Nadja Boufeljah aus unserer Redaktion hat für die aktuelle Ausgabe zum Thema „Emotionen: Wie sozial sind unsere Gefühle?“ ein Interview mit Prof. Dr. Udo Thiedeke zur Soziologie der Liebe geführt. Was bedeutet es, wenn man liebt? Wie kommt es zu … Continue reading
Neue Perspektiven auf (anti-)koloniale Gewalt in Mythen, Erinnerung und Praxis. Claire Mauss-Copeaux analysiert einen zentralen Wendepunkt des algerischen Unabhängigkeitskriegs (1954-1962)
Rezension zu: Claire Mauss-Copeaux, Algérie 20 août 1955. Insurrection, répression, massacres. Paris 2011.
Wie kaum ein anderes Thema der Zeitgeschichte sorgt der zwischen 1954 und 1962 um die Unabhängigkeit Algeriens geführte Krieg bis heute in Frankreich immer wieder für breite und oftmals hoch emotional geführte Debatten. Seit der algerischen Unabhängigkeit 1962 schlugen die miteinander in Konflikt stehenden Erinnerungen und Deutungen der beteiligten Akteure bzw. ihrer (zum Teil selbsternannten) Repräsentanten immer wieder hohe Wogen, die u.a. als »Krieg der Erinnerungen« bezeichnet wurden. Obgleich die algerischen Aufstände vom 20. August 1955 seit jeher Gegenstand intensiver Kontroversen waren und als eines der Schlüsselereignisse dieses Krieges gelten, hat es – anders als etwa im Fall des Putschs vom 13. Mai 1958 – vergleichsweise lange gedauert, bis eine Monographie sich dieses Ereignisses und seiner unmittelbaren Folgen annahm. Claire Mauss-Copeaux hat diese Lücke gefüllt, und um es vorwegzunehmen: Das Ergebnis, zu dem sie, aufbauend auf einem umfangreichen Fundus algerischer und französischer Archivalien und Zeitzeugenberichte kommt, ist in mehrfacher Hinsicht beeindruckend und als solches nicht nur Spezialisten französischer Kolonialgeschichte als besonders lesenswert zu empfehlen.
Zum historischen Kontext: Weniger als ein Jahr nach dem Beginn der algerischen Rebellion am 1. November 1954 war die Befreiungsfront Front de Libération Nationale (F.L.N.) bereits massiv angeschlagen. Seit Beginn des Jahres 1955 hatte die französische Armee dank ihrer ebenso technischen wie zahlenmäßigen Überlegenheit und ausgestattet mit weitreichenden Vollmachten der Regierung in Paris zahlreiche führende Aktivisten verhaftet oder getötet. Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Zweigen der Organisation war entweder gestört oder unterbrochen. In dieser Situation entschied sich der für die Region um Constantine (Le Constantinois) Verantwortliche des F.L.N. Zighoud Youcef dafür, einen breiten Aufstand zu organisieren, der am zweiten Jahrestag der französischen Absetzung des marokkanischen Königs mit großer Unterstützung der lokalen algerischen Bevölkerung in mehreren Orten des Constantinois stattfand. Ziel war es, das symbolträchtige Datum zu nutzen, um durch Angriffe auf Institutionen des kolonialen Systems internationale Aufmerksamkeit zu erregen und die allgemeine Mobilisierung für den F.L.N. voranzutreiben (84-89). Die Bilanz der Toten an diesem Tag betrug 123. Damals und bis in die jüngste Vergangenheit wurden insbesondere die angeblich in Form von Massakern umgekommenen 71 Toten europäischer Herkunft vielfach als Rechtfertigung für die anschließenden »Vergeltungsmaßnahmen« gegenüber der algerischen Bevölkerung in der gesamten Region angeführt (123-125).
In ihrem ersten Teil macht Mauss-Copeaux die zentrale Rolle der Gewalt für die Existenz und die Stabilisierung des kolonialen Staates in Algerien deutlich. Sie stellt fest, dass in über hundert Jahren kolonialer Unterdrückung Gewalt nicht das einzige Kommunikations- und Herrschaftsmedium der Franzosen in Algerien war. Ungeachtet dessen diente Gewalt während der gesamten französischen Besatzung in jedem Fall offener Revolte oder Infragestellung der kolonialen Hierarchie als letztes Mittel zum Erhalt des status quo (14). So wird verständlich, dass es in Algerien nach den ersten vereinzelten Anschlägen, die auf den 1. November 1954 folgten, nicht erst der massiven Aufstände des 20. August 1955 bedurfte, um das gesamte Land in einen Kriegszustand zu versetzen. Dafür hatten bereits zuvor die Anweisungen der Armeeführung (vor allem das seit dem 1. Juli 1955 auf ganz Algerien angewendete Prinzip der »kollektiven Verantwortung«) wie auch die Einsatzpraxis von Berufssoldaten und Wehrdienstleistenden gesorgt (Erschießungen von Gefangenen bzw. Verdächtigen z.T. mit anschließender öffentlicher Zurschaustellung der Leichen, Vergewaltigungen und Folter) (61-63).
Die Teile zwei und drei des Buchs rekonstruieren die Aufstände in den verschiedenen Orten des Constantinois. Besonders eingehend werden El Alia und Aïn Abid untersucht, da dort die meisten Zivilisten ums Leben kamen, wobei insbesondere die Angriffe auf private Häuser und die Morde an Frauen und Kindern das französische Entsetzen erregten. In der damaligen kolonialen Propaganda und zum Teil bis heute fungieren diese Morde als »massacre de réference« und Ausweis einer unmenschlichen Tyrannei des F.L.N. mit dem sich jede Form der Vergeltung rechtfertigen ließ (123).
Vor allem auf der Grundlage lokaler Quellen und den Berichten algerischer und europäischer Zeitzeugen gelingt es Mauss-Copeaux, eine neue Lesart des 20. August zu begründen. So gesteht sie zwar bei mindestens 42 der Morde den Tatbestand eines Massakers zu (126), entlarvt jedoch kursierende Horrorszenarien wie einen Mord mit einer Gabel und das Herausreißen eines Fötus aus dem Bauch einer Schwangeren als Gerüchte (158-159). Bezüglich der Verantwortung des F.L.N. für die Morde an europäischen Zivilisten gibt sich die Autorin skeptisch. Sie verweist darauf, dass der F.L.N. zumindest bis zu diesem Datum Angriffe auf europäische Zivilisten explizit verbot und es im Fall eines Schießbefehls auf Zivilisten an allen Orten des Aufstands zu Massakern hätte kommen müssen – nicht nur in El Alia und Aïn Abid. (91-93). Ohne den Anspruch zu erheben, eine vollständige Erklärung dieses »Rätsels« (134) liefern zu können, führt die Autorin die These an, dass die von Algeriern begangenen Massaker auf intensive lokale Spannungen zurückzuführen seien, die zwischen Algeriern und Europäern allgemein bestanden hätten, aber auch zwischen direkt involvierten Einzelpersonen. Hinzu seien situative Dynamiken gekommen, wie eine kurz zuvor erfolgte Denunziationen gegenüber den Kolonialbehörden, die Erschießung eines Algeriers durch einen Europäer auf offener Straße und der Umstand, dass die Häuser der europäischen Opfer unmittelbar neben den ursprünglich anvisierten Gebäuden lagen, die den kolonialen Staat repräsentierten. Auf der Basis dieser Argumentation erscheint es tatsächlich naheliegend, dass der Aufstand auf lokaler Ebene als Gelegenheit für individuelle Racheakte genutzt wurde (144).
Bis heute haben mehrere Überblickswerke französischer Historiker über den Algerienkrieg viele (zu einem großen Teil erfundene) Details der Morde an europäischen Zivilisten im Constantinois aufgeführt und die anschließenden Repressalien der Armee nur kursorisch behandelt. Ohne sie zu verschweigen, wurde der »Tod« von schätzungsweise 12 000 Algeriern oftmals vereinfacht als Konsequenz der vorherigen »Massaker« eingeordnet und damit abgehandelt (177-180). In dem vierten Teil ihrer Monographie zeigt Claire Mauss-Copeaux eindrucksvoll, dass auch diese Lesart revidiert oder zumindest ergänzt werden muss: Erst am 28. August 1955 wurde der eine Woche zuvor erteilte Befehl an die französischen Soldaten eine »schnelle und brutale Wiederherstellung der Ordnung« durchzuführen, dahingehend präzisiert, dass das Leben von Frauen und Kindern zu schonen sei (184-185). Bis dahin warfen Flugzeuge der französischen Armee über mehreren Dörfern des Constantinois Bomben und Napalm ab, Bodentruppen legten ganze Dörfer in Brand nachdem die Häuser zuvor von Panzerfahrzeugen unter schweren Beschuss genommen worden waren. Sogar ein Escorteur der Marine wurde eingesetzt, um das Umland der Küstenstadt Collo breitflächig zu bombardieren (190-192). Auf diese mehr oder weniger wahllos durchgeführten Aktionen kollektiver Bestrafung folgten planmäßige Verhaftungen und anschließende Massenerschießungen hunderter algerischer Männer und Jugendlicher, deren Leichen in Massengräbern verscharrt wurden. Angesichts der aktiven Verschleierung derartiger Verbrechen durch die französische Armee wird hier die Bedeutung des Zugangs der Oral History besonders deutlich: Nicht nur Archivmaterial und Fotos wurden systematisch zerstört (199). Auch die Körper der Hingerichteten sollten ausgelöscht werden. So wurden in Guelma nach einer Massenerschießung die Leichen algerischer »Verdächtiger« zur Unkenntlichmachung mehrfach von Kettenfahrzeugen überfahren und zerquetscht (220-225).
Dass die beschriebenen Exzesse des französischen Militärs vor allem Unbeteiligte treffen mussten und auch an Orten begangen wurden, an denen es keine Aufstände gegeben hatte, zeigt das ganze Ausmaß willkürlich eingesetzter Gewalt während des Kolonialkrieges. Entgegen einer bislang weit verbreiteten Interpretation sind die Aufstände des 20. August somit durchaus als Auslöser nicht aber als hinreichende Erklärung für die anschließenden Massaker zu verstehen. Deren systemischen Charakter macht nicht zuletzt der Umstand deutlich, dass die Regierung in Paris über das Vorgehen der Armee genauestens Bescheid wusste, aber weder eingriff noch Sanktionen verhängte (183-184). Claire Mauss-Copeaux hat hiermit ein für das differenzierte Verständnis des algerischen Unabhängigkeitskrieg essenzielles Werk vorgelegt. Dass die Autorin die Verwendung von Bezeichnungen der Gewalt durch die Akteure von damals und heute mehrfach diskutiert ohne jedoch selbst die Frage zu klären, was zum Beispiel unter »Massaker« verstanden werden soll, ist ihr in jedem Falle nachzusehen. Ihre durch Karten, Abbildungen und eine Vielzahl von Zitaten angereicherte Monographie hat nicht nur einen der entscheidenden Wendepunkte des algerischen Unabhängigkeitskrieges in ein neues Licht gerückt. Weit darüber hinaus werden auch Studien über koloniale Gewalt ebenso wie Oral History Projekte in diesem Buch Anknüpfungspunkte finden.
Bild: Buchcover, Editions Payot & Rivages,
Quelle: http://gewalt.hypotheses.org/659
Sport, Stadion, Stadt
Seit dem Zweitligaaufstieg der Lilien machen sich zweiwöchentlich über zehntausend Menschen auf dem Weg zum Böllenfalltor um zweiundzwanzig Menschen beim Bewegen eines Lederballes mit den Füßen zu beobachten. An solchen Spieltagen wird das Stadion ganz besonders sichtbar. Doch welchen Ort haben Stadien und Sportstätten in Städten in historischer Perspektive?
Dieser Frage ging der viele Jahre am Institut für Geschichte beschäftigte Historiker PD. Dr. Noyan Dinckal aus Paderborn in einem Vortrag im Rahmen des 29. Darmstädter Sport-Forums nach. Er betrachtete dabei die Entwicklung moderner Sportstätten zu Beginn des 20. Jahrhunderts und konstatierte zum einen, wie diese mit zunehmender Popularisierung zunehmenden Einfluss auf den urbanen Raum nahmen. Straßenbahnanschlüsse, Erdumwälzungen, Parkplätze mussten gebaut oder bewältigt werden und wirkten so in starkem Maße auf die Kommune zurück. Zum anderen wurden die Stadien durch das zunehmende Interesse der Bevölkerung zu „Orten architektonischer Massenkultur und urbaner Riten“, wie Dinckal betonte.
Die zunehmende Bedeutung des Zuschauersports brachte begleitende Diskussionen hervor, die auch dem heutigen Ohr bekannt vorkommen. Schon damals gab es Debatten über Gewalt auf den Rängen, über die Rolle von Kommerz im Stadion (auch damals gab es Logen), über die durch das Stadion herbeigeführte Trennung von Profi- und Breitensport und über das Stadion als Prestigeobjekt für die Kommunen.
Ein Blick in die Geschichte des Stadionbaus eröffnet so neue Einblicke auch in aktuelle Diskussionen um Stadionneubauten. Manche Argumentationslinien wirken in historischer Dimension anders, andere Argumente können mit historischen Erfahrungen angereichert werden. Dinckals Vortrag regt auf jeden Fall zum Nach-, Mit- und Andenken an –gerade auch wenn man sich am Wochenende mal wieder auf den Weg ins Stadion am Böllenfalltor macht und dessen Zukunft im Halbzeitgespräch thematisiert wird.
Weiterführende Links:
Verlagsinformation zu Dinckals Buch über Sportlandschaften
Quelle: http://mgtud.hypotheses.org/150
Können wir unsere Emotionen wählen – und warum sollten wir? Die rationale Wahl von Emotionen und die sozialen Entscheidungsregeln (Teil 1) – von Kathrin Behrens
Kernfrage dieses Artikels ist die grundsätzliche Wählbarkeit von Emotionen und der daraus folgenden Möglichkeit, Emotionen als eigenen Gegenstand von rationalen Entscheidungen zu betrachten. Dazu werden zwei zentrale Theorien der Emotionssoziologie miteinander verglichen: das Emotionskonzept nach Jon Elster und die Theorie … Continue reading
Können wir unsere Emotionen wählen – und warum sollten wir? Die rationale Wahl von Emotionen und die sozialen Entscheidungsregeln (Teil 1) – von Kathrin Behrens
Kernfrage dieses Artikels ist die grundsätzliche Wählbarkeit von Emotionen und der daraus folgenden Möglichkeit, Emotionen als eigenen Gegenstand von rationalen Entscheidungen zu betrachten. Dazu werden zwei zentrale Theorien der Emotionssoziologie miteinander verglichen: das Emotionskonzept nach Jon Elster und die Theorie … Continue reading →
ARTigo: Der Blick der Tagger auf die Bilder von gestern oder gab es 1897 bereits Laptops?
Schaut man sich die Tags der ARTigo-Bilder an, stößt man zwangsläufig auf „falsche“ Tags. Tags also, die den Inhalt des Bildes nicht korrekt benennen. Das aber macht sie interessant, denn es zeigt, wie prägnant bestimmte Aussagen sind, wie z.B. Gesten, die Form oder allgemein das Aussehen von Objekten. Diese Bildaussagen gehören stets in einen bestimmten Kontext. Werden sie aber mit einem anderen Kontext verbunden, wirken sie manchmal komisch und zeigen uns damit um so deutlicher, wie unterschiedlich unsere Sicht von der des zeitgenössischen Betrachters ist und mit welchen anderen Augen wir heute auf die Bilder schauen.
Das Beispiel der Geste Napoleons, der seine Hand in die Jacke schiebt, ist bekannt. In der ARTigo-Datenbank finden sich dazu mehrere Bilder, die das Tag „Napoleon“ tragen, obwohl dieser nicht abgebildet ist. Sogar das folgende ist mit „Napoleon“ getaggt, obwohl der Name des Abgebildeten „Karl Friedrich Ludwig“ gut leserlich darunter steht. Hier bliebe festzustellen, wann die Spieler „Napoleon“ taggen. Geben sie das Tag gleich am Anfang im Moment des ersten Eindrucks ein, noch bevor ihr Blick auf die Schrift gefallen ist, oder eher am Ende der Spielminute, wenn sie den Namen des Porträtierten eigentlich gelesen haben müssten.
Das folgende Foto von König Ludwig II. ist mit dem Begriff „Arzt“ getaggt worden. Wohl wegen der weißen Jacke, die an einen Arztkittel erinnert.
Das Porträt von Eugène Scribe, einem französischen Dramatiker, wurde mit „Telefon“ getaggt. Auf dem Bild ist ein solches Gerät nicht zu erkennen, wohl aber ordnen wir die Geste der Nachdenklichkeit heute einem telefonierenden Mann zu.
Was sehen Sie auf dem nächsten Bild? Wenn sie hier einen Mann mit einem Cowboyhut und Laptop erkennen, dann sind Sie damit nicht allein, denn diese Tags wurden auch von ARTigo-Spielern für das Bild vergeben.
Es handelt sich um einen Scherenschnitt (?) von Franz Marc, den er 1897 im Alter von 17 Jahren anfertigte und der seinen Vater beim Malen zeigt. Das, was wir heute als Laptop interpretieren, dürfte ein Malkoffer sein.
Während des Spiels werden dem Spieler keine Meta-Daten, wie Titel, Künstler oder das Entstehungsjahr angezeigt, so dass er wirklich frei assoziieren kann und seine Tags nicht von den darin enthaltenen Informationen abhängig macht.
„Falsche“ Tags beruhen immer auf einem Vorwissen über andere als im Bild gezeigte Inhalte. Das Vorwissen heutiger Kunstbetrachter ist verschieden von dem des zeitgenössischen Publikums. Wie groß die Unterschiede sind, bemerken wir vermutlich in den meisten Fällen nicht, nur in wenigen Ausnahmefällen, wie den hier gezeigten.
Digitale Bildquelle: www.artigo.org
Bild 1: Karl Kuntz: Karl Ludwig Erbprinz. v. Baden 1755-1801, 19. Jh.
Bild 2: Joseph Albert – Porträtstudie von König Ludwig II, 1862/64
Bild 3: Atelier Nadar, Eugène Scribe, 1856/58
Bild 4: Franz Marc – Bildnis des Vaters beim Malen, 1897
Quelle: http://games.hypotheses.org/1843
Resilience of Empowerment
„Wachstum, was nun?“ fragt der neueste Dokumentarfilm von Marie Monique Robin, den ARTE am vergangenen Samstag in dritter Wiederholung gezeigt hat. Der Film setzt sich mit Alternativen zum volkswirtschaftlichen Wachstumsprogramm in Zeiten von Umwelt-, Finanz- und Wirtschaftskrisen auseinander. Doch wer die alte Leier von sturer Wachstumskritik und einfachen „Small-is-beautiful“-Lösungen erwartet, wird enttäuscht.
Mit einer beachtlichen Bandbreite an Interviewpartnern, thematischen Zugängen und anschaulichen Projektbeispielen über den Globus verteilt gelingt es dem Film einen durchaus überzeugenden sowie anspruchsvollen Zusammenhang zwischen betriebswirtschaftlicher Selbstorganisation, sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz zu skizzieren.
Der Begriff der Resilienz taucht dabei nicht nur als leeres Schlagwort auf, sondern wird im Mund der befragten “Resilienz-Praktiker” zu einem konkreten Handlungsbegriff, der vor allem eines nahelegt: Resilienz als die Frage nach der Fähigkeit einer Gruppe zu begreifen, zentrale ökonomische Zusammenhänge und deren unmittelbare Auswirkungen auf das Zusammenleben selbst zu gestalten.
Regionale Währungen, urbane Landwirtschaft oder Kraftwerksgenossenschaften werden in dem Film nicht als Ideen vorgestellt, Konsum durch Entsagung oder das internationale Wirtschaftssystem durch Subsistenzwirtschaft zu ersetzen. Die durchaus gespitzte Kritik am heiligen Gral des BIP zielt nicht darauf ab wirtschaftliches Wachstum an sich zum Feindbild zu machen. Dem Film liegt wohl vielmehr die Frage zugrunde: Auf welche Weise versuchen Menschen weltweit ihre eigenen Antworten auf die Fragen nach der Qualität und Quantität von wirtschaftlichem Wachstum (wie viel von welchem Wachstum wollen wir wozu?) zu koordinieren, umzusetzen und auszutesten? Und, wie erfolgreich sind sie damit?
Tatsächlich sind die unerwarteten Auswirkungen dieser „Sozialexperimente“ auf den unterschiedlichsten Ebenen in der Gemeinschaft wohl das eindrücklichste, was dieser Film zu bieten hat. Dass die meisten Projekte für regionales Wachstum und Wohlstand in der Gemeinschaft gesorgt haben, ist da noch am wenigsten überraschend.
Da ist zum Beispiel das regionale Währungssystem von Conjunto Palmeiras, einem Vorort von Fortaleza, Brasilien. Es versteht sich als ein komplementäres Währungssystem, will den Real also nicht komplett ersetzen, sondern unter anderem durch Mikrokredite und einen 10-% Rabatt beim Kauf der Regionalwährung die Wertschöpfung in der Gemeinde halten. Mit Erfolg. Was vormals ein von Abwanderung bedrohter Stadtteil war, weil die Lebenshaltungskosten im Verhältnis zu den Löhnen und dem Arbeitsangebot vor Ort zu stark anstiegen, ist nun unter anderem in der Lage seine BewohnerInnen mit Arbeit und erschwinglichen Gütern zu versorgen.
Diese Entwicklung hing allerdings entscheidend davon ab, dass sich bereits im Vorfeld eine politische engagierte Vereinigung der Bewohner des Stadtteils (ASMOCOMP) gegründet hat, innerhalb derer es möglich war unterschiedliche Zukunftsvorstellungen zu organisieren und auszutesten[1]. Gleichzeitig drängt sich der Eindruck auf, dass die heutige Attraktivität des Stadtteils für seine BewohnerInnen nur insoweit direkt mit der Regionalwährung zu tun hat, insofern diese die Unmittelbarkeit von wirtschaftlichen Handlungszusammenhängen fördert und zu einer lebendigen Gemeinschaft beiträgt, die für den Einzelnen interessante Möglichkeiten bietet, sich selbst einzubringen und in Kontakt zu seinen Mitmenschen zu stehen.
Diese Selbstorganisation der BürgerInnen in der Vereinigung kann insofern als resilient verstanden werden, als es ihr gelungen ist auf die bedrohlicher werdende Wirtschaftslage im Viertel mit der Gründung einer eigenen Bank zu reagieren und damit die Abhängigkeit von größeren, für sie selbst kaum beeinflussbaren volkswirtschaftlichen Zusammenhänge in ein ausgewogenes Verhältnis zur gemeinschaftlichen Selbstbestimmung zu bringen. Mit dieser Bank ist es den BewohnerInnen beispielsweise wiederum möglich Einfluss auf die finanzielle Förderung von Projekten im Viertel zu nehmen (auch solche Projekte, die von kommerziellen Banken kaum kreditwürdig wären): Projekte die zur Reduktion des ökologischen Fußabdrucks beitragen, stehen dabei ganz oben auf der Liste (vlg. auch Rike 2008).
Die Fähigkeit zur gemeinschaftlichen Selbstorganisation auf einer lokalen Ebene war auch in Kandebas, einem nepalesischen Bergdorf sowohl Bedingung als auch Chance, um sich mittels eines genossenschaftlich geführten Wasserkraftwerks von der unzuverlässigen, zentralen Energieversorgung unabhängig zu machen. Dadurch seien nicht nur die Familieneinkommen (und damit natürlich auch die Zahl an Handys und PCs) gestiegen, sondern auch Überschüsse erwirtschaftet worden, die die Genossenschafter, und damit die BewohnerInnen des Dorfes für weitere Investitionen in der Gemeinde und dessen weiterer Entwicklung einsetzen konnten. Gleichzeitig hat das Dorf damit einen Beitrag zur umweltfreundlichen Energiegewinnung gleistet und sich unabhängig von den Ölimporten gemacht, die für 1,5 Mrd. US-Dollar jährlich (2013) nach Nepal importiert werden.
Auch dieses Beispiel zeigt, dass es dem Film nicht um eine pauschale Wachstumskritik geht, die auf ein stumpfes Plädoyer für Autarkie oder Askese hinausläuft, sondern dass er gerade dort ansetzt, wo das bestehende Wirtschaftssystem eben nicht in der Lage war den (oft zunächst ökonomischen) Bedürfnissen vor Ort gerecht zu werden. Weniger Ideologie als vielmehr der Wunsch nach Verbesserung und zum Teil die schiere Not sind der Ausgangspunkt dafür, dass die dokumentierten Gruppen den Bereich ihrer ökonomischen Selbstbestimmung ausgeweitet haben. Der Clou dabei: Mit diesen Ansätzen wurden eben nicht nur die ursprünglichen Ausgangsprobleme angegangen, sondern darüber hinaus mitunter noch weitreichendere Veränderungen angestoßen, die die betreffenden Gemeinschaften in ihren Augen „resilienter“ machen:
„Innovationen wie urbane Landwirtschaft, kommunale Energie, neue Formen des Konsums, all das, was wir als new economy bezeichnen, hat nicht nur wirtschaftliche Aspekte. Es sind auch Prozesse, die die Kommunen stärken und sie resilienter machen für Erschütterungen, die von außen kommen.“ Juliet B. Shor (Autorin von „Plentitude“)
Dass dies notwendigerweise im Kern ein dezentraler Ansatz bleibt liegt nicht an einer vermeintlichen Glorifizierung von Lokalität, sondern daran, dass sowohl die Möglichkeit der Selbstbestimmung als auch die gewünschten Auswirkungen der Unmittelbarkeit von wirtschaftlichen Handlungszusammenhängen eben nur bis zu einem begrenzten Personenkreis erhalten bleiben. Auch wenn der Film einige visionäre Anklänge nicht verbergen kann, so behauptet er dennoch keine einfachen Gesetzmäßigkeiten oder glaubt aus seinen Beobachtungen unmittelbare Handlungsempfehlungen ableiten zu können. Unstrittig ist darüber wohl nur sein Blick für das Potential des sozioökonomischen Experimentierens im Sinne der These “Resilience of Empowerment”.
Bleibt zu fragen, ob der Gedanke der Resilienz als lokales Ermächtigungskonzept letztenendes auch als eine recht unkritische Antwort auf die angegebenen Krisen der großen Systeme gelesen werden kann, verschiebt sich doch damit der Handlungs- und Wandlungsauftrag an die kleine Dorfgemeinschaft.
Der Dokumentarfilm „Wachstum, was nun?“ wird noch einige Tage auf der ARTE-Mediathek unter http://www.arte.tv/guide/de/050584-000/wachstum-was-nun abrufbar sein (ebenso in anderen einschlägigen sozialen Medien wie http://www.youtube.com/watch?v=PP3optDBN8c oder in der Videothek Ihres Vertrauens).
[1] Sohn, Rike (2008): Die solidarische Sozioökonomie der Banco Palmas in Fortaleza/Brasilien. Lokale Währungskomplemente als Bestandteil integrativer Entwicklung, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, 45. Jahrgang, 158/159. Folge.
Einer von 37.000 ist einer von 24 Millionen!
Damit hatte kaum jemand gerechnet, zumindest nicht vor dem ersten Wahlgang vom 2. November 2014: Klaus Johannis wird der neue Präsident von Rumänien. Der Bürgermeister von Hermannstadt und Vorsitzende der Christlich-Liberalen Allianz fuhr bei einer Rekordwahlbeteiligung von 64,1 Prozent mit 54,5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen1 einen überragenden Sieg im zweiten Wahlgang der rumänischen Präsidentschaftswahlen 2014 ein. Über die Gründe, wie er binnen zweier Wochen einen Rückstand von 10 Prozentpunkten auf den Erstplazierten Victor Ponta nicht nur aufholen,2 sondern seinerseits in einen 10 Prozentpunktevorsprung umwandeln konnte, ist in den letzten Tagen schon viel gemutmaßt worden. Mit Sicherheit hat die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung damit zu tun – junge Menschen und ältere Leute vor allem, die im ersten Wahlgang noch zu Hause geblieben waren, machten sich nun auf und gingen in die Wahllokale, um dort ihre Stimme abzugeben. Und diese zusätzlichen Stimmen kamen in erster Linie Klaus Johannis zugute. Was aber führte zu diesem Anschwellen der Wählerströme?
Zum einen war es die furchtbar desaströs verlaufene Abstimmung im Ausland, die viele Rumänen im Lande selber dazu brachte, nun ihre Stimme in die Waagschale zu werfen. Dreieinhalb Millionen Rumänen leben im Ausland, und viele von ihnen wollten am 2. November in den eigens eingerichteten Wahllokalen wählen gehen. Durch eine schlampige Organisation und überforderte Mitarbeiter wurden sie aber vielfach daran gehindert. Zwar waren in 95 Staaten insgesamt 294 Wahllokale eingerichtet worden, zumeist in den Botschaften und Konsulaten,3 doch waren diese zumeist sehr dürftig ausgestattet. So standen im Generalkonsulat in München nur fünf Wahlkabinen zur Verfügung,4 während andernorts Stempel fehlten oder die Stimmzettel ausgingen. In London waren die Einlaßkontrollen der Botschaft so strikt, daß über 1000 Wahlberechtigte innerhalb der Öffnungszeiten einfach nicht mehr in das Gebäude kamen.5 Protestierende Rumänen wurden in Paris, London, Wien und Turin von der Polizei vertrieben. Rasch wurden Vorwürfe laut, die Regierung unter Führung von Premierminister Ponta, zugleich Kandidat der Sozialdemokraten für das Präsidentenamt, hätte diese Situation bewußt herbeigeführt oder zumindest billigend in Kauf genommen,6 um zu verhindern, daß die Diaspora allzu viele Stimmen abgeben konnte, denn in der Tendenz wählt diese keinen linken Kandidaten. So bot die Stadt München an, für den 2. Wahlgang unentgeltlich nicht nur Räumlichkeiten, sondern auch Wahlurnen und Sichtblenden zur Verfügung zu stellen – von rumänischer Seite hieß es nur, daß daran kein Interesse bestehe.7 Was die Sozialdemokraten dabei völlig unterschätzen, war die Wut der Rumänen, in der Disapora wie in der Heimat, und die Macht der modernen Kommunikation. Denn die Tausende von Emails, SMS und Kommentaren via Twitter und Facebook, oft versehen mit Bildern von den unhaltbaren Zuständen vor den Wahllokalen, die die Lieben aus der Ferne an die Familie daheim sandten, trugen viel zu der Stimmung bei, die den satten Vorsprung von Victor Ponta binnen zweier Wochen dahinschmelzen ließ. In Rumänien wurde in mehreren Städten für das Wahlrecht der Auslandsrumänen demonstriert,8 und auch Klaus Johannis selbst machte seinem Unmut hierüber Luft. Als Sündenbock wurde der Außenminister ausgetauscht… geholfen hat dieses Manöver indes nicht.
Zum anderen war es der Wahlkampf selber und vor allem dessen ideologische Zuspitzung in den Tagen vor der Stichwahl, der viele Rumänen dazu motivierte, am 16. November zur Stichwahl zu gehen. Präsentierte sich Klaus Johannis als der unbestechliche und fleißige Macher im strahlend weißen Hemd (“Gesetz. Nicht Diebstahl.” oder “Taten. Kein Gerede.”),9 der auch mal mit seinem siebenbürgisch-sächsischen Image kokettierte, setzte Victor Ponta eindeutig auf die rumänisch-nationale Karte. So warb er nicht nur mit dem Slogan “Wir sind stolz, Rumänen zu sein”, den man in Rumänien gerne im Munde führt, sondern griff auch zu kräftigeren Ausdrücken. Johannis sei “kein richtiger Rumäne” und auch “kein orthodoxer Christ”.10 Er, Ponta, lehne “Kerle aus dem Ausland” ab, die “Rumänien mit Füßen getreten” hätten – wen er genau damit meinte, ließ er sich nicht entlocken, aber in Verbund mit einem Sager, wonach er in Johannis einen “Vertreter ausländischer Interessen” sah, der Siebenbürgen sogar von Rumänien abspalten wolle, wird die Stoßrichtung klar.11 Sie Wahlplakate der Sozialdemokraten zeigten einen Victor Ponta, der zwar brav im modischen Anzug herablächelte, aber optisch stets begleitet war von pseudofolkloristischen Stickereien,12 was an die Plakate zur Europawahl erinnerte, die mit ähnlichen Motiven und sogar der “Endlosen Säule” von Constantin Brâncuși geschmückt waren.13 Für Victor Ponta sprach sich auch die orthodoxe Kirche aus, zu der sich fast 90 Prozent der Rumänen bekennen. Unverhohlen ließ sie wissen, daß nur ein Kandidat mit dem richtigen Glauben, eben ein Orthodoxer, als Staatspräsident tragbar wäre14 – und dies sogar noch am Tag der Stichwahl.15 Vizepremier Liviu Dragnea sagte ebenso deutlich wie dämlich, daß Popen, die die Wahl Victor Pontas unterstützen, den orthodoxen Glauben verteidigten.16 Der peinsame wie peinliche Gipfel dieses nationalen wie religiösen Schwachsinns war erreicht, als Victor Ponta behauptete, Klaus Johannis würde die Nationalhymne Rumäniens nicht kennen – in einem Interview darauf angesprochen, schmetterte dieser sofort los17 und bewies dabei sowohl Textsicherheit wie auch Kenntnis der Melodie. Ponta selber scheiterte übrigens live im Fernsehen an dieser Aufgabe…18
Und so sollte die national-religiöse Stoßrichtung Victor Pontas nicht verfangen. Die rumänischen Wähler waren erkennbar wenig daran interessiert, welcher Konfession oder welcher MInderheit der Kandidat der Nationalliberalen angehörte. Nichts dokumentiert dies schöner als jener mit Kugelschreiber geschriebene Text auf einem Stückchen Papier, den ein unbekannter Scherzbold an eines der 10 Dixiklos klebte, die man in München beim Generalkonsulat für die Wartenden aufgestellt hatte – “Stimmen Sie hier für einen christlich-orthodoxen Präsidenten”. Sie interessierten sich vielmehr für einen Mann, der seit gut 14 Jahren in Hermannstadt als Bürgermeister viele Reformen in Gang setzte und mit seiner pragmatischen Wirtschaftspolitik Erfolge feierte. Sie sahen einen Kandidaten, der mit zart siebenbürgisch-sächsischem Akzent in bedächtiger Manier seine Ideen präsentierte und nicht die ewig hohlen Phrasen der etablierten Politikerkaste aus Bukarest ins Volk hineindreschen wollte. Und sie hörten wohl gut zu, als er sich für ganz konkrete Verbesserungen des Wahlsystems wie Briefwahl einsetzte und sich nicht in unrealistischen Versprechungen verlor.
Als Klaus Johannis im Rahmen eines Vortrags, den er bei einem Besuch im damaligen Südost-Institut am 4. Mai 2010 hielt, auf die Fortschritte zu sprechen kam, die in Hermannstadt unter seiner Ägide gemacht wurden, da sprach er recht wenig über sich selber. Rumänien, so sagte er, habe eine fleißige und talentierte Bevölkerung, nur mit der Organisation des Landes hapere es. Seine Aufgabe war es in Hermannstadt eben, Voraussetzungen zu schaffen, Dinge zu entflechten und sinnvoll neu zu organisieren, als Ansprechpartner immer da zu sein und als Vorbild zu dienen. Den wirtschaftlichen Aufschwung, den haben dann die Menschen selber erarbeitet. Mit diesen bescheidenen Worten beschrieb er seine Tätigkeit. Klaus Johannis, der bei seiner ersten Wahl im Jahre 2000 von 69 Prozent der Hermannstädter, die an die Urnen gegangen waren, gewählt worden war, obwohl nicht einmal mehr 2 Prozent der Bevölkerung dort noch Siebenbürger Sachsen sind, war der Bürgermeister aller 148.000 Einwohner. Nun ist er, einer von noch verbliebenen 37.000 Rumäniendeutschen, der Präsident von 24 Millionen rumänischen Staatsbürgern. Ein Bürgerpräsident, das will er sein. Einer von ihnen.
- http://ro.wikipedia.org/wiki/Alegeri_preziden%C8%9Biale_%C3%AEn_Rom%C3%A2nia,_2014
- Unmittelbar nach dem ersten Wahlgang schrieb Karl-Peter Schwarz, daß Johannis “es schwer haben [wird], diesen Vorsprung einzuholen”, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 256 vom 4.11.2014, S. 8
- http://www.mediafax.ro/politic/alegeri-prezidentiale-2014-in-strainatate-sunt-294-de-sectii-primii-voteaza-cei-din-noua-zeelanda-13482717
- Karl-Peter Schwarz, “Verhinderte Wahlbürger”, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 256 vom 4.11.2014, S. 3
- http://www.romania-insider.com/chaos-at-romanias-voting-polls-abroad-long-queues-protests/134937/
- http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/rumaenien-der-deutschstaemmige-praesidentschaftskandidat-klaus-johannis-im-portrait-13266420.html
- http://www.br.de/mediathek/video/sendungen/nachrichten/rumaenien-stichwahl-auslandsrumaenen-muenchen-100.html
- http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/chaotische-wahl-in-rumaenien-verhinderte-wahlbuerger-13245411/protest-gegen-13245465.html
- http://blog.br.de/studio-wien/files/2014/10/Foto-Johannis-2.jpg
- http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/klaus-johannis-gewinnt-praesidentenwahl-2014-in-rumaenien-13270731.html
- http://derstandard.at/2000008110216/Stichwahl-in-RumaenienAuslaendische-Kerle-gegen-Korrupte
- http://someseanul.ro/wp-content/uploads/2014/10/afis-electoral-ponta-presedinte.jpg
- http://www.cotidianul.ro//upload/images/original/ponta-afis-slogan.fjte7chyq4.jpg
- http://portalsm.ro/2014/11/biserica-ortodoxa-il-sustine-pe-victor-ponta/ und http://www.hotnews.ro/stiri-politic-18526239-video-predica-biserica-din-moftinu-mic-satu-mare-fim-uniti-votam-presedinte-ortodox-victor-ponta-caci-poate-uneasca-ajute-ducem-viata-noastra-calea-desavarsirii.htm
- http://www.digi24.ro/Stiri/Digi24/Actualitate/Social/Biserica+si+politica+Predica+pentru+un+presedinte+ortodox
- http://www.b365.ro/alegeri-prezidentiale-2014-dragnea-preotii-care-il-sustin-pe-ponta-apara-credinta-ortodoxa_218937.html
- http://www.youtube.com/watch?v=gJ-04WSUG-s
- http://www.youtube.com/watch?v=emEfmi6HQfc
Wohin mit den Gefühlen? Vergangenheit und Zukunft des Emotional Turn in den Geschichtswissenschaften – Von Benno Gammerl und Bettina Hitzer (Teil 2)
Im ersten Teil stellten Gammerl und Hitzer die wissenschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Anfänge des Emotional Turn vor. Anschließend zeigten sie, wie sich der Emotional Turn auf ambivalente Weise zwischen emanzipativen und problematischen Ansprüchen und Effekten bewegte. Besonders deutlich machten sie dies … Continue reading
Kein Wunder nirgendwo – die genetische Herausforderung der Geschichte
Unter dem Titel „Die DNA der Geschichte“ hat der Heidelberger Historiker Jörg Feuchter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. November 2014 einen Appell zur epistemologischen Reflexion historischer Genforschung seitens der Mediävistik lanciert.[1] Obgleich ich mich diesem Aufruf grundsätzlich anschließen möchte, will ich diese Zustimmung mit deutlich kritischeren Akzenten gerade in Richtung meiner eigenen Disziplin versehen.
„Wo waren die Mikroben vor Pasteur?”, so fragte 1999 der französische Soziologe Bruno Latour, um sogleich in apodiktischer Schärfe selbst zu antworten: „Sie existierten nicht, bevor er daherkam“.[2] Auf den ersten Blick provokant, folgt dieses Postulat letztlich einer ebenso simplen wie stringenten Forschungslogik: Für Latour und seine ANT gelten nur jene Entitäten als (historische) Akteure, die im Handeln anderer „einen Unterschied“ machen. Gewiss, Milch wurde bereits im Mittelalter sauer. Die Mikroorganismen der Milchsäuregärung aber stiegen erst zu historischen Mächten auf, nachdem sie im Mikroskop Pasteurs Gestalt angenommen hatten. Seit diesem Moment setzten sie sich in den Köpfen der Menschen fest, wurden zu begehrten Ansprech- und Verhandlungspartnern, avancierten schließlich zu Auslösern einer Hygienebewegung und Initiatoren einer Biopolitik, wie es sie allein auf der Grundlage ‚mittelalterlich’ saurer Milch kaum je gegeben hätte.
‚Wo waren die Gene vor Mendel und Avery?’, so möchte ich im Fahrwasser dieser Überlegungen fragen und meine Antwort gleicht notgedrungen jener Latours: ‚Sie existierten nicht!’ Gewiss registrierte man Unterschiede in Geschlecht, Hautfarbe und Körperbau, ignorierten die Menschen des Mittelalters keineswegs die phänotypische Fremdheit ihres Gegenübers. Auch Migrationsströme, Erbfolgen und selbst Krankheitsdispositionen entgingen ihnen nicht, die DNA blieb gleichwohl hartnäckig außerhalb ihres Denk- und Handlungshorizonts. Die ‚Gene’ – zumal jene „95 Prozent (…), die nicht kodiert sind“ – müssen dem Mediävisten daher als anachronistischer Fremdkörper ‚seiner’ Geschichtsforschung gelten. Insofern die Kategorie der ‚Kultur’ als konventionelles Produkt menschlicher Diskurse und Sinnstiftungen betrachtet wird, führt von der DNA aus kein Weg zum „Gegenstand der Geschichtswissenschaft“, der „kulturelle[n] Entwicklung der letzten zwei- bis dreitausend Jahre.“ Ebensowenig sind Nukleotidsequenzen „stets unmittelbar mit Fragen der Identität verknüpft“, sofern diese nicht als faktisch stabile ‚Rassezugehörigkeit’, sondern als soziales Interaktionsprodukt betrachtet wird.
Hat die ‚genetic history’ ihren Geltungsanspruch innerhalb der Geschichtswissenschaft damit gänzlich verwirkt? Wohl kaum! Im Sinne des von Peter von Moos begrüßten ‚heuristischen Anachronismus’[3] hat sie längst eine Diskursarena etabliert, die unserer Disziplin umfangreiche neue Fragestellungen zuführt. So anachronistisch der Faktor DNA erscheinen mag, so wenig darf er ferner als ahistorisch qualifiziert werden. Die Entwicklung menschlichen Erbgutes ist integraler Bestandteil des historischen Prozesses und als solcher allemal der Erforschung wert. Allerdings liefert die Molekularbiologie kaum verlässliche Fakten. Sie produziert zunächst einmal nichts als Rohdaten, die einer sorgfältigen Deutung und Einordnung in historische Narrative bedürfen. Zu Recht mahnt Jörg Feuchter eine „epistemologische Reflexion“ über den Gebrauch dieses Datenmaterials an.
Naturwissenschaftliche Versuche beruhen ebenso wie das Gedankenexperiment des Geisteswissenschaftlers auf Prämissen und Schlussfolgerungen, die methodisch hinterfragt und ggf. revidiert werden können. Insofern verwundert es, wenn Feuchter die „erstaunlichen Resultate“ der Studie von Michael E. Weale et al.[4] hervorhebt, in der nichts weniger behauptet werde, als „dass die angelsächsische Immigration nach England im 5. bis 7. Jahrhundert mit einem fast kompletten Austausch der männlichen Bevölkerung auf der Insel“ verbunden gewesen sei. Ein Triumph der Genforschung über die Geschichtswissenschaft? Nur knapp sei darauf verwiesen, in welchem Maße sich der Diskussionsstand seit Annahme des Papers im Januar 2002 verschoben hat[5]: Ein Oxforder Forscherteam reklamierte bereits im Folgejahr einen Teil des vermeintlich ‚angelsächsischen’ Erbgutes als Relikt der dänischen Invasionsbewegung des 10. Jahrhunderts[6], während rezente Rechenmodelle den angelsächsischen Einwandereranteil auf eine Quote von 10-20% absenken. Jenseits des reinen Zahlenspiels stellt sich die Frage, ob durch die Fokussierung auf genetische Merkmale nicht die unter Archäologien verpönte Formel ‘Topf gleich Volk’ durch das neue Mantra ‘Gen gleich Volk’ ersetzt wird. Gerade Migration lässt sich nicht auf Reinraumbedingungen reduzieren oder unter die ceteris-paribus-Klausel stellen. Moderne Waliser sind keine ‚Britonen’, heutige Friesen keine Angelsachsen, der genetische Austausch zwischen Kontinent und Insel nicht auf ein singuläres Ereignis zurückzuführen. Mithin müssen sich alle Bemühungen, aus den genetischen Daten Rückschlüsse auf die Sozialstruktur der Inselbevölkerung zu ziehen, gar einen Genozid oder ein System der ‚racial apartheid’[7] zu postulieren, der Vetomacht schriftlicher und archäologischer Quellen stellen.
Vor dem Hintergrund einer fluiden Deutungsmatrix erstaunt der Anspruch des neuen MPI-Direktors Russell Gray, mit naturwissenschaftlicher Präzision nunmehr die „Mechanismen der Staats- und Religionsbildung“ rekonstruieren zu wollen. Gray erklärt die Regelhaftigkeit der Geschichte zu einer allein „empirischen Frage“, zweifellos lösbar auf ausreichender Datenbasis: „There are no wonders“[8]. Der Versuch, den Gang der Geschichte einem überzeitlich gültigen Schematismus aus Zyklen, Stadien und Entwicklungsintervallen zu unterwerfen, ist keineswegs neu, mit der Marx’schen Geschichtsmechanik sei nur sein prominentester Vertreter benannt. Prophetisches Prognosepotential besitzt sie ebensowenig wie ihre aktuellen – in diesem Punkt wesentlich bescheideneren – sozialwissenschaftlichen Pendants. Dies spricht keineswegs generell gegen eine Komplexitätsreduktion durch Modellbildung, warnt freilich vor übertriebenen Erwartungen: Von der historischen Genetik aus den Götzen objektiver Geschichtsgesetze erneut herauf zu beschwören, hieße mithin, sich von der Kontingenz und Multiperspektivität der Geschichte zu verabschieden.
Die von Jörg Feuchter vermerkte Reaffirmierung „für obsolet gehaltener Forschungsstände“ erweist sich nicht nur an diesem Punkt als riskantes Unternehmen.[9] Mit Blick auf die Trias von ‚race, class and gender’ lassen sich derzeit besorgniserregende Tendenzen beobachten, alle drei Kategorien aus dem Status kultureller Konstruiertheit (abermals) auf die Ebene objektiver historischer Wirkfaktoren zu überführen. Nein, an diesem Punkt soll den Biowissenschaften keinesfalls ein Rückfall in ein Denken rassisch-genetischer ‚Kulturträgerschaft’ unterstellt werden. Der Fehler liegt zumeist auf Seiten jener Historiker, die den methodischen Grundlagen des eigenen Faches nicht mehr vertrauen und unüberlegt der vermeintlichen Faktizität naturwissenschaftlicher Evidenzen huldigen. Wenn Feuchter – womöglich zutreffend – konstatiert, dass „DNA im heutigen Bewusstsein mehr und mehr als primärer Identitätsträger“ Anerkennung findet, so sollte dieser Befund zu einem kollektiven Aufschrei aller historischen Kulturwissenschaften führen. Der vom Verfasser des FAZ-Beitrages angemahnte „kritische Dialog“ muss mit dem Selbstbewusstsein einer empirisch arbeitenden und methodisch fundierten Fachdisziplin gesucht werden. Nicht nur gegenüber den „historisch arbeitenden Genetikern“, sondern vor allem innerhalb der Historikerzunft selbst. Die genetische Herausforderung betrifft in erster Linie das Selbstverständnis unseres eigenen Faches.
[1] Jörg Feuchter, Die DNA der Geschichte, in: FAZ Nr. 257, Mi. 5. Nov. 2014, S. N4. Dem Artikel entnommene und mit „“ gekennzeichnete Zitate sind nicht mehr separat ausgewiesen.
[2] Bruno Latour, Wo waren die Mikroben vor Pasteur?, in: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 175.
[3] Peter von Moos, Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, hrsg. von Dems. (Norm und Struktur 23), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 1–42, S. 2.
[4] Michael E. Weale/Deborah A. Weiss/Rolf F. Jager/Neil Bradman/Mark G. Thomas: Y chromosome evidence for Anglo-Saxon mass migration, in: Molecular Biology and Evolution 19,7 (2002), S. 1008-1021.
[5] Siehe dazu Erik Grigg: Genetics and the Anglo-Saxon Invasion, unter: https://www.academia.edu/2607635/Genetics_and_the_Anglo-Saxon_Invasion; Heinrich Härke: Die Entstehung der Angelsachsen, in: Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer (Hrsg.): Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft. Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 77), Berlin/Boston 2012, S. 429-458; Robert Hedges: Anglo-Saxon Migration and the molecular evidence. In: Helena Hamerow/D David A. Hinton/Sally Crawford (Hrsg.): The Oxford Handbook of Anglo-Saxon Archaeology, Oxford 2011, 79-90.
[6] Cristian Capelli/Nicola Redhead/Julia K. Abernethy/Fiona Gratrix/James F. Wilson/Torolf Moen/Tor Hervig/Martin Richards/Michael P.H. Stumpf/Peter A. Underhill/Paul Bradshaw/Alom Shaha/Mark G. Thomas/Neal Bradman/David B. Goldstein: A Y chromosome census of the British Isles, in: Current Biology 13 (2003), S. 979-984.
[7] Mark G.Thomas/Michael P.M. Stumpf/Heinrich Härke: Evidence for an apartheid-like social structure in early Anglo-Saxon England, in: Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 273/1601 (2006), S. 2651-2657.
[8] Virginia Morell: Feature: ‘No miracles’, in: Science 345/6203 (2014), S. 1443-1445, unter; http://www.sciencemag.org/content/345/6203/1443.full.pdf
[9] Zu Recht verweist der Autor hier warnend auf den markanten Fall des Biologen Pierre Zalloua, der die Religionsgemeinschaften des Libanon auf ideologische Weise ethisch interpretiert. Dahinter ist jedoch ein Grundsatzproblem zu erkennen: Genetische Bevölkerungsanalysen basieren auf einer überschaubarer Zahl von Axiomen und Parametern, die oftmals ‚fachfremd’ der Geschichtsforschung entnommen werden. Sie reduzieren damit historische Komplexität, ohne die epistemologischen Grundlagen ausreichend zu reflektieren und sich so gegen zirkuläre Schlussfolgerungen abzusichern. Hier wäre in der Tat die Expertise von Historikern dringend gefragt.