Wohl kein Datum in der jüngeren Geschichte Europas zeitigte größere und gravierendere Auswirkungen auf die Geschicke des Kontinents als der 28. Juni 1914. Das Attentat von Sarajevo, die Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares durch einen serbischen Nationalisten, sollte die politischen, die militärischen, die sozialen und kulturellen Koordinaten der sogenannten „Alten Welt“ für immer verschieben. Tatsächlich mündete der 28. Juni 1914 in ein „Katastrophenzeitalter“ (Eric Hobsbawm).
Nur anderthalb Monate nach den Schüssen in der bosnischen Hauptstadt gingen – der britische Außenminister Grey hatte dies mit eben jenen Worten bereits am 3. August 1914 prophezeit – im wahrsten Sinne die Lichter in Europa aus: Ein Kontinent, in dem mit Ausnahme einiger Balkankriege im Gefolge des Niedergangs des Osmanischen Reiches mehr als vierzig Jahre Frieden geherrscht hatte, versank in einem vierjährigen Völkermorden, das sich bis heute ins kollektive Gedächtnis der daran beteiligten Nationen eingebrannt hat: Die grauenhaften Materialschlachten in Flandern; das fast einjährige Blutvergießen bei Verdun; der furchtbare Feldzug der deutschen Armee in Rumänien; die Zustände an der Front in Russland, die zu einem Bürgerkrieg führten, der seinerseits jegliche Vorstellung übersteigen sollte, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind; die sinnlosen Waffengänge in den Hochalpen; Gallipoli an den Dardanellen; schließlich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit an den Armeniern, als Jungtürken unter Führung des Pascha-Clans einen der schlimmsten Völkermorde des noch jungen 20. Jahrhunderts begingen. Was zwischen dem Sommer 1914 und dem Herbst 1918 geschah, bildet für viele – nicht nur europäische – Völker bis heute einen zentralen Bestandteil ihrer nationalen Narrative.
Eingang in das kollektive Erinnern konnten die Schrecken des Ersten Weltkrieges allerdings nur deshalb finden, weil sich seit nunmehr fast einhundert Jahren Wissenschaft und Kunst an der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts (George F. Kennan) abarbeiten. Zunächst wäre die historische Zunft zu nennen. Die Schüsse von Sarajewo hatten nicht zuletzt eine Blüte der Geschichtswissenschaft zur Folge: Zunächst auf die Frage der Kriegsschuld fokussierend, ging es ab den 1960er Jahren um die strukturellen und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen des Krieges und schließlich, bevor die letzten Zeitzeugen starben, um ein authentisches Bild von den Schlächtereien an den Front.
Doch nicht nur Historiker trugen auf ihre Weise zu einem wahrheits- und wirklichkeitsgetreuen Erinnern an die Grauen des großen Krieges bei. Auch die bildenden Künste, die Literatur, der Film müssen genannt werden. Wer kennt nicht die Bilder von Otto Dix, wer nicht Remarques „Im Westen nichts Neues“, wer nicht Papsts „Westfront 1918“ oder Stanley Kubricks „Wege zum Ruhm“? – Meisterwerke, die eine verklärende und ästhetisierende Sicht auf den Ersten Weltkrieg nahezu unmöglich machten.
Entstanden ist das Bild, das unsere Vorstellung vom Weltkrieg prägt, allerdings erst aus der Rückschau. Im Falle der Geschichtswissenschaft, die stets dreißig bis vierzig Jahre benötigt, um zu aussagekräftigen Urteilen zu gelangen, ist dies zu erwähnen, gewiss müßig. Doch auch die großen Kunstwerke, die das Völkermorden thematisierten, sind keineswegs „zeitnah“ entstanden. Remarque brachte jenen Roman, der ihm zu bleibendem Ruhm verhalf, erst Ende der 1920er Jahre auf den Markt, und ebenso benötigten wirklichkeitsgetreue Aufarbeitungen des Krieges durch den Spielfilm mehr als zehn Jahre, um ihren Weg in die Lichtspielhäuser zu finden.
In der Tat, würde man sich zur Rekonstruktion der Ereignisse zwischen 1914 und 1918 lediglich auf öffentlich zugängliches Material aus jenen Jahren stützen – von Langemarck, Verdun, der Somme, Tolmein oder Gallipoli würden wohl gänzlich andere Bilder entstehen. Nichts würde man wissen von Massensterben, nichts von grausamsten Verletzungen. Nichts wäre bekannt von den Niederlagen des eigenen Heeres, nichts von den Zurücknahmen der Front, nichts schließlich von den Übergriffen und Massakern, die an der gegnerischen Zivilbevölkerung begangen wurden. Es war die Art und Weise der Frontberichterstattung, die seit dem Sommer 1914 üblich war, die drei Jahre später den US-amerikanischen Politiker Hiram Johnson zu seinem berühmten Ausspruch veranlasste, dass die „Wahrheit“ immer das „erste Opfer des Krieges sei.
Doch auch wenn die Taktiken der Verschleierung, Beschönigung und Leugnung kennzeichnend für die Presse aller kriegführenden Nationen waren, so hatten darin Tageszeitungen, die innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches erschienen, eine ganz eigene Meisterschaft entwickelt.
Spätestens mit der Marne-Schlacht im September 1914 mussten Rückschläge an der Front der deutschen Bevölkerung als Siege verkauft werden. Irgendwie musste die „Heimatfront, jetzt, da der Krieg wohl länger dauern würde, bei Laune gehalten werden. So griff man zum Mittel des Beschweigens, auch zum Mittel der gezielten Desinformation.
Die Marne-Schlacht war ein Wendepunkt in der Kriegsberichterstattung. Nimmt man jedoch die Wochen davor etwas genauer in den Blick, so stellt man nur allzu rasch fest, dass auch bereits in jenen Tagen, in der die Siegesmeldungen von den Fronten noch der Wahrheit entsprochen haben dürften, nicht immer die unverblümte Wahrheit geschrieben wurde: Militärische Aktionen der französischen Armee fanden fast ausschließlich als Gräuelpropaganda Eingang in die Schlagzeilen, der Bruch der belgischen Neutralität beim Vormarsch der deutschen Armee nach Nordfrankreich wurde nicht in seiner völkerrechtswidrigen Dimension geschildet.
Das Neuburger Anzeigeblatt im Sommer 1914
Keineswegs abseits vom journalistischen Mainstream bewegte sich das wichtigste Organ veröffentlichter Meinung in Neuburg. Auch das Anzeigeblatt beteiligte sich nach Kräften an Propaganda, Kriegshetze und Desinformation. Freilich: was hätte man von der wichtigsten Tageszeitung in der Region anderes erwarten sollen? Als Hauspostille Martin Loibls, der beim 15. Königlich-Bayerischen Infanterie-Regiment zum Berufsoffizier ausgebildet worden war und der nie die geringsten Berührungsängste gegenüber dem überbordenden Militarismus der späten Kaiserzeit zeigte, war der Weg des Anzeigeblattes in Richtung Kriegsbegeisterung vorgezeichnet: Die Zeitung stand rechts vom politischen Katholizismus. In diesem Sinne war sie sicherlich prädestiniert für geschönte Berichterstattung, Hurra-Patriotismus und dümmliche Kriegslyrik minderbegabter Dichter.
Daneben gab es im Anzeigeblatt aber auch eine Form der Berichterstattung, die man dort nicht zwangsläufig vermuten würde, eine Berichterstattung, die der zu vermutenden Propaganda geradezu entgegengesetzt war und die sich von der Begeisterung der ersten Kriegswochen zweifellos abgrenzen lässt.
Der Aufmarsch des deutschen Heeres im Westen, der Durchmarsch durch Belgien, schließlich das Scheitern in Nordfrankreich dauerten mehr als einen Monat. Ebenso lange aber nahm auch der Vorlauf des Krieges in Anspruch: Von den tödlichen Schüssen auf das österreichische Thronfolgerpaar, über den berüchtigten „Blankoscheck“ der deutschen Führung und das Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien, bis hin zu den Kriegserklärungen Anfang August, vergingen fast fünf Wochen. In jenem „langen Juli“ waren die Berichte des Anzeigeblattes keineswegs von freudiger Erwartung auf einen in kulturpessimistischer Manier seit Jahren sehnlichst erwarteten Krieg geprägt. Eher war das Gegenteil der Fall: Loibls Zeitung verhielt sich abwartend, Formulierungen wurden abwägend und vorsichtig gewählt. Gegenüber dem deutschen Bündnispartner Österreich schließlich wurde schon fast eine neutrale Position eingenommen. Kriegsbegeisterung jedenfalls findet sich zunächst nicht.
Sarajewo
Zunächst das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin. Dazu erschien im Anzeigeblatt am Montag, den 29. Juni, also einen Tag nach dem Mord, eine einseitige „Sonderausgabe“. Bei Lektüre der Berichte, die aus Sarajewo, Wien und München eingingen, fällt das Fehlen jeglicher Schuldzuweisungen an mögliche Hintermänner des Anschlags auf. Zwar wird der Attentäter mit Namen genannt, auch dessen Nationalität wird nicht verschwiegen. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, die Mordaktion sei nationalistisch motiviert gewesen, von großserbischen Kreisen ausgegangen, ja vielleicht sogar von Vertretern der Regierung in Serbien gedeckt gewesen, soweit geht das Anzeigeblatt nicht. Vielmehr zeigt man sich erstaunt darüber, dass ausgerechnet in Bosnien ein derartiger Anschlag verübt wurde:
„Der bosnische Boden war seit Langem als politisch besonders unruhiges Gebiet bekannt, auf dem die Verschwörungen in reicher Zahl emporschossen, aber gerade in der letzten Zeit hatte man nichts dergleichen mehr gehört, sodaß das jetzige Attentat umso entsetzlicher wirkt.“
Kein Verweis auf die zahlreichen Warnungen von Seiten der Geheimdienste, die von einer Tour gerade durch den Balkan abrieten, keinerlei Andeutung, auf welch ein Himmelfahrtskommando sich das Thronfolgepaar tatsächlich eingelassen hatte.
Könnte dabei die relativ zurückhaltende Berichterstattung unmittelbar nach dem 28. Juni noch auf einen ersten Schock über die Ermordung eines künftigen Kaisers zurückgeführt werden, so reicht eine derartige Erklärung mit Blick auf die Darstellung der aus dem Attentat folgenden Ereignisse nicht mehr hin. Tatsächlich ist im Anzeigeblatt noch den gesamten Juli hinweg nichts von Kriegsbegeisterung zu vernehmen, auch nichts von jener später so oft beschworenen „Nibelungentreue“ gegenüber dem österreichisch-ungarischen Bündnispartner.
Der „Blankoscheck“
Im Grunde hatte das Attentat von Sarajewo der Habsburger Monarchie eine unerwartete und willkommene Gelegenheit eröffnet, gegen einen aufstrebenden Konkurrenten auf dem Balkan vorzugehen. Es war das kleine Königreich Serbien, seit 1878 unabhängig, das sich anschickte, im geographischen Großraum des späteren Jugoslawien Vormacht aller Südslawen zu werden. In Serbien agierten extrem nationalistische Kräfte, die bestrebt waren, ihren Einfluss zunächst auf Bosnien-Herzegowina ausdehnen, das 1908 von Österreich-Ungarn aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches übernommen worden war. Schon unmittelbar nach den Ereignissen vom 28. Juni deutete nicht wenig darauf hin, dass auch der Mörder der österreichischen Thronfolger jenen großserbischen Kreisen entstammte. Würde folglich der serbische Trumpf ausgespielt, so glaubte man in Wien, so wäre ein probater Vorwand gegeben, um das unruhige Land im Süden militärisch in die Schranken weisen zu können. Das Problem bestand nur darin, dass hinter dem kleinen Serbien das riesige und mächtige Russland stand. Sollte also Österreich und dem Vorwand, Genugtuung für die Ermordung Franz Ferdinands und seiner Gattin zu fordern, nach Serbien einmarschieren, so würde wohl unweigerlich eine russische Kriegserklärung an die Adresse Wiens die Folge sein.
In dieser Situation beging nun die Außenpolitik des Deutschen Reiches ein diplomatisches Missgeschick sondergleichen. Anstatt auf den Bündnispartner mäßigend einzuwirken, sicherte Wilhelm II. die volle Unterstützung Deutschlands zu. Mehr noch: Der Kaiser bestärkte den Botschafter des Nachbarreiches noch darin, vollendete Tatsachen auf dem Balkan zu schaffen, sei Russland doch derzeit nicht hinreichend gerüstet und deshalb militärisch leicht zu besiegen. Aus dem Bericht des österreichischen Botschafters Berchthold an seinen Außenminister:
„(…) wenn wir aber wirklich die Notwendigkeit einer kriegerischen Aktion gegen Serbien erkannt hätten, so würde er [Kaiser Wilhelm] es bedauern, wenn wir den jetzigen für uns so günstigen Moment unbenutzt ließen.“
Wie schlug sich diese als „Blankoscheck“ in die Geschichte eingegangene Zusicherung des deutschen Kaisers in der Berichterstattung des Neuburger Anzeigeblattes nieder? Zunächst gar nicht. Vielmehr dauerte es fast eine Woche, bis zum 11. Juli, bis die Garantie uneingeschränkter Bündnistreue in Loibls Blatt zu finden war. Dann jedoch nicht als Aufmacher, sondern versteckt auf der zweiten Seite. Auf der Titelseite ging es um Zwangsversteigerungen in der Landwirtschaft, um den Spionageprozess gegen einen Kunstmaler und um die Reichsfinanzen. Es folgten die Rubriken „Aus Neuburg und Umgebung“ und „Vermischte Nachrichten“. Schließlich wurde kurz vor dem Ende des eigentlichen Nachrichtenteils auf die neueste Entwicklung im Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich Bezug genommen.
Überhaupt scheint man sich in der Redaktion des Anzeigeblattes, was die Bündnisverpflichtungen gegenüber Österreich anbelangte, Illusionen hingegeben zu haben. Bis Ende Juli 1914 werden die Aktionen der Habsburger Außenpolitik eher distanziert wahrgenommen, ist Loibls Organ um eine ausgewogene und neutrale Sichtweise auf den sich abzeichnenden österreichisch-serbischen Konflikt bemüht. Zwar werden durchaus die Mordexzesse, die die Geschichte des serbischen Königshauses durchziehen, betont. Gleichwohl aber werden ebenso die Gräueltaten, die an der serbischen Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina nach dem 28. Juni begangen wurden, nicht verschwiegen. In der Ausgabe vom 4. Juli 1914 etwa findet sich unter der Überschrift „Die Serbenverfolgung in Österreich“ folgender Bericht:
„Die (…) aus Mostar einlaufenden Nachrichten bekunden, daß beinahe alle Häuser, welche Eigentum von Serben waren, niedergebrannt und daß zahlreiche Serben getötet worden seien. Viele andere Ortschaften der Herzegowina und Bosniens seien heimgesucht worden. Die Lage der serbischen Bevölkerung soll sehr kritisch sein.“
Selbst als der Krieg auf dem Balkan bereits im Gange ist und die Bündnisfälle beginnen einzutreten, wird dies im Anzeigeblatt noch in einer Art und Weise geschildert, als ginge es das Deutsche Reich im Grunde nichts an. So erschien am 1. August 1914 im Anzeigeblatt ein Leitartikel, der den Eindruck erweckte, als handele es sich bei den kriegerischen Verwicklungen auf dem Balkan lediglich um einen kleinen, räumlich begrenzbaren Konflikt zwischen einer im Abstieg befindlichen Groß- und einer aufstrebenden Regionalmacht:
„Noch vor der am Montag nachmittag erfolgten Kriegserklärung hatten an der Donau die Feindseligkeiten begonnen, wenn es sich auch nur um belanglose Plänkeleien gehandelt hat. (…) So ganz einfach wird sich der Krieg für die Oesterreicher kaum gestalten, denn man hat mit mehreren Operationslinien zu rechnen. (…) Die Serben konzentrieren sich allem Anscheine nach bei Kragujewatz, nachdem sie Belgrad geräumt haben. Das geschah deshalb, weil die Festungswerke noch aus der türkischen Zeit stammen und von den modernen Geschützen in wenigen Stunden in Grund und Boden geschossen sind. Die Serben sind zwar bedeutend in der Minderzahl, aber die Beschaffenheit des Geländes kommt ihnen sehr zu statten, und man wird daher vorwiegend mit einem Kleinkrieg rechnen müssen (…).“
Nationalistische Wende
Eines der wohl besten Beispiele für die Zurückhaltung, die das Anzeigeblatt bei Kriegsbeginn an den Tag legte, findet sich in der Ausgabe vom 4. August 1914, der Tag, an dem die Kriegserklärung Deutschlands an Russland vermeldet wird:
„Die folgenschwere Entscheidung ist nun gefallen; in dem Sinne, wie es nach dem Verlauf der letzten Tage bereits (…) befürchtet werden musste: Deutschland macht mobil.“
Und weiter:
„In München wurde die Kunde von der schicksalsschweren Entscheidung abends 7 Uhr bekannt und von der Bevölkerung in würdiger Haltung aufgenommen. Zahlreiche Soldaten in der feldgrauen Uniform belebten das Straßenbild. Infolge des Eintritts kriegerischer Ereignisse hat der Bayerische Landtag am Sonntag seine Session geschlossen. Die Reichsratskammer hielt um 8 Uhr, die Abgeordnetenkammer um 10 Uhr ihre Schlußsitzung ab. Die Abgeordneten traten sofort die Heimreise an, da von Montag ab auf eine sichere Beförderung wohl nicht gerechnet werden kann.“
„Folgenschwere Entscheidung“, „schicksalsschwere Entscheidung“, „Eintritt kriegerischer Ereignisse“ – Begeisterung liest sich anders. Diese Gefasstheit behält das Anzeigeblatt dann auch noch in den beiden darauffolgenden Tagen bei. Am Mittwoch, dem 5. August, ist die Titelseite überschrieben mit „Der Deutsch-Russische Krieg“ und der Leitartikel mit „Ein ernster Waffengang“, während am Donnerstag, dem 6. August, die entsprechenden Überschriften lauten: „Der bevorstehende Weltkrieg“ sowie „Die Thronrede des Kaisers“.
Ab dem 7. August aber hält in der Neuburger Presse ein anderer Ton Einzug – ein Umstand, der vor dem Hintergrund des damaligen Geschehens wohl auf den Kriegseintritt Großbritanniens zurückzuführen sein dürfte.
Der Plan des deutschen Generalstabes im Falle eines Zwei-Fronten-Krieges gegen Russland und Frankreich, meist als „Schlieffen-Plan“ bezeichnet, basierte auf folgender Überlegung: Zunächst sollte in einem Feldzug von nicht mehr als sechs Wochen Frankreich besiegt werden, worauf das Gros der deutschen Armee in den Osten zu verlagern gewesen wäre, um das russische Heer, von dem angenommen wurde, dass es erst anderthalb Monate nach einer Kriegerklärung einsatzbereit sei, in zwei oder drei großen Schlachten zu vernichten. In der Theorie setzte diese Strategie jedoch ein Vordringen des deutschen Heeres nach Frankreich nicht über Elsaß-Lothringen, sondern über Belgien voraus. In einer riesigen Umfassungsbewegung sollten die Armeen des Reiches das französische Heer zur Kapitulation zwingen.
Der „Schlieffen-Plan“ wies allerdings ein nicht zu unterschätzendes Problem auf: Belgien. Das Land war neutral. Marschierte das deutsche Heer durch Belgien in Richtung französische Hauptstadt, so musste dies als Bruch des Völkerrechts gewertet werden. Zwar mag die deutsche Militärführung darauf spekuliert haben, dass internationales Recht nicht würde eingeklagt werden. Mit einer weiteren Konsequenz jedoch rechnete sie nicht: mit dem Kriegseintritt Großbritanniens auf Seiten Frankreichs, der am 4. August erfolgte und der mit eben jenem Bruch der belgischen Neutralität begründet wurde.
Freilich, dass dies so kommen würde, damit war angesichts der Entwicklung der Bündnisverhältnisse seit Beginn des Jahrhunderts zu rechnen. In Berlin aber wurde dies geflissentlich verdrängt. Folglich kam aus deutscher Perspektive die Rolle des „Schurken“ Großbritannien zu. England, das „perfide Albion“, von dem man erwartete, sich herauszuhalten, wurde zu dem Schuldigen der Katastrophe erklärt.
Im Umkehrschluss bedeutete dies jedoch, dass auch der Grund für den Kriegseintritt des Empires klein geredet werden musste. Mit anderen Worten: das völkerrechtswidrige Vorgehen der deutschen Seite musste entweder ignoriert oder es musste gerechtfertigt werden – und damit beginnt in der Presse, auch im Neuburger Anzeigeblatt die Zeit der Verdrehungen und Unwahrheiten. Es beginnt die Zeit des Verschweigens.
Schon die Schlagzeile der Ausgabe vom 7. August 1914 deutete darauf hin, dass nun ein anderer journalistischer Wind wehen würde. Anstatt „Der große Krieg“ oder ähnliches zu titeln, prangte nun folgender „Aufmacher“ auf Seite eins: „Das Volk steht auf – der Sturm bricht los…“ Wirklich in sich aber hatte es an diesem Tag der Leitartikel. Darin wurde in indirekter Rede eine Ansprache des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg wiedergegeben, in dem exakt jene Mischung aus Unwahrheiten, Verdrehungen, Unterstellungen und Rechtfertigungen zu finden ist, wie sie für offizielle Verlautbarungen rasch typisch wurde:
„Dann schildert er [Bethmann-Hollweg] das Vorgehen Frankreichs, das trotz der Zusicherung einer zu respektierenden Zone von 10 Kilometern an der Grenze diese überschritten hat. Die Franzosen brachen einfach in Deutschland ein, ohne Erklärung des Kriegszustandes. (…) Wir sind jetzt in der Notwehr! Not kennt kein Gebot! Unsere Truppen haben Luxemburg besetzt und vielleicht auch schon belgisches Gebiet betreten müssen. Das widerspricht zwar dem Völkerrechte, aber wir wußten, dass die Franzosen trotz entgegenstehender Erklärungen zum Einfall über Belgien bereit sind. Das Unrecht, das wir jetzt machen müssen, werden wir wieder gut machen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist. Wer, wie wir kämpfen muß, darf nur daran denken, wie er sich durchhaut!“
Kriegsverbrechen
Wer diesen Bericht zu deuten wusste, dem war klar, wohin die lokale Presse steuern würde. Ab jetzt galt als Generallinie: Deutschland wurde in den Krieg gezwungen und müsse nun eben auch Dinge tun, die nicht durch internationales Recht gedeckt seien. Bestes Beispiel für die Schieflage, in die der Journalismus wenige Tage nach Ausbruch des Krieges geriet, ist die Art und Weise, wie über die Zerstörung der belgischen Stadt Löwen berichtet wurde.
Ende August 1914 wurden in Löwen, nachdem unter den deutschen Besatzern Befürchtungen laut geworden waren, in der Stadt befänden belgische Freischärler, knapp 250 Bewohner ermordet, weitere 1500 Bürger interniert und mehr als 1000 Häuser in Brand gesteckt – darunter die Universitätsbibliothek, wobei ein unermesslicher Schatz an mittelalterlichen Büchern und Inkunabeln zerstört wurde. Löwen war eines der ersten Verbrechen, das von deutschen Besatzern im Ersten Weltkrieg begangen wurde. Im Neuburger Anzeigeblatt aber liest sich dies in der Ausgabe vom 30. August 1914 folgendermaßen:
„Bei dem Ausfall der 4 belgischen Divisionen aus Antwerpen überfielen alle Einwohner der Stadt Löwen die deutschen Kolonnen. Diesen organisierten Überfall hat die Stadt mit aller Schwere gebüßt. (…) Da sofort in schärfster Form Strafe erfolgte, so dürfte heute die an großen Schätzen reiche Universitätsstadt nicht mehr existieren.“
Ein gängiges Mittel der Presse, Gräueltaten und Übergriffe auf die Zivilbevölkerung der Nachbarländer zu rechtfertigen, war der Abdruck von Feldpostbriefen. Konnte der Heimatfront dadurch doch auf sehr eindringliche Weise die Notwendigkeit einer rücksichtslosen Kriegsführung nahe gebracht werden. Wenn schon die eigenen Kinder davon berichten, wie hinterhältig der Feind ist, wer möchte dann noch an den Verlautbarungen der militärischen Führung zweifeln. Aus der Vielzahl an Schreiben von der Front, die in der Neuburger Lokalpresse veröffentlicht wurden, sei im Folgenden aus einem Brief zitiert, der dem Anzeigeblatt etwa Mitte August 1914 zuging. Der Brief stellt ein eindringliches Dokument dar, wie brutalisiert, wie verroht der einfache Soldat schon nach wenigen Tagen Fronteinsatz war:
„Lieber Schwager! Teile Euch mit, daß ich noch immer gesund bin. Wir sind einige Tage in Frankreich. Am Sonntag sind wir weiter vormarschiert und es kam zu einem kleinen Gefecht. Doch der Feind zog sich gleich zurück (…) Bei uns gab es nur ein paar Tote und einige Verwundete. Der Krieg hat begonnen und schon überall zeigt sich die Verwüstung. Die Artillerie hat schon einige Ortschaften in Brand geschossen und auch von uns sind einige Häuser angezündet worden, weil von der Zivilbevölkerung auf unsere Truppen geschossen wurde. Wir haben dann Biwak bezogen neben der brennenden Ortschaft. Es ist ganz schaurig, wenn alles brennt ringsum (…). Zu essen gibt es genug. Denn in der Ortschaft wird einfach Vieh geholt und geschlachtet.“
Die Marneschlacht
Ein großes Problem, das die Presse in Deutschland nach einigen Wochen Krieg zu bewältigen hatte, bestand darin, das Ende des Vormarsches in Frankreich so zu schildern, als ob die Offensive noch in Gang wäre.
Gut einen Monat lang war in den Zeitungen Siegeszuversicht verbreitet worden. Von welch einem Triumph war die Rede! Alles schien noch schneller als 1870/71 zu gehen. Offenkundig vollzog sich der Vormarsch der Deutschen in Windeseile, eine vernichtende Niederlage der französischen Armee schien sich abzuzeichnen. Plötzlich aber, nach dem 5. September titelte das Anzeigeblatt nüchterner, fiel der Begriff „Sieg“ seltener. Stattdessen lauteten die Schlagzeilen in neun aufeinanderfolgenden Ausgaben: „Vom Kriegsschauplatz“. Ab dem 18. September schließlich wurde dann ganz lapidar getitelt: „Der Krieg“. Zwar verströmten die Berichte nach wie vor Siegeszuversicht, im Gegensatz aber zu dem, was bis in die ersten Septembertage zu lesen war, nahm sich das konservative Organ jetzt merklich zurück.
Was war geschehen? Vom 5. bis 12. September war die Marne-Schlacht in Gang: Das deutsche Heer hatte mit seiner ausgreifenden Zangenbewegung die Front erheblich überdehnt und war in den Flanken angreifbar geworden. Dies wiederum nutzte die französisch-englische Seite für wirkungsvolle Gegenstöße, bis sich schließlich am 9. September die deutsche Militärführung für eine Zurücknahme der Front entschied. Die Front im Westen kam zum Stehen, die Soldaten beider Seiten gruben sich ein und gingen in jenen Stellungskrieg über, der das kollektive Erinnern an den Ersten Weltkrieg in Großbritannien, Frankreich und Deutschland bis heute prägt.
Wie aber wurde die herbe Niederlage dem einfachen Volk beigebracht? Der deutsche Generalstab griff zu jener Methode, die er bis zum Ende des Krieges beibehalten sollte – er verschwieg die Wahrheit. Am 13. September gab die Oberste Heeresleitung lediglich Folgendes zur Lage in Frankreich bekannt:
„Auf dem westlichen Kriegsschauplatz haben die Operationen (…) zu einer neuen Schlacht geführt, die günstig steht. Die vom Feinde mit allen Mitteln verbreiteten für uns ungünstigen Nachrichten sind falsch.“
Damit war auch die Linie für die Presse vorgegeben, wie sie sich angesichts des Desasters an der Marne verhalten sollte. Sie hatte zu leugnen, zu beschwichtigen, schönzureden – auch in der Provinz, in Neuburg. Am 17. September 1914, fünf Tage, nachdem die Niederlage des deutschen Heeres offensichtlich war, schrieb das Anzeigeblatt:
„Siegesnachrichten wurden in Paris und Bordeaux verbreitet, weil der rechte Flügel der Deutschen nach einem blutigen Erfolge über die Franzosen aus strategischen Gründen sich zurückzog (…) Im Maulheldentum haben sich die Engländer und Franzosen bisher immer ausgezeichnet. Nach den neuesten Depeschen ist ein allgemeiner Kampf von Paris bis Verdun entbrannt (…). Die letzte amtliche Mitteilung meldet von Teilerfolgen, wollen wir hoffen, daß diesen der vernichtende Schlag folgt und die letzte französische Hauptarmee unter der Wucht des deutschen Anpralles zusammenbricht.“
Wahrheiten
Dass es nichts mit einem schnellen Sieg werden würde, somit auch das zwangsläufige Grauen eines modern geführten Krieges keine kurze Episode darstellen würde – dies war bei aller Verschleierungstaktik mit den Händen zu greifen. Nachrichten, die auf die besagten militärischen Probleme im Westen hindeuteten, drangen auch nach Neuburg durch – in Form sogenannter „Verlustlisten“. Listen, die etwa das in Neuburg stationierte 15. Königlich-Bayerische Infanterie-Regiment betrafen.
Allein eine dieser Listen, für nur eine Kompanie der „Fünfzehner“, veröffentlicht am 22. September 1914, wies zehn Tote, zwölf Vermisste und knapp dreißig Schwerverwundete auf, wobei die Vermissten den Toten zuzuschlagen waren. Freilich scheinen mitunter auch diese Verlustlisten geschönt worden zu sein, beispielsweise wenn ein Kopfschuss als leichte Verletzung deklariert wurde. Die Zahl an Toten und Verwundeten aber, die in die Heimat gemeldet wurden, dürfte durchaus geeignet gewesen sein, den Zurückgebliebenen in Unruhe zu versetzen.
Kriegslyrik
Massensterben, grauenhafte Verletzungen und Verstümmelungen würden zum Alltag werden – so viel stand fest. Dies aber vor der Heimatfront zu rechtfertigen, dafür bedurfte es diverser Strategien. Wie sahen diese aus?
Neben der Beschwörung des Opfers für das Vaterland, dürfte das gängigste Mittel, die Grauen des Krieges zu verschleiern, die Beschönigung, die Verklärung, die Ästhetisierung des Todes gewesen sein. Bekannt sind Ansichtskarten, auf welchen gefallene Soldaten von Engeln ins Jenseits geleitet werden. Die Körper der Toten sind unversehrt, sind rein. Nicht der geringste Hinweis auf die Realität an der Front.
Eine zweite künstlerische Möglichkeit, die Schrecken an der Front ästhetisch zu überhöhen, bot das Gedicht – ein Angebot, auf das nicht zuletzt das Neuburger Anzeigeblatt gerne zurückgriff. Zwei Beispiele seien zitiert. Das erste Gedicht erschien im am 10. September 1914, auf den Höhepunkt der Marne-Schlacht. Es trägt den Titel:
„Auf ferner Wacht“:
„Sanft sinkt die Nacht mit Dämmergruß,
Still wandeln ihre Schatten.
Die Sonne drückt mit letztem Kuß
Die weiten grünen Matten.
Ein Bächlein nur
In weiter Flur
Fließt ruhig in die Ferne.
Und von dem hohen Himmelszelt
Grüßt still das Gold der Sterne.
Ich stehe fern auf treuer Wacht
Von Kummer frei, von Sorgen;
Und doch, im Schirm der dunklen Nacht
Liegt Mord und Tod verborgen.
Die feste Hand
Dem Vaterland,
Dem deutschen Land ich weihe.
Für König, Recht und deutsches Gut
Schwör‘ ich die höchste Treue.
Und sucht der Tod sich meine Brust,
Wohlan, ich folg‘ mit Freuden.
Nur Treue bin ich mir bewußt
Den Heldentod zu leiden.
Nur eine Blum
Ziert meinen Ruhm
Im kühlen Gras am Boden.
Die Weide hängt den langen Zweig
Herab zu stillen Toten.“
Das zweite Beispiel, veröffentlicht am 22. September 1914 – Titel: „Des Freundes Tod“:
„Heiß brannte der Kampf und der Sieg war schwer;
Wild tobten die Kugeln vom feindlichen Heer;
Sie weckten in uns heiße Schlachtenlust;
Da traf das Blei den Freund in die Brust
Und dieser fiel nieder in den blutigen Sand.
Ich gab ihm zum letzten Male die Hand.
Er sprach: ‚Wenn du kehrst zur Geliebten heim,
So sage, sie möge nicht traurig sein.‘
Ich bin ja gestorben für Deutschlands Ehr‘.
Ich habe gekämpft zu seiner Wehr‘.
Leb wohl Kamerad du teurer du!‘
Dann schloß der Krieger die Augen zu.
Und der Tod zerschnitt das Lebensband;
Des Freundes Stimme ward leiser.
Er sprach noch: ‚ Hoch lebe das Vaterland!‘
Er stöhnte: ‚Es lebe der Kaiser.‘
Der Horizont färbte sich blutigrot.
Der treue Freund war tot.“
Resümee
„Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit“ – womöglich ist der berühmte Ausspruch Hiram Johnsons nichts anderes als eine Binsenweisheit. In diesem Sinne war es nicht die Absicht des Beitrages, das Neuburger Anzeigeblatt in besonderer Weise an den Pranger zu stellen. Verdrehungen, Lügen sowie Blut-und-Boden-Patriotismus waren kennzeichnend für die gesamte Presse in Deutschland während des Ersten Weltkrieges – und nicht nur in Deutschland. Es sollte lediglich illustriert werden, dass selbst ein Organ, dessen eigentliches Metier die Lokalberichterstattung war, sich nach Kräften an der Heranbildung eines völkisch ausgerichteten Deutschland beteiligte. Gleichwohl bleibt es beschämend, auf welchen Weg sich die Presse im Sommer 1914 begab – vor allem vor dem Hintergrund, dass dieser Weg keineswegs unausweichlich war, auch nicht für eine konservative Tageszeitung vom Schlage des Neuburger Anzeigeblattes.
Quelle: http://neuburg.hypotheses.org/105