Sollte es nicht doch einen gewissen Kanon von Büchern geben, die alle Menschen, die mit Geschichte arbeiten, irgendwie kennen müssen? Das ist manchen sicher zu apodiktisch. Dennoch glaube ich, dass man so etwas brauchen kann. Damit sich alle auf etwas positiv wie negativ beziehen können. Wie umfangreich wäre dann so eine Kanon? Keine Ahnung. Diese drei Bücher aus dem Bereich Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte gehören für mich auf jeden Fall dazu. Alle drei beschäftigen sich auf ihre Weise mit der Formation von Gesellschaften.
Immanuel Wallerstein: Der Siegeszug des Liberalismus (1789-1914). Das moderne Weltsystem IV. Wien 2012.
Dieses 2011 geschriebene Buch, das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, steht nur stellvertretend für das ganze Hauptwerk Wallersteins: Das moderne Weltsystem. Wallersteins Weltsystemanalysen sind nicht nur für Globalhistoriker/innen wichtig. Auch für lokale Studien ist es von Bedeutung, den Horizont mit Wallerstein zu weiten und Vorgänge vor Ort in größere Veränderungsprozesse einzubetten.
Denn Wallerstein sieht die Geschichte des modernen Weltsystems von zwei großen Zyklen bestimmt: Kondtratjew-Zyklen mit einer Dauer von 50 bis 60 Jahren und länger andauernden Zyklen des Aufstiegs und Falls von Hegemonialmächten. Zu diesem Ansatz kommen weitere Themen dazu: Der Entwicklung von Zentren und Peripherien, sowie die jeweiligen Klassenkämpfe, von denen dieses Veränderungen ausgehen.
Wallersteins Thesen sind im Detail streitbar, aber er eröffnet immer wieder neue Sichtweisen, wie zum Beispiel die Interpretation der Französischen Revolution als letzten Versuch, England in der Auseinandersetzung um die Stellung als Hegemonialmacht zu besiegen und als erste “antisystemische”, antikapitalistische Revolution des modernen Weltsystems, die jedoch scheiterte.
In Band vier geht es um den Triumph des Liberalismus im 19. Jahrhundert, den zentristischen Liberalismus als Ideologie, über den liberalen Staat und seine Klassenwidersprüche. Thema sind außerdem die Bürger im liberalen Staat und der Liberalismus als Sozialwissenschaft. Das Buch könnte angesichts des gegenwärtigen neoliberalen Dogmas nicht aktueller sein. So räumt Wallerstein unter anderem mit der Vorstellung auf, dass der Liberalismus je eine Metastrategie gegen den gegen den Staat gewesen sei, er strebte nicht einmal den sogenannten Nachtwächterstaat an und stand auch nicht zum Laissez-faire:
Liberalismus war letztendlich immer die Ideologie des starken Staates im Schafspelz des Individualismus, oder genauer gesagt, die Ideologie eines starken Staates als einzig möglichen Garant des Individualismus.
Wallerstein spielt mit der Idee, dass es seit 1789 nur eine einzige wahre Ideologie gegeben habe, die des dieser zentristischen Liberalismus, die in unterschiedlichen Spielarten auch von den anderen beiden politischen Grundströmungen, dem Konservatismus und dem Sozialismus, geteilt wurde. Zumindest konnten sich die anderen Strömungen nicht erfolgreich gegen diese Ideologie positionieren. Hierzu bringt Wallerstein viel Material. Das ist sehr lesenswert und diskussionswürdig.
Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Orig. 1944. Diverse Auflagen
Eine Ergänzung zu Wallerstein ist dieses Buch; ein Klassiker und bereits 1944 erschienen. Trotzdem kennen es viel zu wenige. Karl Polanyi, einer der bedeutendsten Wirtschafts- und Sozialhistoriker des 20. Jahrhunderts, wird aber innerhalb des Fachs kaum wahrgenommen. Dabei ist schon sein Lebensweg als undogmatischer sozialistischer Wissenschaftler im Spannungsfeld zwischen den sozialistischen Idealen des „roten Wiens“ und den Erfahrungen der beiden Weltkriege und des Aufstiegs des Faschismus eine nähere Beschäftigung wert.
Auf die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts antwortet Polanyi mit einer originellen wie einleuchtenden Analyse des Zusammenbruchs der “Zivilisation des 19. Jahrhunderts” – The Great Transformation.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Frage, wie es denn sein kann, dass im 19. Jahrhundert zwischen den Großmächten ein beinahe 100-jähriger Frieden herrschte.
Wir haben uns allzusehr daran gewöhnt, die Ausbreitung des Kapitalismus des Kapitalismus als einen alles anderen als friedlichen Prozeß zu betrachten, und das Finanzkapital als den Hauptanstifter zahlloser Kolonialverbrechen und expansionistischer Aggressionen. […] Die Geschäfts- und Finanzwelt waren in der Tat für viele Kolonialkriege verantwortlich, aber auch für die Tatsache, dass ein allgemeiner Krieg vermieden wurde. […] Fast jeder Krieg war das Werk der Financiers, aber auch der Friede war ihr Werk.
Polanyi rechtfertigt nicht, sondern möchte einen nüchternen Blick. Das selbstregulierende Marktsystem des 19. Jahrhunderts hatte Institutionen, die es im Zaum hielten. Hierzu arbeitet er unter anderem die widersprüchliche Funktion der Hochfinanz heraus. Er untersucht das 19. Jahrhundert intensiver und kommt zum Schluss, dass die Welt des 19. Jahrhunderts auf vier Einrichtungen beruhte: Dem System des Kräftegleichgewichts, den internationalen Goldstandard, den selbstregulierenden Markt und den liberalen Staat. Polanyi weiß natürlich um die Probleme dieser Vereinfachung. Aber er reduziert seine Analysen bewusst auf die von ihm ausgewählten Themen, um zu zeigen, dass der Zusammenbruch dieses Systems in ihm selbst angelegt war.
Es gab eine „Doppelbewegung“, die ein sich selbst regulierendes Marktsystem und Institutionen zum Schutz vor den Gefahren dieses Systems hervorbrachte. Letztere verloren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Einfluss. Eine Ursache für zwei Weltkriege. Doch konnte es für Karl Polanyi kein Zurück in das System des 19. Jahrhunderts geben, sondern nur ein Darüberhinaus. Deswegen kritisierte er unter anderem Roosevelts zurückhaltende Politik des „New Deal“: Ein organisatorischer Interventionismus ohne den gleichzeitigen Ausbau demokratischer Willensbildung führten von der Demokratie als stabilisierendes Steuerungselement weg. Man sollte das mit Blick auf den heutigen “Green Deal” noch einmal nachlesen.
Den Volkswirt Polanyi interessierte die Frage, wie eine andere Welt ganz konkret politisch und ökonomisch aussehen könnte. Dennoch musste er sich auf einer Metaebene mit den wichtigsten ideologische Grundideen des Liberalismus auseinandersetzen.
- Mit der “krassen Ideologie” des selbstregulierenden Marktes, der die menschliche und natürliche Substanz des Menschen vernichten musste
- und mit den zeitgenössischen Spekulationen über die „Natur“ des Menschen und über “natürliche” Wirtschaftssysteme, um nur die zwei wichtigsten zu nennen.
Die Auseinandersetzung über das Wesen des Menschen wurde in den 1930er und 1940er Jahren durch die Interpretation frühgeschichtlicher Funde und durch die kulturanthropologische Erforschung von „Naturvölkern“ neu befeuert. Insofern ist Polanyis Werk auch ein historisches Zeugnis seiner Zeit.
Es lohnt sich, mit Polanyi vertieft auseinanderzusetzen, weil sein Werk volkswirtschaftliche Grundlagen und historische Zugriffe vermittelt. The Great Transformation ist sehr dicht geschrieben und man merkt dem Werk an, dass hier Ideen zusammengeführt werden, die an anderer Stelle ausführlicher entwickelt wurden.
Seit ein paar Jahren sind diese Vorarbeiten verfügbar. Michele Cangiani und Claus Thomasberger haben im Metropolis Verlag die Aufsätze Polanyis in der dreibändigen Chronik der großen Transformation: Artikel und Aufsätze (1920-1945) herausgegeben. Polanyi entwickelt hier zum Beispiel konkrete Ansätze für eine sozialistische Organisation der Wirtschaft.
Jürgen Hoffmann: Politisches Handeln und gesellschaftliche Struktur. Politische Soziologie der europäischen und der deutschen Geschichte. 3. Auflage 2009
Kein Historiker, sondern ein politischer Soziologe meldet sich hier zu Wort und das Buch ist eine sehr gute Einführung für Studierende ab dem dritten oder vierten Semester. Das Buch passt zu den beiden vorangehenden, weil es sich u.a. mit Strukturierungs- und Formierungsprozessen beschäftigt. Entstanden aus Manuskripten für eine Vorlesung zur Einführung in die politische Geschichte präsentiert Hoffmann einen sehr reizvollen Zugang, der nicht einfach historischen Stoff vermittelt, sondern auch zeigt, wie gesellschaftliche Strukturierungsprozesse vor allem in Deutschland abliefen und analysiert werden können.
Was wir hier haben, ist über weite Strecken ein Gegenentwurf zu Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte, der jedoch an vielen Stellen positiv aufgegriffen wird. Im Unterschied zu Wehler hat Hoffmann die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie gelesen und verstanden. Er bezieht sie in seine Analysen ein, ohne zu behaupten, dass damit schon alles getan sei. Hoffmann arbeitet darüber hinaus mit Handlungsanalysen von Anthony Giddens, mit Pierre Bourdieu und mit Arbeiten der in der Disziplin noch viel zu unbekannten Historikerin Heide Gerstenberger. Die Liste der verarbeiteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist weitaus länger und offenbart den begrenzten Horizont einer auf Max Weber fixierten Sozialgeschichte, wie er von Wehler praktiziert wird.
Als Kind seiner Zeit ist der Text so auch immer auch eine Auseinandersetzung mit den geschichtspolitischen und geschichtswissenschaftlichen Hauptströmungen in der alten Bundesrepublik. In jedem Fall bekommen die Leserinnen und Leser ein gutes Arbeitsbuch in die Hand.
Alle drei Werke sind ergänzende Grundlagenwerke, die keinen Anspruch erheben, sämtliche Dimensionen menschliche Gesellschaft ausreichend beschrieben zu haben. Und alle drei bemühen sich um Zugriffe auf die Politik-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte jenseits jeder Rechtfertigung der gegenwärtigen Verhältnisse.
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Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/12/30/drei-hochaktuelle-grundlagenwerke-fur-die-politik-wirtschafts-und-sozialgeschichte/