Neu aufgefundene Makulatur aus den Beständen des Stadtarchivs Reutlingen

Dass als Makulatur verwendete Teile von mittelalterlichen und neuzeitlichen Handschriften und Drucken in Archiven und Bibliotheken in einem gewissen Umfang quasi jedes Jahr neu auftauchen, vermag jeder leidgeprüfte Archivar und Bibliothekar zu bestätigen. Von den Fachleuten zwar mit großem Interesse registriert, landen die Fragmente häufig in Kartons und Schubern im besten Fall aus säurefreiem Papier und harren ihrer Erschließung. Inzwischen gibt es dennoch eine nicht unerhebliche Anzahl an Archiven und Bibliotheken, die ihren Fragmentbestand so erschlossen haben, dass er von einer interessierten, wissenschaftlichen Öffentlichkeit benutzt werden kann.[1]

Vor über 20 Jahren, im Jahr 1991, hat auch das Stadtarchiv Reutlingen diesen Weg beschritten, indem es die dortigen Fragmente durch ein Findbuch erschließen ließ.[2] Nach dem Abschluss des Bandes tauchten weitere Fragmente auf, so dass 1994 eine erweiterte und aktualisierte Version des Findbuches angefertigt wurde. Inzwischen wurden einige wenige weitere Fragmente gefunden, die an dieser Stelle vorgestellt werden sollen.

Die im Reutlinger Fragmentbestand bisher vorherrschenden liturgischen Fragmente behaupten ihre herausragende Stellung auch bei den jetzt neu aufgefundenen. Da die Reichsstadt Reutlingen 1519 evangelisch wurde, waren die bisher verwendeten liturgischen Handschriften überwiegend in relativ kurzer Zeit makuliert worden und sowohl für Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts als auch für die städtischen Rechnungsbücher zweitverwendet worden. Je zwei unterschiedlich umfangreiche Fragmente stammen aus zwei Missalia bzw. aus zwei Brevieren.

Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 1
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

An dem Band der Reichsstädtischen Urkunden und Akten 2644 befindet sich ein zweispaltiges Pergamentfragment in situ.[3] (Abb. 1) Die Ausstattung ist einfach, lediglich eine zweizeilige rote Lombarde markiert den Beginn des Glaubensbekenntnisses. Die Textualis formata stammt aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Es handelt sich hier um einen Ausschnitt aus einem Missale Romanum mit dem Ende des Canon missae. Auf den Hymnus angelicus Qui tollis peccata mundi folgt das Credo. Damit endet der Canon missae in der b-Spalte. Die ursprünglich leere Spalte wurde dann sehr zeitnah in einer eher flüchtigen Textualis, die noch Einflüsse einer spätgotischen Minuskel aufweist, mit einer Lesung aus dem Epheser-Brief (Unicuique nostrum) aufgefüllt.[4] Diese Epistellesung, die üblicherweise an der Vigil zu Ascensio domini gelesen wird, endet auf der ansonsten leeren Verso-Seite.

Ein weiteres Missale-Fragment findet sich als Kopert an dem Band der Reichsstädtischen Urkunden und Akten 3247b.[5] Der Text ist in einer gleichmäßigen Textura aus dem 2. Drittel des 15. Jahrhunderts geschrieben. Alternierende ein- bis zweizeilige rote und blaue Lombarden markieren jeweils die unterschiedlichen Textteile. Dieses Missale Romanum weist Ausschnitte aus dem Proprium de tempore auf und zwar zur Dominica quarta et quinta post epiphaniam sowie zur Feria quarta post dominicam quintam post epiphaniam. Inhaltlich bietet dieses Blatt keine Besonderheiten.

Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 2
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Das erste Fragment aus dem Bereich des Offiziums umfasst zwei kleine Stücke aus einem Brevier, die am oberen und unteren Bindungsrand des Koperts als Verstärkung dienen.[6] (Abb. 2) Die ursprüngliche Zeilenzahl lässt sich nicht mehr feststellen. Wahrscheinlich war der Text zweispaltig angelegt. Auch hier ist die Ausstattung recht schlicht: Rubriken sowie  alternierende rote und blaue einzeilige Initialen. Bei der Schrift handelt es sich um eine gleichmäßige Textualis aus dem 2. Drittel des 14. Jahrhunderts. Die gesungenen Texte weisen einen kleineren Schriftgrad auf. Von einer anderen, wohl zeitgleichen, Hand in Buchkursive wurden Marginalien vorgenommen. Auch hier sind die Texte dem Temporale entnommen und zwar zum Sabbato ante dominicam primam in quadragesima. Inhaltliche Besonderheiten sind keine vorhanden. Lediglich die Hand der Marginalien vermisste im Text offensichtlich die Antiphon Fili tu semper zur Prim und trug diese auf dem linken Rand nach.[7] Demselben Schreiber fiel auch auf, dass der Hymnus Jesu quadragenarie zur Laudes fehlte und ergänzte das Initium auf dem unteren Rand.[8]

Das zweite Brevierfragment ist abgelöst und wird in der Sammlung S 201 aufbewahrt. Ein Trägerband ist nicht bekannt. Der Streifen umfasst eine komplette und eine an der Seite abgeschnittene Spalte. Sein Erhaltungszustand ist relativ schlecht, Löcher und nachgedunkelte Stellen schränken die Lesbarkeit ein. Die alternierenden zwei- bis dreizeiligen roten und blauen Lombarden sind mit Fleuronnée verziert. Das Fragment stammt aus dem 1. Drittel des 14. Jahrhunderts. Sein Inhalt besteht aus den Formularen zur Feria tertia post dominicam V post pascham, sowie zu Ascensio domini.

Bis auf das zuletzt genannte Fragment, von dem ein genauer Fundzusammenhang nicht ermittelt werden konnte, sind die drei zuvor genannten mit einem teilweise großen zeitlichen Abstand makuliert oder zumindest als Makulatur verarbeitet worden. Die Schneiderordnung stammt aus dem Jahr 1564, die Artikel der Gerber aus dem Jahr 1574, der Band mit den Zunftprotokollen der Tucher umfasst die Jahre 1614 bis 1739. Eine Weiterverwendung der Liturgica im Gottesdienst scheidet für eine protestantische Reichsstadt wie Reutlingen zwar prinzipiell aus, in der Praxis dürfte es sich aber weitaus schwieriger gestaltet haben, den Gottesdienst gänzlich ohne die „alten“ Schriften durchzuführen, bevor nicht adäquater Ersatz vorhanden gewesen war. Insofern ist zu vermuten, dass ein Teil der Liturgica eventuell weiter benutzt wurde. Die städtischen Buchbinder erwarben gewiss sehr zeitnah eine große Anzahl liturgischer Handschriften wohl zu einem günstigen Preis, aber auch später waren ausgesonderte liturgische Handschriften auf dem Markt, in die dann entsprechende städtische Bände teilweise erst Jahrzehnte später eingebunden werden konnten.

Bei den beiden weiteren, neu aufgefundenen Fragmenten handelt es sich um Drucke. Von dem 1. Fragment ist lediglich ein schmaler Streifen aus einem nicht mehr zu eruierenden Trägerband mit den Resten einiger Zeilen vorhanden.[9] Im Text sind die Namen von mindestens zwei sehr interessanten Persönlichkeiten erkennbar, Henricus Grave und Sebastian Wolff zu Todenwarth. Henricus Grave konnte auf eine steile Karriere zurück blicken. Als promovierter Jurist wurde er kaiserlicher Kammergerichtsadvokat und Syndicus der Stadt Minden. Später brachte er es zum schwedischen Kanzler im Fürstentum Verden und Geheimen Rat.[10] Der ebenfalls genannte Sebastian Wolff zu Todenwarth, geboren um 1548 in Schleusingen, war wie Grave promovierter Jurist.[11] 1563 studierte er an der Universität Erfurt, anschließend an den Universitäten in Jena und Wittenberg. Im Jahr 1578 ist er als Advokat nachweisbar, später hatte er eine Stellung als Prokurator am Reichskammergericht in Speyer inne.[12] Dort ist er auch nach 1616 gestorben. Noch eine dritte Person lässt sich in dem Streifen erkennen, die die beiden oben genannten verbindet. Hier handelt es sich vermutlich um Anna Maria Wolff zu Todenwarth, die Tochter von Sebastian Wolff zu Todenwarth, die mit Henricus Grave verheiratet war.[13] Möglicherweise könnte es sich bei der genannten mater Anna aber auch um Anna Maria Löscher, die 1. Frau des Sebastian Wolff von Todenwarth, handeln, was aus den wenigen Zeilen nicht genauer hervorgeht.

Der geringe Umfang vermittelt, dass es sich um eine Art Lebensbeschreibung bzw. –widmung handeln muss. Eine Leichenpredigt, der im 17. Jahrhundert häufig biographische Partien angehängt waren, scheidet in diesem Fall aus. Zwar erhielt ein Henricus Grave im Jahr 1669 eine umfangreiche gedruckte Leichenpredigt, aber hier handelt es sich um den gleichnamigen Sohn.[14]

Abb. 3. Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 3
Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Noch ein letztes Fragment ist hier zu besprechen, ebenfalls neuzeitlich und zugleich das inhaltlich interessanteste, das unter der Sammlungssignatur S 201 aufbewahrt wird. (Abb. 3 und 4) Durch die Verwendung als Kopert-Außenseite ist das Fragment vor allem im unteren Teil stark beschädigt. Dort fehlt ein Teil des Textes, außerdem ist der oberer Rand gleichfalls mit Textverlust abgerissen. Als Inhalt ergibt sich zunächst sehr schnell ein Einblattkalender für das Jahr 1603: So man zelt nach Christi geburt M. DC. III. Der Kalender zeigt im Frontispiz eine Darstellung der Grundfesten des christlichen Staates: ganz links die Gerechtigkeit, daneben die drei Stände. [15] Der dritte Stand (ganz rechts) wird hier verkörpert durch einen Waldarbeiter mit Axt und Haumesser. In der linken Leiste sind verschiedene Wappen abgebildet, identifizierbar sind die des deutschen Königs sowie der Erzbistümer Mainz, Köln, Trier und der Königreiche Böhmen, Frankreich, England, Ungarn, Polen, Dalmatien sowie Kroatien. In der rechten Leiste können Teile von sieben Fischpaaren erkannt werden.

Im Hauptfeld befindet sich der Kalender, der Teile der Monate Januar, Februar, Mai, Juni, Juli, September, Oktober sowie November umfasst und der inhaltlich prinzipiell dem Bistum Konstanz zuzuordnen ist. Dies zeigt sich an der Eintragung von entsprechenden Heiligen. So sind zwar bedingt durch das junge Alter gegenüber dem bei Hermann Grotefend gedruckten, für das Bistum Konstanz gültige Kalendarium wesentlich mehr Heilige eingetragen, worunter sich spezifische Konstanzer Feste befinden.[16] Am aussagekräftigsten ist hier zunächst das als Hochfest rot eingetragene Fest der Konstanzer Kirchweihe am 9. September. Einige weitere typische Konstanzer Heilige, wie Konrad oder Gebhard, fehlen aufgrund der fragmentarischen Überlieferung.[17]

Abb. 4. Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Abb. 4. Foto: Stadtarchiv Reutlingen

Dieser Kalender alten Stils war aber für und in eine/r evangelischen Stadt mit entsprechendem Umland gedruckt worden.[18] Unter Einbeziehung des Konstanzer Kalenders, des evangelischen Umfelds sowie von Frontispiz und Seitenleisten kommt den Fischpaaren in der rechten Seitenleiste eine besondere Bedeutung zu. In einem Einblattkalender von 1571 findet sich genau dieses Frontispiz mit den entsprechenden Seitenleisten und bei den Fischen handelt es sich um Fische des Zürichsees. [19] Dieser Druck von 1571 stammt aus der Offizin von Christoph Froschauer d. J. in Zürich.[20] Noch ein weiterer Kalender mit den Fischpaaren ist von Christoph Froschauer d. J. aus dem Jahr 1573 bekannt.[21] Nach dessen Tod 1585 wurde die Werkstatt von den Brüdern Escher übernommen und weitergeführt.[22] Doch bereits 1591 verkaufte Anna Escher, die Witwe von Hans Escher, die Offizin an Johann Wolf, der sie bis zu seinem Tod im Jahr 1627 weiter betrieb. Von Johann Wolf sind bislang sechs Einblattdrucke bekannt, unter denen sich der jetzt im Stadtarchiv Reutlingen aufgefundene jedoch nicht befindet.[23]

Ein Vergleich der beiden Kalendarien ergab eine weitest gehende Übereinstimmung. Bedauerlicherweise ist gerade bei dem Eintrag der Züricher Kirchweihe am 12. September das Reutlinger Exemplar nicht mehr lesbar. Es könnte sein, dass das im Kalender von 1571 rot eingetragene Fest im Reutlinger Exemplar nicht durch die Farbe als Hochfest herausgehoben wurde, mit Sicherheit lässt sich dies aufgrund der Zerstörung allerdings nicht sagen.

Es ist für Einblattkalender nicht ungewöhnlich, dass sich aus einzelnen Jahren mehrere Exemplare überliefert haben, aus anderen Jahren jedoch kein einziger. Das Reutlinger Exemplar dieses Züricher Kalenders von 1603 dürfte somit das einzig bekannte Stück sein.[24]

Zu den 1991/1994 bearbeiteten Fragmenten lassen sich in einigen Fällen genauere Angaben machen. Bei Nr. 62 handelt es sich um Ausschnitte aus dem Jesaja-Kommentar des Hieronymus (Buch III, cap. 7, Verse 11-14 sowie 20-21).[25] Der Text des Fragmentes Nr. 199 konnte inzwischen als Auszug aus einer Biblia latina, Act 11,21-30 identifiziert werden.[26] Weiterhin handelt es sich bei dem Fragment Nr. 195 um einen Auszug aus der Legenda aurea des Jacobus de Voragine mit Ausschnitten aus der Vita des Gregorius sowie der Legende zum Fest Purificatio Mariae.[27]

[1] Die neueste Publikation aus Bibliotheken: Katalog der lateinischen Fragmente der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 3: Clm 29550-29990, beschrieben von Hermann Hauke und Wolfgang-Valentin Ikas (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monancensis IV, pars 12.3), Wiesbaden 2013. Eine Übersicht unter Berücksichtigung der Fragmente demnächst bei Maria Gramlich: Die Bibliothek der Abtei Ottobeuren, VIII. – XIII. Jahrhundert.
[2] Stadtarchiv Reutlingen, Findbuch zur Sondersammlung S 201: Abgelöste Bucheinbände, Reutlingen 1991, Reutlingen 21994; Dazu Anette Löffler, Das unscheinbare Kleid alter Bücher. Die Reutlinger Sondersammlung „Abgelöste Bucheinbände“, in: Reutlinger Geschichtsblätter NF 33 (1993), S. 1-87.
[3] Es handelt sich bei dem Trägerband  um die Artikel der Gerber von 1574.
[4] Eph 4,7-13.
[5] Der Trägerband beinhaltet die Zunftprotokolle der Tucher von 1614-1739.
[6] Die Signatur des Trägerbandes lautet RUA 3132, dies ist die Schneiderordnung von 1564.
[7] Réne-Jean Hesbert, Corpus antiphonalium officii, Bd. 3: Invitatoria et antiphonae (Rerum ecclesiasticarum documenta, Series maior, Fontes 9), Rom 1968, Nr. 2875.
[8] Analecta Hymnica Medii Aevi, Bd. 51: 51. Thesauri hymnologici hymnarium : Die Hymnen des Thesaurus hymnologicus H. A. Daniels und anderer Hymnen-Ausgaben, hg. von Clemens Blume, Leipzig 1908, Nr. 58; Ulysse Chevalier, Repertorium Hymnologicum. Catalogue des chants, hymnes, proses, tropes en usage dans l’église latine depuis les origines jusqu’à nos jours, Band 2, Löwen 1897, ND Brüssel 1959, Nr. 9607.
[9] Er wird aufbewahrt unter der Sammlungssignatur S 201.
[10] Fritz Roth, Auswertung von Leichenpredigten, Bd. 1: R 1 – R 1000, Boppard 1959, S. 396.
[11] Eckhart G. Franz (Bearb.), Familienarchiv Wolff von Todenwarth (Bestand O 4). Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, Darmstadt 1984/2006, S. V.
[12] Friedrich Battenberg (Hg.), Das Reichkammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 57), Köln 2010.
[13] Franz (wie Anm. 11), S. V.
[14] Roth (wie Anm. 10), R 762, S. 395-396. Zu seiner Leichenpredig: Güldener Trost-Löwe [..], gedruckt bei Johann Walther, [Lüneburg] 1669; eingesehen in SUB Göttingen, Sign.: Alv. T 172 (1).
[15] Hellmut Rosenfeld, Kalender, Einblattkalender, Bauernkalender und Bauernpraktiken, in: Bayrisches Jahrbuch für Volkskunde 1962, S. 7-24, hier S. 16.
[16] Hermann Grotefend, Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Bd. I, Hannover 1891, S. 86-90. Das Kalendarium bei Grotefend geht auf Handschriften des 15. und frühen 16. Jahrhunderts zurück.
[17] Wolfgang Müller, Studien zur Geschichte der Verehrung des heiligen Konrad, in: Freiburger Diözesanarchiv 95 (1975), S. 150-314, hier S. 212-224.
[18] Freundliche Mitteilung von Josef H. Biller (München) vom 15. Dezember 2013.
[19] Rosenfeld (wie Anm. 15), S. 16 mit Abb. 6.
[20] Ursula Baumgartner, Einblattkalender aus der Offizin Forschauer in Zürich. Versuch einer Übersicht, in: Gutenberg-Jahrbuch 1975, S. 122-135, hier Nr. 28, S. 133. Von dem Druck von 1571 befinden sich Exemplare in der UB Bern sowie der BSB München. Letztere besitzt kein Exemplar des Drucks von 1603, freundliche Mitteilung von Helga Tichy (München) vom 8. Januar 2014.
[21] Ursula Baumgartner, Vier Wandkalender aus der Offizin Froschauer, in: Gutenberg-Jahrbuch 1976, S. 152-157.
[22] Christoph Reske / Josef Benzing, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51), Wiesbaden 2007, S. 1040-1045.
[23] Paul Leemann-van Elck, Die zürcherische Offizin Wolf 1591-1626, in: Schweizer graphischer Zentralanzeiger 50 (1944), S. 1-3. Manfred Vischer, Züricher Einblattdrucke des 16. Jahrhunderts, Baden-Baden 2001.
[24] In der Kalendersammlung des ZB Zürich ist kein Exemplar bekannt, freundliche Mitteilung von Anikó Ladány (Zürich) vom 19. Dezember 2013.
[25] Hieronymus, Commentariorum in Esaiam libri I-XI, hg. von Marinus Adriaen (Corpus Christianorum Series Latina 73), Turnhout 1963, S. 100-188.
[26] Robert  Weber, Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem, Stuttgart 52007.
[27] Johanne Georg Theodor Graesse (Hg.), Jacobi a Voragine Legenda aurea, vulgo Historia Lombardica dicta, Leipzig 1890, cap. 37, S. 160-161 und cap. 46, S. 197-198.

D O W N L O A D  (pdf)

Empfohlene Zitierweise

Anette Löffler: Neu aufgefundene Makulatur aus den Beständen des Stadtarchivs Reutlingen, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 27. Februar 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3118 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3118

Weiterlesen

Matthias Bischel: Die Netzwerke des Gustav von Kahr. Workshop Weimar / Personengeschichte

Abstract zum Dissertationsvorhaben.

Der hohe Verwaltungsbeamte Gustav Ritter von Kahr (1862-1934), in erster Linie bekannt als kurzzeitiger Bayerischer Ministerpräsident (1920/21) sowie als Generalstaatskommissar (1923/24) mit ungeklärter Rolle beim Münchener Hitlerputsch, ist bis heute ein in Publizistik und Wissenschaft häufig thematisierter und diskutierter Akteur. Insbesondere die mit der Entwicklung der zum Teil radikal antidemokratischen Bewegungen im Umfeld der sogenannten `Ordnungszelle Bayern´ befasste Literatur bemüht sich seit Jahrzehnten, die Rolle des rechtskonservativen und zudem klischeebehafteten Politikers in diesem Kontext zu beschreiben und einzuordnen.
Umso seltener und zumindest auf den ersten Blick durchaus überraschend tritt uns hingegen die Person des Gustav von Kahr als Protagonist, das heißt als eigenständiges, um seiner selbst willen behandeltes Objekt der Forschung entgegen; über den Rahmen einiger knapper Aufsätze und themenspezifischer Beiträge hinaus liegt bislang keine umfassendere Arbeit zur “bayerischen Napoleonsgröße von 1923″ (Wilhelm Hoegner) vor.

Auch das hier vorgestellte Dissertationsvorhaben ist nicht als erschöpfende Lebens-beschreibung im klassischen Sinne angelegt. Wird diese Aufgabe eher durch Kahr selbst in der demnächst abgeschlossenen kommentierten Erstpublikation seiner umfangreichen Memoiren erfüllt, will die geplante Studie die darüber hinausgehende Gelegenheit ergreifen, einen privilegierten Einblick in die Lebenswelt der um den zeitweiligen Ministerpräsidenten und Generalstaatskommissar feststellbaren Personengruppen zu gewinnen. Die unter anderem auf den Ergebnissen der Edition aufbauenden Erkenntnisinteressen lassen sich wie folgt definieren:
Einerseits soll die Rekonstruktion des Kontaktumfeldes einer der maßgebenden Figuren des national-konservativen Bayern dazu dienen, den potenziellen Aktionsradius des sich selbst als politische Funktionselite begreifenden Staatsbeamtentums auszuloten, um damit den weiterhin bestehenden Einfluss dieses nicht demokratisch legitimierten Kollektivs kurz vor und vor allem kurz nach der verfassungsrechtlichen Parlamentarisierung zu taxieren.
Andererseits ist parallel dazu in Umkehrung dieser stärker personenzentrierten Perspektive beabsichtigt, in Emanzipation von einer rein strukturalistischen Betrachtungsweise die Gestalt und Funktionsweise verschiedener, meist auf München konzentrierter Netzwerke nachzuvollziehen. So wird der Versuch unternommen, ausgehend von der realen Einbindung eines herausragenden Vertreters seiner Gesellschaftschicht die bestehenden Kenntnisse über Querverbindungen und aktives Kontaktmanagement innerhalb sowie zwischen den untersuchten Kreisen zu bündeln und zu vertiefen.
Die analytische Betonung einer solchen kontextorientierten Akteursperspektive wird die Dynamisierung jenes sich wechselseitig ergänzenden Ansatzes ermöglichen: Erleichtert sie bereits die Beobachtung der zeitlichen und räumlichen Entwicklung der Beziehungsgeflechte, erhöht sie insbesondere die Sensibilität für deren gezielten Einsatz als politisches Instrument und soziale Ressource, das heißt für deren tatsächliche Relevanz.
Kompakt formuliert versucht die Studie also über die Beschreibung von netzwerkbasierten Rekrutierungs-, Mobilisierungs- und Umsetzungsprozessen eine Annäherung an den Politikstil der Zeit in Ergänzung zu den inzwischen gängigen diskursanalytischen oder symbolorientierten Methoden zu leisten.

Die für das Thema einschlägige Überlieferungssituation begünstigt im Grundsatz die angedeutete Herangehensweise: Denn legte Kahr beim Verfassen der schon erwähnten Lebenserinnerungen ohnehin viel Gewicht auf die Darstellung der freilich nicht durchgehend vollständig und adäquat beschriebenen Kontakte, erlauben neben seinem eigenen über 30 zum Teil sehr aussagekräftige Nachlässe wichtiger Bezugspersonen aus Verwaltung, akademischen Umfeld, Heimatschutzbewegung, Künstlerkreisen, Landwirtschaft und nationalen Verbänden die kritische Bewertung dieser Verbindungen. Zusätzlich bereichert wird der zentrale Überlieferungskorpus durch Bestände der mit den aufgeführten Tätigkeitsfeldern befassten Institutionen sowie durch im Karriereverlauf Kahrs entstandene Verwaltungs-, Personal- und Handakten bei verschiedenen Behörden; des weiteren nicht zu vergessen sind gedruckte Quellen wie Zeitungsartikel, veröffentlichte Reden oder zeitgenössische Publizistik.

Bietet somit die Zentrierung auf einen bekannten Angehörigen der genannten Netzwerke eine aussichtsreiche Strukturierungsmöglichkeit der vorhandenen Überlieferung, muss die vor diesem Hintergrund entworfene Vorgehensweise ebenso die durch die Quellenlage gesteckten Grenzen der Erkenntnis berücksichtigen: Denn lässt das vorhandene Material zwar Verbindungslinien zu allen relevanten Kreisen erkennen, machen zugleich dessen unterschiedliche Dichte und in einigen Fällen sogar recht ausgeprägte Lücken die Durchführung einer statistisch-systematischen Netzwerkanalyse letztlich unmöglich.
Der stattdessen bei der konzeptionellen Umsetzung gewählte Blick auf das jeweilige Zusammenwirken der identifizierten Beziehungskreise bei ausgewählten Gelegenheiten – etwa beim Besuch Hindenburgs 1922, bei der `Rettung´ historischer Gebäude oder bei der personellen Besetzung des Generalstaatskommissariats – verlegt sich daher auf die Beobachtung der Netzwerke in Aktion. Neben der teilweisen Kompensation der aufgrund der Überlieferungsdefizite vorhandenen Erkenntnisbeschränkungen liegt der zusätzliche Vorteil einer derartigen Herangehensweise auf der Hand: Der Gefahr einer monokausalen Erklärungstendenz von vorneherein begegnend wird es auf diese Weise möglich sein, zu unterschiedlichen Zeitpunkten die vorgestellten Sozialgefüge in den Blick zu nehmen, um angesichts von Situationen praktischer Bewährung zu einer realistischen Einschätzung ihres Entwicklungsstandes, ihrer Funktionen und ihrer jeweiligen Beanspruchung zu gelangen.
Damit wird ein wesentlicher Beitrag der vorbereiteten Studie darin bestehen, über das feststellbare Ausmaß der erfolgreichen Aktivierung sozialen Kapitals die tatsächliche Bedeutung jener meist sorgfältig gepflegten Beziehungssysteme zu bestimmen und damit zugleich die nicht zuletzt auf diesem Fundament ruhende Machtposition Gustav von Kahrs näher einzuordnen.

Da es freilich zu weit führen würde, im Rahmen des Workshops das inhaltliche oder konzeptionelle Fundament des Vorhabens im Detail vorzustellen, soll die skizzierte Vorgehensweise mit Blick auf die autobiographische Selbsteinschätzung Kahrs veranschaulicht und konkretisiert werden: Mit der Rekonstruktion des in den Erinnerungen beschriebenen Kontaktumfeldes stellt der Vortrag die zentrale Arbeitsgrundlage der Studie vor und versucht die Zuhörerschaft mit den Potenzialen und Herausforderungen des Projektes vertraut zu machen.

 

Zurück zum Themenbereich Personengeschichte

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/1486

Weiterlesen

„Verachtet ist der nackte Mann“. Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasǫgur und Íslendingaþættir

Wikingerzeitliches Frauengewand (Foto: Anita Sauckel 2012)

Wikingerzeitliches Frauengewand (Foto: Anita Sauckel 2012)

1000 Worte Forschung: Dissertation LMU München, abgeschlossen im Juli 2012

Das Textkorpus der Isländersagas umfasst ungefähr drei Dutzend in altisländischer Sprache verfasste literarische Prosatexte von unterschiedlicher Länge, die über die Geschehnisse auf Island von den ersten Siedlern (ca. 870 n.Chr.) bis zum Ende der sogenannten Sagazeit (1030 n.Chr.) berichten. Im Mittelpunkt stehen die Schicksale der mächtigsten isländischen Familien des mittelalterlichen Freistaats.

Seit dem 19. Jahrhundert stehen die Isländersagas im Interesse altnordistischer Forschung. Weiterhin werden sie als Ergänzung zu Bildquellen und Bodenfunden herangezogen, um Lücken bei der Rekonstruktion wikingerzeitlicher Tracht zu schließen. Unproblematisch ist diese Vorgehensweise nicht: Immerhin erfolgte die Niederschrift der Isländersagas in einem zeitlichen Abstand von 200 bis 300 Jahren zu den geschilderten Ereignissen. Als gesichert gilt, dass keine Saga vor dem 13. Jahrhundert niedergeschrieben wurde. Hinzu kommt, dass sich Textilfunde von den in den Texten beschriebenen Kleidungsstücken deutlich unterscheiden, dass die Terminologie einzelner Gewänder unpräzise ist und Stoffbezeichnungen nicht auf die Beschaffenheit der Stoffe schließen lassen bzw. Sammelbezeichnungen für eine Gruppe textiler Gewebe sind. Umso erstaunlicher ist es, dass die minutiös beschriebenen Kleidungsstücke von literaturwissenschaftlicher Seite meist ausschließlich als Illustration einer mittelalterlichen Umwelt interpretiert wurden. Die zahlreichen Beschreibungen seien ein „glänzendes Beiwerk“[1], ein „Zusatz, der des erzählten Hergangs wegen unnötig“[2] sei. Untersuchungen von Kleidung sind für die Isländersagas und Íslendingaþættir (novellenartige Erzählungen, die meist in Königssagas eingeschoben sind) bisher überhaupt nur im Rahmen eng gefasster Einzelstudien von geringem Umfang erfolgt.

Doch wird Kleidung schon in der nordischen Mythologie als integrativer Bestandteil des Menschseins verstanden: So berichtet Snorri Sturluson von der Schöpfung der Menschen durch die Götter, die diese aus Holz formten und ihnen „Namen und Kleidung“[3] gaben. Strophe 49 des Götterliedes Hávamál erwähnt das Einkleiden zweier anthropomorpher Holzfiguren, die sich daraufhin für Menschen halten. Die Strophe schließt mit dem Vers „Verachtet ist der nackte Mann“ (neiss er nøcqviðr halr)[4] – der Mensch wird erst durch Bekleidung zum Kulturwesen.

Ziel meiner Dissertation war eine detaillierte Analyse der in den Isländersagas und Íslendingaþættir auftretenden Kleiderstellen hinsichtlich ihrer unterschiedlichen literarischen Funktion, also vor allem eine durch Kleidung ausgedrückte soziale und psychologische Figurencharakterisierung. Es zeigte sich, dass die meisten Beschreibungen der Veranschaulichung sozialer und geschlechtlicher Distinktionen sowie dem Ausdruck von Emotionen, dienen. Auch handlungsweisende Vorausdeutungen gestalteten die Verfasser der Isländersagas durch das gezielte Einsetzen von Kleidungsstücken und machten die Kleidung somit zu einem integrativen Bestandteil des Sagastils.

So versinnbildlicht die Beschreibung der Kleidung von Oberschichtangehörigen mehr als nur das Vorhandensein ökonomischen Reichtums: Das Zusammenspiel von kostbaren Gewändern, körperlicher Schönheit und vornehmen Tugenden betont die Bedeutsamkeit einzelner Helden über bloßen Besitz hinaus. Gesellschaftliche Großereignisse wie Thingversammlungen dienen den Sagahelden als Bühne zur Präsentation exklusiver Gewänder und somit zur Repräsentation des eigenen sozialen Status. Besonders prachtvoll ausstaffiert sind junge Isländer, die von ihren Auslandsfahrten an fremdländische Königshöfe zurückkehren, wo sie sich Ansehen, Ruhm und Ehre erworben haben. In seltenen Fällen widerfährt den Protagonisten durch Kleidergeschenke auch eine Erhöhung im christlichen Sinne: So erhält der Titelheld der Bjarnar saga Hítdœlakappa von König Óláfr helgi von Norwegen einen seidenen Wadenriemen zum Geschenk, mit dem er sich sogar bestatten lässt. Der mit der Heiligkeit des Königs durchdrungene Seidenriemen verrottet nicht und wird nach der Hebung des Grabes in eine Kirche gebracht, wo er fortan als Gürtel eines Messgewandes Verwendung findet.

Gut gekleidete Helden beeinflussen das Handlungsgeschehen meist positiv. Ausnahmen stellen gut angezogene „fremde Skandinavier“ dar, bei denen es sich häufig um Norweger handelt. Sie sind trotz ansprechendem Äußeren und hohem sozialen Status oftmals negative Figuren, die dem Helden entweder Schaden zufügen oder ihn gar töten wollen.

Die Vertreter der Unterschicht, die durch ihre schlechte Kleidung sozial stigmatisiert werden, stehen diesen Sagahelden gegenüber. Zu dieser Gruppe gehören Bettler, Landstreicher und Sklaven, aber auch Geächtete und Narren. Ihre ärmlichen, teils ungezieferverseuchten Gewänder offenbaren jedoch auch spezifische Charaktereigenschaften ihrer Träger: Insbesondere die unpassende Kleidung der Sklaven brandmarkt diese nicht selten als Trottel. Die in manchen Fällen bewusst gewählte schlechte Bekleidung der Narren drückt entweder – im Sinne einer erweiterten psychologischen Figurencharakterisierung – die (jugendliche) Unreife ihrer Träger aus oder lässt Sozialkritik aufscheinen. So ignoriert der Titelheld des Hreiðars þáttr heimska bewusst den gut gemeinten Ratschlag seines Bruders, sich am Fürstenhof in erlesene Kleidungsstücke zu hüllen, um die Prunksucht der in der Halle versammelten Gefolgsleute zu karikieren. Unpassende Kleidung ermöglicht Vertretern der Oberschicht darüber hinaus eine Vielzahl von Verkleidungen, mit deren Hilfe sie Ziele erreichen, die ihnen normalerweise verwehrt bleiben würden: So machen die heimliche Beschaffung von Informationen, das Ausführen von Rachetotschlägen oder der Schutz des eigenen Lebens vor Mordanschlägen das gekonnte Einsetzen der Maskerade erforderlich. In der Hallfreðar saga vandræðaskálds verkleidet sich der Titelheld sogar mit großem Aufwand, um einen bekehrungsunwilligen Heiden zu verstümmeln. Durch die Maskerade (sowie durch Devestitur) werden schließlich die Grenzen sozialer Kleiderdistinktion deutlich. Ein Übertreten dieser Grenzen ist charakteristisch für das Kleidungsverhalten der Zauberer; ihre Kombination von Ober- und Unterschichtgewändern lässt keine soziale Einordnung zu.

Kleidung dient in den Isländersagas auch zur geschlechtlichen Distinktion. Von besonderem Interesse ist das Verhältnis von Rollenverhalten und Gewand, das an denjenigen Stellen am deutlichsten hervortritt, an denen Kleidernormen übertreten werden. So nutzen einige Sagafiguren den vestimentären Geschlechterrollenwechsel (Transvestismus), um Ziele zu erreichen, die sie sonst nicht erreichen können. Anders als in kontinentaleuropäischen literarischen Zeugnissen des Hochmittelalters spielt sexuelles Begehren bei dieser Form des Kleidertauschs keine Rolle. Besonders auffallend ist aber das beinahe vollständige Fehlen travestierter männlicher Helden. Allein der Verdacht, ein Mann könne sich weiblich verhalten oder gar weibliche Kleidung tragen, zerstört dessen Ehre unwiederbringlich und bedeutet den Ausschluss aus der Gesellschaft und den Tod. Hingegen verkleiden sich Frauen durchaus als Männer, um sich vor Übergriffen zu schützen oder ihre beschädigte Ehre wiederherzustellen. Ihr Spiel mit den Geschlechterrollen wird zumeist nicht sanktioniert.

Schließlich dienen die Beschreibungen von Kleidung der Veranschaulichung von Emotionen. Aggression, Trauer, Wut aber auch Freude, Liebe und Zuneigung werden von den Sagaverfassern mittels Kleidungsstücken verdeutlicht. Inneres durch Äußeres auszudrücken, gehört zu den Charakteristika des Sagastils: Besonders spannend ist die Beobachtung, dass das Tragen von Kleidungsstücken in der Farbe blár (blau, blauschwarz, schwarz) stets Aggression bis hin zur Mordlust indiziert: So berichtet die Valla-Ljóts saga von Ljótr Ljótólfsson, dass er jedes Mal, wenn ihn die Mordlust (víghugr) überkomme, einen blauschwarzen Rock trage.

Die Verfasser der Isländersagas haben dem Kleidungsverhalten ihrer wikingischen Vorfahren enorme Bedeutung beigemessen. Sie folgten weniger den Vorgaben einer realen wikingerzeitlichen Tracht (wie archäologische Funde sie zeigen), sondern erhoben Kleidung vielmehr zu einem gelehrten Konstrukt und ließen sie zum integralen Bestandteil ihrer Schreibkunst werden. Für die altertumskundliche Diskussion verdeutlicht das nicht zuletzt die methodischen Probleme einer Abgleichung von Sachfund und literarischem Befund. Für die weiterhin intensiv betriebene Sagaforschung hat die Untersuchung nicht zuletzt aufgezeigt, wie bereichernd eine intensivere Analyse vermeintlich bedeutungslosen Beiwerks sein kann.

Anita Sauckel (2013): Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasǫgur und Íslendingaþættir (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 83). Berlin/Boston.

[1]     Heller, Rolf 2009: Überlegungen zur Brünne in der Laxdœla saga. In: Heizmann, Wilhelm/Klaus Böldl/Heinrich Beck (Hg.): Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 65). Berlin/New York. S. 169–184. Hier: S. 169.

[2]     Kuhn, Hans 1971: Das alte Island. Düsseldorf. S. 76.

[3]     Gylfaginning, c. 9. In: Snorri Sturluson. Edda. Prologue and Gylfaginning, herausgegeben von Anthony Faulkes. 2. Auflage. London 2005. S. 13.

[4]     Hávamál, St. 49. In: Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern I. Text. 5., verbesserte Auflage von Hans Kuhn. Heidelberg 1983. S. 17–44. Hier: S. 24.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2954

Weiterlesen

Stefan Lülf: Die Rolle der bayerischen Kommunalverwaltungen im Flugverkehr der Weimarer Republik. Workshop Weimar / Infrastruktur- und Kommunalgeschichte

In der Weimarer Republik begann in Deutschland der zivile Flugverkehr. Bereits 1919 richtete der „Rumpler Luftverkehr“ eine Verbindung von Augsburg über München nach Berlin ein, was den Auftakt des regelmäßigen Linienverkehrs in Bayern darstellte (auch wenn diese Strecke bereits nach wenigen Monaten wieder eingestellt wurde). Insbesondere in denJahren 1924-1930 erlebte der Freistaat, wie auch andere Teile der Republik, eine regelrechte Euphorie um das neue Verkehrsmittel. Sehr viele, auch kleinere Städte bemühten sich, einen Anschluss an das Luftverkehrsnetz zu erhalten. Insgesamt gelang es dabei 11 bayerischen Städten innerhalb der Weimarer Republik zeitweise an den regelmäßigen zivilen Linienflugverkehr angeschlossen zu werden (München, Nürnberg/Fürth, Augsburg, Regensburg, Bayreuth, Hof, Schweinfurt, Coburg, Bamberg, Würzburg, Bad Reichenhall). Im hier kurz skizzierten Wachstum des Liniennetzes spielten die Städte eine sehr große Rolle, da sie nicht nur die Landeplätze samt Einrichtungen (wie z.B. Flugzeughallen) zur Verfügung stellten, sondern sich auch an der Subventionierung der Strecken beteiligten (die Subventionsquote der Fluglinien lag in dieser Zeit in der Größenordnung von 70-80% der Kosten). Diese Würdigung der Bedeutung der Städte ist in der Forschung zum Luftverkehr der Weimarer Republik Konsens, jedoch fehlt bisher eine über Einzelfallstudien hinausgehende Erarbeitung der hinter dem Engagement der Kommunalverwaltungen stehenden Diskussionen. Das soll die hier vorgestellte Dissertation für Bayern leisten. Aufbauend auf dem Bestand des federführenden bayerischen Staatsministeriums für Handel, Gewerbe und Industrie, werden hierzu die Akten in den relevanten Stadtarchiven als Quellen dienen. Das Ziel der Arbeit ist es, zum einen die Rolle lokaler Strukturen in der Erfolgsgeschichte (?) des neuen Verkehrsmittels zu erarbeiten, zum anderen die Diskurse vor Ort nachzuvollziehen, die zu einer aktiven Rolle der Stadt führten. Hierbei soll untersucht werden, welche Akteure mit welchen Argumenten den Prozess anstießen und unterstützten, sowie welche Hindernisse und Gegner die Idee eines Anschlusses an das Flugnetz hatte. Auf Basis der bisherigen Quellenarbeit werden derzeit u.a. folgende vereinfacht dargestellte Gedankengänge über die Rolle der Kommunalverwaltungen verfolgt:

■ Ob der von vielen Städten angestrebte Anschluss gelang, hing in erster Linie daran, ob ein Platz im kommunalen Eigentum zur Verfügung stand. Wenn dies nicht der Fall war, wurde der Plan in den Zeiten der Euphorie zwar verfolgt, dann aber wieder fallen gelassen, als die Stimmung Ende der 1920er Jahre langsam umschlug.

Nachdem der Flugverkehr die hohen Erwartungen nicht zu erfüllen schien, nahm die Euphorie ab. Jedoch finanzierten diejenigen Städte, die bereits Geld in einen Flugplatz investiert hatten, den Verkehr noch weiter (Pfadabhängigkeit?), bis dann in Folge der Weltwirtschaftskrise 1930/31 die meisten Städte die Subventionierung einstellten und der Kurzstreckenverkehr zusammenbrach.

■ Eine sehr aktive Gruppe in den Bestrebungen fast aller Städte sind die in zahlreichen Vereinen organisierten ehemaligen Piloten aus dem ersten Weltkrieg. Im Streben nach Sportflugplätzen verbanden sie die Bitte um städtische Unterstützung mit der Möglichkeit, die Stadt an das Luftverkehrsnetz anzubinden. Eine Herausforderung der Arbeit besteht darin, den in den Akten sehr gut zu greifenden politischen Diskurs in den bayerischen Städten in einen breiteren Kontext zu stellen. So ist zum Beispiel die Diskussion um Sinn und Unsinn der Kurzstrecke ein zentraler Streitpunkt in den Fachkreisen dieser Zeit, zu der unzählige Denkschriften in ganz Deutschland existieren. Darüber hinaus kann das Verhalten der Akteure in den Kommunalverwaltungen nur vor dem Bild der Euphorie rund um die „Krone der Verkehrsmittel“ verstanden werden. Hierfür sollen punktuell andere Quellenarten wie Filme, Illustrierte, Werbeplakate etc. herangezogen werden, ohne sich jedoch von der zentralen Fragestellung zu weit zu entfernen. Ebenso sollte die Arbeit um eine wirtschaftliche Betrachtung ergänzt werden, die sich die umfangreichen Passagierstatistiken der Fluglinien zu Nutze macht. Diese erlauben Einblicke in das Reiseverhalten der bayerischen Fluggäste und sind zugleich auch Argumentationsmaterial in den Diskussionen der Städte.

 

Zurück zum Themenbereich Kommunal- und Infrastrukturgeschichte

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/1357

Weiterlesen

Thomas Schütte: Michael Kardinal von Faulhaber in der bayerischen Politik. 1918-1933. Workshop Weimar / Personengeschichte

Michael Kardinal von Faulhaber war von 1917 bis zu seinem Tod 1952 Erzbischof von München und Freising und geborener Vorsitzender der Freisinger Bischofskonferenz. Er war damit der bedeutendste Kirchenführer Bayerns und verfügte – ab 1921 als Kardinal und als enger Vertrauter des Apostolischen Nuntius und Kardinalstaatssekretärs Eugenio Pacelli – über beste Beziehungen in den Vatikan. Auf seinen USA-Reisen 1923 und 1926 knüpfte er wichtige Kontakte in den amerikanischen Katholizismus. Meine Arbeit befasst sich zum einen mit seinem Einfluss auf und seiner Rolle in der bayerischen Politik der Zwischenkriegszeit – als Kultuspolitiker, als Innen- und Außenpolitiker, und besonders als Symbolfigur für verschiedene Bevölkerungsgruppen. Zum anderen geht sie der Frage nach, auf welchen Wegen und über welche Netzwerke und Foren Faulhaber in die politische Sphäre (besonders auch in die Bayerische Volkspartei) wirken konnte, was zu seiner Meinungsbildung zutrug, wie viel Spielraum innerhalb gesetzlicher und vom Heiligen Stuhl vorgegebener Standpunkte ihm selbst blieb.

 

Das Zentrum der Quellen für diese Dissertation bilden die 2010 wieder in kirchlichen Besitz gelangten (und seit 2012 der Forschung zugänglichen) Besuchstagebücher Kardinal Faulhabers, verfasst in Gabelsberger-Stenographie. In ihnen notierte Kardinal Faulhaber für seine gesamte Amtszeit als Bischof 1911 bis 1952 jeden Besuch, den er erhalten oder getätigt hatte, mitsamt einer Angabe des Gesprächsinhaltes und der Argumentationsstruktur seines Gegenübers. Aufgrund von Faulhabers engen Kontakten mit den führenden Gestalten der bayerischen Landespolitik finden sich in diesen Besuchstagebüchern zahlreiche vertrauliche Gespräche, in denen bayerische Landespolitik und Landeskirchenpolitik gestaltet wurde und zu denen oft keine Parallelüberlieferung existiert. Darüber hinaus scheinen in diesen Aufzeichnungen – wie in keiner zweiten zeitgenössischen Quelle – die politische Kommunikationsstuktur Münchens und die Netzwerke der politischen und geistlichen Akteure auf Lokal- Landes- und Reichsebene auf.

 

Manche Persönlichkeiten geraten hierbei schnell in den Blick: Die Kabinettsmitglieder der Bayerischen Volkspartei, jene Geistlichen, die als Abgeordnete dem Land- und Reichstag angehörten, die apostolischen Nuntien von München und Berlin. Die Rolle anderer Akteure in Faulhabers politischen Netzwerken, wie der weiteren Mitglieder der Freisinger Bischofskonferenz, der Ministerialbürokratie, der abgedankten königlichen Häuser oder des alten bayerischen Hofadels  sind weit undurchsichtiger.

 

Für alle diese Personengruppen finden sich in den Besuchstagebüchern ausführliche Eintragungen, der Kreis der Akteure ist jedoch so groß und wenig scharf getrennt, dass bei herkömmlichen Verfahren der Quellenauswertung die Übersicht nicht gewährleistet ist. Es drängt sich daher der Einsatz der Methode der EDV-gestützten, quantitativen Netzwerkanalyse deutlich auf; die Quellenbasis ist mit den seriellen, dynamisch gestaffelten und außerordentlich vollständigen Besuchsnotizen hierfür besonders geeignet. Die Ergebnisse einer rein quantitativen Netzwerkanalyse – der Netzwerkgraph und mathematisch errechnete Zentralitäts- und Netzwerkdichtewerte – erlauben jedoch keine valide Beantwortung der Fragestellung.

Dieser Problematik wird mit einer Kombination aus formaler (d.h. quantitativer) und qualitativer Netzwerkanalyse begegnet: Der Netzwerkgraph ermöglicht eine strukturierte Übersicht über die Beziehungskonstellationen, sowie die Bestimmung von strukturellen Schlüsselpersonen. Die Quellenbasis wird zu diesem Zweck um die schriftlichen Auslaufregister des Erzbischöflichen Sekretariates (um rein per Schriftverkehr geführte Kontakte Faulhabers abzubilden) und Beziehungsdaten aus Korrespondenzen verwandter Nachlässe (um weitere Informationskanäle zu identifizieren) erweitert.  Die gewonnenen Erkenntnisse werden in einem folgenden Schritt anhand der Quellen aufgearbeitet und in die chronologische Gesamtdarstellung eingeordnet.

 

 

Zurück zum Themenbereich Personengeschichte

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/1350

Weiterlesen

Maria Magdalena Bäuml: Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus zwischen 1926 und 1933. Workshop Weimar / Institutionengeschichte

Seit 1924 wurde Bayern durch eine Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Heinrich Held geführt. Dessen Amtszeit brachte zunächst eine Beruhigung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht mit sich, insbesondere im Hinblick auf die Turbulenzen der Zeit zuvor wie dem Hitlerputsch. Doch dass die Konsolidierung nur oberflächlich war, zeigte sich innerhalb kürzester Zeit. So wies der bayerische Staatshaushalt bereits seit 1925 ein wachsendes Defizit auf. Aus dieser Verschärfung der wirtschaftlichen Situation nach der Weltwirtschaftskrise 1929, entwickelte sich in Bayern 1930 auf politischer Ebene eine Regierungskrise, die schließlich zum Austritt des Bauernbunds aus der Regierungskoalition mit der BVP führte, und damit zu einer bis 1933 geschäftsführend im Amt bleibenden Regierung Held. Diese musste sich nun der zunehmend aggressiveren Agitation radikaler politischer Gruppierungen aus unterschiedlichen Lagern zu auseinandersetzen, insbesondere mit den offensiv auftretenden Vertretern der NSDAP.

In meiner Arbeit untersuche ich die Arbeit des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zwischen 1926 und 1933. Angesichts der wirtschaftlichen Einschränkungen und politischen Unsicherheit stellt sich die Frage, inwiefern es möglich war, überhaupt staatliche Kulturpolitik zu betreiben. Konnte das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus angesichts der wirtschaftlichen und politischen Krisenphänomene gestaltend tätig werden oder musste man damit zufrieden sein, den aktuellen Bestand an kulturellen Einrichtungen und Werken zu bewahren? Oder mussten gerade in diesem Bereich, der noch primär in den Kompetenzbereich der Länder fiel und dem in der bayerischen Argumentation für die Eigenständigkeit des Landes somit eine hohe symbolische Bedeutung zukam, die Gestaltungsmöglichkeiten weiterhin und mit aller Macht ausgeschöpft werden? Darüber hinaus gilt ein weiteres Untersuchungsinteresse der Frage: Wie reagierte man von Seiten des Kultusministeriums auf die zunehmenden Angriffe radikaler Gruppierungen?

Die zeitliche Eingrenzung des Untersuchungszeitraums ergibt sich durch die Amtszeit des bayerischen Kultusministers Franz Xaver Goldenberger, der im November 1926 auf Franz Matt folgte. Er hatte das Amt bis März 1933 inne, als er durch die Nationalsozialisten seines Amtes enthoben wurde und Hans Schemm seine Nachfolge antrat.

Um diese Fragen zu beantworten, habe ich im ersten Teil meiner Arbeit einen organisationsgeschichtlichen Zugang gewählt, da die Handlungen des Ministeriums nur vor dem Hintergrund der Rahmenbedingungen zu verstehen sind. Über diesen Ansatz hinaus wurde jedoch auch die Forderung an die aktuelle Institutionengeschichte nach einer kulturhistorischen Erweiterung berücksichtigt, die den Blick auf die Rituale und den Habitus einer Behörde lenkt und damit auch nach informellen Mechanismen neben den Entscheidungsverläufen im Sinne der offiziellen Geschäftsordnung fragt. Vor diesem Hintergrund stehen im zweiten Abschnitt die Kompetenzen und Handlungsfelder des Ministeriums im Mittelpunkt und wie stark das Ministerium hierbei seine Eingriffsrechte geltend machte. Der abschließende dritte Teil beschäftigt sich mit besonders aussagekräftigen Phänomenen, die in der Regel in fast allen Zuständigkeitsbereichen des Ministeriums zu beobachten sind und daher einer gesonderten Behandlung bedürfen. Die Bandbreite reicht dabei vom Mikrokosmos der weiblichen Bildung über die innerdeutsche Frage der Kompetenzverteilung zwischen Ländern und Reich bis hin zum Makrokosmos der Außenkulturbeziehungen.

Die entsprechende ministeriale Überlieferung findet sich im Bayerischen Hauptstaatsarchiv unter dem Bestand MK. Diese Akten bilden den Hauptbestand für die vorliegende Arbeit, der Einblicke in die Betätigungsfelder und Entscheidungsabläufe innerhalb des Ministeriums ermöglichte, ebenso wie in die Kommunikation mit Gruppierungen außerhalb des Ministeriums. Komplementär erfolgte die Auswertung der Aufzeichnungen weiterer staatlicher Akteure, wie der anderen bayerischen Ministerien, des Ministerrats oder des Landtags, aber auch die Akten der Reichsbehörden. Diese sind neben Hinweisen zur Kompetenzverteilung insbesondere im Hinblick auf Fragen der Auslandskultur aussagekräftig, ebenso wie die Überlieferung des Archivs des Völkerbunds in Genf. Darüber hinaus wurde die ministeriumszentrierte Perspektive neben grauer Literatur durch die Nachlässe zentraler Akteure erweitert, sowie punktuell durch die Auswertung der Berichterstattung in den Zeitungen.

 

Zurück zum Themenbereich Institutionengeschichte

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/1343

Weiterlesen

Workshop: Neue landesgeschichtliche Forschungen zur Geschichte der Weimarer Republik. Personen – Institutionen – Infrastruktur

Titel

Neue Ansätze, Methoden und Forschungsperspektiven der Landes- und Regionalgeschichte zur Erforschung der Weimarer Republik stehen im Fokus eines Workshops, der vom 6. bis 7. März 2014 am Institut für Bayerische Geschichte der LMU München stattfindet.

Diese Seite bietet im Vorfeld eine Diskussionsplattform zu zentralen Thesen.

 

Weimarer Geschichte – Landesgeschichte?

Die Geschichte der Weimarer Republik wird weiterhin – trotz aller Versuche zur Erweiterung des Blickfeldes – als Geschichte des Nationalstaates und seiner Akteure wahrgenommen. Noch zu wenig, und je nach Bundesland in stark unterschiedlichem Umfang wird die Bedeutung landes- und regionalgeschichtlicher Entwicklungen für die Lebenswirklichkeit der Menschen in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren erkannt. Dabei wurden auch in einem eher zentralistischen Bundesstaat wie der ersten deutschen Republik viele Weichen auf subnationaler Ebene in den Gliedstaaten gestellt; die Geschichte der Länder, die zudem stark von Krisendeutungen geprägt und überdeckt ist, bedarf deshalb einer unvoreingenommenen Aufarbeitung.

 

Es ist besonders  die Landes- und Regionalgeschichte, die mit ihrem Zugriff auf alternative Quellengattungen und ihren an der Bevölkerung vor Ort orientierten Fragestellungen unser Geschichtsbild korrigieren und es in neue Bahnen lenken kann. In das Blickfeld des Historikers rücken so neben Aufzeichnungen von Akteuren und Zeitgenossen lokalen Ranges auch kommunale und regional verortete Quellenbestände, die zu oft nur bei der Erstellung von Ortschroniken Beachtung gefunden haben. Ihr Potential ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft, so z.B. mit Blick auf infrastrukturelle Veränderungen, bei denen bekanntlich wichtige Impulse im lokalen Umfeld zu verorten sind.

 

Vom 6. bis 7. März 2014 widmet sich ein Workshop am Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München dem inhaltlichen und methodischen Austausch, um der landes- und regionalgeschichtlichen Erforschung der Weimarer Republik neue Impulse zu geben.

Ausgewählte Referate von Doktoranden aus verschiedenen bundesdeutschen und österreichischen Ländern werden die thematische und methodische Vielfalt aktueller Forschungen verdeutlichen und die besonderen Herausforderungen regionaler Geschichtsforschung aufzeigen.

 

Darüber hinaus hat es sich der Workshop zum Ziel gesetzt, die klassische Struktur von Vortragsveranstaltungen mit der ihnen immanenten reduzierten Beteiligungsmöglichkeit für Teilnehmer zu erweitern:

In drei parallel stattfindenden Werkstattgesprächen am 6. März gruppieren sich Referenten und Teilnehmer gemäß ihrer Forschungsinteressen, um sich unter professioneller Moderation über konzeptionelle Herausforderungen der drei Arbeitsfelder Personen-, Institutionen- und Infrastrukturgeschichte auszutauschen. So besteht die Möglichkeit, losgelöst vom Einzelfall methodische und quellenanalytische Probleme ausführlich zu diskutieren.

 

Wir freuen uns auf intensive Diskussionen im Blog und auf dem Workshop!

 

Ihr Organisationsteam

 

Maria Magdalena Bäuml        Matthias Bischel M.A.

Daniel Rittenauer M.A.           Thomas Schütte M.A.

 

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/1238

Weiterlesen

“ZeitenWelten”. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter. Ein Zwischenbericht

“Schichten” – das ist wohl das wichtigste Stichwort unter dem sich die ersten Teilergebnisse des DFG-geförderten Netzwerks “ZeitenWelten” zusammenfassen lassen: in Zeitschichten, die sich an- und überlagern, aufbrechen und gegeneinander verschieben lassen sich Zeitwahrnehmung und -konzeptualisierung des frühen und hohen Mittelalters am besten beschreiben.
Das interdisziplinäre Netzwerk, das seit 2012 besteht, erforscht das Verhältnis von Zeitwahrnehmung und Weltverständnis zwischen dem 6. und 13. Jahrhundert. Auf fünf Arbeitstreffen und einer großen Abschlusstagung im Frühjahr 2015 werden in elf Teilprojekten sowie im Gespräch mit zahlreichen Gästen aus Geschichte, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaften Zeittheorien und -praktiken, Zeitdarstellung, temporale Qualitäten von Raum u.v.m. untersucht.
Gestartet ist das Netzwerk mit der Vorannahme, dass Zeit und Zeitwahrnehmung immer soziale bzw. kulturelle Konstrukte sind, die sich im Zusammenspiel mit theologischen, ästhetischen oder auch ökonomischen Vorstellungen von “Welt”, “Realität” und “Wahrheit” verändern. Die bisherigen Arbeitstreffen haben gezeigt, dass gerade diese Viel-schichtigkeit “Zeit” zu einem Thema für intellektuell anregende Gespräche macht, die sich zu methodischen und theoretischen Grundsatzdiskussionen erweitern.

Nach bisher drei Arbeitstreffen ist es Zeit für eine Zwischenbilanz:
In kritischer Auseinandersetzung mit den Zeitkonzepten Reinhard Kosellecks haben wir einen gemeinsamen Analyserahmen geschaffen, der insgesamt von einer größeren Dynamik mittelalterlicher Zeitvorstellungen ausgeht.
So trägt zum Beispiel die Logik der Heilsgeschichte zur Konzeption von “Zeit in Bewegung” bei: die hermeneutische Auslegung der Bibel führt einerseits zu einem linearen andererseits zu einem zyklischen Zeitverständnis. Aus der Feststellung der zeitlichen Dialektik entwickeln sich Fragen zum Umgang mit Veränderungsdynamiken im Rahmen eschatologischer Zeitkonzepte und mit Widersprüchlichkeiten innerhalb von Zeitkonzeptionen. So interpretiert Richard Corradini (Wien) das “Zeitbuch” des Walahfrid Strabo als Reaktion auf eine Krisenzeit, in der die präsentierten unterschiedlichen und konkurrierenden Zeitstrukturen und -konzepte als variable Alternativmodelle im Sinne von “Langzeitperspektiven und Nachhaltigkeitskonzepten” entworfen werden. Inhaltlich bietet das Zeitbuch “Zeit” in drei verschiedenen Schichten dar: die instabile menschliche Geschichte, die zyklische Zeit Gottes auf Erden und die göttliche Zeit im Zeichen der Gestirne. Aus seinem zeitgenössischen Kontext bietet es in langfristigen Perspektiven intellektuelle Lösungen für den Umgang mit den politischen
Konflikten und Umbrüchen der eigenen Zeit.
Analoge Mehrschichtigkeit lässt Miriam Czock (Essen) zufolge auch in der frühmittelalterlichen Bibelexegese aufzeigen. So offenbaren sich in der “Unberechenbarkeit der berechenbaren Zukunft” zwei Facetten von “kommender Zeit”: zum einen ist die Zukunft das Ergebnis einer linearen Entwicklung, das zurückwirkt auf die Bedingungen des gegenwärtigen Lebens. Zum anderen gibt es das Konzept einer “geoffenbarten Zukunft”, die mit Gegenwart und Vergangenheit verschmilzt. Diese „breite Gegenwart“ (Gumbrecht) der karolingischen Zeit bezieht nicht nur die Vergangenheit in die Gegenwart mit ein, sondern auch die Zukunft, die, obwohl geoffenbart, als offen, gestalt- und planbar verstanden wird. In der Bibelexegese zeigt sich zudem, dass die lineare Zeit zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht als sehr dynamisch gefasst werden kann in ihrer jeweils unmittelbaren Verbindung zu Gott. In ihrer prinzipiell chronologischen Ordnung wird die Zeit der Exegese damit mitunter zyklisch und kann zerdehnt und gestaucht werden. Auch die Gäste des Netzwerks Sumi Shimahara (Paris) und Felicitas Schmieder (Hagen) konnten in ihren Beiträgen die Dynamik der Zeit im Verhältnis zur Ewigkeit in der karolingischen Exegese respektive die “Offenheit” der planbaren Zukunft in der frühmittelalterlichen Apokalyptik feststellen und damit die Ergebnisse der Teilprojekte ergänzen und bestätigen.

Die “Praxen der Zeitlichkeit” können anhand von liturgischen, historiographischen und Memorial- und Rechtsquellen sowie der Frage nach der Logik der Tageseinteilung durch (Gebets)Stunden erschlossen werden. Bestimmte temporale Praktiken lassen sich spezifischen Nutzungskontexten zuordnen, wobei der Umgang mit institutionellen oder theologischen Vorgaben pragmatische ist und Zeitordnungen auch zu Gunsten politischer oder ökonomischer Vorteile verschoben werden können.
In ihrer Analyse der zeitlichen Dimensionen der liturgischen Quellen aus Halberstadt kann Patrizia Carmassi (Göttingen/Wolfenbüttel) drei Aspekte voneinander unterscheiden: die Reflexion über Zeit in heilsgeschichtlicher Perspektive unter Berücksichtigung ihrer Rolle im sakramentalen Geschehen, die Ordnung und Gestaltung der kirchlichen Zeit durch den liturgischen Kalender in synchronischer und diachronischer Perspektive (z. B. durch die Einführung neuer Feste) sowie die Bedeutung der Zeit im Spannungsfeld zwischen liturgischer Kontinuität und Liturgiereform. Diese drei Punkte spielen auch in der Königsabtei St.-Denis im 12. Jahrhundert eine bedeutende Rolle, die im Projekt von Anja Rathmann-Lutz (Basel) untersucht wird. Für die Frage ob und inwiefern sich die Zeitregime der „monastischen Zeit” und der “höfischen Zeit” unterscheiden eignet sich die Multifunktionalität von St.-Denis als kontemplativer Ort, als königliche Grablege und caput regni sowie als Pilgerstätte in besonderer Weise. Mindestens fünf Modi der Zeitorganisation und -repräsentation, die sich wiederum in unterschiedlicher Weise überlagern, können hier idealtypisch beschrieben werden: Die heilige/biblische Zeit und die historische Zeit sind zwar beide vergangen, aber liturgisch aktualisierbar. Die liturgische Zeit ist präsent und momentan und hängt eng zusammen mit der somatischen Zeit, die körperlich und subjektiv messbar ist. Über diesen Zeitebenen liegt dabei die eschatologische Zeit. Vergleicht man die Repräsentation von Zeit im klösterlichen und im höfischen Milieu, zeigen sich zwei gegensätzliche, ideologisch gerahmte Zeitregime: der stabilitas des Klosters steht der durch körperliche Präsenz, kontinuierliche Bewegung und hohe Geschwindigkeit gekennzeichnete, in Historiographie und höfischer Literatur idealisierte Alltag des Hofes gegenüber.
Aus den verschiedenen Techniken bei der Organisation der Namenlisten in libri memoriales aus dem 9. Jahrhundert ergeben sich in den Untersuchungen von Eva Maria Butz (Dortmund) jeweils ganz unterschiedliche Verknüpfungen zwischen den Zeitebenen. So werden im Salzburger Zeugnis Personen der Heilsgeschichte (Patriarchen, Propheten und Apostel), noch lebende Gönner und Vorsteher (Bischöfe, Abt, regionaler Adel, karolingische Könige) und die verbrüderten Verstorbenen, nach ordines gestaffelt, vergegenwärtigt. Andernorts (St. Gallen) hingegen wird gar nicht zwischen Lebenden und Toten unterschieden. Alle Bücher jedoch werden als das irdische Gegenstück zum himmlischen liber vitae gesehen und sind ausnahmslos auf das Jüngste Gericht hin konzipiert. Auswahl und Anordnung der Namenslisten steht in der Regel im Dienste der Sinnstiftung und Legitimation der eigenen Gegenwart. Durch erkennbare Rasuren in einigen Nekrologen (Remiremont) wird deutlich, dass mit der fortschreitenden gegenwärtigen Zeit die Namen ständig umgruppiert wurden und damit eine Neujustierung von Vergangenheit stattfand.
Ebenfalls um Legitimation und Legitimität ging es im Workshop von Andreas Thier (Zürich). Es wurde deutlich, dass in der Lex Baiuvariorum und im Sachsenspiegel durch die Einschreibung rechtlicher Normativität in zeitliche und historische Entwicklungslogiken eine Verbindung des Rechts mit dem göttlichen Heilsplan erreicht wurde, die das sich ständig verändernde Recht legitimierte.
Soziale und ökonomische Einflussnahme auf Zeitordnungen zeigt sich in der von Michael Oberweis (Mainz) untersuchten “Nonverschiebung” bei der aus der “hora nona” im Lauf des 11. -13. Jahrhunderts “high noon” wurde. Sieht man mit Oberweis diesen Vorgang im Zusammenhang mit einer Ausweitung der Sonntagsruhe in der Zeit der Gottesfriedensbewegung so zeigt sich, dass in dieser Einflussnahme zugleich eine Kontrolle der Gesellschaft durch die Zeit liegen kann.

Als nächstes wird das Netzwerk über die räumlichen und bildlichen Dimensionen des Zeitlichen debattieren. Außerdem wird zu fragen sein, auf welche Weise die offenbar gleichzeitig präsenten unterschiedlichen Zeitschichten jeweils wahrgenommen, dargestellt und gewichtet wurden.

Aktuelle Mitteilungen, die ausführlichen Workshop-Berichte von Eva-Maria Butz, Petra Waffner und Uta Kleine (auf denen vorliegende Zwischenbilanz teilweise aufbaut), weitere Informationen und Kontaktdaten finden Sie unter www.zeitenwelten.unibas.ch.

 Miriam Czock und Anja Rathmann-Lutz im September 2013

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2266

Weiterlesen

Münchner Sommerakademie Grundwissenschaften 2013 „Schriftkunde des Mittelalters. Einführung in die paläographische Praxis“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München (22. bis 27. Juli 2013)

Ein Erfahrungsbericht

Striche, Linien, ein paar verblasste Buchstaben – mehr ist auf dem Bild nicht zu erkennen, das der Projektor an die Wand wirft. Hier und da scheinen ein n oder ein t klar hervor, aber ansonsten gleicht die Ältere römische Kursive eher den sprichwörtlichen Hieroglyphen als einem zusammenhängenden Text. Völlig ohne Ordnung und nach meinem Ermessen mit einiger Kreativität, was die Gestaltungsmöglichkeiten unserer Buchstaben anbelangt, scheint der Schreiber im Jahr 57 n. Chr. seine Buchstaben in das Wachstäfelchen eingedrückt zu haben. Schnell wird klar, vor mir liegt eine intensive Woche des Lesen und Übens.

ca. 800. Zürich Kantonsbibliothek, C I, fol, 6.

Züricher Alkuin-Bibel ca. 800.
Zürich Kantonsbibliothek, C I, fol, 6.

In den kommenden Tagen erwartet mich im Rahmen der Blockveranstaltung ein spannender Einblick in die Entwicklung der Schrift, von ihren antiken Anfängen, ihrer Weiterentwicklung im Mittelalter und der frühen Neuzeit bis hin zur Gegenwart. Den Schwerpunkt der Veranstaltung bilden Handschriften des 8. bis 16. Jahrhunderts. Ein interessanter und vor allem wichtiger Bereich, denn gegen Ende des Studiums oder spätestens während der Promotion stößt man als Mediävist mit edierten Quellen an Grenzen und muss auch Handschriften zu Rate ziehen, um im eigenen Forschungsvorhaben voranzukommen. Genau an diesem Punkt setzt die Münchner Sommerakademie an. Ziel ist es, grundlegende Schriftformen des abendländischen Mittelalters in ihren verschiedenen Ausformungen kennen zu lernen, um so alte Handschriften lesen und einordnen zu können.
Nicht alle Universitäten bieten Übungen mit mittelalterlichen Handschriften an und wenn, so sind sie selten und häufig mit dem eigenen Semesterplan nicht in Einklang zu bringen. Umso erfreulicher ist es, dass sich die Abteilung für Historische Grundwissenschaften und Historische Medienkunde der LMU in Zusammenarbeit mit der Monumenta Germaniae Historica (MGH), der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB), dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv (BayHStA) und dem Diözesanarchiv des Erzbistums München und Freising dieser Sache angenommen hat. Die Aufzählung verrät bereits den einzigartigen Charakter, den diese Veranstaltung trägt, denn mit der genannten Kooperation ist eine ideale Voraussetzung geschaffen, um die in den Veranstaltungen vermittelten Handschriften auch im „Original“ einsehen zu können.

 

Lesen „im Schweiße des Angesichts“
Die heiße und sonnenreiche Woche im Juli begann täglich um 9 Uhr im Historicum der LMU mit einer intensiven Lerneinheit, in der nach kurzer Einführung bereits erste Texte gelesen oder – wie in manchem Fall treffender – mit der Lupe entschlüsselt wurden. Das Niveau der Teilnehmer war unterschiedlich. Manche hatten bereits Vorkenntnisse, andere betraten mit der Paläographie des Mittelalters Neuland. Nach einer Kaffeepause stand eine Exkursion auf dem Programm, bei der eines der obigen Institute besucht wurde. Mein persönliches Highlight war der Besuch im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, wo wir ein Exemplar der Goldenen Bulle und eine Urkunde Karls des Großen von 794 sehen konnten. Nach einer Mittagspause, in der die Münchner Studenten den auswärtigen Teilnehmern wertvolle kulinarische Tipps gaben, wurden am Nachmittag weitere Handschriften gelesen. Durch eine zweite Kaffeepause getrennt, gab es im Anschluss eine freiwillige 30-minütige Leseübung, um den Stoff des Tages noch einmal zu vertiefen. Nahezu alle Teilnehmer der Sommerakademie nahmen dieses Angebot gerne in Anspruch, waren doch viele der Handschriften nur mit einiger Übung zu lesen. Abends fanden schließlich Vorträge ausgewiesener Experten auf dem Gebiet der Paläographie des Mittelalters statt, die thematisch entweder auf den nächsten Tag hinwiesen oder den gelernten Stoff reflektierten. Zwischen 18 und 19 Uhr endete der Tag für gewöhnlich. Mitte der Woche waren alle Teilnehmer der Sommerakademie zum Essen eingeladen, wo man sich in angenehmer Atmosphäre austauschen konnte. Abschließend wurde am Samstag eine Klausur (ECTS 3 P.) geschrieben und wer wollte, konnte zusätzlich eine mündliche Prüfung ablegen (ECTS 5 P.). Diese ECTS-Punkte waren mit anderen Universitäten koordiniert, sodass auch Auswärtige einen Schein in München erwerben konnten.

 

Leseübung

Leseübung.
Foto: LMU München. Mit freundlicher Genehmigung der Abteilung für Historische Grundwissenschaften und Historische Medienkunde.

Von der Antike in die Gegenwart – Merkmale und Besonderheiten
Unsere heutige Schrift hat eine lange Geschichte. Sie ist viele Wege gegangen, bis sie in ihrer heutigen standardisierten Form – in Times New Roman oder Arial – angekommen ist. Die Worttrennung im Satz, wie die Trennung von Buchstaben und das Ausschreiben von Wörtern sind für uns heute Selbstverständlichkeiten. In der Geschichte der Schrift waren sie es nicht.

Das 23 Buchstaben umfassende Alphabet der Römer hatten die Bewohner am Tiber von den Westgriechen und den Etruskern, für deren Schrift das Griechische ebenfalls Pate stand, übernommen. Für uns heute so geläufige Buchstaben wie W, J und U sind erst im Laufe des Mittelalters hinzugekommen. Der Buchstabe W begegnet uns etwa um 1000, die Ausdifferenzierung des I zum J etwa um 1400, das eindeutige U an Stelle des V sogar erst im 16. Jahrhundert. Beim Lesen mittelalterlicher Quellen muss man diese Mehrfach-Bedeutung der Buchstaben im Blick haben.
Denkt man an die Antike, so hat man meist Inschriften auf Triumphbögen und ähnlich repräsentativen Bauten im Kopf. Doch auch die antike lateinische Schrift hatte – wie unsere heutige  – verschiedene Ausformungen. Ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. findet sich auf Inschriften die sogenannte Römische Capitalis, eine, wie das Wort schon sagt, große und recht gut lesbare Schrift. Um das 1. Jahrhundert v. Chr. wird eine Ausdifferenzierung der Römischen Capitalis greifbar, die, neben der Inschrift (scriptura monumentalis), auch eine Buchschrift (kanonisierte Capitalis), und die Ältere römische Kursive umfasst. Wie uns ein Lesebeispiel Vergils zeigte, handelt es sich bei der kanonisierten Capitalis um eine verhältnismäßig gut lesbare Schrift, die durchweg aus Großbuchstaben besteht, allerdings ohne Worttrennung auskommt und somit einen erhöhten Anspruch an unsere heutigen Lesegewohnheiten stellt. Ausgangspunkt für die weitere Schriftentwicklung ist jedoch die Ältere römische Kursive. Ähnlich wie die heutige Schreibschrift, handelt es sich um eine Gebrauchsschrift, die wesentlich schneller ausgeführt werden konnte und somit für den Alltag, für Notizen und Rechnungen erheblich besser geeignet war. Die weitere Kursivierung der Schrift, also das stärkere Verbinden von einzelnen Buchstaben und Buchstabenelementen sowie eine Rechtsneigung und teilweise auch das Mitschreiben der Luftlinien (dies vor allem in späteren Epochen), führte im Laufe der Zeit zu einer veränderten Schriftform, die uns um das 3. Jahrhundert n. Chr. als Jüngere römische Kursive begegnet. Sie ist der Urspung aller weiteren Schriften im lateinischen Westen. Aus ihr entstanden die insularen Schriften, die sogenannten Nationalschriften, die bedeutende Karolingische Minuskel, die gotische und schließlich die humanistische Schrift, genauso wie die Schriften der verschiedenen Privat-, Herrscher- und Papsturkunden – womit auch die behandelten Schriften der Sommerakademie grob umrissen sind.

 

Eine Epoche kennt viele Schriften
Wichtig für den Umgang mit mittelalterlichen Handschriften ist die Tatsache, dass es nie nur e i n e Schrift gab. Es gab einerseits Urkunden- sowie Auszeichnungs- und Buchschriften, die klarer und vergleichsweise lesbar sind und andererseits Gebrauchsschriften, die schnell geschrieben wurden und daher oft nur mit Mühe entziffert werden können. Daneben gab es regional sehr große Unterschiede in der Gestaltung der Schrift. Vor der Vereinheitlichung durch die Karolingische Minuskel im Zusammenhang der renovatio imperii ab dem letzten Viertel des 8. Jahrhunderts gab es vielerlei Möglichkeiten das gesprochene Wort zu verschriftlichen. Hierzu gehören die insularen Schriften im irisch-angelsächsischen Bereich, die Merowingische Schrift in Gallien sowie die Westgotische Schrift und die Beneventana, die im südlichen Italien und Dalmatien verwendet wurde. Die Karolingische Minuskel löste diese Schriften keineswegs ab. Sie erweiterte zunächst lediglich die Auswahl an verfügbaren Schriften, wenngleich sie meist überall im lateinischen Europa gelesen werden konnte, was bei den anderen Handschriften häufig nicht der Fall war. Große Skriptorien der Zeit in Tours, St. Denis oder St. Gallen förderten die überregionale Verbreitung der Karolingischen Minuskel, da Informationen der Herrscher hier weitergeleitet und Vorlagen für Schriftstücke erstellt wurden.

Neben der Karolingischen Minuskel, die eine Buchschrift darstellt, gab es auch Urkundenschriften, die sich sehr stark voneinander unterscheiden können. Papsturkunden sehen anders aus als Herrscherurkunden und letztere unterscheiden sich – abhängig von ihrer regionalen Herkunft – ebenfalls voneinander. Genauso verhält es sich mit Privaturkunden, etwa von Fürsten oder Bischöfen.
Es gibt also eine Vielzahl von Schriften, die uns in jeder historischen Epoche parallel begegnen können. Auch im weiteren Verlauf, als sich die Schrift durch eine erneute Kursivierung veränderte, Brechungen und Bogenverbindungen in der gotischen Schrift auftauchen und das Mitschreiben der Luftlinien üblich wurde, ändert sich diese Tatsache nicht. Sie wird vielmehr sogar verstärkt. Das relativ klare Schriftbild der Karolingischen Minuskel wurde im Laufe der Zeit immer mehr von regionalen Nuancen aufgebrochen. Die genormten Formen der Schrift bekamen durch die verschiedenen Biographien der Schreiber individuelle Züge und auch die Anzahl der Abkürzungen im Text nahm wieder zu.
Abkürzungen und Verbindungen von Buchstaben, sogenannte Ligaturen, sind ein enorm wichtiger Bereich der Paläographie. Auch heute gehören Wortkürzungen wie ders., Bsp. oder vgl. zum Alltag der Schriftsprache. Vergangene Epochen waren ähnlich kürzungsfreudig. Es gehörte sogar zum guten Ton besonders viel zu kürzen – auch in der Literatur. Häufig verwendete Wörter wie etwa deus, iesus, ecclessia oder dominus wurden gekürzt und können dem Leser als ds, ihs, eccla oder dns begegnen – stets mit einem Strich über den Buchstaben, der die Kürzung markiert. Grammatische Formen müssen hier allerdings beachtet werden. Handelt es sich nämlich um domini anstatt dominus, so lautet die Abkürzung nicht mehr dns, sondern dni. Wie sich zeigt, ist das korrekte Erkennen der jeweiligen Kürzung unabdingbar, um den Text zu verstehen. Gelegentlich wurden auch Buchstaben in andere hineingeschrieben, sogenannte Enklaven. Hier verschwindet beispielsweise ein D im Kreis des O, woraus schließlich ein Buchstabe wird. Auch Ligaturen wurden sehr gerne benutzt. Häufige Verwendung finden zum Beispiel st- und nt-Ligaturen oder das uns heute noch präsente et (&).

 

Von der Gotik zum Humanismus
Die Karolingische Minuskel hatte die Verwendung von Ligaturen einst beschränkt. Es war eine Schrift, die konsequent in ein Vier-Linien-System eingegliedert war, die Buchstaben einzeln stellte, weniger Ober- und Unterlinien aufwies und kursive Elemente tilgte. Es war eine eindeutige aber auch „langsame“ Schrift, die Abkürzungen vereinfachte. Dies hat ihr bis heute eine gute Lesbarkeit beschert. Mit der beginnenden Gotisierung der Schrift änderte sich dies jedoch. Das Schreibtempo erhöhte sich. Die Buchstaben f und s wurden weit in die Unterlängen ausgedehnt, Buchstabenbrechungen traten auf und die Schrift verdichtete sich. Damit sind die gotischen Schriften Vorläufer der uns noch heute im Alltag gelegentlich begegnenden Fraktur. Es gibt allerdings eine Vielzahl an gotischen Schriften, sodass nicht von d e r gotischen Schrift gesprochen werden kann. Auch hier gibt es verschiedene Entwicklungsstufen, die jede für sich Besonderheiten aufweisen, die sich an bestimmten Buchstaben feststellen lassen. Hat eine Schrift beispielsweise weit in die Unterlänge ragende, dolchförmige Verzierungen bei den Buchstaben f und s, so sind dies recht eindeutige Indizien für die sogenannte Bastarda. Da jede Schrift solche besonderen Merkmale aufweist, kann man mitunter recht eindeutige Aussagen über den Schrifttyp fällen, die Schrift somit auch zeitlich einordnen.
Gotische Schriften zu lesen ist nicht immer ein Vergnügen. Ich erinnere mich an eine Leseübung in der eine Lupe herumgereicht wurde, um die Buchstaben zu entziffern. So wundert es nicht, dass Petrarca im 14. Jahrhundert die Lesbarkeit gotischer Texte bemängelte. Die Humanisten im „Herbst des Mittelalters“ griffen daher für literarische Zwecke und um Abschreibefehler zu beseitigen wieder auf die Karolingische Minuskel zurück. Man unterschied zwischen der littera antiqua, der alten Schrift (Karolingische Minuskel) und der littera nova, der neuen Schrift (gotische Schrift). Doch auch die Humanisten übernahmen die Karolingische Minuskel nicht 1:1, sondern veränderten sie teilweise – etwa durch ein einstöckiges a oder ein unten leicht gekürztes g.
Ein weiteres Merkmal mittelalterlicher Handschriften ist die parallele Verwendung verschiedener Schriften auf demselben Beschreibstoff. Der Anfang einer Seite kann durchaus mit einer Capitalis beginnen, mit einer Unziale, einer stilisierten und fixierten Schrift mit zollgroßen Buchstaben, fortgeführt werden und den Haupttext schließlich mit einer Karolingischen Minuskel wiedergeben. Ein besonders schönes Beispiel hierfür bietet das Titelbild der Sommerakademie, das die Züricher Alkuin-Bibel aus der Zeit um 800 zeigt.

 

Teilnehmer der Sommerakademie.  Mit freundlicher Genehmigung der Abteilung für Historische Grundwissenschaften und Historische Medienkunde der LMU.

Teilnehmer der Sommerakademie.
Foto: LMU München. Mit freundlicher Genehmigung der Abteilung für Historische Grundwissenschaften und Historische Medienkunde.

Was bleibt hängen?
Das Mittelalter kannte eine Vielzahl von Schriften, die sich je nach Epoche, Region und natürlich Schreiber stark voneinander unterscheiden konnten. Sicher kann man im Laufe einer Woche nur bedingt in die Tiefe der Paläographie des Mittelalters eindringen. Genauere Betrachtungen einer bestimmten Epoche, die für das eigene Forschungsvorhaben relevant sind, können in einem über tausend Jahre umspannenden Zeitraum im Rahmen der Sommerakademie ohnehin nicht erfolgen, aber nach den sechs Tagen in München ist man wesentlich besser für kommende Handschriften gerüstet. Man weiß, worauf man achten muss, dass eine Reihe von Konsonanten eine Kürzung sein kann, dass Wörter nicht immer getrennt voneinander geschrieben wurden oder dass Buchstaben wie a, f und s Indikatoren für eine gewisse Epoche sein können. Dies sind gute Einstiegshilfen und nehmen mancher Schrift ihren Schrecken. Die Woche in München hat auch gezeigt, dass man mit der Zeit einen Blick für die Schrift entwickelt und das Lesen etwas leichter wird. Ein guter Ausgangspunkt für die individuelle paläographische Spezialisierung.

Abschließend ist mein Eindruck, dass der LMU ein guter Spagat zwischen Theorie und Praxis gelungen ist, wobei die Exkursionen mit ihren faszinierenden Originalen aus verschiedenen Epochen des Mittelalters ganz sicher ein Höhepunkt waren, der die mittelalterliche Paläographie aus der Vergangenheit in die Gegenwart hob. Es bleibt zu wünschen, dass die Sommerakademie 2013 den Anfang einer langen Münchner Tradition markiert.

Hilfreiche Quellensammlungen und Übersichten über verschiedene Datenbanken zur Paläographie des Mittelalters sind über den Link der LMU München verfügbar:
http://www.hgw.geschichte.uni-muenchen.de/service/index.html

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2190

Weiterlesen

CfA: Studienkurs “Horae Bambergenses. Latein in Europa von der Spätantike bis zur Renaissance”. Bamberg 03/2014


Horae Bambergenses

Latein in Europa von der Spätantike bis zur Renaissance

Kompakter Studienkurs in Bamberg (10 ECTS) – 17. März bis 22. März 2014

Das lateinische Erbe prägte Europas Kulturwelt noch Jahrhunderte nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches. Latein ist die Sprache der Kirche (Heiligenviten, Liturgie), der Naturwissenschaften und Medizin sowie der Literatur (Dichtung, Prosa), und es ist das einzige internationale Idiom bis in die Frühe Neuzeit hinein. Die Horae Bambergenses führen in die lateinische Sprache bis zur Zeit des Humanismus ein. Der Kurs vermittelt fundierte Kenntnisse der nachklassischen Latinität und stellt die wichtigsten Hilfsmittel für alle Fachrichtungen der mediävistischen und frühneuzeitlichen Studien in Seminaren und Übungen vor. Dabei werden auch kulturhistorische Zusammenhänge nicht zu kurz kommen. Ziel ist eine umfassende Einführung in das Mittellatein bis zum 15. Jahrhundert und in den jeweiligen kulturellen Kontext. Der Kompaktkurs richtet sich sowohl an Studierende der Universitäten Bamberg und Erlangen (Bachelor und Master), wo er in die Studiengänge MA Interdisziplinäre Mittelalterstudien / Medieval Studies (Bamberg) und BA/MA Mittellatein und Neulatein sowie MA Mittelalter- und Renaissancestudien (Erlangen) integriert ist, als auch an Auswärtige, welche das international einzigartige Angebot in der historischen Stadt Bamberg nutzen möchten. Der Kurs wird vom Lehrstuhl für Lateinischen Philologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität (Prof. Dr. Michele C. Ferrari) und vom Zentrum für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg (Verantwortliche: Prof. Dr. Andrea Schindler) organisiert und mit einem Diplom (max. 10 ECTS) abgeschlossen.

Teilnahmegebühr: 80 € (für regulär eingeschriebene Studierende der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und der FAU Erlangen-Nürnberg entfällt die Teilnahmegebühr)

Bewerbungen mit vollständigem Lebenslauf senden Sie bitte an:

Prof. Dr. Michele C. Ferrari

Friedrich-Alexander-Universität

Mittellatein und Neulatein

Kochstr. 4/3

91054 Erlangen

E-Mail: michele.c.ferrari@as.phil.uni-erlangen.de

Die Bewerbungsfrist endet am 31. Januar 2014

Für die Informationen danken wir Dr. Stefan Weber, Akademischer Rat am Lehrstuhl für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

 

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/1914

Weiterlesen