„Jetzt werde ich geschlachtet!“ Mit diesem Verzweiflungsausruf des Schriftstellers Ernst von Salomon betitelte der „Spiegel“ seinen Verriss über die erste (und letzte) Lesung seines berühmten Romans „Der Fragebogen“.[1] Organisiert hatte die Lesung am 17. Oktober 1951 der berühmte Bahnhofsbuchhändler Gerhard Ludwig. Dieser lud allwöchentlich zu seinen „Mittwochsgesprächen“ in den Kölner Hauptbahnhof ein. Das kostenlose, talkshowhafte Lesungsformat („Freier Eintritt, Freie Fragen, Freie Antworten“) war im bundesrepublikanischen Kulturleben schnell zur Instanz geworden. Wer bei Gerhard Ludwig auftreten durfte, dem war Aufmerksamkeit sicher, so auch Ernst von Salomon. Obgleich sein „Fragebogen“ als Besteller in diese Lesung ging – die 10.000 Exemplare der Startauflage waren bereits am Erscheinungstag ausverkauft[2] –, geriet die Veranstaltung für den Autor zu einem Debakel. Von den 300 Gästen wurde Salomons Werk, wie der „Spiegel“ berichtet, regelrecht „zerfetzt“, während Salomon, im noch behelfsmäßig eingerichteten Wartesaal „in Hemdsärmeln auf der Heizung thronend“, sein Buch energisch verteidigte.
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Volksgemeinschaftsforschung und Regionalgeschichte
Die Lokal- oder Regionalgeschichte der NS-Zeit mag nicht mehr zu den Themen gehören, die besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten oder akademische Meriten versprechen; mit welch beträchtlichen Erträgen sie immer noch betrieben werden kann, zeigt jedoch der Sammelband „Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt“. Er versucht, die Geschichte der Stadt Neustadt während des NS-Regimes möglichst umfassend zu rekonstruieren und dabei, über die konkreten lokalgeschichtlichen Erträge hinaus, einen Beitrag zu einer Kultur und „Sozialgeschichte des Alltags im Nationalsozialismus“ (S. 1) zu leisten. Dabei wird die lange Zeit gebräuchliche Formulierung von der deutschen Gesellschaft „unterm Hakenkreuz“ ebenso beiseitegeschoben wie die in der lokalhistorischen NS-Forschung seit den 1970er-Jahren oft gebrauchte Formel von „Widerstand und Verfolgung“ – zugunsten eines stärkeren Bezugs auf den Begriff der „Volksgemeinschaft“, der in den letzten Jahrzehnten in der NS-Forschung zunehmend diskutiert und forschungsleitend eingesetzt wurde. Mit dieser perspektivischen Verschiebung, so der Herausgeber Markus Raasch in seiner differenzierten und umsichtigen Einleitung, soll das Bild lokaler NS-Geschichte neu akzentuiert werden: Betrachtungsweisen, die kategorisch zwischen normalen Bürger*innen und „Nazis“ unterschieden, von der Totalität nationalsozialistischer Unterdrückung ausgingen, mit Blick auf die Facetten des Widerständigen die vielen Formen der Anpassung und „Kollaboration“ (Olaf Blaschke) aus dem Blick verloren, werden hier relativiert. Stattdessen sollen stärker „Interaktion[en]“ (S. 4) zwischen Staat, Partei und Gesellschaft, Aushandlungsprozesse und Anpassungsmuster, Handlungsspielräume und Mobilisierungsprozesse unter lokalen Eliten und Bevölkerung Beachtung finden. Mit Blick auf das wirkmächtige Konstrukt der „Volksgemeinschaft“ werden zudem die vielfältigen Mechanismen der Abgrenzung und Ausschließung thematisiert, die für die NS-Gesellschaft konstitutiv waren.
Während die NS-Zeit in der Pfalz schon Gegenstand zahlreicher Untersuchungen war, liegen zu Neustadt bisher nur wenige „historisch-kritisch argumentieren[de]“ (S.
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„Euthanasie“, Zwangssterilisation, Humanexperimente. NS-Medizinverbrechen an Rhein und Sieg 1933–1945
Im Auftrag des Rhein-Sieg-Kreises, bezuschusst vom Landschaftsverband Rheinland und in Kooperation mit der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn wurden ab Ende 2017 die NS-Medizinverbrechen an Rhein und Sieg untersucht. Parallel zu den Forschungen wurde eine öffentliche Vortragsreihe organisiert. Seit dem vergangenen Jahr liegt das Ergebnis der Studie vor. Der Band ist reich bebildert und umfasst neben der Einleitung fünf Abschnitte: Nach den verwaltungsgeschichtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – hier zeigt sich noch einmal die starke Position der Zentrumspartei in der Region im Verhältnis zur NSDAP unmittelbar vor der Machtübernahme – werden die Zwangssterilisationspraxis, die „Euthanasie“-Verbrechen, die Verbrechen in Konzentrationslagern sowie das Thema Anerkennung und Entschädigung behandelt. Der jeweilige Umfang der Kapitel variiert erheblich: Stehen für die Geschichte der Zwangssterilisation rund 200 Seiten zu Verfügung, sind es nur sechs bzw. zehn Seiten für die letzten beiden Kapitel.
Die Quellenbasis für die Untersuchung der Zwangssterilisationspraxis auf dem Gebiet des heutigen Rhein-Sieg-Kreises ist ungewöhnlich gut, insgesamt etwa 2800 „Erbgesundheitsakten“ aus dem ehemaligen Kreis Bonn-Land, vor allem aber aus dem ehemaligen Siegkreis stehen der Forschung zu Verfügung. Hinzu kommen Akten aus dem Gesundheitsamt Bonn sowie eine Kartei des Bonner „Erbgesundheitsgerichts“. Entsprechend detailliert lassen sich die administrativen Abläufe und das Ineinandergreifen von Sozialverwaltung, Medizin und Justiz darstellen.
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