Können Sie sie noch hören, die Verheißungen von der Abschaffung aller Hierarchien durch die Vernetzung? Auflösung aller Grenzen, alles für alle, das gelobte Land Digitalien in unmittelbarer Reichweite: Wenn wir nur kreativ genug sind, aber hoch diszipliniert, und mit den neuen smarten Programmen andauernd zusammen mit allen anderen online.
“A single liquid fabric of interconnected words and ideas”
Das ist die Predigt von der digitalen Revolution, die seit fast dreißig Jahren wiederholt wird – in unterschiedlichen Formen, aber mit den gleichen Vokabeln, egal ob es um Personalcomputer geht oder um das Web 2.0, und um Wissenschaftskommunikation sowieso. Die alten Informationseliten seien dem Untergang geweiht, verkündete 1988 ein kalifornisches Gegenkultur-Manifest: “The kids are at the controls.”1 Der Abschied von den privaten Dokumenten der Gutenberg-Galaxis, so Norbert Bolz 1993, sei auch ein “Abschied von Hierarchie, Kategorie und Sequenz”2; jetzt zählten nur noch die “autorenlosen Texte, die sich gleichsam im Lesen schreiben”. Weblogs und Diskussionsplattformen sind von der Jahrtausendwende an mit den gleichen Erlösungsfantasien begrüßt worden. Und Kevin Kelly, Publizist und Netzaktivist, war sich 2006 ganz sicher: Alle Texte der Welt aus Vergangenheit und Gegenwart und in allen Sprachen, schrieb er in der “New York Times” über Googles neue Digitalisierungsprojekte, würden binnen weniger Jahre “in a single liquid fabric of interconnected words and ideas” verwandelt und allen zur Verfügung stehen, jederzeit und überall.3
Prophetie und Zungenreden
Die Prophezeiungen sind deswegen so austauschbar, weil sie aus der Vergangenheit kommen. Sie sind schwer kontaminiert mit Geschichte, und zwar mit religiösem Vokabular. Der Cyberspace wird dabei zum selbstverwalteten Paradies, in dem man endlich geborgen sein wird in der Gemeinde der Gläubigen, Zungenreden inbegriffen. Dasselbe gilt für ihre düsteren Varianten: Digitaler Weltuntergang durch Verdummung und Zerstreuung, durch sündhafte Bilderflut und information overload. Offenbar ist es gar nicht so einfach, ohne esoterischen Kitsch und pessimistische Bußpredigten über die Möglichkeiten, Grenzen und Zwänge der neuen Kanäle zu reden. Dabei zeigt schon ein kurzer Blick zurück, dass ältere Technologien mit ähnlichen Hoffnungen begrüßt worden sind. Thomas Alva Edison hat 1912 prophezeit, Bücher würden in Zukunft ohnehin überflüssig, weil alles menschliche Wissens durch Filme vermittelt werden würde. Den Begriff information overload hat Alvin Toffler 1970 populär gemacht, im Zeitalter der Kugelkopfschreibmaschine; und Marshall McLuhan hat angesichts des Fotokopierers noch ein paar Jahre früher vergnügt trompetet, ab jetzt sei jeder Autor sein eigener Verleger.4
Wissenschaftskommunikation selbstorganisiert
Der Kopierer als billige Vervielfältigungstechnik hat aber zwischen den ausgehenden 1960ern und den späten 1980ern tatsächlich neue Formen von Wissenschaftskommunikation entstehen lassen. Sie werden heute “graue Literatur” genannt: Informelle Mikropublikationen, selbst abgetippte und geheftete Broschüren, Dokumentationen und Manifeste in kleinen Auflagen; je nach Kontext und Anlass zwischen wenigen Dutzend und einigen hundert Stück. Einige dieser Publikationen wurden zu regelmäßig erscheinenden Zeitschriften; die allermeisten waren extrem kurzlebig. Zeithistorikern sind diese Bestände gut vertraut: Die Geschichte der Protestbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und der Universitäten) ist ohne Rückgriff auf diese Quellen kaum zu schreiben. Ihre bloße Erwähnung lässt aber auf der Stirn von Universitätsarchivaren interessante Falten erscheinen: Auf billigen Materialien zu raschem Gebrauch produziert, sind sie heute vor allem ein dokumentarisches Problem – sie zerfallen. Die “graue Literatur” mit ihrer wilden Vielfalt, den Kleinstauflagen und ihrer ununterbrochenen Veränderung war nicht nur ein Medium der Kommunikation, sondern auch eines des Verschwindens. Im Zeitalter von Blogs, Diskussionsplattformen und sozialen Medien klingt das vertraut. Merkwürdigerweise wird die “graue Literatur” nirgends erwähnt, wenn es um die Zukunft des wissenschaftlichen Publizierens geht. Dabei war sie aber eng an die Gemeinschaften von prosumers gekoppelt, die Autoren und Leser in einer Person waren, und ernsthaften wissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern oft eng verbunden. Wer für die digitalen Kanäle im wissenschaftlichen Bereich mit ihren Bezügen auf Aktuelles, Informelles und Provisorisches und dem oft polemischen Tonfall direkte Vorläufer sucht: Hier sind sie.
Ergraute Revolution
Lektion? Keine Erlösung durch die neuen Medien, und auch kein Weltuntergang. Die schnellen digitalen Übertragungskanäle mit ihrem ununterbrochenen Aufdatieren schaffen ihre langsamen analogen Vorgänger auf Papier nicht ab, im Gegenteil. Noch nie waren gedruckte Aufsätze und Bücher so notwendig wie heute, nämlich als Filter für stabile Resultate: Hochfrequente “heiße” Kommunikationsmedien – wie dieses hier – alimentieren und fördern “kühlere” Speicher mit längerer Haltbarkeit. Deswegen wird in den digitalen Formaten auch ununterbrochen auf Papierpublikationen verwiesen. Das gilt für wissenschaftliche Netzpublikationen ebenso wie für jeden brauchbaren Wikipedia-Eintrag. Und aus richtig guten Blogs werden – Bücher. Hallo, digitale Revolution, ist da jemand? Nur Sammelbände, das wissen wir, liest wirklich niemand. Trotzdem sind sie immer noch da.
Literatur
- Groebner, Valentin: Wissenschaftssprache digital. Die Zukunft von gestern, Konstanz 2014 [im Druck].
- ders.: Nach der Megabit-Bombe. In: Mittelweg 36 22 (2013) 4, S. 29-37.
- ders.: Wissenschaftssprache. Eine Gebrauchsanweisung, Konstanz 2012.
Externe Links
- Muss ich das lesen? In: FAZ online v. 10.2.2013 (zuletzt am 21.1.14).
- Videomitschnitt des Vortrages von Valentin Groebner im Rahmen der RKB-Tagung (München, Januar 2013), hier: Portal L.I.S.A.
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Abbildungsnachweis
Per touchpad ins Paradies: Werbeplakat eines Computerladens auf dem Comic-Festival “Fumetto”, 2013 / © Andreas Kiener 2013, mit freundlicher Unterstützung der Firma Data Quest AG
Empfohlene Zitierweise
Groebner, Valentin: Heißes Zeug, kühle Speicher, graue Literatur. In: Public History Weekly 2 (2014) 6, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1331.
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