Die Monumenta Germaniae Historica wurden zum 1.4.1935 mit Zustimmung des Vorsitzenden der Zentraldirektion, Paul Fridolin Kehr, unter Beseitigung der seit 1875 bestehenden bisherigen Organisationsform in ein „Reichsinstitut für altere deutsche Geschichtskunde“ umgewandelt. Mit Abschaffung der Zentraldirektion wurde auf Grundlage des ‚Führerprinzips‘ der Vorsitzende zum faktischen Leiter und später Präsidenten aufgewertet, der nicht nur sämtliche Geschichts- und Altertumsvereine überwachen sollte, sondern auch dem ehemaligen Preußischen Historischen Institut in Rom vorstand. Vonseiten des NS-Regimes war es als eine Schwesterinstitution zum ebenfalls 1935 begründeten „Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschland“ von Walter Frank konzipiert.
Der ca. 100 Faszikel umfassende, faktisch unversehrt gebliebene Aktenbestand des Reichsinstituts wurde bis zum 28.2.2014 in Eigenleistung teilerschlossen: Etwa die Hälfte der Archivalien konnte bearbeitet werden und steht über die Homepage des MGH-Archivs zur Verfügung.
Der Aktenbestand bildet die Basis für die noch ausstehende Erforschung der Geschichte der Monumenta während der Zeit des ‚Dritten Reichs‘. Er dokumentiert ihre Einbindung in die wissenschaftlichen Strukturen und Netzwerke, die Entwicklung des Faches mittelalterliche Geschichte und verwandter Disziplinen sowie die intensiven Verflechtungen mit dem Reichswissenschaftsministerium und verschiedenen wissenschaftslenkenden Einrichtungen des NS-Staates. Zu den Korrespondenten zählen renommierte deutschsprachige und ausländische Geisteswissenschaftler, sowie Universitäten, Verlage, Archive und Bibliotheken, Akademien und kulturpolitische Einrichtungen des nationalsozialistischen Regimes in den besetzten Gebieten nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Akten geben Aufschluss über wissenschaftliche und (wissenschafts-)politische Aspekte des Wirkens der Leiter bzw. Präsidenten Paul Fridolin Kehr, Wilhelm Engel, Edmund Ernst Stengel und Theodor Mayer sowie weiterer Mitarbeiter und mit den Monumenta verbundener bedeutender Gelehrter wie Karl Brandi. Nicht zuletzt wird die wissenschaftliche Geschichte der Monumenta selbst mit ihren Editionen (MGH-Reihen), der Zeitschrift „Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters“ und weiteren Reihen und Projekten sichtbar.
Die Archivalien ermöglichen Erkenntnisse zu verschiedenen Themenkomplexen der Wissenschaftsgeschichte der NS-Zeit, wie etwa dem Monopolanspruch der deutschen Geschichtswissenschaft mit dem versuchten Gewinn einer ‚Deutungshoheit‘ in Europa und ihrem Verhältnis zum Regime, der Organisation der Geisteswissenschaften (z.B. das Verhältnis der Reichinstitute zu landesgeschichtlichen Institutionen), der Interpretation der deutschen Geschichte aus Sicht der NS-Ideologie, der ideellen Unterstützung der deutschen Kriegsführung (‚Kriegseinsatz Geisteswissenschaften’) oder der Geschichtswissenschaft in Österreich und im „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“. Sie leisten darüber hinaus Beiträge zur Biographieforschung, einschließlich der Verdrängung und des Ausschlusses von Wissenschaftlern mit unerwünschter Abstammung oder missliebiger politischer Orientierung.
Einige Beispiele sollen im Folgenden vorgestellt werden:
- Faszikel B 543 enthält Korrespondenzen zum „Kunst-, Bibliotheks- und Archivschutz“ während des 2. Weltkriegs in Frankreich und den Beneluxstaaten. Sie dokumentieren die Beteiligung des Reichsinstituts an der umfangreichen Fotokopierung von in zeitgenössischer Diktion dem Deutschen Reich ‚entfremdeten‘ Archivalien und Handschriften. Die Akten stammen aus dem Zeitraum zwischen 1940 und 1943 und machen besonders das Engagement des Präsidenten Edmund Ernst Stengel für die Tätigkeiten der „Gruppe Archivwesen“ deutlich. Der Kommissar für Archivschutz, Ernst Zipfel, bat Stengel bereits kurz nach seiner Ernennung um Mitwirkung bei der „Sicherung“ von Archivgut (Brief vom 28.06.1940). Bereits im Ersten Weltkrieg hatte es vonseiten der Monumenta Bestrebungen zur „Herausgabe der in den napoleonischen Kriegen entfremdeten Archivalien und Handschriften deutscher Herkunft“ gegeben (Vgl. den Brief von Stengel an die Witwe von Michael Tangl, 24.06.1940). Stengel sagte Zipfel die Hilfe des Reichsinstituts bei der „Betreuung“ der holländischen, belgischen und französischen Archive zu, legte den Schwerpunkt dann aber deutlich auf die Erstellung von Fotokopien (Brief vom 11.07.1940). Bereits am 03.07.1940 hatte er offensichtlich aus eigener Initiative ein Rundschreiben an Institutsmitglieder und Fachkollegen mit der bitte um Mitteilung von mittelalterlichen Archivalien bzw. nichtarchivalischen Handschriften für die laufenden amtlichen Erhebungen über dem Deutschen Reich ‚entfremdete‘ und nach Frankreich und Belgien ‚verschleppte‘ Kulturgüter verschickt. Auch darin betonte er die Bedeutung der möglichst umfassenden Fotokopierung für die Arbeiten des Reichsinstituts. Sein Rundschreiben stieß bei amtlichen Stellen auf wenig Gegenliebe, am 25.09.1940 wurde ihm vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung nahegelegt, eigenmächtige Aktionen zukünftig zu unterlassen. Die Akten enthalten Zusammenstellungen der aufgrund von Stengels Umfrage ermittelten Handschriften zur Vervielfältigung.
- Beziehungen des Reichsinstituts unter Wilhelm Engel und Edmund Ernst Stengel zu wissenschaftlichen Einrichtungen wie etwa dem „Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschland“ spiegeln Akten in den Faszikeln B 546 und B 563 wider. Vorbehalte Stengels gegenüber Walter Frank, seine Ablehnung einer räumlichen Vereinigung beider Reichsinstitute, aber auch die offizielle Wahrung gegenseitiger guter Beziehungen und praktische Zusammenarbeit werden hier deutlich. In einer Niederschrift vom Dezember 1937 in B 546 berichtet Stengel über ein Gespräch mit Frank, in dem dieser eine Zusammenarbeit anbot unter der Bedingung, dass Karl August Eckhardt nicht die Leitung der Leges-Abteilung erhalte. Aus Franks Worten geht dabei hervor, dass er Stengel für einen Gegner des Nationalsozialismus hielt und seine Ernennung zum Präsidenten nicht befürwortet hatte. Korrespondenzen in B 563, die aus der Zeit zwischen 1935 und 1940 stammen, dokumentieren den gegenseitigen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Austausch, etwa durch die Erstellung von Gutachten. Thematisiert wird z.B. auch die Entfernung von Wilhelm Mommsen aus der Redaktion von „Vergangenheit und Gegenwart“ 1936 in der Amtszeit von Stengels Vorgänger Wilhelm Engel.
- Zahlreiche Briefwechsel zeigen die Verbindungen des Reichsinstituts zur europäischen Geschichtswissenschaft in den gegnerischen, befreundeten und neutralen Staaten. Faszikel B 545-1 dokumentiert Kontakte des Reichsinstituts von 1942 bis 1943 mit der Schweiz in Form einer Vortragsreise von Präsident Theodor Mayer. Unter den Korrespondenten finden sich die Schweizerische Botschaft Berlin, das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Person von Herbert, der Deutsche Akademische Austauschdienst, das Auswärtige Amt, das Deutsche Studienwerk für Ausländer sowie die Schweizer Historiker Richard Feller und Anton Lagiadèr. Thematisiert werden die Lage der Schweizer Mediävistik, die Propaganda der „Feindmächte“ in dem neutralen Land, Absichten zur Errichtung einer ständigen Stelle eines Schweizer Mitarbeiters beim Reichsinstitut (mit Einladung der Stipendiaten Adolf Reinle und Eugen Bürgisser) und insgesamt der Versuch, eine Einflussnahme auf die Schweizer Geschichtswissenschaft zu erreichen. Faszikel B 577 enthält Materialien zu einer weiteren Vortragsreise von Mayer nach Rumänien und Briefwechsel mit rumänischen Wissenschaftlern wie z.B. Alexandru Marcu.
- Geschichtspolitik im Sinne der NS-Ideologie in besetzten Gebieten offenbaren Akten von 1939 bis 1941 in Faszikel B 556 zur von Stengel geplanten Edition der deutschen Überarbeitung der alttschechischen Chronik des sogenannten „Dalimil“. Die Aufnahme auch der tschechischen Fassung in die MGH wird dabei angesichts der politischen Umstände nach der Eingliederung des Sudetenlandes und der Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ als ‚nationale Pflicht‘ angesehen. Die Korrespondenzpartner Stengels sind der Volkstumsforscher Bruno Schier, die Slawisten Ferdinand Liewehr und Max Vasmer, der Historiker Wilhelm Wostry sowie die Gruppe Unterricht und Kultus beim Reichsprotektor in Böhmen und Mähren. Der Editionsauftrag wurde an Liewehrs Schüler Karl Rösler übertragen. Die politische Brisanz des Projekts wird in den Bedenken des Reichsprotekorats, die Berücksichtigung des tschechischen Texts könne bei den Deustcehn Ärger erregen, deutlich. In Faszikel B 557 befinden sich Korrespondenzen von 1941 bis 1942 zur ebenfalls von Stengel beabsichtigten Herausgabe der Miniaturen des „Brünner Schöffenbuchs“ mit rechtsikonographischen Ausführungen der österreichischen Historikerin Gertrud Schubart-Fikentscher. Stengel warb bei Adolf Hitler persönlich um finanzielle Unterstützung in Hinblick auf die Werbewirkung des Werks für ‚deutsches Wesen‘ in Böhmen.
Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4036