Tagungsbericht: Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert

800 Jahre nach der Übertragung der Pfalzgrafschaft bei Rhein an die Familie der Wittelsbacher durch Kaiser Friedrich II., die über 700 Jahre währen sollte, befasste sich die wissenschaftliche Tagung „Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert“ mit zentralen Aspekten der Stellung der Pfalz im Königreich Bayern. Ausgewiesene Experten referierten am 28. und 29. März 2014 auf Schloss Villa Ludwigshöhe bei Edenkoben in drei Sektionen über das besondere Verhältnis der Pfalz zum Königreich Bayern zwischen deren Angliederung im Jahre 1816 und dem Ende der Wittelsbacher Herrschaft 1918. Ein besonderes Anliegen der von Prof. Dr. Karsten Ruppert, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, initiierten Tagung war die Belebung des Dialoges zwischen den bayerischen und pfälzischen Historikern über diese Epoche der gemeinsamen Geschichte.

Die Veranstaltung war ein gemeinsames Projekt der Generaldirektion Kulturelles Erbe (GDKE) des Landes Rheinland-Pfalz, der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Hambach-Gesellschaft für historische Forschung und politische Bildung. Eine Unterstützung gewährte die Stiftung Bayern-Pfalz. Nach der Begrüßung durch die Direktorin der Sektion „Burgen, Schlösser, Altertümer“ der GDKE, Dr. Angela Kaiser-Lahme, die über die Geschichte und Bedeutung des Tagungsortes informierte, führte Prof. Dr. Karsten Ruppert in die Konzeption der Tagung ein: Von allen neu erworbenen Gebieten habe sich Bayern mit der Pfalz am schwersten getan. Dass die Integration dennoch gelungen sei, sei einer Politik zu verdanken gewesen, die so viel Einheitlichkeit wie nötig eingefordert und so viel Selbständigkeit wie möglich gewährt habe. So sei bis zum Vorabend des Weltkriegs der Beweis erbracht worden, dass ein starker Staat sich durchaus mit lebendigen Regionen vereinbaren ließ.

Den Auftakt zur Sektion „Politik, Verfassung, Recht“ machte Prof. Dr. Hans Fenske, Universität Freiburg, mit einem Referat über „Die pfälzische Sonderkultur in der politischen Entwicklung Bayerns bis zur Revolution von 1848/49“. Darin betonte er sowohl die populäre Zustimmung zur Beibehaltung der verfassungspolitischen Errungenschaften aus der französischen Zeit („Rheinische Institutionen“) wie auch die Bereitschaft der bayerischen Regierung und der führenden Verwaltungsbeamten zur „Verbürgung des pfälzischen Sonderstatus“. Mit der im Anschluss an die Pariser Julirevolution 1830 einsetzenden „konservativen Wende“ Ludwigs I., die vom Hambacher Fest 1832 verstärkt wurde, kam diese Phase zu einem vorläufigen Ende. Im Verlauf der Revolution 1848/49 wurde durch die liberalen Reformen jedoch eine Angleichung der rechts- an die linksrheinischen Verhältnisse erzielt, weshalb „von einer Sonderkultur dann kaum noch die Rede sein“ konnte.

Dr. Wilhelm Kreutz, Privatdozent an der Universität Mannheim, porträtierte „Die politische Entwicklung Bayerns und der Pfalz von 1848/49 bis 1918“. Hatte das Jahr 1849 mit der Lossagung der Pfalz von Bayern durch die Provisorische Regierung im Rahmen der Reichsverfassungskampagne den „Tiefpunkt des bayerisch-pfälzischen Verhältnisses“ markiert, so endete damit auch die geschlossene oppositionelle Blockhaltung durch Betonung der (französisch geprägten) politischen Autonomie. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei ein Streben nach einer „historischen Kulturlandschaft ‚Pfalz’“ durch die Umdeutung der Pfälzer in einen „eigenen deutschen Stamm“ neben Franken, Schwaben und Altbayern unter Betonung der Einheit von politischem Territorium und geographischem Gebiet erkennbar. Gleichzeitig wurde neben dieser „kulturellen Transformation der Identität“ unter Dominanz der nationalliberal orientierten „Flaschenbarone“ die Annäherung an die deutsche Kultur und das ‚Reich’ wichtiger.

Dr. Franz Maier vom Landesarchiv Speyer bestätigte die Befunde der Vorredner. Die Vereinheitlichung auf staatlicher Ebene sei bis 1862 nahezu vollständig vollzogen worden und Neuerungen aus der französischen Zeit seien nicht nur belassen worden, sondern sie seien vielfach auch im rechtsrheinischen Bayern übernommen worden. Auf der kleinsten Verwaltungsebene, die Maier in seinem Vortrag über „Die Entwicklung der Verwaltung und Kommunalverfassung in der Pfalz und im rechtsrheinischen Bayern“ besonders im Blick hatte, ist es hingegen bis zum Ende der Monarchie zu keiner Angleichung gekommen; die erweiterten Selbstverwaltungskompetenzen wurden nicht berührt. Zu groß wären die Eingriffe in das alltägliche Leben der Menschen gewesen.

Den Vorbildcharakter der pfälzischen Freiheitsrechte für das rechtsrheinische Bayern, besonders für das aufgeklärte Milieu, untermauerte auch Prof. Dr. Dr. Reinhard Heydenreuther in seinem Referat über die „Rechtsordnung und Justizverfassung der Pfalz“. Mit der Übernahme respektive Garantie der Freiheit und Sicherheit der Person sowie des Eigentums, der Gleichheit vor dem Gesetz, der Freiheit des Gewerbes, der Trennung von Justiz und Verwaltung, der Öffentlichkeit der Gerichtssitzungen und der Trennung des Geistlichen vom Weltlichen wurde im Kernland jedoch erst 1848 begonnen.

Der Beitrag Prof. Dr. Alois Seidls von der Hochschule Weihenstephan über „Die pfälzische Landwirtschaft des 19. Jahrhunderts im Spiegel des bayerischen Stammlandes“ beleuchtete die großen Unterschiede in den landwirtschaftlichen Verhältnissen als Auftakt zur Sektion „Wirtschaft und Gesellschaft“. Die seit der französischen Zeit bestehende moderne Agrarverfassung („Bauernbefreiung“) machte die Bauern in der Pfalz zu Eigentümern und Unternehmern gleichermaßen; die Realteilung hatte allerdings die Ausbildung einer kleinbetrieblichen Agrarstruktur („Parzellierung“) und im Verein mit der Bevölkerungsexplosion des 19. Jahrhunderts mehrere Ernährungskrisen zur Folge. Auch auf die Entwicklung moderner Produktionstechniken wirkte sich die Dominanz der Parzellenbetriebe nachteilig aus. Durch die korporativ betriebene Agrarbildung fand jedoch eine gegenseitige Befruchtung zwischen dem Stammland und der Pfalz statt.

Prof. Dr. Dirk Götschmann, Universität Würzburg, schloss mit seinem Vortrag über „Industrialisierung und Gewerbe der Pfalz“ daran an. Die agrarische Pfalz (bis zur Mitte des Jahrhunderts waren rund 70 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig) mit überwiegend Subsistenzwirtschaft habe nur wenig Produktivkraft entfaltet. Andererseits habe die Abhängigkeit von einem – oft häuslich betriebenen – Zuerwerb, der aufgrund der liberalen Gewerbeverfassung ohne Restriktionen aufgenommen werden konnte, der Pfalz gegenüber dem rechtsrheinischen Bayern einen Vorsprung bei der aufkommenden Industrialisierung und Globalisierung verschafft. Die Erweiterung der Absatzmöglichkeiten durch den Deutschen Zollverein von 1834, der Anschluss an die Eisenbahn und die Schifffahrt seit den 1840er Jahren machten die Klein- und Kleinstbetriebe (heute: „Mittelstand“) der Pfalz zu Profiteuren auf dem Binnen- und Weltmarkt.

Dr. Markus Raasch, Privatdozent an der Universität Mainz, relativierte mit seinem Beitrag zu „Adel und Bürgertum. Bayern und die Pfalz aus gesellschaftshistorischer Perspektive“ die weitverbreitete Auffassung, wonach in der Pfalz feudale Lebensformen keine Rolle gespielt hätten. Durch zahlreiche Nobilitierungen habe sich zwar durchaus eine sehr heterogene Adelslandschaft mit zahlreichen Zerfallserscheinungen ergeben; allerdings seien diese Beleg für eine „ausgeprägte Kontinuität in der Diskontinuität“. Auch seien die Verfassung von 1818 sowie die Revolution von 1848/49 wichtige Zäsuren, doch sei der Abbau von Vorrechten stets mit staatlichen Konzessionsangeboten einhergegangen. Überdies zeuge der überproportionale Anteil des Adels in Bürokratie und Politik von Erfolgen im „Kampf ums Obenbleiben“. Dem Wandel der Besitzverhältnisse konnte der Adel ferner durch Allianzen mit dem Besitzbürgertum entgegenwirken, das mit der Adaption adliger Lebensformen diese weiterführte.

Das Referat Prof. Dr. Hermann Rumschöttels über „Die Pfalz um gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel Bayerns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ musste aus persönlichen Gründen entfallen, wird aber in den Tagungsband aufgenommen werden.

In die dritte Sektion, „Religion und Kultur“, führte Prof. Dr. Werner K. Blessing, Universität Erlangen-Nürnberg, mit dem Vortrag „Pfälzer ‚Eigen-Sinn’ – Der Unionsprotestantismus im Königreich Bayern“ ein. Die pfälzische Kirche könne insofern als „Seismograph des Zeitgeschehens“ gelten, als sie gegen die reaktionäre Kulturpolitik Ludwigs I. durch eine starke rationalistische Gegenbewegung Widerstand leistete. Politische Bedeutung erlangte die speziell auf gemeindlicher Ebene praktizierte „protestantische Freiheit“ dadurch, dass sie sich mit der frühliberalen Kritik an der konservativen Staatsführung verband; der Kampf um die Unabhängigkeit der Unierten Kirche der Pfalz vom orthodoxen „Neuluthertum“, welches das Oberkonsistorium in München dominierte, sollte auch die politische Autonomie befördern. Die Unionskirche wirkte als „geistig neutrales Band“ entscheidend an der Entwicklung einer gemeinsamen Identität mit.

Die andere große Konfession hatte Prof. Dr. Klaus Unterburger, Universität Regensburg, im Blick, als er zum Thema „Zwischen bayerischem Staatskirchentum und Milieubildung: Strukturelle Rahmenbedingungen und spezifische Eigenheiten des Pfälzer Katholizismus“ referierte. Er strich heraus, dass die beiden aus dem Mainzer Kreis kommenden Bischöfe, Geissel und Weis, sich für eine Stärkung und Reform des Katholizismus nach dem Niedergang in der „Franzosenzeit“ im Sinne des Ultramontanismus eingesetzt hätten. Unter dem Einfluss des frühliberal-rationalistischen Protestantismus und der kleinstädtischen Struktur der Pfalz sei die Ausbildung eines praktizierenden katholischen Milieus erschwert worden. Letzteres sei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts daher einen anderen Weg zur politischen Partizipation gegangen als der pfälzische Protestantismus: statt vornehmlich über den Parlamentarismus über Vereine, eine katholische Presse, Parteien und karitative Orden.

Dr. Lenelotte Möller, Speyer, machte in ihrer Betrachtung über „Schulwesen und höhere Bildungsanstalten der Pfalz im Rahmen des bayerischen Bildungssystems“ deutlich, dass im gesamten Jahrhundert ein beeindruckender Fortschritt erkennbar ist und eine massive, vor allem von den Gemeinden getragene Aufbauarbeit geleistet wurde: Nachdem die Beschulung zur öffentlichen Aufgabe eines territorial und bildungssystemisch weitgehend homogenisierten Staates geworden war, konnte eine ebenso verbesserte Eliten- wie Breitenförderung und damit ein großer Anstieg der Alphabetisierung verzeichnet werden. Eine Besonderheit der Pfalz blieb der große Anteil der bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehenden kommunalen Gemeinschaftsschulen.

Abschließend stellte Dr. Jürgen Vorderstemann, Speyer, die Frage „Pfälzische Kulturlandschaft oder kulturelle Provinz?“ Zwar hätten die bayerischen Könige, vor allem unter Ludwig I. und in der Prinzregentenzeit, einige kulturelle Aktivitäten entfaltet, doch seien diese weit hinter denen in München und anderen Teilen Bayerns zurückgeblieben. Umso mehr Gewicht sei daher den erfreulich zahlreichen Initiativen der Bürgergesellschaft zuzumessen. Zur Provinzialisierung habe schließlich noch beigetragen, dass kein Pfälzer Künstler von Rang in seiner Heimat geblieben sei. Die Zurücksetzung der Pfalz gegenüber dem Kernland, die während der Tagung in verschiedenen Referaten angeklungen war, in der Kulturpolitik war sie am deutlichsten.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/553

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Budai – Leinensack-Mönch, lachender Buddha und Glücksgott

Die Figur des Budai 布袋 (im Deutschen für gewöhnlich als “Leinensack-Mönch” beziehungsweise als “Hanfsack-Mönch” tituliert[1]) basiert auf dem Mönch Qici 契此, der im frühen 10. Jahrhundert in der Provinz Zhejiang lebte.[2]. Qici „zog wahrsagend und bettelnd durch die Stadt mit einem geschulterten Sack, in dem er seine angebissenen Gaben steckte. […] „Seine exzentrische Lebenshaltung machte ihn u.a. zu einem Liebling der Ch‘an-(Zen-)Sekte.“[3] Qici soll “unglaublich dick” gewesen sein und war wegen seiner “jovialen Art” weithin bekannt.[4]

Der Mönch “soll am 3. Tag des 3. Monats des Jahres 917 (?) im Kloster Yuelin [Yuelin si 嶽林寺] in Zhejiang gestorben sein”[5]. Im Digital Dictionary of Buddhism wird neben der Angabe 3. Tag des 3. Monats des Jahres 916 auch auf eine Darstellung verwiesen, nach der Qici zwischen 901 und 904 verstorben sein soll.[6] Nach seinem Tod wurde er als Inkarnation des Buddha Maitreya (chines. Mile 彌勒) – des Buddha des künftigen Weltzeitalters[7] – verehrt.

Dies hat wohl zur großen Popularität des Budai in weiten Teilen Ostasiens geführt:

“The Buddhist figure perhaps most readily found today, thanks to its mass manufacture and popularity in such countries as Vietnam and China, is a very non-traditional, portly figure known as the Laughing Buddha, Bùdài 布袋 [...] Laughing, shaven-headed, pot-bellied, and typically surrounded by children, he holds a rosary in one hand while the other rests on a sack.”[8]

In Japan wurde er – Hotei – unter die „Sieben Glücksgötter“ aufgenommen.[9]

  1. Vgl. etwa die Beschreibung einer aus dem 16. Jahrhundert stammenden Keramikfigur des Budai in der Datenbank Ostasiatische Sammlung Schloss Aschach: http://www.historisches-unterfranken.uni-wuerzburg.de/db/ostasien/ostasien/show.php?id=25
  2. Vgl. dazu Robert E. Buswell jr, Donald S. Lopez: The Princeton Dictionary of Buddhism (Princeton: Princeton University Press, 2014) S. 148 (eingeschränkte Vorschau: http://books.google.at/books?id=DXN2AAAAQBAJ ). Vgl. auch Da Zheng: “The Traveling of Art and the Art of Traveling: Chiang Yee’s Painting and Chinese Cultural Tradition” In: Studies in the Literary Imagination 37,1 (Spring 2004) 169-190, v.a. 170. http://scholarworks.gsu.edu/english_deptpub_li/11/
  3. Hans-Wilhelm Haussig, Egidius Schmalzriedt (Hg.): Wörterbuch der Mythologie, Abt. 1, Bd. 6 (1994), 651 f. („Pu-tai(-ho-shang)“); Welch: Art, 191 f. („Laughing Buddha“).
  4. Vgl. dazu Hochschule Ludwigshafen: Ostasienlexikon, Eintrag “Arhat” http://www.oai.de/de/studium/alumni/46-ostasienlexikon/aaa/2600-arhat.html, dort in der Liste der achtzehn Arhats unter “Angaja”.
  5. Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole, 247 („Sack“).
  6. Charles Muller: Digital Dictionary of Buddhism, Eintrag 布袋.
  7. Vgl. Buswell/Lopez: Princeton Dictionary of Buddhism, 517 f. (“Maitreya”).
  8. Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Singapore 2008) 191.
  9. Vgl. dazu Bernhard Scheid: “Religion in Japan” http://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Ikonographie:Gluecksgoetter/Hotei. zu den “Sieben Glücksgöttern” vgl. ebd http://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Ikonographie:Gluecksgoetter

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/964

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Miguel Requena Jiménez, Kleidung, Blut und Befleckung in der paganen Welt der Antike.

In einem Aufsatz in den Mannheimer Geschichtsblättern behandelt Miguel Requena Jiménez das Thema "Kleidung, Blut und Befleckung in der paganen Welt der Antike."
Der Artikel findet sich auf einer Unterseite der Universitat de València und kann als PDF abgerufen werden. Auf der academia.edu-Seite des Autors kann der Artikel ebenfalls eingesehen werden.



via Hiltibold

Quelle: http://provinzialroemer.blogspot.com/2013/12/miguel-requena-jimenez-kleidung-blut.html

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Guan Yu 關羽: Vom Bohnenkäse-Verkäufer zum Kriegsgott

Guan Yu 關羽, ein General der Späteren Han-Zeit (25-220 n. Chr.) machte eine erstaunliche ‘posthume Karriere’.[1]

Um das Jahr 161 n. Chr. im Süden der heutigen Provinz Shanxi in eine Familie Yu 羽 geboren, nahm er den Namen Guan 關 (d. i. Wegpaß) Yu erst nach einem dramatischen Ereignis an:

“Er nahm ihn erst auf der Flucht an, als er den Grenzpaß zur Nachbarprovinz Shaanxi passierte. Guan Yu hatte nämlich einen Beamten ermordet, der ein junges Mädchen mit Gewalt zu seiner Konkubine machen wollte.”[2]

Mit Zhang Fei 張飛, Zhao Yun 趙云, Ma Chao 馬超 und Huang Zhong 黃忠 bildet er die Gruppe der fünf “Tiger-Generäle”.[3]

Von besonderer Bedeutung war der “Schwur im Pfirsichgarten” (taoyuan jieyi 桃園結義), der Treueschwur der Generäle Guan Yu, Zhang Fei und Liu Bei 劉備.[4]. Gemäß der Überlieferung soll Guan Yu selbst in seiner Jugend seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Bohnenkäse (doufu 豆腐) verdient haben. Zhang Fei war ursprünglich Fleischer und Liu Bei hatte Strohsandalen verkauft. Die nachhaltigste Schilderung des Treueschwurs lieferte der Roman Sanguozhi yanyi 三國志演義 (“Geschichte der Drei Reiche”). Mit Liu und Zhang kämpfte Guan Yu unter anderem auch gegen Cao Cao 曹操, den einflussreichsten General der ausgehenden Han-Zeit. Nachdem er sich nach seiner Gefangennahme durch die Truppen Cao Caos geweigert hatte, die Seiten zu wechseln, wurde er hingerichtet.[5]

Die posthume Verehrung ging zunächst eher verhalten vonstatten. Bereits im 3. Jahrhundert wurde ihm vom Sohn seines Mitstreiters Liu Bei der Ehrenname “Tapferer und treuer Marquis” beigelegt, im 7. Jahrhundert wurde er von den Buddhisten als “Wächtergottheit am Jadestrom” verehrt. In der Nördlichen Song-Zeit (960-1126) folgten weitere Beinamen und in der Spätphase der Ming-Dynastie (1368-1644) wurde er schließlich 1594 als Guandi 關帝 in göttlichen Rang erhoben.[6]

Die Verehrung des Guandi 關帝 erfuhr noch Mitte des 19. Jahrhunderts einen zusätzlichen Impuls. Bei den Kämpfen gegen die Taiping-Rebellen soll er im Jahr 1856 am Himmel erschienen sein, wodurch sich eine Wende zugunsten der kaiserlichen Truppen abzeichnete.[7] Noch gegen Ende des Kaiserreiches wurde im Tempel des Guandi (Guandimiao 關帝廟) dreimal geopfert: im zweiten, im fünften und im achten Mondmonat.[8]

  1. Vgl. dazu Gunter Diesinger: Vom General zum Gott. Kuan Yü (gest. 220 n. Chr.) und seine ‘posthume Karriere’ (Heidelberger Schriften zur Ostasienkunde 4, 1984), Prasenjit Duara: „Superscribing Symbols. The Myth of Guandi, Chinese God of War“, Journal of Asian Studies 47,4 (1988) 778-795.
  2. Claudius C. Müller (Hg.): Wege der Götter und Menschen. Religionen im traditionellen China (Berlin 1989) 40.
  3. Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Singapore 2008) 161 (“God of War”).
  4. Vgl. Müller (Hg.): Wege der Götter und Menschen, 71 (Nr. 19) und 74 (Nr. 23).
  5. Müller: Wege der Götter und Menschen, 40.
  6. Ebd.
  7. Pu Yi. Ich war Kaiser von China. Vom Himmelssohn zum Neuen Menschen. Die Autobiographie des letzten chinesischen Kaisers (München 1987) 447 f. („Guän-di“).
  8. H.S. Brunnert, V. V. Hagelström: Present Day Political Organization of China (Shanghai 1912) 205.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/792

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Die “heiligen Berge” Chinas (I): Der Kult der “Fünf Berge”

Seit dem Beginn der historischen Zeit kam den Bergen in China wiederholt kultische Bedeutung zu.[1] Nach traditioneller Anschauung garantierten bestimmte Berge – in Analogie zu der vom Herrscher ausgeübten Mittlerfunktion zwischen Himmel und Erde “den festen Bestand des Kosmos”[2]. Diese fünf Berge (wuyue 五嶽) standen für die einzelnen Himmelsrichtungen – der Taishan 泰山 im Osten, der Hengshan 衡山 im Süden, der Huashan 華山 im Westen, der Hengshan 恆山 im Norden und der Songshan 嵩山 in der Mitte.[3] Im 1. Jh. v. Chr. wurde das Opfer an die Fünf Berge in die kultischen Handlungen der Herrscher (“Staatskult”) aufgenommen und auch nach dem Ende der Han-Dynastie (220 n. Chr.) beibehalten. Im 5. Jh. nach Chr. befolgten selbst die nomadischen Eroberer Nordchinas diesen Kult.[4]

Dass dem Taishan dabei besondere Bedeutung zukommt, zeigt nicht der Umstand, dass der französische Sinologe Edouard Chavannes (1865-1918) dem Berg bereits 1910 eine Monographie gewidmet hatte[5], sondern auch der Blick in die den Themen Mythologie und Symbolik gewidmeten Nachschlagewerke. Für die Daoisten ist der Taishan Sitz des Dongyue dadi 東嶽大帝, des Kaisers des östlichen Gipfels. Dieser “ist zugleich Lebensspender und Richter, der die Geburt und den Tod jedes Menschen bestimmt. Für die vergeltende Gerichtigkeit verantwortlich, reguliert er entsprechend dem moralischen Verhalten der Menschen deren Lebensspanne und Wiedergeburt”[6] Wie Eberhard schreibt, fand man früher vor Häusern Sandsteinblöcke mit der Inschrift “Der Taishan wagt zu widerstehen” (Taishan shi gan dang 泰山石敢當) – Ziel und Zweck dieser Inschrift war die Abwehr von Gespenstern und Dämonen.[7]

Die Besteigung des Berges galt seit alters her als probates Mittel, um das Schicksal günstig zu stimmen. Es war jedoch nicht allen beschieden, bis zum Gipfel zu gelangen:

“Aber der Berg rächt sich, wenn ein Unwürdiger es wagt, ihn zu besteigen. Qin Shi Huangdi, der unerbittliche Einiger im 2. Jahrhundert v. Chr., wollte den Berg besteigen, um die Anerkennung des Himmels für seine Herrschaft zu erlangen. Er wurde von einem wütenden Gewitter abgewiesen.”[8]

  1. Zur kulturellen Bedeutung von Bergen in der Geschichte Chinas vgl. u. a. Kap. 1 und 2 bei Thomas H. Hahn: Formalisierter wilder Raum. Chinesische Berge und ihre Beschreibungen (shanzhi 山志). Diss., Heidelberg, 1996. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-opus-72876 . Vgl. ferner Werner Eichhorn: Die Religionen Chinas (Die Religionen der Menschheit 21; ed. Christel Matthias Schröder; Stuttgart: Kohlhammer, 1973) 72-75 („Heilige Berge“) sowie die Karte “Heilige Stätten Chinas” in Metzler Lexikon Religion 1 (1999) 213.
  2. Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Bildsprache der Chinesen (München, 5. Aufl., 1996) 35.
  3. Vgl. dazu u.a. Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Imagery (Singapore 2008) 240 (“Five Sacred Mountains of Daoism”), UNESCO: “The Four Sacred Mountains as an Extension of Mt. Taishan”. Das Buch von William Edgar Geil: The Sacred 5 of China (Boston/New York 1926), die erste westliche Studie zu allen dieser fünf Berge wurde vor einigen Jahren ins Chinesische übersetzt: Zhongguo wuyue 中國五嶽 (Shandong huabao chubanshe 山東畫報出版社, 2006).
  4. Vgl. dazu Anning Jing: The Water God’s Temple of the Guangsheng Monastery. Cosmic Function of Art, Ritual & Theater (Sinica Leidensia 53; Leiden 2002) 82.
  5. Edouard Chavannes: Le T’ai Chan. Essai de monographie d’un culte chinois (Paris 1910).
  6. Hans Wilhelm Haussig, Egidius Schmalzriedt (Hg.): Wörterbuch der Mythologie. Bd. 6: Götter und Mythen in Ostasien (Stuttgart 1994) 822 (“Taishan”).
  7. Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole, 277 (“T’ai-shan”).
  8. Cecilia Lindqvist: Eine Welt aus Zeichen: Die Chinesen und ihre Schrift (München 1990) 56.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/654

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Wanderstudent – studentisches Filmprojekt auf Spuren des vorchristlichen Norwegens

Heute soll hier auf ein studentisches Projekt ganz besonderer Art aufmerksam gemacht werden. Unter der Überschrift Wanderstudent hat sich eine Gruppe junger Skandinavistik-Studierender aus Berlin gefunden, um der Frage nachzugehen, welche Spuren der vorchristlichen, “heidnischen” Zeit heute noch in Norwegen zu finden sind. Die Studierenden haben sich das Thema eigenständig gesucht und ein privates Tutorium aufgezogen, um sich den Stoff zu erarbeiten. Seit Mitte Juli sind sie nun in Norwegen unterwegs und wandern den alten Pilgerweg nach Nidaros (heute: Trondheim), um ihrem faszinierenden Thema auf eigenen Füßen nachzuspüren.  Einen Eindruck von der Idee hinter dem Projekt liefert der selbstproduzierte Imagefilm (etwas lang für einen Trailer vielleicht, aber schön gemacht!) auf dem YouTube-Kanal des Vorhabens:

Es geht neben der wissenschaftlichen Thematik bei dem Filmprojekt auch um die Selbsterfahrung, und ich muss zugeben, über diesen Aspekt bin ich mindestens genauso gespannt wie über den rein inhaltlichen. Nach einem Jahr Vorbereitung und intensiven Wandertraining in den letzten Monaten ist die Truppe jetzt irgendwo in der norwegischen Natur und haben auf dem Projektblog bisher auch einen Zwischenstandsbericht hinterlassen. Häufigere Statusmeldungen gibt es auf der projekteigenen Facebook-Präsenz. Dank der großzügigen Hilfe durch den Computer- und Medienservice der Humboldt-Universität ist die Truppe mit guten Kameras ausgestattet und wird auch in der Postproduktionsphase die Schnittplätze und weiteres Gerät nutzen können. Die verschiedenen Dozenten unseres Instituts stehen den Studierenden mit Rat und Tat zur Seite und es gibt jede Menge logistischer Unterstützung.

Ich finde, sich seit dem 2. Semester im B.A.-Studium einem solch ambitionierten und komplexen Gebiet zu widmen und dann auch noch das Wagnis einzugehen, ohne viel vorherige Erfahrung einen Dokumentarfilm über diese Forschungsreise zu drehen, nötigt einem Respekt ab! Wer das auch findet und den ein oder anderen Euro übrig hat, kann das Projekt auf einer eigenen Crowdfunding-Seite finanziell unterstützen. Ich bin schon mal gespannt auf die Erlebnisse der Gruppe und wie der Film am Ende sein wird! Als einer der Mentoren der Gruppe werde ich auch hier gelegentlich über Fortschritte dieses Projekts berichten.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1668

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Vier Schätze des Studierzimmers (V)

Nach einer Erläuterung des Begriffs der “Vier Schätze” (I) und Beiträgen zu Tusche (II), Tuschereibstein (III) und Pinsel (IV) folgen zum Abschluss der Serie nun Bemerkungen zu kulturgeschichtlichen Aspekten des Papiers[1]

Schon um 100 n. Chr. wurde das Schriftzeichen für Papier (zhi 紙) als “a mat of refuse fibres” definiert[2]. Diese Definition war somit schon zu jener Zeit fest etabliert, für die (etwa 105 n. Chr.) die Tradition die “Erfindung” des Papiers durch Cai Lun 蔡倫, den Direktor der kaiserlichen Werkstätten angibt. Cai Lun hatte allerdings wohl entscheidenden Anteil daran, dass ab dem frühen 2. Jahrhundert n. Chr. einige davor in diesem Zusammenhang wenig beachtete Materialien (u. a. Hanffasern und Stoffabfälle) für die Papierherstellung verwendet wurden.  Bis dahin hatte man überwiegend auf Bambusstreifen beziehungsweise Holztäfelchen sowie auf Seide geschrieben. Das nun qualitativ deutlich verbesserte Papier hatte den Vorteil preiswerter als Seide und leichter als Bambus oder Holz zu sein.[3]

Das Papier, das -  neben Kompass, Schießpulver und Buchdruck – auch zu den vier großen Erfindungen (si da faming 四大發明) der traditionellen chinesischen Kultur gezählt wird, wurde – sobald es beschrieben oder bedruckt war – mit großem Respekt behandelt. Dieser Respekt, der durch die lange kontinuierliche Schrifttradition und das damit verbundene hohe Alter der chinesischen Schrift und ihrer Vorformen begründet war, zeigte sich darin, dass man in der Regel das beschriebene Papier weder achtlos wegwarf noch zerriss. Das nicht mehr benötigte Papier wurde gesammelt und in Öfen verbrannt. [4]

Die Verwendungsmöglichkeiten reichten weit über den Bereich von Verwaltung, Kalligraphie und Buchdruck hinaus – so wurde Papier beispielsweise auch bei religiösen Zeremonien verwendet: einerseits wurden papierene Bilder im Rahmen von Zeremonien verbrannt, um die Bitten auf diesem Weg zu den Göttern zu tragen, andererseits wurden solche Bilder über einen gewissen Zeitraum auf- beziehungsweise ausgestellt, ehe man sie zu dem gleichen Zweck verbrannte. [5]

 

  1. Zur Geschichte des Papiers in China vgl. Tsien Tsuen-hsuin: Paper and Printing (= Joseph Needham (Hg.): Science and Civilisation in China. Volume 5: Chemistry and Chemical Technology, Part 1; Cambridge 1985). Zur Kulturgeschichte des Papiers allgemein vgl. Wilhelm Sandermann: Papier. Eine Kulturgeschichte (Berlin/Heidelberg/New York, 3. Aufl. 1997), zu China vgl. ebd. 63-80. Erst mit der “Ausbreitung des Papiers in Europa” (unter Berücksichtigung der Rolle des arabisch-islamischen Raumes) setzt die Darstellung von Lothar Müller: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers (München 2012) ein.
  2. Vgl. Tsien: Paper and Printing, 35.
  3. Vgl. Klaus Flessel: “Die Erfindung des Buchdrucks in China sowie einige Anmerkungen zu seiner frühen Nutzung”, Archiv für Geschichte des Buchwesens 57 (2003) 270 sowie Tsien: Paper and Printing, 40
  4. Chinesische Darstellungen von Papiersammlern fanden schon früh Eingang in europäische Sammlungen. Vgl. etwa Renate Eikelmann (Hg.): Die Wittelsbacher und das Reich der Mitte (München 2009) 504 (Kat.-Nr. 216: “Papiersammler”).
  5. Vgl. C.V. Starr East Asian Library: Chinese Paper Gods. Vgl. auch Terry Abraham (Univ. of Idaho): Chinese Funerary Burners. A Bibliography

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/570

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Das Opfergelände des Himmels und der konfuzianische Staatskult

Das Opfergelände des Himmels (Tiantan 天壇), in westlichen Darstellungen in der Regel vereinfachend und irreführend als “Altar des Himmels”/”Himmelsaltar” beziehungsweise “Himmelstempel” bezeichnet, war der Ort, an dem zwei der wichtigsten Rituale des Staatskultes des kaiserlichen China vollzogen wurden. Dieser Staatskult läßt sich auf vorkonfuzianische Traditionen zurückführen und wurde – durch die Integration vielfältiger Elemente – “Ausdruck jener konfuzianischen Staatsdoktrin, die den Staat zugleich ethisch und kosmologisch legitimierte.”[1].

Die Rituale am Opfergelände des Himmels zählten zu den “großen Opfern”, die in der Regel vom Kaiser persönlich vollzogen wurden. Neben “großen Opfern” (da si 大祀), gab es “mittlere Opfer” (zhong si 中祀) und “Sammelopfer” (qun si 羣祀 ) beziehungsweise “kleine Opfer” (xiao si 小祀).[2]

Plan du Tien-tang ou temple dedié à Chang-ti ou souverain seigneur du ciel / [tirée du P. Duhalde]

Plan du Tien-tang ou temple dedié à Chang-ti ou souverain seigneur du ciel / [tirée du P. Duhalde] | Quelle: gallica

Das Opfergelände des Himmels – durch eine Mauer in zwei gleich große Teile geteilt – wurde zur Zeit der Ming-Dynastie im 9. Jahr der Ära Jiajing 嘉靖 (i.e. 1530) angelegt. Die wohl ausführlichste Beschreibung aus “westlicher” Sicht lieferte der aus den Niederlanden stammende Sinologe J.J.M. de Groot (1854-1921), der im späten 19. Jahrhundert die Opfergelände in Beijing besuchte [3].

Drei Punkte auf dem Opfergelände sollen hier  erwähnt werden:

Runder Hügel auf dem Opfergelände des Himmels, Beijing - Foto: Georg Lehner

Runder Hügel auf dem Opfergelände des Himmels, Beijing – Foto: Georg Lehner

Auf dem im südlichen Bereich gelegenen Runden Hügel (Huanqiu 圜丘) opferte der Kaiser nicht nur zur Wintersonnenwende (dongzhi 冬至) sondern brachte auch im vierten Mondmonat das Gebet um Regen (yu si 雩祀) dar.

In der im nördlichen Bereich gelegenen “Halle des Erntegebets” (Qiniandian 祈年殿) bat er im ersten Mondmonat um eine gute Jahresernte.[4]

Huangqiongyu ("Erhabenes Gewölbe"), Opfergelände des Himmels, Beijing - Foto: Georg Lehner

Huangqiongyu (“Erhabenes Gewölbe”), Opfergelände des Himmels, Beijing – Foto: Georg Lehner

Zwischen den den Nord- und den Südteil dominierenden Punkten lag das Huangqiongyu 皇穹宇, in Übersetzungen meist “Erhabenes Gewölbe” oder “Kaiserliches Himmelsgewölbe” genannt. Darin wurde

“der allerheiligste Fetisch des ganzen Kultes aufbewahrt [...] der ‘Seelensitz’ (shenwei) des Himmelsgottes. Es handelte sich um eine hölzerne Tafel auf einem viereckigen Sockel, in welche die Schriftzeichen huangtian shangdi, ‘erhabener Himmel, oberster Kaiser’, eingeschnitzt waren. Sie stand im nördlichen Teil des Tempelraumes in einem mit Drachenschnitzerei geschmückten Schrein genau in der Nord-Süd-Achse des Tempels mit der Front nach Süden, links und rechts flankiert von den Seelentafeln der verstorbenen Kaiser des herrschenden Hauses.”[5]

 

Mit dem Ende des Kaiserreiches war auch der Staatskult obsolet geworden. Ein letzter Versuch zur neuerlichen Etablierung der Riten am Opfergelände des Himmels wurde schließlich knapp drei Jahre nach dem Ende des Kaiserreiches unternommen. unternommen. Yuan Shikai (1859-1916), Präsident der Republik China, plante, sich zum Kaiser einer neuen Dynastie zu machen und vollzog am 23. Dezember 1914 die zur Wintersonnenwende üblichen Riten am “Opfergelände des Himmels”[6]. Ab 1918 wurde das Gelände als Park öffentlich zugänglich gemacht und 1998 wurde es auf die Weltkulturerbeliste der UNESCO gesetzt[7].

 

  1. Brunhild Staiger, Stefan Friedrich, Hans-Wilm Schütte (Hg.): Das große China-Lexikon. Geschichte – Geographie – Gesellschaft – Politik – Wirtschaft – Bildung – Wissenschaft – Kultur (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003) Sp. 714 (“Staatskult”, Martin Kern)
  2. Staatliche Kunstsammlungen Dresden: Goldener Drache – Weißer Adler. Kunst im Dienste der Macht am Kaiserhof von China und am sächsisch-polnischen Hof 1644-1795 (München: Hirmer, 2008) 570 (“Zeremonien”, Liang Ke).  Vgl. auch die detaillierte Auflistung der am Ende der Kaiserzeit üblichen Opfer bei H.S. Brunnert, V. V. Hagelstrom: Present Day Political Organization of China (Shanghai: Kelly & Walsh, 1911) 202-207 (no. 572)
  3. J. J. M. de Groot: Universismus. Die Grundlage der Religion und Ethik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas (Berlin: Reimer 1918) 141-155, zum Kult ebd., 155-186. Daran orientiert sich auch die Darstellung bei Frank Fiedeler: Yin und Yang. Das kosmische Grundmuster in den Kulturformen Chinas (Köln: DuMont, 1993) 68-75 (“Die Opferstätte des Himmels”)
  4. Vgl. Brunnert/Hagelstrom: Present Day Political Organization, 203
  5. Fiedeler: Yin und Yang, 70
  6. Dieter Kuhn: Die Republik China. Entwurf für eine politische Ereignisgeschichte. 3., überarb. u. erw. Aufl., Heidelberg: edition forum 2007), 143 und 148.
  7. Vgl. http://whc.unesco.org/en/list/881

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/399

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Legenden vom “alten Meister” – die Anfänge des Daoismus

Das Wirken des als historische Person nicht fassbaren “alten Meisters” – im Chinesischen Laozi (bzw. Lao Zi) 老子, im Westen meist Lao Tse oder “Lao-tse” geschrieben – ist ähnlich legendenumwoben wie die Anfänge und die Überlieferung der ihm zugeschriebenen Lehre, des philosophischen Daoismus (daojia 道家).

Über die hinter der Bezeichnung “alter Meister” möglicherweise stehende Person schrieb Wolfgang Bauer in seiner Geschichte der chinesischen Philosophie:

“Hinter diesem unverbindlichen Namen [...] kann sich natürlich jede beliebige Persönlichkeit verstecken. Durch das Epitheton ‘alter’ wurde aber von vornherein der Anspruch erhoben, daß er der eigentliche Urvater des Daoismus sein sollte. Wer immer dieser Laozi gewesen ist (falls bei ihm überhaupt ein historischer Kern existiert) – ein solcher Urvater und der Verfasser des Daoismus kann er nicht gewesen sein.”1

Erst in späterer Zeit wurde dem Laozi die Autorschaft des Daodejing 道德經 (“Buch vom Weg und von der Wirkkraft”) zugeschrieben.  Der Überlieferung zufolge habe ihn seine Mutter “zweiundsiebzig Jahre lang unter dem Herzen [getragen] und ihn dann aus der linken Achselhöhle geboren”2  Nach dem von Sima Qian 司馬遷 (145-86 v. Chr.) verfassten Shiji 史記 (“Aufzeichnungen des Hofschreibers”) soll Laozi ein älterer Zeitgenosse des Konfuzius gewesen sein. Sein Familienname soll Li 李 gewesen, sein Vorname Dan 聃. Zur möglichen Identität der historisch nicht fassbaren Figur gibt es mehrere Theorien3.

Die Ikonographie zeigt Laozi häufig auf einem Wasserbüffel (beziehungsweise einem Ochsen) reitend und spielt damit auf sein “Verschwinden” an. Der Überlieferung nach soll er als Archivar am Hof der Zhou 周 tätig gewesen sein. Angesichts der weitverbreiteten Korruption und der schwindenden Macht der Zhou soll er den Untergang des Reiches vorhergesehen haben und aus Enttäuschung darüber nach Westen geritten sein. Am  Hangu-Paß 函谷關 (in der heutigen Provinz Henan) habe er für den dortigen Grenzwächter seine Lehren niedergeschrieben.4. Dieses bekannte Motiv regte Bertolt Brecht zu seiner “Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration” an.5

  1. Wolfgang Bauer: Geschichte der chinesischen Philosophie. Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus. Herausgegeben von Hans van Ess (München 2001) 89.
  2. Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Bildsprache der alten Chinesen (München: 5. Aufl., 1996) 173 f (“Lao-tse”), Zitat ebd., 174.
  3. Stanford Encyclopedia of Philosophy, Art. “Laozi. 1. The Laozi Story”, Alan Chan, (http://plato.stanford.edu/entries/laozi/#LaoSto)
  4. Patricia Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Singapore 2008) 170 (“Old, bewhiskered male in simple robes riding an ox”). – Vgl. auch Eberhard: Symbole, 174.
  5. Vgl. Heinrich Detering: Bertolt Brecht und Laotse (Göttingen 2008), 11-13. Zu Brechts Text und zu dessen vom britischen Brecht-Experten John Willett (1917-2002) stammender englischer Übertragung vgl. auch http://www.tao-te-king.org/brecht.htm

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/380

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“Haec sunt in fossa Bedae venerabilis ossa” – Ein Besuch bei Beda Venerabilis

Das Datum des letzten Blogbeitrages liegt schon etwas länger zurück, trotzdem war ich in den letzten Wochen nicht untätig. Neben Arbeit, der Vorbereitung meines Exposés und vielen anderen Dingen habe ich mir auch eine Woche „Erholungsurlaub“ gegönnt. Die Reise ging unter anderem in den Nordosten Englands in die Kleinstadt Durham. Aber egal wie weit man reist, der eigenen Dissertation entkommt man nicht. Im Folgenden daher ein paar Gedanken zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion im Mittelalter, die mich auf und nach der Reise beschäftigt haben. Aber zunächst einige Worte zu Durham.

Durham ist vor allem für seine Kathedrale und sein Castle bekannt, danach für seine Universität und für Liebhaber antiquarischer Bücher und bizarrer Geschichte durch den erst jüngst aufgedeckten Diebstahl der Erstausgabe des shakespeareschen Gesamtwerkes. Feinschmecker schätzen das Städtchen übrigens als Ursprung des feinen englischen Senfes. Alles in allem ist Durham gerade für Mediävisten einen Abstecher wert, vor allem ab Juli, wenn der Lindisfarne Gospel in den Norden zurückkehrt, worauf man dort verständlicherweise äußerst stolz ist. Auch das hiesige Institut for Medieval and Renaissance Studies ist sehr renommiert, twittert und bietet ein interessantes Masterprogramm an.

Im Mittelalter war die Stadt als Sitz des Prince Bishops ein machtpolitisches Zentrum im Norden und bot aufgrund seiner natürlichen Lage eine ideale Verteidigung gegen wechselnde Bedrohungen, vor allem natürlich gegen Wikinger und Schotten. Aus diesem Grund kamen auch die wertvollen Gebeine Saint Cuthberts und der Kopf des heiligen Oswalds nach Durham, das nun auch als Kultstädte Bedeutung genoss. Aus der Fülle an Literatur sei hier lediglich auf das Buch von Christian Liddy verwiesen, dass sich zwar auf das späte Mittelalter konzentriert aber natürlich auch die frühere Geschichte anreißt.[1]

Besonders die Kathedrale ist wirklich beeindruckend. Vor allem bei untergehender Sonne und aus der richtigen Perspektive begreift man die Begeisterung, die Nathaniel Hawthorne in seinen Reiseberichten festhielt:

“We paused upon the bridge, and admired and wondered at the beauty and glory of the scene, with those vast, ancient towers rising out of the green shade, and looking as if they were based upon it. The situation of Durham Cathedral is certainly a noble one, finer even than that of Lincoln, though the latter stands even at a more lordly height above the town. But as I saw it then, it was grand, venerable, and sweet, all at once; and I never saw so lovely and magnificent a scene, nor, being content with this, do I care to see a better.” 

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Foto: Privat

Bei aller Begeisterung für das Offensichtliche, für mich liegt der wichtigste Schatz der Kathedrale etwas versteckt in der sogenannten Galilee Chapel aus dem späten 12. Jahrhundert (auf dem Foto unter den Türmen). Denn dort „sunt in fossa Bedae venerabilis ossa“, dort ruhen die Gebeine des Beda venerabilis im Grabe. Beda war wohl einer der bedeutendsten Gelehrten des frühen Mittelalters und lebte ganz in der Nähe im Kloster Jarrow im heutigen Sunderland als Mönch und Gelehrter.

 

Foto: Robin Widdison 

Bekannt ist Beda heute vor allem für die Historia ecclesiastica gentis Anglorum, also die Kirchengeschichte des englischen Volkes, sowie seinen „naturwissenschaftlichen“ Schriften zur Zeitberechnung und Kosmologie, vor allem De temporum ratione und De natura rerum bzw. De temporibus[2]. Zeitgenossen hätten sicher auch sein Werk zur Metrik, vor allem aber seine zahlreichen exegetischen Kommentare genannt.

Damit tritt uns also als ein sehr vielschichtiger Gelehrter entgegen, als Verfasser von Heiligenbiographien, Historiker, Theologe, Naturwissenschaftler und natürlich als Mönch. In dieser Vielschichtigkeit entzieht er sich einer eindeutigen Klassifikation. Gerade dem modernen Betrachter ist eine solche Klassifikation aber sehr wichtig, da er in klar ausdifferenzierten und getrennten Systemen wie Religion, Wissenschaft, Recht, Politik, Kultur etc. zu denken gewohnt ist.

Worum es mir heute geht, ist die Frage, ob eine solch strikte Klassifikation, vor allem die Abgrenzung und Gegenüberstellung von Religion und Wissenschaft in der Vormoderne überhaupt angemessen ist, oder ob sich durch einen solchen Ansatz nicht viel eher hermeneutische Schwierigkeit für den Historiker und Kulturwissenschaftler ergeben. Meine vorläufige These ist, dass eine solche grundsätzliche Trennung, also der Dualismus von Religion und Naturphilosophie oder Naturwissenschaft für das Mittelalter eine künstliche ist, die zuweilen die Wahrnehmung dieser Epoche und ihres Weltbildes verzerrt. Diesen Gedanken möchte ich an ein paar Beispielen verfolgen.

Bedas Grab ist mit einem Zitat aus seinem Kommentar zur Apokalypse, hier zur Offenbarung 2,28 und 22,16 überschrieben, das ich persönlich sehr beeindruckend finde:

“Christus est stella matutina, qui nocte saeculi transacta, lucem vitae sanctis promittit et pandit aeternam

„Christus ist der Morgenstern, der, wenn die Nacht des Diesseits vorüber ist, den Heiligen das ewige Licht verspricht und schenkt“

Im Bild des Morgensterns kommt tiefe Erlösungshoffnung des Autors zum Ausdruck. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es in der religiösen Welt des Mittelalters vielfach rezipiert worden ist. So zum Beispiel im 12. Jahrhundert in einem süddeutschen Offizium (Diesen Hinweis verdanke ich Eva Ferro, Freiburg), und zwar, wie ich finde in einer außerordentlich faszinierenden Weise. Zum Invitatorium der Matutin, also dem nächtlichen Gebet, das in die morgendlichen Laudes übergeht, ziehen die Mönche noch im Dunkel der Nacht singend in die Kirche:

“Stellam Christum matutinam/cum Maria prestolantes/ne sola stet foris plorans/nos cum ea vigilemus/ut per noctem quem insomnis/queritando dilexerat/hunc inventum simul una/procidentes adoremus.“[3]

Natürlich geht es hier in erster Linie um den Ausdruck einer monastischen Spiritualität. Gleichzeitig funktioniert die Stelle aber auch auf einer zweiten, realen Ebene. Denn das Bild des Morgensterns erinnert die Mönche nicht nur an die Auferstehung Jesu und die damit verbundene Erlösung, sondern es verweist darüber hinaus auch auf eine reale Beobachtung außerhalb der Liturgie und des Gebetes: Denn tatsächlich erwarten die Mönche Tag für Tag den Morgenstern, der in Wirklichkeit identisch mit der Venus ist und besonders – je nach Phase abwechselnd – in den frühen Morgen- oder Abendstunden zu sehen ist. Mehr noch, die Beobachtung der Sterne war Alltag eines Klosters, half sie doch, die Gebetszeiten und liturgischen Feste, aber auch den Beginn der Jahreszeiten und anderer fundamentaler Dinge des Lebens zu bestimmen.[4] Die Handschrift Ms 1 Aus dem Archivio Capitulare in Faenza enthält übrigens eine sehr schöne Illumination, die die singenden Mönche unter dem Sternenhimmel zeigt. Wer den Wolfenbütteler Sammelband Divinia Officia (hg. von Patrizia Carmassi 2004) zur Hand hat, kann hier auf Seite 161 nachschauen. Online habe ich die Abbildung leider nicht finden können, dafür aber die tolle Abbildung einer Sternenbeobachtung in cod. sang. 18.

 Mönche beobachtet die Sterne. Abbildung aus Cod. Sang. 18, fol. 43

 Astronomische Phänomene wie der Morgenstern, der bezeichnenderweise im Osten aufgeht und dadurch das spirituelle Bild noch verstärkt, waren damit auch Gegenstand alltäglicher „naturwissenschaftlicher“ Beobachtung und Nutzung. Wenn man so will stellt der Morgenstern hier also einen Nexus zwischen den Bereichen der religiösen Spiritualität und naturwissenschaftlicher Beobachtung dar, die sich beide befruchten, vielleicht sogar bedingen.

Man könnte weitere Beispiele anführen, etwa die vergleichsweise häufige annalistische Nennung von Sonnenfinsternissen, ein Phänomen, dass immerhin die Kreuzigung Jesu begleitete und schon durch die Evangelisten einer durch und durch religiösen Deutung unterworfen wurde. Und trotzdem bestand schon im frühen Mittelalter und bis in die höchsten Kreise des Kaiserhofes ein Interesse an einer rationalen Erklärung dieser Phänomene.[5]

Religiöse Deutung und rationale Erklärung der natürlichen Zusammenhänge schließen und schlossen sich offenbar nicht aus, im Gegenteil. Gerade die Klöster zeigen im frühen Mittelalter ein großes Interesse an der Astronomie, das vom Kaiserhof aus gefördert und gefordert wurde und vom dem noch heute viele Handschriften zeugen. Etwa die am Kaiserhof gefertigte Leidener Aratea, die gegenwärtig ausgestellt wird.

Ich glaube allerdings, dass man dieses Interesse nicht, wie es oft geschieht, primär auf eine Rolle als christliche bzw. theologische Hilfswissenschaft reduzieren darf. Natürlich diente etwa die Chronologie im Kloster vor allem zur Berechnung liturgischer Daten. Aber das hierfür notwendige Verständnis und die laufende Beobachtung der Gestirne, von Sonne und Mond, dem Wechsel von Tag und Nacht oder den Jahreszeiten bedurfte doch eines breiteren naturwissenschaftlicheren Wissens.

Deshalb hat Beda zum Beispiel De temporibus, also seiner Schrift zur Chronologie das kosmologische Werk De natura rerum vorangestellt, und auch die karolingischen Enzyklopädien kommen nicht ohne grundsätzliche Aussagen über den Ablauf der natürlichen Welt aus. Hinter der praktischen Anwendung dieses Wissens verbarg sich eben immer auch ein Interesse an umfassender und theoretischer Kosmologie.

Das ist auch nicht verwunderlich, denn im Grunde gibt es in der Vormoderne überhaupt keinen Lebensbereich, der ohne eine Kosmologie auskommt. Bevor man im 18. Jahrhundert die Beobachtung der physikalischen Welt ins Labor verbannte, sie mechanisierte und mathematisierte und damit von der eigenen Lebenswelt entkoppelte, war war sie unumgänglicher Bestandteil des alltäglichen Lebens in einer Agrargesellschaft, dem man sich nicht wie heute entziehen konnte. Um diese Beobachtungen der Natur für das alltägliche Leben nicht nur praktisch nutzbar zu machen, sondern sie auch mit Bezug zur eigenen Lebenswelt zu deuten, bedarf es aber zwangsläufig der Kosmologie.

Wenn Kosmologie und Naturwissenschaft also nicht, wie das heute der Fall ist, abstrakte Probleme behandeln, sondern unmittelbar die eigene Lebenswelt erklären und deuten, dann nehmen sie im Grunde eine ganz ähnliche Funktion ein, wie die Religion. Denn auch Religion dient und diente der Deutung der Welt und der eigenen Existenz. Im Christentum liegt diese vor in der Heilsgeschichte und dem besonderen Band zwischen Schöpfergott und Schöpfung begründet. Religion und kosmologische Naturbeobachtung sind damit, wenn man so will, zwei Seiten derselben Medaille, die durch das Geschaffensein der Welt zwar ihre untrennbare Verbindung finden, gleichzeitig aber auch unterschiedliche Modi der Weltdeutung darstellen. Eine Ausdifferenzierung von Religion und Wissenschaft als eigenständige und isolierte Systeme mit unterschiedlichen Zielsetzungen kann es in der Vormoderne und ihrer Lebenswelt daher gar nicht geben. Sie sind weder getrennt voneinander zu verstehen, noch erschöpft sich die Kosmologie darin, eine religiöse Hilfswissenschaft zu sein.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber, dass sich die Lebens- und Geisteswelt des Mittelalters nur durch Würdigung beider Aspekte und ihrer Verknüpfung rekonstruieren lässt. Vielleicht ließe sich dies sinnvoller bewerkstelligen, wenn dafür nicht die Kategorien unserer ausdifferenzierten Moderne – Wissenschaft und Religion verwendet werden –, sondern stattdessen auf den Begriff der Weltdeutung zurückgegriffen würde.

Beda erschiene unter diesem Aspekt dann weder als Naturwissenschaftler, Theologe und/oder Historiker, sondern als Weltdeuter, in dessen Werken sich verschiedene Modi dieser Weltdeutung ergänzen und überscheiden. Damit wäre er im wahrsten Sinne des Wortes ein Universalgelehrter – und hätte mit der Universitätsstadt Durham wohl eine passende letzte Ruhestädte gefunden.

 

[1] Liddy, Christian D.: The Bishopric of Durham in the late Middle Ages: lordship, community and the cult of St Cuthbert. Woodbridge 2008. Bei Googlebooks.

[2] Hier sei noch einmal auf die Übersetzungen, vor allem aber die sehr nützlichen inhaltlichen Kommentare von Wallis und Kendall hingewiesen: Kendall: Calvin/Wallis, Faith: Bede On the Nature of Things and On Times. Liverpool 2010 (Googlebooks); Wallis, Faith: Bede The Reckoning of Time. Liverpool 1999 (Googlebooks).

[3] Ferro, Eva: Suavissime universorum domine: Ein unediertes Offizium für Maria Magdalena im Kontext der Hirsauer Reform. Unveröffentlichte Masterarbeit Erlangung des akademischen Grades Master of Arts an der Universität Freiburg im Sommersemester 2011, S. 14.

[4] Wiesenbach, Joachim: Der Mönch mit dem Sehrohr : die Bedeutung der Miniatur Codex Sangallensis 18. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 44 (1994), S. 367-388.

[5] Eine gute Einführung bietet Eastwood, Bruce: Ordering the Heavens. Roman Astronomy and Cosmology in the Carolingian Renaissance. Boston/Leiden 2007. Googlebooks.

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/89

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