Arno Münster: Utopie, Emanzipation, Praxis. Sozialphilosophische Interventionen; Berlin 2012 (Rezension)

Arno Münster, emeritierter Professor für deutsche Philosophiegeschichte, Ernst Bloch-Schüler und Autor vieler Schriften, die dem Wissenstransfer zwischen der deutschen und französischen Linken dienten, legt in Utopie, Emanzipation, Praxis zehn Texte (Vorträge, Aufsätze, ein Interview) vor, deren Gemeinsamkeit er darin sieht, einen „stets kritischen, dialektischen und materialistischen Ansatz in der Gesellschaftsanalyse mit der Analyse von Denksystemen“ zu verbinden, „die die Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse immer noch mit der Hoffnung einer letztendlich vielleicht doch noch möglichen gesellschaftlich-politischen Durchsetzung des Emanzipationsgedankens und der sozialen Gerechtigkeit vereint“ (S.9).

Besonders wichtig scheint es Münster dabei der von ihm diagnostizierten „’Abwicklung’ und Marginalisierung des Marxismus nach der deutschen Wiedervereinigung“ etwas entgegenzusetzen (S.10) – indem vor allem an einen anderen, freiheitlichen Marxismus erinnert wird. Hierbei steht Ernst Bloch im Zentrum dreier Texte, und dessen „Grundverdienst“ sieht Münster dann auch darin, „dass er den Marxismus humanistisch, messianisch-utopisch bereichern, erneuern wollte“ (S.41f.). Der Aufsatz/Vortrag zu Jean Paul Sartre hebt positiv hervor, dass dieser mit seiner Kritik der dialektischen Vernunft, neben wenigen anderen „den wichtigsten theoretischen Beitrag zur Neubegründung einer kritischen, undogmatischen und auf weite Strecken neo-marxistischen Praxisphilosophie im 20.Jahrhundert“ geleistet hätte (S.98). Und zum Austromarxisten Max Adler wird auf dessen „sehr wertvollen und gleichzeitig auch sehr wichtigen Beitrag zur Entdogmatisierung des Marxismus“ aufmerksam gemacht (S.190), wie auch Pierre Bourdieu bescheinigt wird, sich „der marxistischen Kritik in zahlreichen Punkt angenähert“ zu haben (S.123).

Dieser Fokus auf einen anderen Marxismus hindert Münster aber nicht daran sich auch mit anarchistischen Autoren zu beschäftigen. So findet sich im Band ein kurzer Zeitungsartikel zum „radikale[n] libertäre[n] Pragmatiker“ Proudhon (S.136) und ein Vortrag/Aufsatz zur „Stirner-Rezeption im französischen Existentialismus“, in dem die Stirnerinterpretation von Albert Camus in Der Mensch in der Revolte im Mittelpunkt steht. Diese Fokussierung ist etwas schade, weil dem Einfluss Stirners, oder Stirner’sche Motive für die 1968er und die alternativen Bewegungen der 70er Jahre nachzugehen – von marxistischer Seite bisweilen in polemischer Absicht unterstellt – eine interessante Arbeit wäre und auch mit der Frage verbunden werden könnte, inwieweit, nach dem modischen Strukturalismuszwischenspiel der 1960er Jahre existentialistische Aspekte wieder aufgegriffen wurden. Mit dem Pariser Mai ’68, als der „umfassendste[n] spontane[n] Emanzipationsbewegung, die jemals über die so genannten ‚Konsumgesellschaften’ der Nachkriegszeit hinwegfegte“ (S.172), beschäftigt sich Münster, damals Augenzeuge der Ereignisse in einem weiteren Vortrag/Aufsatz.

Das Buch dürfte eine nette Lektüre für Menschen sein, die sich für die hier besprochenen Thematiken, bzw. Personen interessieren. Mir selbst erschien vieles nicht allzu originell, oft ein wenig zu knapp, bisweilen werden die von Münster geschätzten Autoren auch zu positiv perspektiviert. Man erfährt beispielsweise nichts davon, dass Bloch im Prinzip Hoffnung auf dem Höhepunkt des Stalinismus die anarchistische Kritik an der Diktatur des Proletariats als Ausdruck einer „Monomanie von Autoritätshass“ pathologisierte, sowie über seine Ausfälle gegen Dissidenten zu Zeiten der Moskauer Schauprozesse der 1930er Jahre. Im Sartre-Aufsatz gar kein Thema, wird dessen wichtige Auseinandersetzung mit Albert Camus an anderer Stelle kurz erwähnt, und – wie mir scheint – zu Unrecht Camus das Vertreten „links-liberale[r] Positionen“ vorgeworfen (S.152). Proudhons Antisemitismus wird erwähnt (S.134), aber nicht dessen massiver Antifeminismus, der seinerzeit schon Kritik hervorrief. Dass Max Adler 1919 einen „radikalen ultralinken Antiparlamentarismus“ (S.187) vertreten habe, scheint mir ebenso wenig zuzutreffen (siehe seinen Text Demokratie und Rätesystem, 1919), wie dessen Gegnerschaft zum Bolschewismus vereinseitigt wird, da Adler in den 1930er Jahren vehement betonte, dass „die russische Revolution auch in ihrer jetzigen Gestalt gegen alle feindlichen Bestrebungen des Kapitalismus und der bürgerlichen Reaktion zu verteidigen“ sei (Unsere Stellung zu Sowjetrussland, 1932).

Philippe Kellermann

Arno Münster: Utopie, Emanzipation, Praxis. Sozialphilosophische Interventionen. Karin Kramer Verlag, 2013, 208 Seiten, 19,80 Euro

Wir danken Philippe Kellermann herzlich für die Erlaubnis zur Erstpublikation dieser Rezension auf kritische-geschichte. Kellermann schreibt u.a. für Graswurzelrevolution und kritisch-lesen.de. Von ihm erschien zuletzt u.a. Anarchismus, Marxismus, Emanzipation (Berlin 2012, als Hrsg.).


Einsortiert unter:Arbeiterbewegung, Erfahrungen, Erinnerung, Geschichte, Literatur, Meinung

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/05/06/arno-munster-utopie-emanzipation-praxis-sozialphilosophische-interventionen-berlin-2012-rezension/

Weiterlesen

In Memoriam Peter Haber (1964-2013)

peter-haber-2011Die Guten sterben früh.

Peter Haber (Basel) ist tot. Die Redaktion von kritische-geschichte dokumentiert deswegen nachfolgend den Text, der dazu auf HSozKult erschienen ist.

“Am Wochenende erreichte uns die traurige Nachricht, dass unser geschätzter Basler Kollege Peter Haber nach langer schwerer Krankheit verstorben ist. In der Redaktion von H-Soz-u-Kult und den Steuerungsgremien unserer Projekte werden wir ihn als warmherzigen Menschen und Freund, als Ideengeber und streitbaren Diskutanten sehr vermissen. Zum Gedenken an Peter Haber hat sein Freund und Projektpartner Jan Hodel auf dem Weblog hist|net eine Seite eingerichtet, auf die wir gerne verweisen möchten: http://weblog.hist.net/archives/6667.

“Wieso eigentlich sollen sich Historiker mit Neuen Medien und dem Internet befassen?” So lautete die Leitfrage der Tagung “Raumlose Orte – geschichtslose Zeit” in Basel im Jahr 2001, auf der wir Peter Haber zuerst persönlich kennenlernten. Von da an war er ein Begleiter und Impulsgeber unserer Projekte. Seit fast zehn Jahren war Peter Haber ehrenamtliches Mitglied der Fachredaktion von H-Soz-u-Kult und betreute dort über hundert Rezensionen primär zur Schweizergeschichte. Die letzte Rezension von einem Kollegen aus Bielefeld über eine transnationale Geschichte des Schweizerischen Nationalparks[1] versinnbildlicht Peter Habers grenzüberschreitende Arbeitsweisen – aus dem Dreiländereck heraus verflocht er in seiner Redakteurspraxis die deutschen, schweizerischen, französischen und amerikanischen Forschungsräume. Darüber hinaus hat sich Peter Haber engagiert in Diskussionen um die langfristige Entwicklung der digitalen Dienste von H-Soz-u-Kult und Clio-online eingebracht und hat sich nie gescheut, auch praktische Verantwortung beispielsweise als interner Gutachter, Herausgeber oder Mitorganisator von Veranstaltungen zu übernehmen. So begleitete er den Start von Docupedia-Zeitgeschichte in intensiven Diskussionen. Die Tagungen .hist2003, .hist2006 und .hist2011 prägte er nicht nur vorab in ihren Schwerpunkten mit, sondern auch durch eigene Panels und Vorträge.[2]
Peter Haber brachte insbesondere seine Arbeitsschwerpunkte und Vertrautheit mit internationalen Entwicklungen im Bereich der Digital Humanities, Digitalen Historik, Medien-, Historiographie- und Wissenschaftsgeschichte ein. Seine immer wieder innovativen, manchmal im ersten Moment radikal wirkenden Ideen zur Weiterentwicklung der Digital Humanities haben unsere Projekte ebenso wie viele andere nachhaltig geprägt. Als Forschender im 19. Jahrhundert verwurzelt, bedeutete die Erneuerung des Fachs für ihn nicht, das Alte über Bord zu werfen, sondern die Arbeitsweisen und Methoden der Geschichtswissenschaften zum Beispiel als “Digitale Quellenkritik” immer wieder zu überprüfen und durch Wandel fortzuschreiben. Seine überzeugende und herzliche, dabei immer pointierte und klare Art haben uns immer wieder dazu gebracht, Themen und Ideen zu diskutieren, vor denen wir im ersten Moment manches Mal als “zu visionär” zurückgeschreckt wären. An die Gespräche mit ihm denken wir gern zurück.

Noch im Oktober 2012 nahm er in Berlin am Treffen der Steuerungsgruppe H-Soz-u-Kult teil und diskutierte mit uns über Fragen der Qualitätssicherung, das redaktionelle Alltagsgeschäft und die Planung der Redaktionskonferenz im Februar 2013. Leider hat sich sein Gesundheitszustand danach so verschlechtert, dass er an ihr schon nicht mehr teilnehmen konnte.

Der Tod von Peter Haber ist für uns menschlich ein bestürzender Verlust. Seine fachlichen Anregungen, seine offenherzige Kritik und sein Enthusiasmus werden uns ebenso sehr fehlen wie sein Humor, seine menschliche Wärme und seine loyale Freundschaft. Unser Mitgefühl gehört seiner Frau und seinen Kindern.”

Daniel Burckhardt, Rüdiger Hohls und Claudia Prinz im Namen der Fachredaktion von H-Soz-u-Kult

Anmerkungen:
[1] Jürgen Büschenfeld: Rezension zu: Kupper, Patrick: Wildnis schaffen. Eine transnationale Geschichte des Schweizerischen Nationalparks. Bern 2012, in: H-Soz-u-Kult, 24.04.2013 (mehr).
[2] Siehe zum Beispiel seinen Tagungsbericht zur .hist2003: Vom Nutzen und Nachteil der Neuen Medien für die Historie. 09.04.2003-11.04.2003, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 19.07.2003 (mehr).

Foto: Peter Haber auf der Tagung .hist 2011 © H-Soz-u-Kult

Hubertus Kohle rezensiert Digital Past. Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, das Buch von Peter Haber (München, Oldenbourg Verlag 2011, ISBN 978-3-486-70704-5) (mehr)


Einsortiert unter:Biographie, Ereignis, Erfahrungen, Erinnerung, Geschichtspolitik, Historiker, Interna, Medien, Methodik

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/04/30/in-memoriam-peter-haber-1964-2013/

Weiterlesen

“Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten” lieferbar

freie-archive-geschichte-von-untenCornelia Wenzel (Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel) und Jürgen Bacia (afas Duisburg) arbeiteten seit längerem an einem Buch über die Freien Archive. Nun ist es fertig und im Verlag des Archiv der Jugendkulturen erschienen. Es hat den Titel: Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten. In den unten dokumentierten Dateien findet sich das Inhaltsverzeichnis und ein umfangreiche Leseprobe. Weitere Infos und Bestellmöglichkeit exakt hier.
Die beiden HerausgeberInnen hoffen auf interessierte Leserinnen und Leser!

Dokument: Bewegung bewahren Inhaltsverzeichnis

Dokument 2: Bewegung bewahren_Leseprobe (24 Seiten)


Einsortiert unter:Archive, Erfahrungen, Erinnerung, Geschichtspolitik

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/04/28/aufruf-zur-subskription-bewegung-bewahren-freie-archive-und-die-geschichte-von-unten/

Weiterlesen

Hexenzeug – Bericht vom Symposium zum 75. Geburtstag von Frigga Haug

“Manchmal braucht es Hexenzeug, um Knoten zu lösen – An Herrschaftsknoten ansetzen” unter diesem launigen Titel berichtet der Blog der Emanzipatorischen Linken exakt hier über die kleine Feier, die die Rosa Luxemburg Stiftung am 15. März 2013 ausgerichtet hat (Programm).

Frigga Haug ist u.a. Vorsitzende des »Berliner Instituts für kritische Theorie« , Mitherausgeberin des »Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus« sowie der Zeitschrift »Argument« und wirkt u.a. im Wissenschaftlichen Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung und im Kuratorium des Instituts Solidarische Moderne.


Einsortiert unter:Biographie, Ereignis, Erfahrungen, Erinnerung, Historiker

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/04/23/hexenzueg-bericht-vom-symposium-zum-75-geburtstag-von-frigga-haug/

Weiterlesen

Zur Benennung der Pariser Avenue Jean-Jaurès im August 1914


Straßennamen sind Orte der Erinnerung. Sie halten Personen, Orte und Ereignisse im öffentlichen Raum gegenwärtig. An wen oder was erinnert wird – das liegt nahe – steht bei Untersuchungen von Straßennamen folglich im Vordergrund. Genauso interessant ist der Zeitpunkt der Benennung, gibt er doch über die spezifische Erinnerungspolitik der Epoche Auskunft und über die “ideologisch-didaktische[n] Zwecke”, die damit verbunden waren1. Hinzu kommen weitere Elemente für eine Analyse, wie z.B. die geographische Lage und Länge der Straße. Bei meinen Recherchen zu den deutschen Einwanderern in Paris wurde mir klar, dass das Bild jedoch erst komplett ist, wenn auch berücksichtigt wird, welcher Name durch die Umbenennung einer Straße im öffentlichen Raum gelöscht wird.

So bekam Paris am 15. August 1914 seine Avenue Jean-Jaurès. Auf diesen Tag datiert die Verordnung des Präfekten der Seine, die am 19. August 1914 von Raymond Poincaré, Präsident der Republik, und Louis Malvy, Innenminister Frankreichs, per Erlass bestätigt wurde. Im Bulletin municipal officiel vom 22. August 1914 wurde diese Entscheidung veröffentlicht und der Innenminister mit der Durchführung beauftragt2. Mit diesem Erlass sollte nicht nur der erst rund zwei Wochen zuvor ermordete sozialistische Politiker und Historiker Jean Jaurès geehrt und in das öffentliche Gedächtnis der Stadt und ihrer Einwohner gerückt werden. Jaurès war am 31. Juli 1914, nur einen Tag vor Beginn des Ersten Weltkriegs, in einem Pariser Café bei einem Attentat ums Leben gekommen.

Es ging auch darum, alles, was an den erneuten Kriegsgegner Deutschland und seine Einwanderer erinnerte aus dem öffentlichen Raum der französischen Hauptstadt zu streichen. Das zeigt die Wahl der Straße, die umbenannt wurde: die Rue d’Allemagne im Viertel La Villette, im Norden von Paris, oben auf der Postkarte zu sehen.

In La Villette hatten sich im 19. Jahrhundert zahlreiche deutschsprachige Arbeiter und Tagelöhner niedergelassen, um in den umliegenden Chemie- und Zuckerfabriken oder in den Schlachthöfen zu arbeiten. Das Viertel hatte bis zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 den Spitznamen „Petite Allemagne“. Nach der Niederlage von Sedan wurden die über 60.000 deutschen Einwanderer aus der Stadt ausgewiesen. Die Zahl der deutschsprachigen Einwanderer stieg zwar nach dem Krieg wieder an, diese lebten aber “zerstreut und zurückgezogen” und wagten es vielfach nicht, in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen3.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wartete man nicht wie 1870 die Niederlage ab, um die deutschen Einwanderer des Landes zu verweisen. Gleich zu Beginn des Krieges erging der Ausweisungsbefehl. Die deutschen Schulen, Wohnheime und Einrichtungen in Paris wurden geschlossen, einige der Gebäude später beschlagnahmt. Aus der Rue d’Allemagne wurde – wie erwähnt – die Avenue Jean-Jaurès, die Metrostation Allemagne wurde in Jaurès umbenannt. Die Porte d’Allemagne erhielt den Namen Porte de Pantin. Und mit demselben Dekret vom 15.8.1914 wurde aus der Rue de Berlin die Rue de Liège, womit man den Widerstand der grenznahen belgischen Stadt honorierte, die gerade von deutschen Truppen überfallen worden war.

Bei diesem schnellen Verfahren hielt man sich nicht an die sonst übliche Vorgehensweise bei Umbenennungen von Straßen4. Nach diesem Verfahren können Vorschläge für neue Namen aus der Bevölkerung kommen. Diese werden von der 4. Kommission des Pariser Stadtrats (Enseignement – Beaux arts) geprüft und dann der 3. Kommission (Voirie de Paris, Travaux affectant la voi publique) vorgelegt, die entscheidet, welche Straße den neuen Namen erhalten soll. Der Conseil municipal berät anschließend darüber, bevor die Entscheidung vom Präfekt der Seine ratifiziert wird. Die Zustimmung des Innenministers oder gar des Präsidenten wie im vorliegenden Fall, bei dem die Umbenennung auf nationaler Ebene bestätigt wurde, war eigentlich nicht notwendig. Auch entfiel hier die Debatte im Conseil municipal, der während der Monate August, September, Oktober und November 1914 nicht tagte.

Die Begründung für den Erlass des Präfekten konnte ich bisher nicht ausfindig machen. Im Recueil des actes administratifs de la Seine ist er nicht abgedruckt und es bleibt bisher im Dunkeln, auf wen die Idee der Umbenennungen ursprünglich zurückzuführen ist. In der für solche Forschungen sehr nützlichen, aber oftmals nicht funktionierenden Datenbank Nomenclature officielle des voies de Paris gibt es dazu keine Informationen und auch im Dictionnaire historiques des rues de Paris von Jacques Hillairet stehen keine weiteren Hinweise. Aber eines ist bekannt: Seit dem Jahr 2000, nachdem Berlin deutsche Hauptstadt geworden war, taucht zumindest der Name Berlin wieder im Pariser öffentlichen Raum auf: Im 8. Arrondissement gibt es einen – wenn auch ziemlich kleinen – “Square de Berlin“. Wie dieser vorher hieß? Gar nicht, er hatte keinen Namen und gehörte einfach mit zu den Jardins des Champs-Elysées

Literatur

Gersmann, Gudrun, Der Streit um die Straßennamen. Städtische Gedenkpolitik zwischen Französischer Republik und III. Republik, in: Dies. ua (Hg.), Frankreich 1848-1870, Stuttgart 1998, S. 43-57.

Hillairet, Jacques, Dictionnaire historiques des rues de Paris, Paris : Éd. de Minuit, 1997.

König, Mareike, Brüche als gestaltendes Element: Die Deutschen in Paris im 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.), Deutsche Handwerker, Arbeiter und Dienstmädchen in Paris. Eine vergessene Migration im 19. Jahrhundert, München 2003, S. 9-26. <http://www.perspectivia.net/content/publikationen/phs/koenig_handwerker/koenig_brueche>

Nomenclature officielle des voies de Paris, Online Datenkbank.

Posthaus, Renate, Französische Autoren in Straßenverzeichnissen (Paris, Montreuil, Saint-Etienne, Perpignan). Untersuchungen über politische und historische Gründe literarischer Kanonisierung im öffentlich-kommunalen Bereich, Staatsexamen Universität Düsseldorf 1975.

Abbildung

Postkarte: Rue et Pont d’Allemagne, Privatbesitz Mareike König, CC-BY.

  1. Vgl. Gudrun Gersmann, Der Streit um die Straßennamen. Städtische Gedenkpolitik zwischen Französischer Republik und III. Republik, in: Dies. ua (Hg.), Frankreich 1848-1870, Stuttgart 1998, S. 43.
  2. Bulletin municipal officiel, 22.8.1914, 3e trimestre, S. 1. Leider ist der Jahrgang 1914 noch nicht bei Gallica online verfügbar  http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb343512457/date
  3. Mareike König, Brüche als gestaltendes Element: Die Deutschen in Paris im 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.), Deutsche Handwerker, Arbeiter und Dienstmädchen in Paris. Eine vergessene Migration im 19. Jahrhundert, München 2003, S. 9-26
  4. Vgl. dazu Renate Posthaus, Französische Autoren in Straßenverzeichnissen (Paris, Montreuil, Saint-Etienne, Perpignan). Untersuchungen über politische und historische Gründe literarischer Kanonisierung im öffentlich-kommunalen Bereich, Staatsexamen Universität Düsseldorf 1975, S. 35.

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/119

Weiterlesen

Kolonialismus im Deutschen Historischen Museum – ein kritischer Audioguide

[UPDATE] Bericht in der taz, Berlin-Teil am 4.3. 2013: Eine Gruppe junger Wissenschaftlerinnen wirft dem Deutschen Historischen Museum vor, die koloniale Vergangenheit auszublenden – und bietet dafür einen alternativen Audioguide an

Was wissen wir über die deutsche Kolonialvergangenheit? Was hat Kolonialismus mit deutscher Geschichte zu tun? Welche Auswirkungen hatte und hat er noch heute auf die deutsche Gesellschaft? Über die gewaltvolle Geschichte des deutschen Kolonialismus wird in der deutschen Gesellschaft kaum diskutiert. Auch im Deutschen Historischen Museum in Berlin bleibt sie bestenfalls eine Randnotiz. In einer Glasvitrine abseits der historischen Erzählung über das Kaiserreich sollen sich Betrachterinnen und Betrachter mittels eines Sammelsuriums kolonialer Artefakte ein Bild von der kolonialen Vergangenheit machen. Auf diese Weise wird die Kolonialgeschichte von allen anderen Entwicklungen abgetrennt, die in der Ausstellung dargestellt werden – als gäbe es zwischen Kolonialismus und Populärkultur, Reichstagsdebatten oder Wissenschaften keinen Zusammenhang.

Der von der Initiative „Kolonialismus im Kasten?“ unabhängig vom DHM konzipierte und produzierte Audioguide, der ab sofort im Internet zum Herunterladen zur Verfügung steht, setzt sich kritisch mit dieser Art von Darstellung „nationaler“ Geschichte auseinander. In 30 Hörstücken verknüpft er den deutschen Kolonialismus mit den in der Dauerausstellung präsentierten Themen und Objekten – von der Reichsgründung über Arbeitskämpfe bis hin zur Populärkultur und Geschlechterpolitik. Dabei erzählt er Geschichten von kolonialer Gewalt, Rassismus und wirtschaftlicher Ausbeutung, aber auch von Selbstbehauptung und erbittertem Widerstand.

In Kooperation mit der Werkstatt der Kulturen lädt die Initiative „Kolonialismus im Kasten?“ zur Präsentation des Audioguides und zum feierlichen Launch ihrer Website ein.

Mit Hörbeispielen und Bildern werden die fünf Historikerinnen der nationalen Kolonialvergessenheit und -verklärung eine audiovisuelle Kritik entgegensetzen. Im Anschluss kann bei Sekt und Musik weiter diskutiert werden. Mit Manuela Bauche, Dörte Lerp, Susann Lewerenz, Marie Muschalek und Kristin Weber von „Kolonialismus im Kasten?“ Sprecher und Sprecherinnen (Audioguide): Salome Dastmalchi, Patrick Khatami und Lara-Sophie Milagro

Samstag, 2. März 2013 um 18 Uhr im Foyer der Werkstatt der Kulturen, Wissmannstr. 32, 12049 Berlin-Neukölln. Eintritt fre.

Der Audioguide ist kostenlos von der Webseite www.kolonialismusimkasten.de herunterzuladen bzw. zu streamen und lässt sich auf MP3-Player und Smartphone abspielen.| kolonialismusimkasten@gmail.com


Einsortiert unter:Aktion, Erinnerung, Geschichtspolitik, Globalgeschichte, Kolonialismus, Vermittlung

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/02/20/kolonialismus-im-deutschen-historischen-museum-ein-kritischer-audioguide/

Weiterlesen

Erfurt: Häuserkampf und linke Erinnerungspolitik (Rezension)

Die Besetzung des Areals der ehemaligen Firma “Topf und Söhne” in Erfurt dauerte von April 2001 bis April 2009. Die vielen BesetzerInnen hatten sich etwa ein Viertel des über 50.000 Quadratmeter umfassenden Geländes angeeignet – es genutzt, dort gewohnt, Kultur veranstaltet, Raum für Politik und Werkstätten geschaffen. Mit diesem sehr preiswerten Buch sollen nun die Erfahrungen dieser Zeit festgehalten werden.

Zuerst wird aber die Geschichte der Hausbetzungen in Erfurt bis 2001 nacherzählt. Danach folgen unterschiedliche Beiträge zum Alltag in einem linken Projekt. Zu seinen Untiefen, seinen internen und öffentlichen Debatten und zur “Organisierung des Chaos”. Das besetzte Haus wollte nie ein Freiraum in der alten politischen Bedeutung sein. Es wird aber doch deutlich, dass ein besetzter Raum immer auch ein Laboratorium für Ideen und ihre Umsetzung ist. Der Bedeutung jenseits seiner Mauern hat, ja über die Stadt Erfurt hinauswirkte.

Die Firma “Topf und Söhne” war nicht irgendeine Firma. Sie stellte während des Nationalsozialismus auf dem später besetzten Gelände Krematoriumsöfen für Auschwitz und andere Lager her. So war von Anfang an klar, dass die BesetzerInnen sich dazu verhalten mussten und dies dann auch taten. In mehreren Artikeln wird sowohl die Geschichte der Firma wie die vielfältigen Aktivitäten der BesetzerInnen dokumentiert. Diese stoßen immer wieder, zum Beispiel anhand des Topos der “deutschen Wertarbeit”, auf die schwierige Frage des Verhältnisses von Nationalsozialismus und Kapitalismus. Die Konflikte und die Zusammenarbeit mit dem schon 1999 gegründeten “Förderkeis Geschichtsort” werden analysiert. Einige kritisieren, er kehre durch seine Arbeit Schuld und Verantwortung unter den Tisch – ganz im Sinne der neuen deutschen Erinnerungspolitik.

Heute ist auf dem Gelände ein Baumarkt und Gartencenter samt Parkplatz. In einem Gebäude, das nie Bestandteil der Besetzung war, wurde ein offizieller Geschichtsort zur Firma eingerichtet. Alle Spuren der Besetzung sind getilgt, auch im Gedenkort wird nicht darauf hingewiesen, dass die BesetzerInnen sich erinnerungspolitisch und antifaschistisch engagiert haben und somit zu seiner Durchsetzung mit beigetragen haben.

Durch das mit über 200 Fotos reichhaltig illustrierte Buch entsteht ein sehr plastisches Bild, das von der Spannung zwischen dem linksradikalen Alltag sowie der historischen Bedeutung des Ortes lebt – und den jeweiligen Umgang damit schildert.

Bernd Hüttner

Karl Meyerbeer, Pascal Späth (Hrsg.): Topf & Söhne – Besetzung auf einem Täterort; Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2012, 187 Seiten, 12,90 EUR


Einsortiert unter:Erinnerung, Faschismus, Geschichtspolitik, Literatur

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/12/07/erfurt-hauserkampf-und-linke-erinnerungspolitik-rezension/

Weiterlesen

Zocken in Vegas, Überleben in Lappland, zum Erinnern nach Auschwitz? Opfergedenken als Billigtourismus? Zum SZ-Magazin vom Freitag

Nachdem ich mich schon im Zusammenhang mit Mario Balotelli als SZ-Leser geoutet habe – hier erneut ein objet trouvé der ärgerlichen Art. Das Freitagsmagazin der SZ (Nr. 43, 26.10.2012) featured 11 Reiseberichte unter dem Titel Lebensziele: “Wir haben elf Autoren gefragt, wohin sie schon immer mal fahren wollten und warum.” Und rauskam eine schöne Zusammenstellung: eine Journalistin will sich unbedingt in Autralien in ein Becken mit Krokodilen legen. Ein Zweiter reist zum Zocken nach Vegas, ein Dritter nach Lappland zum Überleben, noch einer anderer will nach San Sebastián zum Sterne-Koch (“11 Sterne in drei Tagen”). Und mittten drin – Auschwitz: “Einmal im Leben wollte unser Autor in Auschwitz der Nazi-Opfer gedenken – er verließ den grauenhaften Ort auch mit Hoffnung.” Was folgt ist ein eher nachdenklicher Bericht. Was mich so stört, ist das Framing dieses Texts, der reißerische Teaser, eingequetscht zwischen Kleinbürgertraumreisen und einarmigen Banditen.

Die Forschung (z.B. das Institute for Dark Tourism der UCLan) sieht das Phänomen “dark tourism” durchaus ambivalent und attestiert aufklärerisches Potential. Realiter ist, Auschwitz ohnehin ein Anziehungspunkt für Besucher aus aller Welt, buchbar übers Reisebüro und beworben auf den Billboards der Straßen Warschaus. Von den Framing-Spezialisten des SZ -Magazins hätte ich aber mehr Reflexion in der Zusammenstellung erwartet. Auschwitz wird hier zum billigen Tourismusziel. Man könnte es auch überblättern, aber gilt die SZ nicht als eine der letzten Qualitätszeitungen?


Einsortiert unter:Erinnerung, Geschichtspolitik, Medien, Meinung, Uncategorized, Vermittlung

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/10/27/zocken-in-vegas-uberleben-in-lappland-zum-erinnern-nach-auschwitz-opfergedenken-als-billigtourismus-zum-sz-magazin-vom-freitag/

Weiterlesen

Rostock-Lichtenhagen ist noch kein “Erinnerungsort”

Ein paar Gedanken zum Erinnern. Bundespräsident Gauck hat am Wochenende in Rostock-Lichtenhagen eine Rede gehalten. Er hat an die Taten eines gewalttätigen, mordwilligen Mobs vom 22.-26.8.1992, das Leid der Opfer in einem Asylbewerberheim und einem Wohnheim für Vietnam-Deutsche, das Versagen der staatlichen Sicherheitsorgane und die Pflicht zum Gedenken erinnert. Meiner Ansicht nach besteht eine Gefahr im allzu schnellen Gedenken, Erinnern und Historisieren. In der deutschen Erinnerungskultur gibt es mittlerweile anscheinend eine Erinnerungsroutine, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus speist und nun auf jüngst vergangene Ereignisse übertragen wird. Dass eine bestimmte Form des Erinnerns einer Verschiebung vom “Arbeitsspeicher” in das “Archiv” des kollektiven Gedächtnisses gleicht – ja sogar eine natürlich Funktion sei, wurde verschiedentlich angemerkt (siehe z.B. WerkstattGeschichte 52/2009 “archive vergessen”). Lebendige Geschichte droht, wenn man nicht aufpasst, zur vergangenen, abgeschlossenen, erfolgreich überwundenen Geschichte zu werden. Genau die Gefahr sehe ich, wenn nun zum 20. Jahrestag R-Lichtenhagen zum Erinnerungsort gemacht wird. Diese Vergangenheit ist nicht vorbei! Sie ist ummittelbar wirksam, beispielsweise im Asylrecht: Im Anschluss oder in Reaktion auf die Gewalt gegen vermeintlich Fremde in Lichtenhagen, Mölln, Hoyerswerda oder Solingen verschärfte Deutschland seine Asylgesetzgebung (u.a. mit der Drittstaaten-Regelung) – dieses Asylverhinderungsrecht ist immer noch in Kraft.

Nur ein Zitat aus den Bundestagsdebatten im Vorfeld des sog. Asylkompromisses vom 26. Mai 1993, Norbert Geis am 4.11.1992 (auch heute noch CSU-Abgeordneter):

„Nun können wir uns leicht ausrechnen, wann wir, weil dieser Asylstrom überhaupt nicht enden wird […] die Kapazitäten nicht mehr haben, um diese Menschen aufnehmen zu können. Wir können uns doch auch leicht ausrechnen, wann es zur Katastrophe kommt. […] Es geht doch letztlich darum, dass wir Wortklauberei betreiben und der eigentlichen Tatsache nicht ins Gesicht sehen. Diese unsere Haltung bewirkt draußen, daß wir eine zunehmende Radikalisierung der Bevölkerung, zumindest ein starke Sympathie gegenüber radikalen Parteien erleben. Dieser Radikalimus ist die Ursache für Exzesse.“ (BT - Aktuelle Stunde Plenarprotokoll 12/116 04.11.1992 S. 9892-9893.)

Von vielen in den Regierungsparteien und der SPD wurde die einfache Gleichung, „Asylstrom“ führt zu „Exzessen“, unterschrieben; die Asylrechtsänderung von 1993 war auch eine Konsequenz aus dieser Wahrnehmung der Gewalt gegen vermeintlich Fremde.

20 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen ist nicht die Zeit der deutschen Geschichte einen weiteren Erinnerungsort hinzuzufügen, es ist Zeit für eine Entradikalisierung des Asylrechts.

Herr Gauck, das wäre Ihre Gelegenheit gewesen zu handeln. Ergreifen Sie die nächste !


Einsortiert unter:Aktion, Archive, Ereignis, Erinnerung, Geschichte, Geschichtspolitik, Meinung

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/08/27/rostock-lichtenhagen-ist-noch-kein-erinnerungsort/

Weiterlesen

Donny Gluckstein: A People’s History of the Second World War. Resistance versus Empire.

111-SC-217401.Source: http://www.archives.gov/research/ww2/photos/images/ww2-102.jpg Collection:  http://www.archives.gov/research/ww2/photos/#germany

An American officer and a French partisan crouch behind an auto during a street fight in a French city, ca. 1944. Public Domain via Wikimedia Commons

Dieses Buch sollten alle kennen. A People’s History of the Second World War. Resistance versus Empire betrachtet die Geschichte des Zweiten Weltkriegs “von unten”. Und das bedeutet einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel. Die Befreiungs-, Widerstands- und Partisanenbewegungen erscheinen nicht als Anhängsel der westlichen Militärapparate oder als fünfte Kolonne der stalinistischen Sowjetunion, sondern als das, was sie in Wirklichkeit waren: eigenständige Bewegungen, die sich nicht nur gegen die mörderischen Achsenmächte zur Wehr setzten mussten, sondern auch noch mit den politischen Zielen der Alliierten in Konflikt standen.

Donny Gluckstein kann zeigen, dass es im Zweiten Weltkrieg zwei “parallele Kriege” gab – einen “imperial war” und einen “people’s war”:

Allied ruling classes battled to defend their privileged status quo from internal and external threats, while popular armed struggle strove for real, all-encompassing, human liberation and a more just, democratic future. Imperialists sacrificed life indiscriminately to achieve their end; partisans and guerillas defended local populations from aggression and agonised over the risks their actions posed for civilians. Conventional soldiers were subordinate to a rigid hierarchy and sworn to unquestioning obedience; fighters of the people’s war, whether in the soldiers’ parliament in Cairo, the ghettos in Detroit, or the mountains of Greece, Yugoslavia and Italy, were conscious volunteers driven by ideological commitment.

Mehrheitlich zogen die Widerstandsbewegungen nach links, verwirklichten basis- und radikaldemokratische Ideen, beschäftigten sich mit sozialistischen und kommunistischen Gesellschaftsentwürfen – natürlich jenseits des terroristischen sowjetischen  Modells.
Als Befreiungsbewegungen gewannen sie breite Unterstützung in der Bevölkerung. Für viele Menschen schien ab 1943 eine andere, demokratischere  Gesellschaftsordnung in greifbare Nähe zu rücken. Und die Befreiungsbewegungen waren die zentralen Akteure des möglichen Wandels.

“Parallel Wars” – schwer zu vereinheitlichen

Gluckstein ergreift Partei für die Widerstands- und Partisanen-Bewegungen, weil ihre Projekte und Ziele systematisch aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wurden. Und das geschah nicht ohne Grund: Die demokratie- und wirtschaftspolitischen Forderungen gingen weit über das hinaus, was die Supermächte akzeptierten und zuließen. Erst vor kurzem verdeutlichte Stéphane Hessels Buch “Empört euch!” die politische Sprengkraft des Themas. Der ehemalige Résistance-Kämpfer sprach sich seiner millionenfach verkauften Schrift für die Wiederbelebung der Werte der Résistance aus.

Dankenswerterweise vermeidet Gluckstein jede Heroisierung und Simplifizierung. Er zeigt die Probleme und Ausprägungen der sehr heterogenen Bewegungen und thematisiert ihre inneren Widersprüche. So macht er unter anderem deutlich, dass “people’s war”  nicht einfach als Klassenkampf oder nationaler Befreiungskampf verstanden werden kann, sondern ein Amalgam aus beiden war.

Doch Gluckstein hat erkennbare Schwierigkeiten, das Phänomen begrifflich zu fassen. Er ist sich des Problems bewusst und rettet sich, indem er nicht als Theoretiker auftritt, der in einem Satz die Essenz liefern will. Donny Gluckstein reicht es, den Beweis zu liefern, dass es im Zweiten Weltkrieg ein globales Phänomen paralleler Kriege gab und dass dieses Phänomen differenziert zu untersuchen ist. Dazu skizziert er, wie sich die parallelen Kriege in den unterschiedlichsten Ländern entwickelten und macht damit klar, dass der von ihm so griffig vereinfachte “people’s war” erinnerungspolitisch weder von Staaten noch von Parteien vereinnahmt werden kann.

Ein globaler Blick – ohne die Sowjetunion

Mit A People’s History of the Second World War macht Donny Gluckstein erste Schritte, die Widerstandsbewegungen des Zweiten Weltkriegs als globales Phänomen zu betrachten. Er untersucht den Spanischen Bürgerkrieg, wendet sich dann den Ländern zwischen den Blöcken – Jugoslawien, Griechenland, Polen und Litauen – zu, liefert Skizzen der Entwicklungen in Frankreich und Großbritannien und widmet sich den Widerstandsbewegungen innerhalb der Achsenmächte Deutschland, Österreich und Italien.

Doch dieser europäische Rahmen genügt Gluckstein nicht, er liefert auch Kapitel über Indien, Indonesien und Vietnam. Und auch die USA wird besprochen. Hier konzentriert sich Gluckstein vor allem auf den Kampf der schwarzen Bevölkerung, die zwar in der US-amerikanischen Armee und im Rüstungskomplex arbeiten durfte, aber auch dort schonungslos unterdrückt wurde.

Eins fällt auf. Die Sowjetunion spielt in allen Kapiteln eine wichtige Rolle, hat aber kein eigenes Kapitel bekommen. Gluckstein begründet das damit, dass er sich auf Länder konzentrieren will, an denen sich die zwei parallelen Kriege am besten zu sehen sind. Die Sowjetunion habe zwar eine zentrale Rolle bei der Niederschlagung Hitlers gespielt, aber keine parallelen Kriege erlebt, weil zum einen die mörderische Politik der Faschisten die Bevölkerung zum stalinistischen Regime trieb und die sowjetischen Partisanen niemals eine Alternative zu Moskau entwickelten. Zum anderen habe die gewaltsame Unterdrückung ethnischer Gruppen zu wenig Spielraum für unabhängige Befreiungsbewegungen gelassen.

Das Beispiel Jugoslawien

Ein beeindruckendes Kapitel ist das jugoslawische, weil es die innen- und außenpolitischen Verwicklungen prägnant und plastisch schildert:

Das jugoslawische Establishment wollte am Ende des Krieges auf Seiten der Gewinner stehen, war sich aber uneins, ob das die Achsenmächte oder die Alliierten sein würden. Zwischen Anhängern der Achsenmächte und Anhängern der Alliierten entwickelte sich daher ein Machtkampf. Doch beide Parteien waren sich darin einig, dass sie faschistische Besatzer weniger fürchteten als die eigene Bevölkerung und die politische Linke. Und das zeigte sich daran, dass das jugoslawische Regime bei der Invasion Jugoslawiens durch deutsche, italienische und ungarische Truppen die Bevölkerung nicht bewaffnete und auch ein Angebot der Linken zur gemeinsamen Verteidigung ablehnte. Vielmehr wurde von den faschistischen Kollaborateuren die Situation genutzt, um gewaltsam mit Polizei und serbisch nationalistischen Tschetniks gegen Kommunisten, Studenten und Arbeiter, überhaupt gegen jede demokratische Opposition vorzugehen.

Als Italien und Deutschland Jugoslawien besetzt und aufgeteilt hatten, entstanden zwei Widerstandsgruppen: Die von der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ)  geführten Partisanen unter Josip “Tito” Broz und die monarchistischen, serbisch-nationalistischen Tschetniks. Die Tschetniks rekrutierten sich aus ehemaligen Armee-Offizieren und wurden von Draža Mihailović angeführt. Politisch hatten die Tschetniks die Wiederherstellung der Monarchie unter serbischer Führung und eine ethnische Säuberung in Serbien zum Ziel. Die westlichen Alliierten bevorzugten generell monarchistische und reaktionäre Widerstandsgruppen und so unterstützte die britische Regierung die Tschetniks nach Kräften. Die offizielle Sprechweise war, dass man sich an die Seite der legitimen Regierung stellte.

Dass es den Briten nicht gelang, in Jugoslawien nach dem Krieg die Monarchie wieder zu installieren, war Ergebnis der Politik der von der kommunistischen Partei ins Leben gerufenen Partisanenarmee. Die KPJ hatte dort zwar die Führung, organisierte aber den Widerstand als breite Bündnisbewegung. So hatten die Partisanen bald massenhaften Zulauf. Die Menschen sahen eine reale Chance, über diese genuine Befreiungsbewegung ihr Leben selbständig verbessern zu können. Die militärische Bedeutung der Partisanen wuchs. Durch die spezifische Situation in dem Balkanstaat und die Strategie der Partisanenbewegung wurde die KPJ politisch überrannt. Die KPJ konnte die Widerstandsbewegung nicht dominieren – auch weil sie wortwörtlich personell ausblutete. Gluckstein zitiert dazu einen Bericht der Befreiung von Belgrad 1944 durch Partisanen und Roter Armee:

not one – literally not one – member of the party. There were thousands of sympathizers, even wildcat non-party groups, but the party members had been wiped out in camps, in gas extermination trucks, and on execution grounds. At the execution ground in Jajinici night after night – every night in the course of three and a half years – hundreds of hostages and patriots, mostly communists and the sympatizers, were executed…

Als die militärische Bedeutung der Partisanen unleugbar und die Kollaboration der Tschetniks mit den Faschisten bekannt wurden, wechselte die britische Regierung widerwillig die Seiten. Die militärische Unterstützung erreichte nun die Partisanenbewegung. Damit wurden diese endgültig zum real-politischen Machtfaktor, der für die Großmächte zum Problem wurde. Die Partisanen konnten zwar die Besatzer nicht allein besiegen, aber Ende 1943 hielten 300.000 Partisanen 200.000 deutsche Truppen und 160.000 mit den deutschen verbündete Truppen in Schach.

Jugoslawien ist ein typisches Beispiel für das Ringen um Gestaltungsmacht und Herrschaft um die Nachkriegsordnung, die uns heute nur als Ergebnis der Konferenzen großer Männer in Teheran, Jalta und Potsdam vorgeführt wird. Doch anders als etwa Griechenland oder Italien konnte Jugoslawien unabhängig von den Großmächten zu einem blockfreien Staat werden. Gluckstein begründet das nicht, doch es erscheint mir klar, dass es hier im Unterschied zu anderen Ländern den Großmächten nicht gelang, die Partisanenbewegungen zu entwaffnen.

Unbedingte Leseempfehlung

Mir fehlt an manchen Stellen des Buches ein wenig die Analyse, ein durchdachter Umgang mit Begriffen und Präzision. Die Sowjetunion ist beispielsweise nicht “Russland”. Und es schadet auch nicht, wenn der Leser in der “Conclusion” auch eine solche kriegen würde, anstatt einen – selbst für mich – zu essayistischen Ausklang. Auch die Fachleute werden an den verschiedensten Stellen ihre Einsprüche erheben.

Aber Gluckstein geht es nicht um eine vollständige Darstellung, sondern er zeigt, was er unter dem Begriff “people’s war” begrifflich fassen will. Der Bezugspunkt aller Ausprägungen des “people’s War” ist der Krieg selbst. Der Spanischen Bürgerkrieg und der darauffolgende Zweite Weltkrieg waren Auslöser für verschiedene Befreiungskämpfe und Emanzipationsbestrebungen.

Doch während sich die Revolutionsjahre von 1917 bis 1919 , die Jahre der Revolte von 1967/68 und sogar der Zusammenbruch des Staatssozialismus 1989/90  als Eckdaten für die Geschichte sozialer Bewegungen eingeprägt haben, werden die für die Demokratieentwicklung nicht weniger wichtigen Bewegungen zwischen 1936 und 1945 durch den Krieg und seine offiziellen Darstellungen überdeckt.

Schon weil diese Wahrnehmung in Frage gestellt wird, gehört dieses Buch für mich zu den wichtigsten Geschichtsbüchern des Jahres 2012.
Neil Davidson ist zuzustimmen, wenn er schreibt:

Rigorously structuring his analysis around the two central themes of popular resistance and inter-imperialist rivalry, Gluckstein makes an indispensable contribution to understanding the reality of the conflict in all its complexity.

Insofern hoffe ich, dass das Buch bald auch auf Deutsch verfügbar ist.

Weitere Links

Hinweis: Die Zitate haben keine Seitenangaben, weil ich das Buch in der Kindle-Ausgabe gekauft habe.


Einsortiert unter:Erinnerung, Globalgeschichte, Literatur

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/08/04/donny-gluckstein-a-peoples-history-of-the-second-world-war-resistance-versus-empire/

Weiterlesen