Bei einer ungerichteten Suche werden mittels digitalen Suchmaschinen grosse/riesige Datenbestände über einen grossen Zeitraum durchsucht (Big Data). Beziehungen zwischen Daten können sehr einfach geknüpft werden. Persönlichkeitsprofile mit detaillierten Auskünften über den ganzen Lebenszeitraum sind erstellbar.
  • Bei einer gerichteten Suche wird bei bestimmten Institutionen in deren spezifischen (digitalen) Datenbanken, Archiven, Bibliotheken etc. gesucht. Die Suche benötigt ein Vorwissen, eine entsprechende Ausbildung und einen intellektuel hohen Beitrag. Auch hier sind Beziehungen zwischen Daten und ein Persönlichkeitsprofil erstellbar, aber mit einem viel grösseren Aufwand.

Es sei die These aufgestellt, dass bei Entscheiden für das Recht auf Vergessen vor allem gegen die Einfachheit der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen votiert wurde. Das Fehlen des intellektuel hohen Beitrages (und damit der Reflexion über die vorhandenen Daten und die erstellten Verknüpfungen) ist meines Erachtens der Grund, warum 'Big Data Search' eingedämmt werden sollte, unerheblich der technischen Machbarkeit. Die bestehenden Daten sollen weiterhin zur Verfügung gestellt, aber dürfen nicht datenbestandsübergreifend durchsucht werden können - zumindest während einer klar definierten Sperrfrist. Es wäre damit zu hoffen, dass die veröffentlichten Datenbestände weiter zunehmen, damit für Forschende auch mehr Informationen zur Verfügung stehen, aber die Restriktionen wieder abnehmen werden.

Quelle: http://hsc.hypotheses.org/311

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(4) Einwanderungspolitik von 1713 bis 1786: Zwischen Inklusion und Exklusion

Unter Friedrich Wilhelm I. setzte sich zunehmend eine restriktive und allgemein gültige Judenpolitik durch, die durch Friedrich II. weitergeführt und verschärft wird. In den 1710er und 1720er Jahren gab es immer wieder verschärfte Verordnungen und neue Reglements, die sich aber regional sehr unterschieden, da es noch keine einheitliche Verwaltung mit einheitlichem Steuersystem gab (vgl. Stern 1962a, S. 39). Zur Erlangung von Privilegien mussten jüdische Familien immer wieder die eigene Nützlichkeit für den brandenburgisch-preußischen Staat unter Beweis stellen, die jüdischen Familien in einen permanenten Konkurrenzkampf untereinander führte. Friedrich Wilhelm I. kündigte immer wieder an, alle Juden ohne Schutzbrief, die bisher wegen ihrer Akzise sehr willkommen waren, ausweisen zu lassen und ab 1728 grundsätzlich keinen Schutzbrief mehr für die Mark Brandenburg auszustellen (vgl. Schenk 2010, S. 73). Sehr liberal blieb es hingegen noch in Preußen, das als ein wichtiges Transitland für jüdische Händler zwischen Russland, Litauen, Polen, England und Holland geschützt werden musste (vgl. Stern 1962a, S. 66f.). In Berlin wurde die Judenpolitik durch die Edikte von 1700 und 1714 geordnet, das viele Freiheiten gewährte, die allerdings 1730 wieder unterdrückt wurden. Weitere Abschiebungsversuche gab es nach 1735, als der jüdische Handel nach Missernten und einem allgemeinen Konjunktureinbruch durch geringe Nachfrage und steigende Preise teilweise zum Erliegen kam (vgl. Mittenzwei/Herzfeld 1988, S. 262, 256).

Der „Soldatenkönig“, der die Hofausgaben drastisch reduzierte und in das Heer und die Infrastruktur investierte, wollte auch die Judenpolitik vereinheitlichen: Das „General-Privilegium und Reglement“ vom 29. September 1730 sollte erstmalig versuchen für den gesamten Staat die jüdischen Lebensverhältnisse und Wirtschaftsmöglichkeiten neu zu ordnen, was allerdings als der Beginn eines langen Entwicklungsprozesses bis weit in die Regierungszeit Friedrich II. hinein zu verstehen ist und nicht in jeder Provinz sofort durchgesetzt werden konnte (vgl. Stern 1962a, S. 20; vgl. auch Rürup 1995, S. 27f. und Jersch-Wenzel/John 1990, S. 182ff.).

Eine Zäsur war die vermögensabhängige Übertragung des Schutzbriefs auf das erste Kind, die nur wohlhabenden Familien eine Zukunft in Brandenburg-Preußen sicherte und viele jüdische Familien in Existenzangst und Konkurrenz zu einander trieb. Außerdem sollten keine neuen Schutzbriefe mehr ausgestellt, die Anzahl der Juden im ganzen Staat begrenzt, der Handel wieder auf seltene oder Luxuswaren beschränkt und die Abgaben zusätzlich erhöht werden. Die seit 1674 bestehende solidarische Haftbarkeit für die Zahlung von Steuern und Schäden der jüdischen Gemeinden wurde auch auf fremde Juden ausgeweitet (vgl. Jersch-Wenzel/John 1990, S. 285). Das hatte zur Folge, dass die jüdischen Gemeinden daran interessiert waren, dass jüdische Einwanderer ein hohes Vermögen von mindestens 10.000 Reichstaler mitbrachten. Das Reglement führte zu zahlreichen Bittschriften und Beschwerden, sodass es in den Folgejahren einige Überarbeitungen erlebte, bis es unter Friedrich II. revidiert werden sollte. Insgesamt konnte die brandenburgisch-preußische Einwanderungspolitik bis 1740 das Land politisch und wirtschaftlich stabilisieren. Mit dem Regierungsantritt Friedrich II. wird die jüngere jüdische Geschichte in Brandenburg-Preußen rund 70 Jahre alt, sodass die Eingewanderten schon um eine 2. oder auch 3. Generation gewachsen sind und sich vielerorts jüdische Gemeinden etabliert haben.

Am 17. April 1750 wurde durch Friedrich II. ein „Revidiertes General-Privilegium und Reglement, vor die Judenschaft im Königreiche, Preußen, der Chur- und Marck, Brandenburg, den Hertzogthümern, Magdeburg, Cleve, Hinter-Pommern, Crossen, Halberstadt, Minden, Camin und Moers; ingleichen den Graf- und Herrschaften Marck, Racensberg, Hohenstein, Tecklenburg, Lingen, Lauenburg und Bütau“ (zit. n. Stern 1971b, S. 236/Nr. 102) erlassen, aber auf Bitten der jüdischen Gemeinden, die damit Zeit für mögliche Änderungen gewinnen wollten, erst 1756 veröffentlicht. Dieses General-Privileg baute auf das Reglement von 1730 und den zahlreichen Kabinetsordren,  Bittschriften, Eingaben und Resolutionen der Jahre zuvor auf und wurde auch nach Erlass von zahlreichen Änderungsvorschlägen begleitet. Es wurde weiter nach ökonomischen Nutzen systematisiert und erhielt insbesondere nach dem 7-jährigen Krieg neue Zusatzbestimmungen, die weitere Sonderabgaben und Zwangsexporte von Waren forderten, und wurde erst durch das Emanzipationsedikt 1812 annulliert (vgl. Schenk 2010, S. 82ff.; vgl. auch Jersch-Wenzel 1978, S. 92 und Jersch-Wenzel/John 1990, S. 182ff.).

Die jüdische Existenz in Preußen wurde dazu von ihren Kapitalerträgen und ihrem ökonomischen Engagement abhängig gemacht und durch ein komplexes Abgabensystem bestimmt. So wurden alle jüdischen Familien in dem Reglement von 1750 je nach Privilegien in sozialen Klassen statistisch erfasst und als (1) generalpriviligiert, (2) ordentlich, (3) außerordentlich, (4) vergleitet, (5) geduldet oder (6) unvergleitet eingeordnet (vgl. Freund 1912, S. 26; ebenso Battenberg 2001, S. 45f. und Bruer 1991, S. 71f.). Generalprivilegien erhielten nur die kleine Schicht an kapitalkräftigen, ökonomisch wertvollen „Hofjuden“ der 1. Klasse, die den Hof oder das Heer versorgten und von fast allen Beschränkungen befreit waren. Schutzjuden der 2. Klasse hatten immerhin das Recht, ihr Schutzprivileg nach ihrem Tod auch auf die mögliche Witwe oder ihr erstes und zweites Kind zu übertragen. Schutzjuden der 3. Klasse waren dazu nicht befugt und durften nur bei Bedarf und gegen Zahlung von 1000 Reichstalern ihren Schutzbrief aufs ihr erstes Kind übertragen. Später hatten durch die Erhöhung von Abgaben nur noch Familien mit einem großen Einkommen oder mit einem Manufakturbetrieb überhaupt noch Chancen, ihren ordentlichen oder außerordentlichen Schutzbrief, auch auf ihre Kinder zu übertragen, was zu Spannungen innerhalb der jüdischen Gemeinden führte (vgl. Jersch-Wenzel 1978, S. 94, 149, 163). Jüdische Familien der Klasse 4 wurden toleriert und waren meist Gemeindeangestellte, wie Schulmeister oder Rabbiner. Geduldete Familien der Klasse 5 besaßen keinen Schutz und erhielten nur Bescheinigungen, die zeitlich begrenzt waren. Die Klasse 6 bildeten jüdische Familien ohne Schutzbrief, Geleit oder Duldung, sodass diese kein Recht auf Niederlassung besaßen und zur dauernden Wanderung gezwungen waren, wobei sie nur ungern von jüdischen Gemeinden aufgenommen wurden, da diese für sie hafteten. Oftmals werden Juden der Klasse 6 in der Literatur auch als „Betteljuden“ geführt, deren Anteil an der jüdischen Bevölkerung Battenberg für das Jahr 1750 mit 50 Prozent und 1780 sogar mit 90 Prozent angibt. (Vgl. Battenberg 2001, S. 114).

Wie zügig der soziale Abstieg sich beispielsweise vollziehen kann, zeigen Herzfeld anhand von Levin Joseph aus Spandau (vgl. Herzfeld 2001, S. 164ff.) und Schenk am Niedergang des Manasse Jacob aus Bernau (vgl. Schenk 2010, S. 175). Um ihre soziale Situation zu verbessern und Privilegien zu erhalten war für jüdische Familien immer wieder der Nachweis der eigenen (ökonomischen) Nützlichkeit für Preußen unabdingbar. Insbesondere auf den Export legte Friedrich II. sein Hauptaugenmerk und forderte somit einen verstärkten Handel nach Holland, Frankreich, Schweden, Spanien, Portugal, Kursachsen, Russland bis in die Türkei und vor allem in das wirtschaftlich unterentwickelte und innenpolitisch geschwächte Polen. Erlaubt war durch das Generalprivileg von 1750 der Handel mit Luxuswaren, Geldwechseln und Krediten, Immobilien, Manufaktur- und Gebrauchtwaren sowie Textilien, Vieh und Pferden. (Vgl. Freund 1912, S. 40; vgl. auch Battenberg 2001, S. 95)

Zwischen 1723 und 1813 machte die jüdische Erwerbsbevölkerung in Berlin im Handelsbereich 68 Prozent aus, während es in der Gesamtbevölkerung nur 7,4 Prozent waren.  Jüdische Männer waren dabei zu 47,5 Prozent im Warenhandel und zu 20,5 Prozent im Geldhandel tätig (vgl. Jersch-Wenzel/John 1990, S. 202ff.. Weitere 5,7 Prozent arbeiteten im Handwerk, 5,7 Prozent im Gewerbe und 14 Prozent im Privat- und Gemeindedienst).

Von ökonomischen Engagement hing somit die jüdische Zukunft in Preußen, aber auch die Zukunft für Preußen ab, denn kein „Staat hat die ökonomische Disziplinierung der Juden so systematisch betrieben und genutzt wie Preußen“ (Bruer 1991, S. 18).

 

Literatur

Battenberg, J. Friedrich (2001): Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Enzyklopädie Deutscher Geschichte. Bd. 60. München.

Bruer, Albert A. (1991): Geschichte der Juden in Preussen (1750-1820). Frankfurt/Main.

Freund, Ismar (2012 [1912]): Die Emanzipation der Juden in Preußen. Bd. 2. Urkunden. Hildesheim.

Herzfeld, Erika (2001): Juden in Brandenburg-Preussen. Beiträge zu ihrer Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin.

Jersch-Wenzel, Stefi; John, Barbara (1990): Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin. Berlin.

Jersch-Wenzel, Stefi (1978): Juden und „Franzosen“ in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg zur Zeit des Merkantilismus. Einzelveröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin. Bd. 23. Berlin.

Mittenzwei, Ingrid, Herzfeld, Erika (1988): Brandenburg-Preußen 1648-1789. Das Zeitalter des Absolutismus in Text und Bild. Berlin.

Rürup, Reinhard (1995): Jüdische Geschichte in Berlin. Bilder und Dokumente. Berlin.

Schenk, Tobias (2010): Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des „Aufgeklärten Absolutismus“ in Preußen (1763-1812). Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Bd. 39. Berlin.

Stern, Selma (1971b): Der Preussische Staat und die Juden. Dritter Teil/Die Zeit Friedrichs des Großen. 2. Abteilung: Akten. Tübingen.

Stern, Selma (1962a): Der Preussische Staat und die Juden. Zweiter Teil/Die Zeit Friedrich Wilhelms I. 1. Abteilung: Darstellung. Tübingen.

Quelle: http://germanjews.hypotheses.org/46

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