Klassiker und Zeichentrick (I): Sun Wukong 孫悟空, der ‘Affenkönig’

Der Affe gilt in Asien als klug, liebenswürdig und respektlos, er spielt vor allem  im Süden Chinas und in Tibet eine bedeutende Rolle in der Mythologie. Vielfach erscheinen Götter und/oder übernatürliche Wesen in der Gestalt von Affen, so in Indien der Affenkönig Hanuman, in China ist es Sun Wukong (japanisch: Son Gokū), der den Pilger Xuanzang auf der Reise nach Indien begleitet [1]. Diese Reise wird im 西遊記 Xīyóujì [Die Reise in den Westen], das Wú Chéng’ēn 吳承恩 (um 1500-1582) zugeschrieben und einer der vier klassischen Romane [2] der chinesischen Literatur ist, dargestellt. Der phantastisch-komische Roman erzählt von den 81 Bewährungen des ‘Affenkönigs’ Sun Wukong und des Mönchs auf der Reise zum ‘westlichen Himmel’ [3].

Im  Xīyóujì wird diese Geschichte in eine zweite eingebettet: Der Mönch Xuánzàng 玄奘 (603-664) war im 7. Jahrhundert von China nach Indien gereist, um heilige Schriften Buddhas nach China zu holen. Über diese sechzehn Jahre dauernde Reise verfasste Xuanzang einen ausfürhlichen Reisebericht [4], um den sich im Lauf der Jahrhunderte zahlreiche Legenden entwickelten – eine davon eben die über den Affenkönig.

Sūn Wùkōng 孫悟空, der ‘Affenkönig’, ist ein übernatürliches Wesen, das aus einem Felsen geboren wurde und durch daoistische Praktiken immense Kräfte erworben hat: Er kann schwere Lasten stemmen, ist pfeilschnell – und kennt 72 Verwandlugen (in Tiere und Objekte), jedes seiner Haare hat magische Eigenschaften, er kann Wind und Wasser beschwören und sich mit Beschwörungen vor Dämonen schützen, und er kann Menschen, Dämonen und Götter erstarren lassen. Er missbraucht seine Fähigkeiten und wird bestraft und für 500 Jahre unter einem Felsen gefangen. Um geläutert zu werden, darf er den Mönch Xuanzang nach Indien begleiten. Auf der Reise errettet er den Mönch aus zahlreichen Gefahren, spielt ihm aber auch zahlreiche Streiche.

Princess Iron Fan (1941)

Princess Iron Fan | Video

Eine Episode rund um den Affenkönig wird in Tiě shàn gōngzhǔ 鐵扇公主 [Princess Iron Fan/Prinzessin Eisenfächer] thematisiert, im ersten chinesischen Zeichentrickfilm in Spielfilmlänge, der 1941 uraufgeführt wurde: Auf der Reise nach dem Westen kommen der Mönch und seine Begleiter – Sun, Shā Wùjìng 沙悟凈 und Zhū Bājiè 豬八戒 – in das Land des Feuerdämons, wo feuerspeinde Berge alles verbrennen. Sie erfahren, dass es einen magischen eisernen Fächer gibt, der die Macht des Feuerdämons bricht und das feuer löscht.

Die Prinzessin, die diesen Fächer hat, ist allerdings ein böser Geist, der nicht helfen will – im Gegenteil: Sie kämpft mit Sun Wukong und gibt ihm einen falschen Fächer, der die Feuer noch mehr anfacht. Im Kampf um den Fächer nehmen alle Beteiligten – die Prinzessin, ihr Mann, der Stier-Dämon und seine Geliebte, ein Fuchsgeist, ebenso wie Sun Wukong, der Sha Wujing und Zhu Bajie – unterschiedlichste (Tier-)Gestalten an, um durch List eine Entscheidung herbeizuführen. Der Affenkönig nimmt die Gestalt eines Käfers an, und lässt sich von der Prinzessin verschlucken. Er zwickt dann solange ihre Eingeweise, bis sie den Fächer abgibt. Mit dem Fächer kann Sun Wukong das Feuer löschen. Auch der Stierdämon wird gefangen und angekettet und kann so nicht weiter Schaden anrichten.

Produzenten und Regisseure des Films waren die Brüder Wan, Wàn Làimíng 萬籟鳴 (1900-1997) und Wan Guchan  萬古蟾 (1900-1995). die Pioniere des chinesischen Animationsfilms. Die beiden hatten in den 1920ern begonnen, mit Animation zu experimentieren und schließlich 1938-1940 an dem ersten Film in Spielfilmlänge gearbeitet, der am 1.1.1941 herauskam. Der Film wurde bald nach Japan gebracht, wo er nicht nur Manga-Künstler beeinflusste, sondern auch japanische Animationsfilme anregte, u.a. den Propagnadafilm Momotarō: Umi no Shinpei 桃太郎 海の神兵 (lit. Momotaro’s Gods-Blessed Sea Warriors, Regio: Seo Mitsuyo 瀬尾 光世, 1945).

Die Brüder Wan wandten sich dem Stoff noch einmal zu: Anfang der 1960er Jahre entstand Dànào tiāngōng 大鬧天宮 ['Uproar in Heaven'/'Havoc in Heaven'/'Aufruhr im Himmel].

[1] Wolfram Eberhard, Lexikon chinesischer Symbole. Die  Bildsprache der Chinesen (München: Diederichs 1996) 17 f.

[2 ]Die anderen drei: 三國演義 Sānguó Yǎnyì Die Geschichte der Drei Reiche (spätes 14. Jahrhundert);  水滸傳 Shuǐhǔ Zhuàn Die Räuber vom Liang-Shan-Moor (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts) und 紅樓夢  Hónglóumèng Der Traum der roten Kammer  (2. Hälfte des 18. Jahrhunderts).

[3] Helwig Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (München: C.H. Beck, 2. Aufl. 1999) 433-435 gibt eine kurze Inhaltsübersicht und die wichtigsten Übersetzungen.

[4] Das Dà Táng Xīyù Jì 大唐西域記 ist eine der wichtigsten Quellen für das mittelalterliche Zentralasien, die erste franzöische Übersetzung von Stanislas Julien erschien 1857.

 

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/391

Weiterlesen

Digitalisierungsstrategien für das kulturelle Erbe in Norwegen | Teil 1: “Ganz Norwegen soll digitalisiert werden” – Grundsätzliches

Digitalisierung hier, Digitalisierung dort – allerorten hört und liest man von den vielfältigen Bestrebungen, historische Literatur, Quellen, Dokumente aller Art, aber auch dreidimensionale Artefakte durch verschiedenste digitale Prozesse zu bewahren und zugänglich zu machen. Scannen, Fotografieren, virtuell Rekonstruieren, Transkribieren/-literieren, Parsen, etc. etc. – man überblickt gar nicht mal alle Methoden, welche die Digital Humanities bereit halten und die fortlaufend weiter und neu entwickelt werden. Das ist die eine Seite – doch wie sieht es hinter den Kulissen aus, wo diese Vorhaben geplant und verhandelt werden? Wie funktioniert eigentlich das Agenda-Setting für die Digitalisierung des kulturellen Erbes? In einer kleinen Artikel-Serie soll dieser Frage am Beispiel Norwegens nachgegangen werden. Nach diesem grundsätzlichen Einleitungsteil sollen in weiteren Teilen des Artikels die Überlegungen, Prioritätensetzungen und Vorgangsweisen der zentralen Akteure/Institutionen aufgegriffen werden.

Warum eigentlich Norwegen als Untersuchungsobjekt – abgesehen davon, dass dieser Blog sich der Beschäftigung mit der Region Nordeuropa verschrieben hat? Norwegen eignet sich auch im Allgemeinen gut zur Untersuchung von Digitalisierungsstrategien, was mit der Verwaltungsstruktur des Landes zusammenhängt. Die Verantwortung für kulturelle, bildungsbezogene und wissenschaftliche Belange liegt hier auf der nationalstaatlichen zentralen Ebene, so dass man rasch einen Überblick über die zentralen Akteure bekommt, die zudem mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet sind. Anders als beim kulturpolitischen Flickenteppich namens Deutschland handelt es sich auf diesem Feld in Norwegen (wie in allen nordischen Ländern) eher um wenige “big player”. Zudem wird gerade in Norwegen seit Jahren über eine stärkere öffentliche Teilhabe an kulturellen Inhalten und eine weitreichende Digitalisierung des “kulturellen Erbes” diskutiert und entsprechende Zielvorgaben werden verabschiedet. Ein weiterer Grund ist in dem über den kulturellen Bereich hinausgehenden Bestrebungen zur ‘Digitalisierung des öffentlichen Lebens’ zu sehen, so dass man die Frage danach stellen kann, ob man das Phänomen von der kulturpolitischen Seite her deuten sollte oder eher von der allgemeingesellschaftlichen und netzpolitischen Warte. Die Antwort liegt wohl wie so oft in der Mitte: Das Beispiel Norwegens zeigt, dass man beide Perspektiven zusammen denken sollte.


Verfassung für das Königreich Norwegen, 17.5.1814
erste Textseite, digitalisierte Version
Quelle: Archiv des norwegischen Parlaments

In Norwegen haben sich die zentralen Akteure in der Tat ehrgeizige Ziele für eine umfassende Digitalisierung des kulturellen Erbes gesetzt. Bis 2030 will die norwegische Nationalbibliothek sämtliche Publikationen, die bis dahin in Norwegen erschienen sind und die im Rahmen des Pflichtexemplarsrechts an sie gelangten, in digitaler Form vorlegen. Bis zum selben Jahr, so die Schätzungen, wird das norwegische Reichsarchiv 10 % seines Archivguts digitalisiert haben. Die Zahlen klingen schon mal beeindruckend, und die Planung dieser Vorhaben reicht bereits einige Jahre zurück. Bemerkenswert in netz- wie in kulturpolitischer Hinsicht ist die 2009 verabschiedete “nationale Strategie für die digitale Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes”. Hier wurde nach einer parlamentarischen Debatte eine landesweite einheitliche Vorgehensweise und anzustrebende Ziele vereinbart.

In diesem Dokument wird die Digitalisierung des kulturellen Erbes mit politischer Bedeutung aufgeladen, wodurch man diese zu legitimieren sucht. So wird auf den Begriff einer “digitalen Allmende” [digital allmenning] zurückgegriffen, der bereits in einer 2006 verabschiedeten Strategie für eine “Informationsgesellschaft für alle” (d.h. alle Norwegerinnen und Norweger, JHS) auftauchte. In diesem Dokument wird die für Norwegen und alle nordischen Länder spezifische Tradition des Jedermannsrechts beschworen, die man auf die digitale Welt übertragen hat. In der nationalen Digitalisierungsstrategie wird diese Vorstellung in dem Sinne weitergedacht, dass die Zugänglichkeit historischer Dokumente und Artefakte das grundsätzliche Versprechen auf politisch-gesellschaftliche Inklusion und Partizipation aller Mitbürger mit erfülle. Zudem wird die Digitalisierung kulturellen Erbes als Teil der Einlösung des “Kulturversprechens” [kulturløfte] der norwegischen Regierung gedeutet. Dieses Kulturversprechen wurde 2005 nach der Ablösung der bürgerlichen Regierung Bondevik von der neuen rot-grünen Regierung unter Führung des Sozialdemokraten Jens Stoltenberg abgegeben. An zentraler Stelle steht die Zielvorgabe, bis 2014 die Ausgaben zur Förderung von Kunst und Kultur auf einen Anteil von einem Prozent am nationalen Budget zu steigern. Auch in diesem Zusammenhang beruft man sich bereits auf das Ideal der allgemeinen Zugänglichkeit und Teilhabe für alle Bürgerinnen und Bürger. Ob also freier Eintritt in staatliche Museen oder das Anklicken der digitalisierten Quelle auf der Archiv-Homepage – im Grunde steckt dieselbe Idee dahinter. Diese Vorstellungen greifen zentrale Elemente der norwegischen politischen Kultur (die in vielen wesentlichen Belangen eine gemeinsame politische Kultur aller nordischen Länder ist) auf, die Norwegen und den Norden als (von jeher) demokratisch, rechtsstaatlich, pluralistisch und als nah am Menschen darstellen. Die Vorstellung von einer spezifisch ‘nordischen Demokratie’ wurde seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts nach und nach konstruiert und zu einem Grundpfeiler des politischen Selbstverständnisses und der engen Kooperation zwischen den nordischen Ländern. Moderne politische Errungenschaften wie Demokratie, Parlamentarisierung und allgemeines (auch: Frauen-!) Wahlrecht wurden zur Grundlage für (a)historische Rückprojektionen, wonach der Norden selbst in vordemokratischen Zeiten bereits zur starken politischen Partizipation der unteren Stände und einer vernunftgeleiteten Staatsführung tendiert habe. Die Digitalisierungsstrategien fügen sich in ihren grundsätzlichen Überlegungen sehr gut in ein bereits existierendes Selbstbild ein.

Die Bestrebungen auf dem kulturellen Sektor sind Teil einer weit darüber hinausreichenden Strategie: Seit einigen Jahren wird eine umfassende “digitale Agenda” verfolgt, die darauf abzielt, Norwegen zum weltweit führenden Land in Sachen eGovernance und Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen zu machen. Eine norwegische Zeitung titelte – wohl etwas weitgehend – “Ganz Norwegen soll digitalisiert werden”. Diese im Frühjahr 2012 erstmals verkündete Strategie ist in Blogs und in der Presse begrüßt worden – es scheint keine größere Kritik an dem Vorhaben zu geben. Auch die Opposition steht hinter den Vorschlägen, einige Stimmen haben indes auf das Problem des Datenschutzes aufmerksam gemacht und in Frage gestellt, ob in Norwegen genügend kompetente Fachkräfte zur Umsetzung vorhanden seien. Die Digitalisierung wird unter den Oppositionsparteien als geeignetes Mittel angesehen, um die aufgeblähte öffentliche Verwaltung endlich zu verschlanken und die stetig wachsende Zahl sich selbst legitimierender interner Prozesse zu senken.

Jedenfalls ist die Digitalisierungsstrategie in Bezug auf das kulturelle Erbe einerseits Pilotprojekt, andererseits Teil einer allgemeinen landesweiten Entwicklung in Norwegen. Sie ist eine Facette der vielfältigen Bemühungen, Verwaltungsvorgänge und gesellschaftliche Teilhabe zu größeren Teilen über das Internet zu ermöglichen. Ein Blick auf die Besiedlungsstruktur des langgestreckten Landes macht die Sinnhaftigkeit solcher Vorhaben einsichtig. Hape Kerkelings berühmtes Diktum, Norwegen sei groß und unwahrscheinlich lang und weilig, ironisiert das Faktum, dass Norwegen sehr dünn besiedelt ist und die Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Gebiete durch eine Unzahl von Fjorden und Bergzügen voneinander abgeschnitten sind. Nun spielen solche geographisch-topographischen Hindernisse im modernen Kommunikationszeitalter nicht mehr dieselbe Rolle wie früher, doch müssen auch bestimmte Voraussetzungen gegeben sein, um das Digitalisierungsprojekt erfolgreich zu realisieren. In Norwegen sind dabei mehrere Umstände gegeben: eine hohe Akzeptanz neuer Technologien, eine flächendeckende Internet-Anbindung und der vor Jahren bereits konsequent angegangene Ausbau von Breitband-Verbindungen. Digitalisierung, auch die des kulturellen Lebens, ist Teil des in den letzten Jahren zielstrebig aufgebauten norwegischen Selbstverständnisses als technologisch und netzpolitisch führende Nation.

Dieses Selbstbild versucht die norwegische Regierung derzeit durch entsprechende Vorgaben und politisches Agenda-Setting zu manifestieren. Darin dürfte auch der Versuch zu sehen sein, dem Land Zukunftsoptionen zu eröffnen, um die Abhängigkeit von den einträglichen, aber irgendwann versiegenden Erdölvorkommen zu mindern. Damit sollen Digitalisierung und Erdölförderung keineswegs volkswirtschaftlich gleichgesetzt werden. Es geht vielmehr um die Implementierung technologisch basierter politischer und gesellschaftlicher Praktiken, die das Leben der Bürger vereinfachen sollen, die auf Dauer Kosten sparen sollen, und über die außerdem die Konstruktion eines neuen bzw. Erweiterung des bestehenden nationalen Images Norwegens betrieben wird. Norwegen, das demokratisch vorbildliche Musterland, in dem der Bürger alles über das Netz erledigen kann – sei es die Beantragung eines neuen Reisepasses oder die Erforschung von historischen Quellen. Norwegen ist offensichtlich auf bestem Wege, zu einem “D-Land” zu werden.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1169

Weiterlesen

Call4Papers (Umweltpsychologie): “Aneignung, Teilhabe, Wohlbefinden – Städtische Räume und ihre Nutzung” (bis 30.06.13)

Immer mehr Menschen leben in Städten. Nur wenige Stadtbewohner verfügen über hinreichenden privaten Raum, um alle ihre Bedürfnisse dadurch zu decken; die meisten sind darauf angewiesen, dass öffentliche und halböffentliche Räume zur Verfügung stehen, die ihre Bedürfnisse nach Kreativität, Mobilität, … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/3762

Weiterlesen

Dan Cohen verlässt CHNM, wird Leiter der Digital Public Library of America

Dass der jetzige Leiter des CHNM, Dan Cohen, seinen Posten verlässt, um die Leitung der in Entstehung begriffenen DPLA (Digital Public Library of America) zu übernehmen, ist ja bereits durchgetwittert und entsprechend verbloggt worden – vor allem und besonders durch Dan Cohen selbst. Was dieser Wechsel in der Leitungsposition für die zukünftige Ausrichtung des CHNM […]

Quelle: http://weblog.hist.net/archives/6654

Weiterlesen

Frühe Fotokunst an der Elisabethkirche

Die Geschichte der Fotografie ist ungeheuer faszinierend. Fotos aus dem 19. Jahrhundert sind für uns heute ein Fenster in die Vergangenheit, das eindrücklicher und berührender kaum sein könnte. Spannend ist insbesondere, dass die meisten der technischen, dokumentarischen und künstlerischen Möglichkeiten, welche der Fotografie innewohnen, bereits früh entdeckt und erprobt wurden.

Der deutsche Albrecht Meydenbauer erkannte in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Potential, welche die Fotografie für die Geodäsie haben könnte. Er erdachte ein Verfahren, wie man mit Hilfe von Fotos, beispielsweise einer Fassade, und mehreren ermittelten Punkten, ein Messbild erstellen kann, ohne ein Gerüst an das Gebäude bauen zu müssen.

Das Verfahren nannte Meydenbauer Fotogrammetrie und wird bis heute in unterschiedlichen Bereichen, von Fernerkundung bis Archäologie eingesetzt. Mehr dazu hier.

Albrecht Meydenbauers Einsatzfeld war aber die Architektur-Fotogrammetrie. Als junger Bauingenieur wurde die Entwicklung zunächst nicht wahrgenommen, aber seine Zeit sollte kommen. Von 1979 bis 1985 war er als Bauinspektor in Marburg tätig und sein wohlwollender Vorgesetzter schlug ihm vor, das Verfahren an der Elisabethkirche auszuprobieren. Der Versuch gelang und Meydenbauer legte eine der ersten vollständigen, den heutigen Maßstäben entsprechenden Messbildauswertungen überhaupt vor. Der Erfolg war durchschlagend und nun konnte er seinen Traum erfüllen. Er gründete die „Messbild-Anstalt für Denkmal-Aufnahmen“ in Berlin, ein Foto-Archiv für die Denkmäler im preußischen Gebiet. Er führte die Messbildanstalt bis 1909. Die Bestände sind heute Bestandteil des Messbildarchivs des Brandenburgischen Denkmalamtes.

Die Auswertung der Fotogrammetrie der Westfassade der Elisabethkirche:

 

Auswertung der Fotogrammetrie der Westfassade Elisabethkirche Marburg an der Lahn von Albrecht Meydenbauer/ Scan aus: Marburg. Eine illustrierte Stadtgeschichte (Marburg 1985) S. 47

Meydenbauer hatte aber nicht nur einen Sinn für technische und dokumentierende Fotos. Zwei Bilder aus dem Innenraum der Elisabethkirche bezeugen den Sinn fürs Spektakuläre bei ihm. Die Bilder sind durch Öffnungen des Gewölbes der Vierung und der Südkonche gemacht worden und stammen aus den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Bilder haben meines Erachtens nicht nur einen dokumentarischen, sondern auch einen hohen künstlerischen Wert.

Foto: Albrecht Meydenbauer/ Scan aus: R. Bentmann/ J.N. Viebrock (Hrsg.) Hessische Baukunst in alten Fotografien. Dokumentaraufnahmen der preußischen Messbildanstalt zu Berlin von Albrecht Meydenbauer. Arbeitshefte des Landesamts für Denkmalpflege Hessen 9 (Stuttgart 2006) 48 / Original befindet sich im Meßbildarchivs des Brandenburgischen Landesamts für Denkmalpflege

 

Foto: Albrecht Meydenbauer/ Scan aus: R. Bentmann/ J.N. Viebrock (Hrsg.) Hessische Baukunst in alten Fotografien. Dokumentaraufnahmen der preußischen Messbildanstalt zu Berlin von Albrecht Meydenbauer. Arbeitshefte des Landesamts für Denkmalpflege Hessen 9 (Stuttgart 2006) 48 / Original befindet sich im Meßbildarchivs des Brandenburgischen Landesamts für Denkmalpflege

Literatur:

R. Meyer, Albrecht Meydenbauer, Baukunst in historischen Fotografien (Leipzig 1985)1

R. Bentmann/ J.N. Viebrock (Hrsg.) Hessische Baukunst in alten Fotografien. Dokumentaraufnahmen der preußischen Messbildanstalt zu Berlin von Albrecht Meydenbauer. Arbeitshefte des Landesamts für Denkmalpflege Hessen 9 (Stuttgart 2006)

Marburg. Eine illustrierte Stadtgeschichte (Marburg 1985)

Quelle: http://minuseinsebene.hypotheses.org/407

Weiterlesen

Interaktive Netztagung | #gld13 | Geschichte Lernen digital | Freitag, 8. März | Samstag, 9. März | im Livestream auf L.I.S.A.

Die Tagung #gld13 | Geschichte Lernen digital steht unmittelbar bevor. Sie können den Livestream zwischen Freitag 12:00 und Samstag 12:00 Uhr auf der Seite L.I.S.A (Gerda-Henkel-Stiftung) verfolgen und sich über twitter beteiligen: #gld13 | @ge_lern_dig. Das Programm mit den Vorträgen und Uhrzeiten können Sie dem Tagungsflyer entnehmen und das aktuelle Geschehen auch auf der twitterwall #gld13 verfolgen.

Die Tagung wird von Prof. Marko Demantowsky (Pädagogische Hochschule Nordwestschweiz) und Dr. Christoph Pallaske (Universität zu Köln) in Kooperation mit der Körber-Stiftung (Hamburg), der Gerda-Henkel-Stiftung (Düsseldorf), der Bayerischen Staatsbibliothek (München) und der kgd (Konferenz für Geschichtsdidaktik) veranstaltet.

Falls Sie in München und Umgebung wohnen: Am Freitag um 20 Uhr findet im Historischen Kolleg ein öffentlicher Vortrag von Thomas Krüger (Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung) statt: Geklicktes Wissen. Was macht uns wirklich klug?

Quelle: http://dgl.hypotheses.org/800

Weiterlesen

aventinus specialia Nr. 49 [06.03.2013]: Vortrag bei der Fachschaft Geschichte der LMU München über Neuerungen und Entwicklungen bei aventinus

In einem Vortrag stellte der Geschäftsführende Herausgeber Andreas C. Hofmann bei der Fachschaft Geschichte der LMU München aktuelle Entwick­lungen und Neuerungen bei aventinus vor. Beide Partner arbeiten im Zentrum Studentische Publikationsplattform Geschichte eng zusammen. http://www.fachschaft.geschichte.uni-muenchen.de/aventinus

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/03/3906/

Weiterlesen

Buchvorstellung: Th. Fischer, Die Armee der Caesaren. Archäologie und Geschichte (Regensburg 2012).


Buchvorstellung:
Th. Fischer, Die Armee der Caesaren. Archäologie und Geschichte (Regensburg 2012).

In der Entwicklung der römischen Provinzen waren es meist die römischen Truppen, die zuerst die römische Lebensweise und Kultur in die neuen Gebiete des römischen Reiches brachten. Daher kann die römische Armee als äußerst prägender Faktor in der Entwicklung der provinzialrömischen Kultur gelten. Gerade in den Grenzprovinzen war das Militär dauerhaft präsent und hinterließ eine Vielzahl von Spuren und Überresten im Boden. Suchte man bisher aktuelle Überblicksdarstellungen zur römischen Armee, so war man meist auf Werke in englischer oder französischer Sprache angewiesen. Es fehlte ein nützliches deutschsprachiges Werk, um einen guten Einstieg in dieses vielfältige Thema zu finden. Im vergangenen Jahr schaffte der Regensburger Verlag Friedrich Pustet hier Abhilfe und veröffentlichte das Buch „Die Armee der Caesaren. Archäologie und Geschichte.“
Prof. Dr. Thomas Fischer (Professor für die Archäologie der römischen Provinzen an der Universität zu Köln) und seine Mitautoren Dr. Ronald Bockius (Hauptkonservator, Leiter des Forschungsbereichs Antike Schiffahrt am RGZM Mainz), Prof. Dr. Dietrich Boschung (Professor für Klassische Archäologie an der Universität zu Köln) und Dr. Thomas Schmidts (Wiss. Konservator, Forschungsbereich Antike Schiffahrt am RGZM Mainz) haben mit dem hier vorgestellten Werk eine kompakte Übersicht zum römischen Militär und seinen archäologisch fassbaren Überresten zusammengestellt.
Der Text gliedert sich in sechs große Kapitel, die jeweils in sinnvolle Unterkapitel unterteilt sind. Nach Bildquellen (Teil I, ca. 30 Seiten) und allgemeinen Fragen zum römischen Militär (Teil II, ca. 50 Seiten) werden Tracht, Bewaffnung, Ausrüstung (Teil III, ca. 140 Seiten), Bauten (Teil IV, ca. 70 Seiten) und Entwicklungsperioden der römischen Militärgeschichte (Teil V, ca. 30 Seiten) sowie schließlich die römische Kriegsmarine (Teil VI, ca. 40 Seiten) behandelt.
Insgesamt sind die Seiten sehr ansprechend gestaltet, so findet sich z.B. das Titelbild der einzelnen Kapitel auf jeder der zugehörigen Seiten im oberen Bereich als Vignette wieder.
Die über 600 (z.T. farbigen) Abbildungen sind durchgängig von guter Qualität und dabei sinnvoll und locker im Text verteilt. Bildunterschriften geben die wichtigsten Angaben zu den Bildern und laden zum Durchblättern ein, ohne dass man stets einen ganzen Abschnitt lesen muss, um Informationen zu den gezeigten Objekten zu erhalten.
Die Aufnahme von Typen- und Bestimmungstafeln ist praktisch, da diese bisher mühsam aus verschiedenen Werken zusammengesucht werden mussten. Allerdings sind sie recht klein dargestellt, z.B. die Schwertklingentypologie nach Miks auf Seite 180. Hier wurde der direkten Einbindung in den Text der Vorzug gegenüber einer leichter lesbaren Abbildungsgröße gegeben.
Die gezeigten Fundstücke sind meist ohne Maßstab abgebildet, was in einem solchen Überblickswerk aber auch nicht unbedingt zu erwarten wäre. Für genaue Maßangaben kann mit Hilfe der Anmerkungen und der Literaturliste leicht auf die Originalpublikationen zurückgegriffen werden.
Anmerkungen sind im Text markiert und am Schluß des Buches nach den jeweiligen Kapiteln getrennt aufgeführt. Dies macht zwar bei Bedarf ein umständliches Vor- und Zurückblättern notwendig, doch hätte der umfangreiche Anmerkungsapparat (1325 Anmerkungen bei insg. 416 Seiten) wohl die Lesbarkeit und Gestaltung der Seiten gestört.
Die Literaturliste ist zweispaltig angelegt und die Schrift sehr klein und eng gesetzt, trotzdem füllt sie 12 Seiten und stellt so einen beachtlichen Fundus an Literatur zur römischen Armee dar und bietet einen guten Einstieg in die Fachpublikationen der einzelnen Themen.
Das Werk hält zwar keinen Glossar bereit, aber der Leser wird diesen auch nicht vermissen. Fachbegriffe werden im Text selbst erläutert und sind durch das Sachregister gut erschlossen. Neben diesem finden sich noch Register zu Personen- und Völkernamen sowie geographischen Begriffen.
Das Buch ist für 59,95€ erhältlich (ISBN 978-3-7917-2413-3) und macht einen hochwertigen Eindruck, neben der Hardcoverbindung gönnt der Verlag dem Leser auch durchgängig kräftige Glanzpapierseiten.
„Die Armee der Caesaren“ entwickelt sich mit Sicherheit zu einem neuen Standardwerk zur römischen Militärgeschichte. Es bietet sich als guter Ausgangspunkt für die Suche nach Informationen zum römischen Militär und als Einstieg in die weitere Literaturrecherche an.


Ich danke dem Verlag Friedrich Pustet für das Rezensionsexemplar und die Coverabbildung.

Abb.: Verlag Friedrich Pustet

Quelle: http://provinzialroemer.blogspot.com/2013/03/buchvorstellung-th-fischer-die-armee.html

Weiterlesen

“Wagner et la France”. Ein Tagungsbericht

Richard Wagner. Portrait von Caesar Willich (ca. 1862)

Richard Wagner. Portrait von Cäsar Willich (ca. 1862)

Die Beziehung Richard Wagners zu Frankreich und den Franzosen war alles andere als einfach. Auf die anfängliche Euphorie für das Nachbarland sollte bei Wagner während seines ersten Paris-Aufenthalts bittere Ernüchterung folgen. In seiner Autobiographie bezeichnete der deutsche Komponist rückblickend seinen ersten Paris-Aufenthalt als eine Zeit der Verbannung, nachdem er schon 1850 die Niederbrennung der französischen Metropole gefordert hatte.

Die DHI-Tagung zu „Wagner et la France“, die von Danielle Buschinger (Amiens), Mareike König (DHI) und Jürgen Kühnel (Siegen) organisiert wurde, hat indes gezeigt, dass dieser anfängliche Eindruck von Wagners Frankreichbild zu eindimensional ist. Aus Anlass des 200. Geburtstags des deutschen Komponisten sind im Hôtel Duret-de-Chevry im vergangenen Februar namhafte Künstler und Wissenschaftler aus ganz Europa für die dreitägige Tagung zusammengekommen. Hier wurde alsbald deutlich, wie der 17 jährige Wagner aus der Ferne die französische Julirevolution 1830 voller Begeisterung verfolgte, sich später als Dirigent in Dresden, als Chordirektor in Würzburg sowie als Kapellmeister in Riga von der französischen grand opéra inspirieren ließ und doch von seinem ersten Aufenthalt in Paris zwischen 1839 und 1842 zutiefst enttäuscht war.

Persönliche Zurücksetzung, soziale Benachteiligung sowie ein tiefes Befremden gegenüber den politischen Verhältnissen in Frankreich stünden am Ursprung von Wagners Novellen, die zwischen 1840 und 1841 in verschiedenen Zeitschriften erschienen. Rolf Füllmann (Köln) erinnerte an die Variierung von Topoi der deutschen Vormärz-Novelle bei Wagner, mit denen der Musiker, der als mittelloser Komponist und illegaler Einwanderer nach Paris kam, eine Parabel auf die Künstlerexistenz in der Opernhauptstadt des 19. Jahrhunderts geschaffen habe. Wagner gelang es nicht, in der damaligen Opernmetropole Fuß zu fassen. Auch der Kontakt zum damals erfolgreichen Meyerbeer half ihm zunächst wenig, die in seinem Reisegepäck befindlichen Stücke zur Aufführung zu bringen.

Daniel-François-Esprit Auber

Daniel-François-Esprit Auber 

Möglicherweise resultierte aus dieser Erfahrung eine zutiefst kritische Haltung gegenüber den französischen Zeitgenossen. Für die französische Literatur hatte der Komponist oftmals nur Geringschätzung übrig. Zwar schätzte er den Realismus eines Balzac, konnte sich aber mit Flauberts Madame Bovary keineswegs anfreunden, wie Albert Gier (Bamberg) erklärte. Gegenüber Cosima bemerkte Wagner später, dass ihn der nationale Charakter der französischen Werke abstoße, während er 1871 erklärte, die französische Sprache sei „die unfreie Sprache Mephistos, die deutsche dagegen die Sprache Fausts.“ Etwas gnädiger fiel Wagners Urteil über die französische Musik aus. Oswald Panagl (Salzburg) zeigte während der Tagung, wie Auber Wagner als ein talentierter, wenn auch etwas seichter Komponist erschien. Den Vorbehalten gegenüber Meyerbeer stand die Anerkennung Berlioz‘ gegenüber, auch wenn das persönliche Verhältnis zu diesem schwierig war. Treffend bemerkte Panagl, dass das Scheitern des Paris-Aufenthaltes sich wie ein Grauschleier über Wagners Wahrnehmung gelegt und den „diagnostischen Blick zu einem subjektiven Verdikt“ getrübt habe. Freilich bestätigte auch hier die Ausnahme die Regel, wie Claude Knepper (université de Bretagne occidentale) anhand der Freundschaft von Wagner und Emile Ollivier, einem Schwiegersohn Franz Liszts, zeigte. Nach deren erster Begegnung zwischen 1859 und 1861 überwand der Frankreichskeptiker Wagner viele seiner Vorurteile, während das Engagement Olliviers zugunsten von Wagners künstlerischem Schaffen in Paris zumindest eine kleine Wiedergutmachung der früher erfahrenen Ablehnung gewesen sein dürfte.

Es ist kaum zu übersehen, wie die insgesamt vier Aufenthalte in Paris Wagners Werk nachhaltig beeinflussten. Als Musikkritiker für die Revue et Gazette musicale formte Wagner sein eigenes ästhetisches Denken erheblich aus, so Charles Arden (Paris). Yaël Hêche (Lausanne) zeigte anhand von Wagners „mélodie française“ wie die Pariser Zeit zu einer Schaffensperiode wurde. Große Oktavspannen und musikalische Figuren wie das Tremolo zeugten von einer Variierung des Genres, mit denen Wagner über die reine Auftragsarbeit hinausgegangen sei. Während seines letzten Aufenthalts in Paris fand die Pariser Erstaufführung des „Tannhäuser“ statt, die zu einem Skandal in der Opernwelt wurde und dazu führte, dass Wagner den „Tannhäuser“ frühzeitig zurückzog. In diese Zeit fiel auch die Begegnung mit Jacques Offenbach. Peter P. Pachl (München) machte auf die große Ähnlichkeit zwischen der Venus im „Tannhäuser“ und der Venus in Offenbachs „Orhpée aux Enfers“ aufmerksam und erinnerte an die ambivalente Figur Offenbachs in Wagners Lustspiel „Eine Kapitulation“. Letzteres entstand während des deutsch-französischen Krieges, und  Zeitgenossen wie Liszt hatten Schwierigkeiten, den Humor in dieser Parodie der deutschen Belagerung von Paris zu erkennen. Besonders der Aufstieg Hugos aus der Kloake habe als ein possenhafter Angriff erscheinen müssen, so Frank Piontek, der in dem Stück zugleich eine ernst gemeinte Kritik an der zivilisatorischen Vorherrschaft des Nachbarlandes und an der damit einhergehenden Entfremdung der Kunst zu entdecken meinte.

Hector Berlioz

Hector Berlioz 

Tatsächlich zeugt es von Wagners aufgeschlossener Rezeptionshaltung, wenn der Komponist durch das Zusammenführen verschiedener künstlerischer Strömungen den Grundstein legte zu seinem eigenen kompositorischen Schaffen. So sei Wagner durch die französischen Gattungen Oper und Instrumentalmusik in Verbindung mit einer Besinnung auf die deutsche Tradition zum Musikdrama gekommen, so Hermann Jung (Mannheim). Habe Wagner sich sehr für die Oper Meyerbeers interessiert, so habe er zugleich Beethovens „IX. Symphonie“ als Mittel spezifischer Ausdruckshaftigkeit und die Bedeutung der idée fixe bei Berlioz erkannt. Wagner sollte mit seiner eigenen Leitmotivtechnik darauf und auf weitere Einflüsse aufbauen. Volker Mertens (Berlin) zeigte, dass Wagners Entscheidung zugunsten des mythischen Nibelungenstoffes noch keine endgültige Absage an die historisch-relevante Oper bedeutete. Die in gebrochener Verwendung auftretenden Topoi der französischen Oper wie dem Katastrophenfinale, das in der „Götterdämmerung“ ohne den traditionellen Erlösungsschluss wiederaufgenommen wurde, seien nicht zu übersehen, so Mertens. Zu einem ähnlichen Befund kam auch Mathieu Schneider (Straßburg) mit Blick auf Wagners „Rienzi“, den er mit Aubers „Muette de Portici“ verglich. Zahlreiche Motive und Techniken kehrten bei Wagner wieder, so die Einheit von Musik und Handlung, die handlungsmotivierende Funktion des Chores und die Aufstellung des Orchesters.

Dies änderte aber noch nichts an Wagners frankreichkritischer Haltung. Im Gegenteil erschien ihm die französische Metropole als ein Beispiel der modernen und entfremdeten Gesellschaft, in der die Kunst zur Ware verkommen sei. Dass Wagner in einem Brief an seinen Freund Theodor Uhlig vom Oktober 1850 tatsächlich die Zerstörung von Paris forderte, sei, so Kühnel, ein Indiz für die Radikalisierung der kulturkritischen Ansichten Wagners, der im Niederbrennen der Stadt das Fanal für eine erneute Revolution erblickte, der nach dem Scheitern des Pariser Juniaufstandes 1848 all seine Hoffnungen galten.

Derweil ist es aufgrund der disparaten theoretischen Anleihen nahezu unmöglich, ein einheitliches Bild von Wagners philosophischem und ideologischem Denken zu erhalten. Neben die aufklärerische Kulturkritik trat die vormarxistische Kritik eines Proudhons oder die Rassenlehre eines Gobineaus. Aber auch buddhistische Lehren, mit denen Wagner durch die Lektüre Burnoufs in Berührung kam, beeinflussten sein Werk.

Jürgen Kühnel wies darauf hin, wie Wagners Schrift „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1850) stark vom Rückgriff auf den rousseauschen Topoi des idealisierten Naturzustandes geprägt sei. Ronald Perlwitz (Paris) erinnerte ergänzend an den Modellcharakter, den die Gesellschaftstheorie Rousseaus im Europa des 19. Jahrhunderts gehabt habe und die insbesondere von Kant und den Vertretern des deutschen Idealismus rezipiert worden sei. Die Figur des Wotan, so Perlwitz, sei wie eine Antwort auf den Topoi des großen Subjekts im Idealismus: erscheine der mythische Gott aus den Nibelungen doch als ein „Gott der Verträge“, dessen Handeln stets auch das Resultat einer „potentialité déterminatrice“ sei.

Die sich vom 18. zum 19. Jahrhundert wandelnde gesellschaftliche Rolle der Kunst zwang Wagner, unermüdlich nach neuen Antworten zu suchen. So erklärte Michela Landi (Florenz), dass Wagner sich von der von Proudhon aufgeworfenen problematischen Verortung der Kunst zwischen politischen und ästhetischen Prämissen sowie den anarchistischen Ansichten des Franzosen habe beeinflussen lassen. Landi erinnerte an die Figur Siegfrieds, der in seinem Übergehen überkommener Verträge zum Vertreter einer Gemeinschaft werde, deren menschliche Natur von rigorosen moralischen Gesetzen unterdrückt würde.

Dass Wagner über philosophische und politische Ansätze noch weit hinausging und sich von mythischen und religiösen Theorien unterschiedlicher Provenienz inspirieren ließ, machte aus ihm nach Georges A. Bertrands geradezu einen „artiste cosmopolite“. Bertrand wies auf die Christianisierung mythischer Symbole bei Wagner hin und hob die Bedeutung des buddhistischen Regenerationsgedanken hervor, welcher in der ewigen Wiederkehr des Menschen aufgehe, die erst mit der Erreichung des Nirwana ihr Ende finde.  Danielle Buschinger stellte fest, dass der bei Wagner wiederholt auftretende Topos des Mitleidens auf jenes interindividuelle Mitleid zurückgehe, das im Buddhismus als eine Vorstufe zur Erlösung gilt.

Arthur de Gobineau

Arthur de Gobineau 

Es zeugt schließlich von Wagners besonderer Fähigkeit zur Synthese unterschiedlicher Theorien, wenn er nach anfänglicher Zustimmung gerade vor dem Hintergrund des Mitleidgedankens den entscheidenden Vorwand gegen Gobineaus Schrift „Essai sur l’inégalité des races humaines“ zur Geltung brachte. Udo Bermbach (Hamburg) entdeckte im Wagnerischen Mitleiden die Theorie für einen Modus der Vergesellschaftung, der Gobineaus Degenerationsthese, welche auf den fatalen Folgen der Rassenmischung fußte, diametral gegenüberstünde. Pierre-Louis Rey (Paris) machte ergänzend hierzu auf die fundamentalen Unterschiede zwischen Gobineaus „Amadis“ und Wagners „Parsifal“, die beide ungefähr zur selben Zeit entstanden, aufmerksam. Während in Letzterem die Heilsgewissheit für die gesamte Menschheit gültig ist, wird in Ersterem nur Auserwählten das Privileg der Unsterblichkeit zuteil.

Alice Fagard und Naoko Hirata

Alice Fagard und Naoko Hirata

Ein schöner Höhepunkt am ersten Abend der Tagung war die Aufführung der Elsa-Arie aus dem Lohengrin und der Wesendonck-Lieder durch Alice Fagard (Sopran) und Naoko Hirata (Klavier). Die Beiträge der Referenten werden in einem Tagungsband in der von Danielle Buschinger geleiteten Reihe „Médiévales“ in Amiens erscheinen.

Abbildungen:

Portraits: Wikimedia Commons (Wagner, Auber, Berlioz, Gobineau).

Photo Konzert: privat.

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/827

Weiterlesen